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Hat der jüdisch-christliche Dialog Zukunft?...Poetik, Exegese und Narrative Studien zur jüdischen Literatur und Kunst Poetics, Exegesis and Narrative Studies in Jewish Literatureand

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© 2017, V&R unipress GmbH, GöttingenISBN Print: 9783847107170 – ISBN E-Book: 9783847007173

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Poetik, Exegese und NarrativeStudien zur jüdischen Literatur und Kunst

Poetics, Exegesis and NarrativeStudies in Jewish Literature and Art

Band 9 / Volume 9

Herausgegeben von / edited by

Gerhard Langer, Carol Bakhos, Klaus Davidowicz,

Constanza Cordoni

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

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Edith Petschnigg / Irmtraud Fischer /Gerhard Langer (Hg.)

Hat der jüdisch-christliche DialogZukunft?

Gegenwärtige Aspekte und zukünftige Perspektivenin Mitteleuropa

V& R unipress

Vienna University Press

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þberhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISSN 2198-5200ISBN 978-3-8470-0717-3

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter : www.v-r.de

Verçffentlichungen der Vienna University Presserscheinen im Verlag V&R unipress GmbH.

Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung des Rektorats der UniversitÐt Wien.

� 2017, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt.Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigenschriftlichen Einwilligung des Verlages.Titelbild: »waiting for spring«, � Hazel Karr, Tochter der Malerin Lola Fuchs-Carr und desJournalisten und Schriftstellers Maurice Carr (Pseudonym von Maurice Kreitman); Enkelin derbekannten jiddischen Schriftstellerin Hinde-Esther Singer-Kreitman (Schwester von Israel JoshuaSinger und NobelpreistrÐger Isaac Bashevis Singer) und von Abraham Mosche Fuchs.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Irmtraud Fischer – Gerhard Langer – Edith PetschniggGibt es Zukunft für den christlichen Dialog mit dem Judentum – und wiekönnte sie aussehen? Hinführung zum Thema . . . . . . . . . . . . . . . 11

Einführung

Jonathan MagonetIs there a Future for ‘Jewish-Christian’ Dialogue? . . . . . . . . . . . . . 25

Exemplarische Dialoginitiativen

Uta ZwingenbergerDie Hebräische Bibel im Zentrum, die Menschen unter einem Dach.Dialoge der Internationalen Jüdisch-Christlichen Bibelwoche . . . . . . . 39

Larissza HrotkjZu Gegenwart und Zukunft des jüdisch-christlichen Dialogs in Ungarn . 49

Heinz AnderwaldErfahrungen und Vorschläge im christlich-jüdischen Dialog mit einemExkurs zur Initiative „Freundeskreis der Weltreligionen“. PersönlicheBemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Irmtraud Fischer – Gerhard Langer – Edith PetschniggEine neue Dialoginitiative für 2017: Ein Revival der „ÖsterreichischenChristlich-Jüdischen Bibelwoche“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

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Dialog und Jüdische Museen

Christopher MeillerDer „Bildungsauftrag“ des Österreichischen Jüdischen Museums:Leitlinien und Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

Felicitas Heimann-JelinekMonolog, Dialog, Trialog und Tschüss? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

Dialogfördernde Forschungsprojekte

Agnethe SiquansDie Relevanz patristischer (und rabbinischer) Bibelauslegung für denjüdisch-christlichen Dialog heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Irmtraud Fischer„Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtlicheEnzyklopädie“ als Dialogprojekt mit dem Judentum . . . . . . . . . . . . 95

Isabella BrucknerInterdisziplinäre Forschungsplattform Religion and Transformation inContemporary European Society . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Jutta KoslowskiJudentum und Christentum – Versuche der Verhältnisbestimmung nachder Schoah. Kurzbericht über ein aktuelles Forschungsprojekt . . . . . . 105

Politische Aspekte des Dialogs

Jutta HausmannZwischen Political Correctness und Dialog – Beobachtungen zumChristlich-Jüdischen Dialog in Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

Ekkehard W. Stegemann – Wolfgang StegemannDie christlichen Kirchen und der jüdische Staat . . . . . . . . . . . . . . 125

Gerhard LangerChristliche Theologie mit oder ohne Judentum? . . . . . . . . . . . . . . 157

Trialog der abrahamitischen Religionen

Rainer KesslerPotenziale des Trialogs der „abrahamitischen“ Religionen am Beispieldes Zinsverbots in Bibel und Koran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Inhalt6

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Michel Bollag20 Jahre Zürcher Lehrhaus – Judentum, Christentum, Islam. Vomchristlich-jüdischen Dialog zu jüdisch-christlich-muslimischen Dialogen 189

Rüdiger LohlkerVariantologie des Universellen: Potenziale der islamischen Traditionenfür Toleranz, Dialog und Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Ernst FürlingerSchwierige Gegenwart des Dialogs. Interreligiöse akademische Bildungim Kontext globaler Konflikte und gesellschaftlicher Polarisierung . . . . 207

Anhang

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Programm der Tagung „Hat der ,jüdisch-christliche‘ Dialog Zukunft?Gegenwärtige Aspekte und zukünftige Perspektiven in Mitteleuropa“,15.–17. 3. 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

Inhalt 7

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Rüdiger Lohlker

Variantologie des Universellen: Potenziale der islamischenTraditionen für Toleranz, Dialog und Pluralismus

„Siehe, da bist du! Siehe, da bin ich!“1

Es mag gerade unter gegenwärtigen Umständen merkwürdig erscheinen, überdas von mir genannte Thema zu sprechen. Es ließe sich aber dieser Zweifelumkehren in die Affirmation: Gerade unter den heutigen Umständen ist esnotwendig über die Potenziale islamischer Traditionen für Toleranz, Dialog undPluralismus zu sprechen.2

Eine weitere Vorbemerkung sei erlaubt: Als Vertreter einer spezialisiertenReligionswissenschaft sind die folgenden Überlegungen lediglich ein Gedan-kenexperiment, das in keiner Weise beansprucht, normative Folgerungen zugenerieren. Das ist Aufgabe anderer Disziplinen – oder kann dies sein.

Und eine letzte Vorbemerkung zum Begriff der Variantologie. Ich übernehmehier den Begriff, den Siegfried Zielinski für das von ihm initiierte Projekt einerglobalen Wissenschaftsgeschichte geprägt hat. In diesem Sinne ist mein Beitragzu verstehen als Moment

in einem mondialen Prozess, der von den orientalen Wissenskulturen ebenso mitbe-stimmt wird wie von denjenigen Afrikas, Süd- und Mittelamerikas oder den islamischgeprägten Traditionen im Nahen Osten.3

Oder kurzum: Pluralität und Dialogbereitschaft lässt sich durchaus sehr gutislamisch begründen. Denn: Gehen wir von der Voraussetzung eines mondialenProzesses – oder, um eine andere Theoriesprache zu benutzen, von einem

1 Muhyı al-dın Ibn ’Arabı, Shajarat al-kawn (Kairo: Mustafa al-Babı al-Halabı, 1968), 23.2 Für Intoleranz, Dialog- und Pluralismusunfähigkeit etc. ließen sich etliche Beispiele finden

(auf Schulbuchebene s. z. B. Center for Religious Freedom, Saudi Arabia’s Curriculum ofIntolerance. With excerpts from Saudi Ministry of Education Textbooks for Islamic Studies,2008 Update (Washington, D.C.: Hudson Institute, 2008). Dies ist aber nicht Gegenstand derfolgenden Überlegungen.

3 Siegfried Zielinski, „Vorwort“, in Variantologie: Zur Tiefenzeit der Beziehungen von Kunst,Wissenschaft & Technik, Hg. Siegfried Zielinski und Eckhard Fürlus (Berlin: Kadmos, 2013):7–16, 7–8.

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Weltsystem4 – aus, ist es zulässig, nach Varianten eines Konzeptes in verschie-denen kulturellen Zusammenhängen zu fragen.

Voraussetzung für die Akzeptanz von Pluralismus und einen Dialog ist To-leranz gegenüber anderen oder dem Anderen. Mit L8vinas lässt sich die Tatsacheder Begegnung zum anderen Menschen und die Beziehung zu ihm als zentral fürdie Menschen bedenken, als die Baumansche Primärsituation5 der Begegnungface / face.6 Wie schaut es also mit dem Konzept der Toleranz in solchen Be-gegnungen in islamischen Kontexten aus?7

Zuerst sind aber anschließend an die Toleranztheorie Rainer Forsts mehrereEbenen der Toleranz zu unterscheiden. Forst unterscheidet vier verschiedeneKonzeptionen der Toleranz: Erlaubnis, Koexistenz, Respekt und Wertschätzungoder Anerkennung.8

Der Kern der Erlaubniskonzeption ist bei Forst die Akzeptanz der Vorherr-schaft der Autorität der Mehrheit seitens der Minderheit. Diese Art der Kon-zeption ist zugleich auch wertend, da die zu tolerierenden Überzeugungen undPraktiken nicht als gleichwertig oder wertvoll angesehen werden. Sie werdenlediglich geduldet, so dass wir auch von duldender Toleranz sprechen könnten.Spätantikes und mittelalterliches Christentum hat demgemäß dieses Toleranz-konzept auch zur Legitimation zur Durchsetzung des eigene Glaubenskonzeptesbenutzt; vielleicht könnten wir sogar von Erduldens-Toleranz sprechen.

Mit dem Dreißigjährigen Krieg tritt in Europa eine andere Sicht der Toleranzin den Vordergrund. „Tolleranz“ (1541)9 wird im deutschsprachigen Raum vonLuther eingeführt. Dieses neue Konzept der Toleranz fasst eher den pragmati-schen Wert der Toleranz für die innerstaatliche pragmatische Friedenswahrungins Auge. Es geht um eine Art Waffenstillstand zwischen den Gegnern, da der

4 S. dazu z. B. Janet L. Abu Lughod, Before European Hegemony: The World System A. D.1250–1350 (Oxford u. a.: Oxford University Press, 1989).

5 Zygmunt Bauman, Postmoderne Ethik (Hamburg: Hamburger Edition, 1995).6 Vgl. bspw. Emmanuel L8vinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuche über die Exteriorität

(Freiburg i. Br./München: Karl Alber, 1987).7 Für einen Versuch, der allerdings noch der Dichotomie von Westen und Islam verhaftet ist, s.

Aaron Tyler, Islam, the West, and Tolerance: Conceiving Coexistence (New York/London:Palgrave Macmillan, 2008).

8 Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenenBegriffes (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003). Ich folge hier der Konzeptualisierung von Ste-phan Kokew, Annäherung an Toleranz. Ausgangspunkte, Kontexte und zeitgenössische Inter-pretationen des Toleranzbegriffs aus dem schiitischen Islam (Würzburg: Ergon, 2014); vgl.Stephan Kokew, „Toleranz und demokratische Kultur : Zeitgenössische Reflexionen aus demschiitischen Islam“, in Demokratie und Islam. Theoretische und empirische Studien, Hg.Ahmet Cavuldak u. a. (Wiesbaden: Springer VS, 2014): 65–80. Für einen kritischen Blick aufdie Toleranz-Diskussion s. Wendy Brown, Regulating Aversion: Tolerance in the Age ofIdentity and Empire (Princeton/Oxford: Princeton University Press, 2006).

9 Alle Jahreszahlen gemäß aktueller christlicher Zeitrechnung.

Rüdiger Lohlker198

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Nutzen der friedlichen Koexistenz die Risken einer kriegerischen Auseinan-dersetzung mit ungewissem Ausgang überwog. Wir können hier von Koexis-tenztoleranz sprechen.

Über Zwischenstufen entwickelte sich ein weiteres Konzept, das Forst alsRespekt-Konzept bezeichnet. Respektiert werden der Andere oder die Grup-pierungen der Anderen als Teil einer Gemeinschaft, aber nicht deren Über-zeugungen als wahr oder ethisch gut. Es überwiegt weiterhin die Ablehnung derÜberzeugungen, die toleriert werden, aber nicht akzeptiert. Akzeptiert werdendie Personen. Die zeitliche nächste Entwicklung ist die Entwicklung einerKonzeption der anerkennenden Toleranz, die u. a. in der UNESCO-Toleranz-deklaration (1991) mit den Erweiterungen bis hin zu den Yogyakarta-Prinzipien2007 mit ihrer Anerkennung der sexuellen Selbstbestimmung. AnerkennendeToleranz bedeutet hier die Anerkennung der Menschen mit all ihren Unter-schieden. Im Anschluss an Forst bedeutet dies, ein Miteinander im Dissens inpluralistischen Gesellschaften zu ermöglichen.

Können wir nun die Frage nach der Möglichkeit von Toleranz in islamischenBegriffen beantworten? Erscheint es überhaupt möglich, so von Dialog undPluralismus zu sprechen? Ist dies möglich, können wir von einem mondialenProzess auch auf diesem Gebiet reden, der einen Dialog ermöglicht? Denn dieserist m. E. nur bei gegenseitiger Anerkennung möglich.

Gehen wir in die Geschichte zurück: In der Frühphase der Entwicklung dermuslimischen Gemeinschafte(n) können verschiedene Ebenen des Verhältnisseszu anderen Religionsgemeinschaften unterschieden werden. Das Verhältnisvariiert von eher egalitären Sichtweisen auf andere religiöse Gemeinschaften hinzu einer klaren Hierarchisierung mit der muslimischen Gemeinschaft an derSpitze.10 Dass dies nicht als linearer Prozess betrachtet werden kann, zeigeneinige historische Beispiele.

Betrachten wir zuerst ein sunnitisches Beispiel : Abu Hamid al-Ghazalı11

(gest. 1111) ist eine der herausragenden Gestalten der sunnitischen Geistesge-schichte. In einer Abhandlung über die methodischen Kriterien mittels dererMuslime zwischen Glauben und Unglauben unterscheiden können, versucht erzu definieren, innerhalb welcher Grenzen miteinander in Auseinandersetzung

10 S. dazu detailliert mit Fokus auf die Frühzeit Yohanan Friedmann, Tolerance and Coercion inIslam. Interfaith Relations in the Muslim Tradition (Cambridge u. a. : Cambridge UniversityPress, 2003). Vgl. differenziert mit Einbeziehung der komplexen Entwicklung der späterenZeit Albrecht Noth, „Möglichkeiten und Grenzen islamischer Toleranz“, Saeculum 29 (1978):190–204. Mit einer deutlichen Betonung der positiven Aspekte s. Adel Theodor Khoury,Toleranz im Islam (Altenberge: CIS-Verlag, 21986).

11 Es wird eine vereinfachte Umschrift benutzt, die sich an der im englischsprachigen Raumüblichen orientiert. Andere Umschriften werden dementsprechend vereinheitlicht.

Potenziale der islamischen Traditionen für Toleranz, Dialog und Pluralismus 199

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stehende theologische Auffassungen koexistieren können.12 Dabei kritisiert erdeutlich die Vermengung von Interpretation und Offenbarung.13 In seiner Dis-kussion geht al-Ghazalı bis zur Feststellung, dass solange Muslime bestimmteKernvorstellungen des Glaubens teilen (insbesondere das Glaubensbekenntnis),ein Höchstmaß an Differenz zu akzeptieren ist. Selbst völlig absurde Vorstel-lungen können nicht zur Folge haben, dass jemand als Ungläubiger bezeichnetwird.14 Er wird später noch deutlicher :

So when you see the jurist who knows nothing but law plunging into matters ofbranding people Unbelievers or condemning them as misguided, turn away from himand occupy neither your heart nor your tongue with him.15

Es mag eingewandt werden, dass es sich hier um rein innermuslimische Über-legungen handelt. Wir können aber trotzdem festhalten, dass eine – innerisla-mische – anerkennende Toleranz denkbar war. Ist sie auch unter Einschluss vonNichtmuslimen möglich?

Einer der bedeutendsten Sufis, Muhyı al-dın Ibn ’Arabı (gest. 1240), hatdiesen Einschluss so in einem oft zitierten Gedicht aus einem seiner bedeu-tendsten poetischen Werke zum Ausdruck gebracht:

Eines der wunderbarsten Dinge ist die weiß gezeichnete Gazelle;/sie weist [den Weg]mit rotgefärbten Fingerspitzen, zeigt [ihn] mit den Augenlidern. […]

Mein Herz ist bereit, jede Form anzunehmen;/es ist ein Weideplatz für Gazellen und einKonvent für Mönche,

ein Haus für Idole, eine Kaaba für den sie Umschreitenden,/die Tafeln der Tora und dasExemplar des Korans.

Ich bekenne die Religion der Liebe. Wohin auch immer sich wenden/ihre Reittiere, [ichfolge ihr], denn [diese] Religion ist die meine, meine innere Überzeugung.16

Wir können uns hier nicht in die Feinheiten der Interpretation dieses Gedichtesvertiefen. Aber : Diese Gedanken lassen sich ausbauen. Ein zeitgenössischerAutor, Vincent J. Cornell, hat dies in einer „Akbarian foundation for a liberal

12 Sherman Jackson, On the Boundaries of Theological Tolerance in Islam, Studies in IslamicPhilosophy 1 (Oxford u. a.: Oxford University Press, 2002), 4–5.

13 Ebd., 6.14 Ebd., 119–120.15 Ebd., 120.16 Übersetzung R. L. Für die herangezogene Edition des arabischen Textes s. Reynold A. Ni-

cholson, The Tarjum#n al-Ashw#q: ACollection of Mystical Odes by Muhyi’dd&n Ibn al-’Arab&(London: Royal Asiatic Society, 1911), 19. Als Einleitung für dieses Gedicht s. Michael A.Sells, Ibn ’Arabi’s „Gentle Now, Doves of the Thornberry and Moringa Thicket“ (ala yahamamati l-arakati wa l-bani) [abgerufen am 15. August 2015]. Online: http://www.ibnarabisociety.org/articles/poemtarjuman11.html.

Rüdiger Lohlker200

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theology of difference“ gemacht.17 Seine Erwägungen nehmen ihren Ausgangs-punkt von folgender Feststellung:

Vor der Moderne hätten nur wenige angesehene Gelehrte es gewagt zu behaupten: ,DerIslam ist einfach.‘ Der Islam – so wie er gelebt und verstanden wurde – war so einfachoder komplex wie er sein musste. Die Art und Weise, in der man sich mit ihm be-schäftigte, war von dem abhängig, was die Umstände erforderten.18

Cornell verweist auf eine Aussage von ’Abdalkarım al-Jılı (gest. 1424), einem derwichtigsten Vertreter der Lehre in Anschluss an Ibn ’Arabı, der in seinem Werküber den „Vollkommenen Menschen“ schreibt:

Die Formen der Verehrung [Gottes] sind unterschiedlich gemäß der Verschiedenheitdessen, was Seine Namen und Attribute19 erfordern. […] Es unterscheiden sich dieMenschen, die Völker sind aufgespalten, die unterschiedlichen Glaubensrichtungensind zutage getreten. Jede Gruppe hat sich in die Richtung dessen bewegt, was sie fürrichtig erachtet, selbst wenn dieses Wissen bei anderen als fehlerhaft erachtet wird.Gott aber lässt [dieser Gruppe] es als gut erscheinen, damit sie Ihn verehren. […] Dasseiner anerkennt, dass Er der Herr ist, ist für Ihn kein Vorteil ; dass einer dies leugnet,schadet Ihm nicht. Er – Er ist glorreich und erhaben – aber hat an ihnen gehandeltdementsprechend, was notwendig war, hinsichtlich der Vielfalt der Weisen, in der erverehrt wird, notwendig war um seiner Vollkommenheit willen. Alles, was im Sein ist,verehrt Gott.20

Eine deutlich anerkennende Toleranz wird hier zum Ausdruck gebracht.Ein Damaszener Gelehrter, ’Abd al-Ghanı al-Nabulusı (gest. 1731), Sufi, Re-

ligionsgelehrter und Dichter von Graden, Vertreter der an Ibn ’Arabı anknüp-fenden mystischen Richtung der ,Einsheit des Seins‘ hat in einer Abhandlung ineiner Briefsammlung ein für unser Thema höchst interessantes Beispiel ange-führt.21 Es handelt sich um eine Abhandlung über den Dschihad22, ein Begriff,auf den ich hier nicht eingehen kann. Aber zuerst möchte ich kurz eine andereAbhandlung zitieren, die das Rauchen behandelt. Er spricht sich gegen ein

17 Vincent J. Cornell, „Practical Sufism. An Akbarian Foundation for a Liberal Theology ofDifference“ (via academia.edu) [abgerufen am 19. August 2015].

18 Cornell, „Practical Sufism“, 7–8 [Übersetzung von R. L.].19 An dieser Stelle kann auf die Attributenlehre nicht eingegangen werden. Wichtig ist, dass die

Verschiedenheit seinsnotwendig ist.20 ’Abdalkarım al-Jılı, al-Insan al-kamil fı ma’rifat al-awa’il wa’l-awakhir (Beirut: Dar al-kutub

al-’ilmıya, 1997), 253. Cornell hat ein anderes Zitat, uns erschien aber dieses für unsereZwecke angemessener [Übersetzung R. L.].

21 Zum Kontext imperialer Toleranz/imperialen Tolerierens im Osmanischen Reich s. z. B.Karen Barkey, „Islam and Toleration: Studying the Ottoman Imperial Model“, InternationalJournal of Politics, Culture, and Society 19 (2005): 5–19.

22 S. dazu Rüdiger Lohlker, „Jihad in Ottoman Damascus: An Investigation into the Relation ofSpiritual and Military Struggle“, Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 105(2015): 221–237.

Potenziale der islamischen Traditionen für Toleranz, Dialog und Pluralismus 201

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Verbot des Rauchens aus mit der für das hier behandelte Thema interessantenBegründung: „Unsere tief verwurzelte Abneigung dagegen [gegen das Rauchen]rechtfertigt nicht – unserer Meinung nach – aus sich heraus eine Verwerflichkeitin rechtlicher Hinsicht.“23 Das heißt auch: kein Verbot. Wir bewegen uns hier indieser Unterscheidung an der Grenze zwischen Respekts- und Anerkennungs-Toleranz. Es wird eine Anerkennung der Person des Rauchenden erkennbar, dienegative Bewertung der zu beurteilenden Handlung des Rauchens wird klarerkennbar als rein persönlich. Sie wird als solche aber nicht zu einer moralischverwerflichen, gar zu einer rechtlich zu verfolgenden.24 Den weiteren Zusam-menhang kann ich hier nicht erläutern.

Ein weiteres Beispiel, jetzt aus der Abhandlung über den Dschihad, ermög-licht eine genauere Bewertung. Es geht um die Frage, in welcher Weise einGläubiger sich mit Gedanken des Bösen auseinandersetzen kann. Ihr Ziel sollesein zu verhindern, dass diese Gedanken sich in seiner Seele festsetzen. Al-Nabulusı schreibt hierzu:

Dies ist wie die Situation, in der ein Muslim und ein Ungläubiger zusammen in einerZelle eingesperrt sind. Wenn der Ungläubige seine Worte des Unglaubens aussprichtund andere [Gottheiten] verehrt als Gott den Allerhöchsten, wird dies dem Muslimnicht schaden, denn er stimmt weder dem zu, was gesagt wird, noch akzeptiert er es vondem Ungläubigen [d. h., er bewertet dies innerlich nicht als akzeptabel], jedoch kann ersich nicht von ihm entfernen.25

Hier wird deutlich, dass al-Nabulusı doch eher zu einer Respektstoleranz neigt,wenn es um Glaubensfragen geht. Er kann den Anderen zwar nicht als Gefahrsehen, und so eröffnet sich ihm die Möglichkeit, ihn zu respektieren, die sichz. B. auch in einer Abhandlung über die Schutzbefohlenen, die dhimmıs findet26 ;eine völlige Akzeptanz ist aber nicht möglich – höchstens eben gezwungener-maßen.

Betrachten wir ein zeitgenössisches sunnitisches Beispiel! Die großen sun-nitischen Organisationen in Indonesien, die Nahdlatul Ulama27 und die Muh-ammadiya28 führen seit einigen Jahren eine energische Kampagne gegen Strö-

23 Samer Akkach, Letters of a Sufi Scholar : The Correspondence of

˘

Abd al-Ghanı al-Nabulusı(1641–1731) (Leiden/Boston: Brill, 2010), 191 (ar.).

24 S. Rüdiger Lohlker, Islamisches Recht (Wien: facultas.wuv, 2012).25 Akkach, Letters of a Sufi Scholar, 41 (ar.) [Übersetzung von R. L.].26 Michael Winter, „A Polemical Treatise by

˘

Abd al-Ganı al-Nabulusı against a Turkish Scholaron the Religious Status of the D

¯immıs“, Arabica 35 (1988): 92–103.

27 S. zu dieser Organisation z. B. Robin Bush, Nahdlatul Ulama and the Struggle for Powerwithin Islam and Politics in Indonesia (Singapur: Institute of Southeast Asian Studies, 2009)und Pringles Überblick (s. u.).

28 S. zur Muhammadiya neuerdings Robert Pringle, Understanding Islam in Indonesia: Politicsand Diversity (Honolulu: University of Hawai’i Press, 2010) und Robin Bush, A Snapshot of

Rüdiger Lohlker202

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mungen, die als Hardliner oder auch als Vertreter eines formalisierten Islamsbeschrieben werden, sprich Muslimbrüder-nahe, salafistisch/wahhabitischeoder auch dschihadistische Strömungen. Ich zitiere aus einer umfangreichenStudie zu diesem Thema den aktuellen führenden spirituellen Kopf der Nah-dlatul Ulama, K. H. A. Mustofa Bisri :

Für das Volk von Indonesien würde solch ein Wandel [hin zu einem formalisiertenIslam] unausweichlich eine Verringerung des kulturellen Reichtums und der religiösenFreiheit – nicht nur für Nichtmuslime, sondern auch für Muslime – bedeuten und denIslam gröblichst entstellen.29

Der Autor fährt etwas später fort:

Unter der Annahme, dass die Menschen andauernd lernen und anderen zuhören, wirdihr Wissen natürlich segensreicher, genauer und vollständiger sein. Denn es ist tat-sächlich so, dass das, was wir heute als Wahrheit ansehen, morgen falsch sein kann,während die offensichtlichen ,Irrtümer‘ der anderen in Wirklichkeit wahr sind. Werauch immer das Auge seines Herzens verschließt – in der Überzeugung, dass er in-telligenter ist und richtiger als jeder andere – wird nicht in der Lage sein, Sichtweisen zuverstehen, die anders als seine sind. Das natürliche Ergebnis einer solchen Haltung istArroganz (takabbur) und Zurückweisung anderer Menschen. Wenn Arroganz beginntund das Hören auf andere und Lernen endet, dann beginnt Ignoranz und Dummheit –ein Zustand, der nicht nur für die betreffenden Personen und Menschen gefährlich ist,sondern auch für die Menschheit insgesamt.30

Die genannten heterogenen Organisationen sind natürlich nicht zu idealisieren,aber hier und an zahlreichen anderen Stellen der Studie wird eine recht ein-heitliche Tendenz erkennbar.31 Sie geht hin auf eine anerkennende Toleranz, imForstschen Sinne auf ein Miteinander im Dissens, wobei hier analog RawlsBestimmung den Intoleranten von den Tolerierenden Beschränkungen auferlegtwerden können.32

Für die Frage der Dialogfähigkeit ist die Frage eindeutig positiv zu beant-worten, dass diese Form der Anerkennungstoleranz bedeutet, dass ein Dialoggeführt werden kann, den die Nahdlatul Ulama und auch die Muhammadiyaengagiert führen, auch wenn in Europa wenig darüber bekannt ist.

Muhammadiyah: Social Change and Shifting Markers of Identity and Values [abgerufen am14. August 2015]. Online: https://inetapps.nus.edu.sg/ari/docs/wps/wps14_221.pdf.

29 K. H. Abdurrahman Wahid, Hg., The Illusion of an Islamic State (Jakarta u. a. : LibForAll-Foundation, 2011) (Kindle eBook) [Übersetzung von R. L.].

30 Wahid, The Illusion.31 Für den institutionellen Kontext s. z. B. Abdullah Saeed, „Towards Religious Tolerance

through Reform in Islamic Education: The Case of the State Institute of Islamic Studies ofIndonesia“, Indonesia and the Malay World 27 (1999): 177–191.

32 S. John Rawls, A Theory of Justice (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1999),190–194.

Potenziale der islamischen Traditionen für Toleranz, Dialog und Pluralismus 203

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Kommen wir noch zu schiitischen Positionen!33 Wie ein kurzer Blick in dieGeschichte zeigt – wenden wir uns einmal der Exegese des immer wieder her-angezogenen Verses Sure 2, al-baqara, 256 zu: „Es gibt keinen Zwang in derReligion“ (la ikraha fi’l-dın) – ist das Ergebnis gemischt. Zwar finden wir klareAussagen, dass dieser Vers besage, kein Mensch dürfe zur Annahme des Islamsgezwungen werden (al-Qummı und spätere). Dies wird dann aber häufig da-durch eingeschränkt, wenn diese Verkürzung erlaubt ist, dass implizit gesagtwird, dies sei nicht notwendig, da Gott in seiner Offenbarung genug Zeichengesetzt habe, die dem Verständigen die Annahme des Islams nahelegen. AuchBeschränkungen auf die Schriftbesitzer, die ahl al-kitab, finden sich. Wir kön-nen hier aber höchstens von einer Duldungstoleranz sprechen.

Nun wandeln sich Traditionen (manchmal werden sie bekanntermaßen aucherfunden). Ausgelöst durch den Bürgerkrieg im Irak nach der Invasion der USAund deren Verbündeter im Jahre 2003 hat unter zwölferschiitischen Gelehrteneine Diskussion über Fragen der Toleranz, des Dialogs etc. begonnen. EinigePositionen seien hier genannt.

Als erstes Beispiel soll der irakische Menschenrechtler und Jurist ’Abdalhu-sain Sha’ban genommen werden. Er hat zwei Beiträge zu dieser Debatte verfasst.

Darin definiert er Toleranz (al-tasamuh) als eine offene Grundhaltung, die den anderenals Träger von Menschenrechten und individuellen Grundfreiheiten anerkennt und alsuntrennbar mit den Konzepten von Pluralismus, Rechstaatlichkeit, Demokratie undnicht zuletzt den Menschenrechten verbunden gilt. Sha’bans Bewertung der aner-kennenden Toleranz ist demzufolge universalistischer Natur. Denn wenn auch dasKonzept der anerkennenden Toleranz in erster Linie eine Errungenschaft des „Wes-tens“ darstelle, symbolisiere es doch einen universellen Wert, der Sha’ban zufolgeweder exklusiv „westlich“ (gharbı) noch „orientalisch“ (sharqı) vereinnahmt werdendürfe. Es geht Sha’ban demzufolge um die Harmonisierung europäischer und islami-scher Toleranztraditionen. Damit sich innerhalb des muslimischen Denkens eineKultur der anerkennenden Toleranz festigt, müsse zunächst das eigene geistig-religiöseErbe neu betrachtet werden, da sich schon in diesem eine essenzielle Vorbedingung deranerkennenden Toleranz wiederfände: die Idee der Relativierung von Wahrheitsan-sprüchen aufgrund der menschlichen Fehlbarkeit.34

Als zweites Beispiel soll der irakische Religionsgelehrte und ReformdenkerMajid al-Gharbawı dienen. Er definiert zwar die Geschichte des Begriffs deranerkennenden Toleranz als europäisch und als solche nicht direkt übernehm-bar, sucht aber nach Wegen einer islamischen Formulierung. Insofern ist er nochin der postkolonialen Situation befangen – was für den Irak nicht verwunderlichscheint:

33 Ich folge hier Kokew, Annäherung an Toleranz.34 Ebd., 109–110.

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Für ihn ist die Verankerung von Toleranz, Gerechtigkeit und Friedfertigkeit innerhalbder irakischen Gesellschaft eine alternativlose Notwendigkeit. Duldende Toleranz(qabul al-akhar) reiche hierbei nicht aus, sondern ausschließlich durch anerkennendeToleranz (i’tiraf al-akhar) könne ein friedliches Leben in Verschiedenheit ermöglichtwerden. […]

Die Ausgangsbasis für die Etablierung einer Kultur der anerkennenden Toleranz siehtal-Gharbawı im Islam selber geboten. Er plädiert für eine ,Überprüfung‘ (al-muraja’a)des eigenen religiösen und kulturellen Erbes. […]

Für al-Gharbawı muss deshalb die Auseinandersetzung mit anderen Religionen auf derEbene des Dialogs stattfinden. Respekt und Achtung gegenüber anderen Religionendürfe nicht als Schwäche des eigenen Glaubens aufgefasst werden.35

Damit wird deutlich, warum hier über Toleranz zu sprechen war, um die Po-tenziale für Dialog und Pluralismus in den Blick zu bekommen. Dies ist keinerein westliche Konstruktion, sondern vielmehr erwachsen aus inneren Debattenmuslimisch geprägter Gesellschaften.

Der kurze Durchgang, den ich unternommen habe und der einer stärkerenSystematisierung bedürfte, scheint mir zu zeigen, dass Potenziale dialogischenreligiösen Denkens, die auf einer akzeptierenden Toleranz basieren, in islami-schen Kontexten und Traditionen bis in die Gegenwart vorhanden sind. Wennsich islamisches Denken aus der Verfangenheit in der kolonialen und postko-lonialen Situation befreit, ist ein Anknüpfen an diese historischen Traditionenund deren Weiterentwicklung möglich.36

35 Ebd., 118–119.36 Empirische Daten zeigen, dass für solche Entwicklungen an zentrale Rituale wie die Pil-

gerfahrt nach Mekka angeknüpft werden könnte, die als ein Prozess des embodiment vonToleranz gedacht werden können (David Clingingsmith u. a. , „Estimating the Impact of theHajj: Religion and Tolerance in Islam’s Global Gathering“, Quarterly Journal of Economics124; Nr. 3 (2009): 1133–1170.

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