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Hahl Realismus Killy-Lex

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Realismus

R. in Literatur u. Kunst bedeutet nach populärer Übereinkunft die Darstellung erfahrungsmäßiger Wirk-lichkeit in

ihrer unmittelbaren Erscheinung oder im Durchblick auf ihre treibenden Kräfte u. Bedingungen. Mit ›Realismus‹

verbindet sich die Konnotation ungeschminkter u. unverhüllter Wahrheit, des Gegensatzes gegen Idealis-mus,

Schönfärberei u. bloßen Schein. Dieser allerdings naiv-empiristische Realismusbegriff übergeht die Frage nach dem

jeweiligen Wirklichkeitsverständnis u. den Normen, die der Wirklichkeitserfahrung vorangehen u. sie prägen. So

erscheinen viele satir. Werke vom 15. bis ins 17. Jh. ›realistisch‹, die den Vorgaben des theolog. Diskurses gehorchen u.

daher nicht in erster Linie fragen, was die Dinge sind, sondern was sie allegorisch bedeuten. Für die Literaturwissen-

schaft ist R. eine Tendenzformel, die der histor. Spezifikation bedarf (Christlicher, Sozialistischer R.).

Als literarhistor. Epochenbegriff gehört R. zu jenen, die (anders als ›Klassik‹, ›Romantik‹ oder ›Expressionismus‹)

einem allgemeingeschichtlichen Epochenbegriff entsprechen. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. ist ›Realismus‹ ein

Schlüsselwort im Selbstverständnis des bürgerl., nationalstaatl. u. naturwissenschaftlich-techn. Zeitalters; die Literatur

deutete es lediglich auf ihre Weise. Dieser Verklammerung von allgemeinem u. literaturhistorischem Epochenver-

ständnis trägt der Ausdruck ›Bürgerlicher Realismus‹ angemessen Rechnung, auch wenn in Deutschland u. erst recht in

Österreich nur beschränkt von einem ›bürgerlichen Zeitalter‹ gesprochen werden kann. Der von Otto Ludwig her

gebräuchl. Begriff ›Poetischer Realismus‹ stellt insofern keine Konkurrenz dar, als er ein Programmwort der damaligen

bürgerl. Literaten u. damit selbst ein Element des Bürgerlichen R. ist.

Der Beginn, den man für die Epoche des literar. R. ansetzt, fällt mit der großen geschichtl. Zäsur der kontinental-

europ. Revolutionen von 1848/49 zusammen (Martini 1962, Sengle 1971). Und wie die erste dt. Revolution sich etwa

seit 1840 vorbereitet hat, so auch die dt. Spielart des R. Die Junghegelianer, publizistische Wortführer der politischen

Opposition im Vormärz, erhoben die Literarästhetik, die wegen der Zensur ohnehin dem verschlüsselten politischen

Diskurs diente, in den Rang einer kulturkrit. Disziplin, die auf einer Meßskala von ›subjektiver‹ (= historisch gehalt-

loser) bis ›objektiver‹ (= historisch gehaltvoller) Literatur den Grad der Verwirklichung von ›Freiheit‹ im politischen u.

kulturellen Leben einer Epoche ermittelt. Die junghegelian. Literaturkritik bestand in einer generellen Abrechnung mit

der jüngeren Vergangenheit u. dem Herbeireden einer neuen Zeit. Arnold Ruge, Georg Gottfried Gervinus, Friedrich

Theodor Vischer u. andere verwarfen die gesamte, auch die oppositionelle literar. Kultur im bestehenden Obrigkeits-

staat, von der Romantik über Heine u. die Jungdeutschen bis zur Tendenzlyrik der 40er Jahre. Ihr Argument lautete

sinngemäß: Ein Volk, das daran gehindert ist, die staatl. u. gesellschaftl. Wirklichkeit nach seinem sittl. Willen zu

gestalten, vermag auch seine künstlerische Produktion nicht mit sittl. Gehalt zu durchdringen; wo die Wirklichkeit

trivial ist, zerfällt die Literatur in triviale Schilderungen einerseits, haltlosen Subjektivismus, frivole Geistreichelei u.

rhetorische Deklamationen andererseits. Der ›Reflexionspoesie‹ stellte man die Forderung nach einer objektiven u.

geschichtl. Poesie gegenüber, der freilich die befreiende geschichtl. ›Tat‹ vorangehen müsse. Gute Ansätze wollte man

im histor. Roman finden, den Robert Prutz zur Keimzelle des künftigen nationalen Versepos erklärte, ferner in der

volksnahen Dorfgeschichte (so Gustav Freytag u. Julian Schmidt) u. in der Ballade, die nach Vischer die rhetorische

Lyrik ablösen sollte.

Diese Programmatik, die auf das Gelingen einer bürgerl. Revolution (oder, bei Freytag u. Schmidt, auf die Fähigkeit

des Bürgertums, die Fürsten von seiner histor. ›Berechtigung‹ zu überzeugen) setzte, bildete zusammen mit dem Schei-

tern der Revolution den Ausgangspunkt für ein realistisches Literaturprogramm (womit kein bestimmtes Manifest,

sondern die Summe der grundsatzmäßig formulierten Literaturtheorie u. -kritik bürgerlich-realistischer Tendenz ge-

meint ist). Die harte Abrechnung mit den vorangegangenen Epochen u. Tendenzen der dt. Literatur wurde – vor al-

lem durch den Hegelianer Schmidt in den »Grenzboten« – fortgesetzt; ebenso die Forderung nach Darstellung ›objek-

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tiver‹ sittlicher Verhältnisse u. die Ächtung der Reflexionspoesie. Aufgegeben wurde jedoch nach dem Sieg der Fürsten

die Hoffnung, durch die Verwirklichung polit. Selbstbestimmung die Entfremdung im öffentl. Leben aufzuheben. Die

»Grenzboten« behaupteten statt dessen echt ›realpolitisch‹, das Bürgertum sei ohnehin im Zuge, die Macht zu erobern,

indem es zunächst das private u. wirtschaftl. Leben unaufhaltsam mit seiner überlegenen sittlichen Gesinnung u. Bil-

dung durchdringe. Soweit bürgerl. Sittlichkeit der dt. Wirklichkeit ›immanent‹ sei, biete diese bereits den Boden für

objektive Literatur u. Kunst. Nicht in ›abstrakter‹ Politik u. Bildung, sondern in tüchtiger Arbeit liege die Zukunft der

dt. Nation (vgl. den Satz Schmidts, den Freytag seinem Roman Soll und Haben, Lpz. 1855, als Motto vorangestellt hat).

Auf der Grundlage dieser histor. Standortbestimmung trat der Bürgerliche R. in seine erste, vor allem programmat.

Phase; sie dauerte bis 1859, dem Beginn der »Neuen Ära« in Preußen mit ihrer trügerischen Aussicht auf eine Liberali-

sierung des Staates u. auf einen Klassenkompromiß zwischen Bürgertum u. Adel. Die wichtigsten Organe des pro-

grammatischen R. waren »Die Grenzboten. Zeitschrift für Literatur und Politik«, seit 1848 herausgegeben von Gustav

Freytag u. Julian Schmidt, u. »Deutsches Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben«, herausge-

geben von Robert Prutz (zeitweise mit Wilhelm Wolfsohn bzw. Karl Frenzel), 1851 bis 1867. Diese Zeitschriften-

Konstellation kennzeichnet den ›realistischen‹ Geist der Epoche. Denn die »Grenzboten«- Herausgeber gehörten,

politisch gesprochen, der ›gothaischen‹ (später nationalliberalen) Richtung an, die für ihre gemäßigte Haltung während

der Revolution mit Duldung zumindest außerhalb Preußens u. Österreichs belohnt wurde. Prutz dagegen, Sympathi-

sant der demokratischen Bewegung, erkaufte sein publizistisches Überleben durch erhebliche Zugeständnisse an die

›Macht der Tatsachen‹ u. vertrat nun ebenfalls ›gemäßigte‹ u. ›realistische‹ Ansichten zur Literatur, die urspr. nicht die

seinen waren. Daß dies nicht nur als Taktik zu werten ist, sondern als ›Einsicht‹, bezeugt eine ähnl. Anpassung bei

Gottfried Keller u. Hermann Hettner. Verhaßt wegen ihres nachträglichen Einschlagens auf die demokratischen

›Theoretiker‹ u. ›Idealisten‹, markierten die »Grenzboten« dennoch die einzige möglich erscheinende Generallinie.

Auch sie schlossen resignative Kompromisse, die mit ihrem Liberalismus auf die Dauer nicht vereinbar waren: Sie

suchten sozialkonservative Autoren wie Jeremias Gotthelf u. Otto Ludwig als Vorläufer eines bürgerl. R. aufzubauen

u. glaubten andererseits, in dem friedfertigen, aber entschieden demokratisch gesonnenen Berthold Auerbach einen

Mitstreiter gewinnen zu können. Die relative Geschlossenheit des realistischen Programms, zu dem auch ein unab-

hängiger Kopf wie Theodor Fontane konformistische Beiträge lieferte, ist ein Ergebnis der Lage unmittelbar nach der

gescheiterten Revolution. Aus diesem Befund ergibt es sich, daß vom realistischen Programm zwar eine wichtige Ini-

tialzündung ausgehen, daß es aber nicht für die ganze dynam. Epoche maßgebend bleiben konnte. Immerhin besaß es

so viel bürgerlich- ideolog. Plausibilität, daß noch der jüngere, im preuß. Verfassungskonflikt auf der Seite der linksli-

beralen »Fortschrittspartei« stehende Friedrich Spielhagen bis in die 80er Jahre daran weiterarbeitete. Die relative Kon-

tinuität erklärt sich daraus, daß das ästhetische Objektivitätspostulat, das geschichtsphilosophisch begründet worden

war, durch den Aufschwung der exakten Wissenschaften gestärkt wurde: jedoch so, daß die wissenschaftliche Objekti-

vität von der realistischen Poetik als konkurrierendes Konzept angesehen wurde. Der reflektierte literarische R. blieb –

trotz des damals gern betonten Gegensatzes zum Idealismus – auf eine unspezif. Version der Geschichtsphilosophie

des dt. Idealismus gegründet (Hahl 1971, Kinder 1973), so in Ludwigs Studien, in Auerbachs wichtigem Buch Schrift

und Volk (Lpz. 1846) u. in Vischers maßgebl. Ästhetik (Lpz. u. Reutl., später Stgt. 1846-57). Spielhagens Beiträge zur

Theorie und Technik des Romans (Lpz. 1883) beziehen sich positiv auf Wilhelm von Humboldts Ästhetische Versuche (1798;

zur klassizistischen Tradition im R.: Widhammer 1972). Die geschichtsphilosophische Grundlage des deutschen Bür-

gerlichen R. erklärt dessen oberstes, offenbar ›unrealistisches‹ Prinzip, daß die Kunst die erfahrungsgemäßen Wider-

sprüche der Wirklichkeit zwar darstellen, sie aber ›verklären‹, d.h. auf eine glaubwürdige Versöhnung hin transparent

machen müsse (vgl. Auerbach: Schrift und Volk). Der Empirismus, den man volkstümlich für die wissenschaftliche

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Grundlage u. Entsprechung des künstlerischen R. hält, war in dieses Konzept eingebunden. Wenn Vischer sagt: »Die

Grundlage des modernen Epos, des Romans, ist die erfahrungsmäßig erkannte Wirklichkeit, also die schlechthin nicht

mehr mythische, die wunderlose Welt«, so sagt er damit nichts gegen die geschichtsphilosophische Überhöhung der

Wirklichkeit. Der Empirismus hatte sich in der Biedermeierzeit oft zwangloser mit der Literatur verbunden als im R.

(Sengle 1971). Angesichts der Triumphe wertfreier Erfahrungswissenschaft sah die Literarästhetik die Aufgabe der

Kunst gerade in der ›verklärenden‹ Bewältigung der Empirie. Dem dt. Bürgerlichen R. entspricht nicht der wissen-

schaftliche Empirismus, sondern der philosophische Monismus; mehr als die Gesellschaft interessierte ihn die ›Welt‹.

(Bei Keller oder Theodor Storm ist dies deutlich. Es bleibe dahingestellt, ob Wilhelm Raabes in der Ära von Theodor

W. Adornos ›negativer Ästhetik‹ vielgelobte ›Gesellschaftskritik‹ nicht den pauschalen Charakter von ›Welt‹-Verachtung

hat u. somit das pessimistische Gegenstück zur programmgemäßen ›Verklärung‹ darstellt.)

Die wichtigsten poetologischen Forderungen des programmat. R.: 1. Verbannung rhetorischer Prinzipien, insbes. a)

des Allegorischen, das nur Abstraktes willkürlich versinnlicht; statt dessen eine von der wirkl. Erscheinung ausgehende

symbolische Weltdeutung (Vischer);b) preziöser u. unstimmiger (katachretischer) Bilder (Kritik an den Jungdeutschen);

c) abstrakt-deklamatorischer Sprache (Kritik an Schiller); d) des ›niederen Stils‹ (Keller gegen Gotthelf); statt dessen

›Verklärung‹ des Alltags u. ein ›mittlerer Stil‹ (Sengle 1971), wie er der soziolog. Stellung des Bürgertums entspricht; e)

der Kleinteiligkeit rhetorischer Sondereinheiten in größeren Kompositionen (beschreibende, belehrende, reflektieren-

de, satirische, idyllische, genrehafte Einlagen bes. im Roman); f) jegl. ›Tendenz‹ oder Absicht. – 2. Vermeidung von

Stoffen und Formen, die exklusive literar. Bildung voraussetzen; statt dessen allg. interessierende u. zugängl. Werke;

eventuelle unauffällige Vermittlungsleistung durch den Erzähler oder einen ›mittleren Helden‹ nach dem Vorbild

Walter Scotts (Ludwig); Respekt vor den ›gesunden‹ Ansichten des Volkes; stärkere Beachtung des handel- u. gewerbe-

treibenden gegenüber dem Bildungsbürgertum, der ›realistischen‹ (= gewerblichen) Bildung gegenüber der ›humanis-

tischen‹. – 3. eine charakterisierende Sprache, daher auch Bevorzugung der Prosa; jedoch kein Soziolekt in der Er-

zählerrede. – 4. für Roman u. Novelle: kunstvoll-schlichtes Erzählen statt iron. Spiel mit der Fiktion. – 5. Helden, die

das bürgerl. Leben charakteristisch prägt (Familie, Arbeit, soziale Gemeinschaft, bürgerl. Liebe); Eliminierung des

Abenteuerlichen, Romantischen, sozial Randständigen; Verzicht auf ›problematische‹ Charaktere. – 6. Vermeidung

eines nicht durch ›Verklärung‹ u. ›Humor‹ gemilderten ›Elendsrealismus‹, der eine soziale Anklage gegen die bürgerl.

Gesellschaft begründen würde, wo diese noch als – angeblicher – Anwalt des ganzen Volkes um die Menschen- u.

Bürgerrechte kämpft. – 7. Auffassung des Dichtens als bürgerl. Arbeit mit spezif. Verpflichtung zu ›Sauberkeit‹ der

Komposition u. des Stils, Zügelung der Subjektivität, Treue zum Werk als ästhetische Einheit; Verzicht auf publizis-

tische Grenzüberschreitung.

Die Literatur des dt. R. hat ihre größten Leistungen auf dem Gebiet der Novelle hervorgebracht. Das Fehlen einer

dt. Hauptstadt bis 1871, der Provinzialismus der dt. Literatur haben die Entwicklung des Gesellschaftsromans behin-

dert. Die Tradition des klassisch- romant. Bildungs- oder Künstlerromans gab Innovationen häufig den Rahmen vor.

Den schwierigen Übergang vom romantischen zum bürgerl. Gattungstyp, zgl. von der romantischen zur bürgerlichen

Künstlerexistenz des Autors zeigt der mit Herzblut geschriebene autobiographische Roman Gottfried Kellers Der

grüne Heinrich (Braunschw. 1854/55). Trotz seiner scheinbaren Subjektivität ist das Werk ein großes Dokument der

erlebten Krise der bürgerl. Gesellschaft (Sautermeister 1980, Kaiser 1981). – Einen realistischen Musterroman wollte

Freytag mit Soll und Haben (Lpz. 1855) schaffen. Die routiniert erzählte Geschichte, die Generationen von deutschen

Konfirmanden beeinflußt hat, handelt von dem schles. Kaufmannsgehilfen Anton Wohlfahrt, der durch Fleiß, Treue

u. Mut – ein kleinbürgerl. Uli der Knecht – zum Schwager seines Prinzipals aufsteigt. Rechts u. links treiben Juden u.

ein adliger Gutsbesitzer krumme Geschäfte; die benachbarten Polen – ein katholisch u. feudalistisch geprägtes Volk

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ohne bürgerl. Mittelstand – blockieren die Erschließung wirtschaftl. Ressourcen. In der Darstellung u. Demontage

dieser unbürgerl. Kräfte erweist sich der Roman als ideologische Schemaliteratur: Fink, ein Dandy aus dem hansea-

tischen Patriziat, fällt im gesitteten Deutschland durch monumentale Frechheit auf, die ihn jedoch zum bewunderten

dt. Ostkolonisatoren befähigt; eine dt. Aristokratin, als solche für den Autor zu Hause ebenfalls nicht recht verwen-

dungsfähig, begleitet ihn heroisch mit der Flinte. Der einzige sympath. Jude ist ein nicht lebens- u. fortpflanzungs-

fähiger Literaturfreund, womit auch die literar. Bildung u. der traditionell mit ihr verschwisterte Humanismus und

Kosmopolitismus ihr Teil bekommen. – Otto Ludwig rückte in seiner Novelle Zwischen Himmel und Erde (Ffm. 1856) in

anderem Sinn von der humanistischen Bildung ab. Ein Schieferdeckermeister, zgl. ein Mensch von äußerster Gewis-

senhaftigkeit u. Reinlichkeit, ist der Held. Verinnerlichte, vom Kirchlichen abgelöste religiöse Gebote, Schuldangst u.

andere Tabus bestimmen als »heilige Schranke des Gefühls« den Helden zum Verzicht auf das volle Glück. Der Autor

wollte ihn (laut einem Briefentwurf) nicht als Vorbild und Asketen verstanden wissen, sondern realistisch als einen

Hypochonder, der nur durch Resignation glücklich werden konnte. Trotzdem scheint es, daß Ludwig der »humanen

und philosophischen Bildung unserer Zeit« den sittl. Wert eingefleischter Pietät entgegenhalten wollte. – Keller, Auer-

bach u. andere große Autoren des R. haben die konservative Aufbietung realistischer gegen humanistische Charak-

terbildung nicht mitvollzogen (andererseits auch nicht die Auflösung der bürgerl. Ordnung im Namen des ›Menschen‹

gutgeheißen). Kellers Novelle Das Fähnlein der sieben Aufrechten (1860) ist ein Musterstück des mit dem demokratischen

Humanismus harmonierenden R. Die übermäßige Verklärung der bürgerl. Gesellschaft in dieser Novelle – die tradi-

tionellen Regionalfeindschaften, die vormärzliche Kampfrhetorik u. die neuen, durch Besitzunterschiede bedingten

Interessengegensätze lösen sich im Freundschaftsbund des freien Volkes auf – entspringt nicht nur idyllisierender

Rückschau auf die Gründung des Schweizer Bundesstaats im Jahr 1848, sondern sie ist auch ein aktueller u. optimis-

tischer Reflex auf die »Neue Ära« in Preußen, die in Deutschland eine Wiederbelebung der demokratischen Bewegung

in Form von Volksfesten, Schillerfeiern u. dergleichen nach sich zog. Daher ist diese Novelle noch einmal von dem

Ästhetik u. Politik verbindenden programmat. u. utop. Elan der Revolutionszeit geprägt (Hahl 1977). In dem Novel-

lenzyklus Die Leute von Seldwyla (Braunschw. 1856. Vermehrte Aufl. Stgt. 1873/74), der das Schildbürgermotiv aufgreift,

ist Verklärung der sozialen ›Narrheit‹ z. T. nur durch das tragische Selbstopfer der jüngeren und besseren Generation

möglich (Romeo und Julia auf dem Dorfe); die herkömmliche asketische Volkserziehung, die jedes große Lebensmotiv

(schöpferische Arbeit, Liebe, Bildung) einschachtelt, einkapselt u. tötet (exemplarische Figur: Züs Bünzlin) ist Gegen-

stand einer satir. Novelle, deren Verklärungsmoment nicht mehr in der dargestellten Welt liegt, sondern allein in der

befreienden Phantasie u. Souveränität des dichterischen Werkes (Die drei gerechten Kammacher), das hier die humanen

Möglichkeiten der bürgerl. Gesellschaft vertritt. Der Abstand vom »Grenzboten«-Positivismus ist evident.

Die 60er Jahre brachten den preuß. Verfassungskonflikt, bei dem Bismarck das Parlament ausmanövrierte, da er

Preußen durch den Sieg über Österreich als Garanten der zukünftigen Reichseinheit präsentierte u. die Massen hinter

sich brachte. Die politischen und menschenrechtlichen Fragen, die Spielhagen (In Reih' und Glied. Bln. 1867; ein Las-

salle-Roman) u. Auerbach (Auf der Höhe. Stgt. 1865. Das Landhaus am Rhein. Ebd. 1869; Sklavenfrage und Sezessions-

krieg in den Vereinigten Staaten) im Roman aufwerfen, werden von der bereits 1866 einsetzenden Reichseinungspro-

paganda übertönt (Gründerzeit). – Mit dem Geschichtsoptimismus des programmat. R. unvereinbar ist das erzählende

Werk des dennoch als Realist geführten Wilhelm Raabe, der seit den 60er Jahren seine pessimistische Grundhaltung

offenbarte. Die bürgerl. Gesellschaft stellte er immer wieder als bösartigen Spießerverein zur Befriedigung der Lust

auf üble Nachrede dar (z.B. in Abu Telfan. Stgt. 1868). Er wagte wieder Allegorien überzeitlicher Mächte wie: das Le-

ben als Pestkarren (Schüdderump. Braunschw. 1870). Erzähltechnisch spielte Raabe mit allen Konventionen oder viel-

mehr mit deren Glaubwürdigkeit u. machte das Erzählen selbst zur Quelle tiefer Desorientierung. Ist Stopfkuchen durch

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den Untertitel (Eine See- und Mordgeschichte. Bln. 1891) wirklich als Detektivroman ausgewiesen (so Eisele 1979)? Der

Sonderling Stopfkuchen erweckt zwar beim fiktiven Erzähler u. daher beim Leser das Bild eines Mannes, der die Ge-

meinheiten u. Verbrechen der Spießerwelt, gegen die er sich verschanzt, souverän durchschaut. Doch seine pennäler-

hafte, korrumpierte Bildungssprache, seine satte Selbstgerechtigkeit usw. beweisen: Der scheinbare Held ist selbst ein

Spießer. Die Modernität Raabes besteht darin, daß alle Facetten des Textes die Botschaft gleichberechtigt transportie-

ren, u. zwar oft an den vertrauten Erzählkonventionen vorbei. – Fontanes Gesellschaftsromane bestechen durch die

völlige Verschmelzung von genau charakterisierender u. symbolischer Darstellung, v. a. in den Gesprächen der Perso-

nen. Fontane ist der einzige dt. Realist, bei dem man, ohne den internationalen Maßstab fürchten zu müssen, von »so-

zialer Romankunst« (Müller-Seidel) sprechen kann. Gegenüber der ›wissenschaftlichen‹ Sozialkritik der Naturalisten

war er der offenste. Kein Wunder, daß er die Grenzen dt. Publikationsmöglichkeiten in seiner Zeit erfahren hat: Auf

Vorabdruck finanziell angewiesen, weil Bücher immer noch schlecht gekauft wurden, mußte er Rücksicht nehmen auf

den Abonnenten, der sich eine »Hurengeschichte« wie Irrungen Wirrungen (Lpz. 1888) in seinem Familienblatt verbat. –

Der große Novellendichter Theodor Storm behandelte u. a. das wissenschaftl. Thema der Vererbung; so in Aquis sub-

mersus (1876), wo ein dem romant. Schicksalsdrama entlehnter fatalistischer Gang der Handlung u. eine die Vergäng-

lichkeit des Lebens beschwörende Rahmentechnik die naturgesetzl. Determination als vorwissenschaftliche Erfah-

rungswirklichkeit vermitteln; auch die Antwort auf das Problem wird nicht durch naturwissenschaftliche Fragestellung

vorgezeichnet, sondern ist eine existenzielle Entscheidung: Der Vater glaubt lieber, daß er am Tod seines Kindes

schuld sei, als daß er die anonyme Macht eines erbl. ›Fluchs‹ verantwortlich macht u. die persönl. Vaterschaft dadurch

entwirklicht. In Der Schimmelreiter (1888) kämpft der rational denkende Held für einen Deichbau u. gegen den Aber-

glauben, daß dieses Vorhaben ein lebendes Opfer fordere; doch seine Tatkraft kostet ihrerseits Leben, sogar das eige-

ne, u. scheint ebenfalls von Mächten getragen, die Opfer nehmen. – Conrad Ferdinand Meyer stellte sich v. a. der Fra-

ge der Geschichte: Seine histor. Novellen bieten keineswegs Historie in novellistischer Form, sondern die Problemati-

sierung des historischen Diskurses. Die unergründliche Zwiespältigkeit der menschl. Natur – z.B. christl. Heiliger oder

Rächer persönlicher Unbill (Der Heilige. Lpz. 1880) – zwingt, die Frage neu zu stellen, was Geschichte sei, wenn dieser

zwiespältige Mensch ihr Subjekt – oder ihr Werkzeug? – ist.

Bibliographie: Helmut G. Herrmann: Bürgerl. R. u. erzählende Prosa. Eine Auswahlbibliogr. (Stand Sommer 1979). In: Horst Denkler (Hg.): Romane u. Erzählungen des Bürgerl. R. Neue Interpretationen. Stgt. 1980, S. 393-408. – Programmatische Texte: Max Bucher u. a. (Hg.): R. u. Gründerzeit. Manifeste u. Dokumente zur dt. Literatur 1848-80. 2 Bde., ebd. 1975 u. 1976 (mit Einführung u. annotierter Quellenbibliogr.). – Hans-Joachim Ruckhäberle u. Helmuth Widhammer: Roman u. Romantheorie des dt. R. Darstellung u. Dokumente. Ffm. 1977. – Gerhard Plumpe (Hg.): Theorie des bürgerl. R. Stgt. 1985. – Forschungsberichte: Fritz Martini: Forschungsber. zur dt. Literatur in der Zeit des R. (1960). Ebd. 1962. – Bernd u. Cordula Kahrmann: Bürgerl. R. In: WWort 23 (1973), S. 53-68. 24 (1974), S. 339-356. 26 (1976), S. 356-381. -Ulf Eisele: Realismusproblematik. Überlegungen zur Forschungssituation. In: DVjs 51 (1977), S. 148-174. – Gotthart Wunberg u. Rainer Funke: Dt. Literatur des 19. Jh. (1830-95). 1. Ber.: 1960-75. Bern 1980. – Hugo Aust: Bürgerl. R. Forschungsber. In: WWort 30 (1980), S. 427-447. 35 (1985), S. 72-85. – Literatur zum Realismusbegriff/-programm: Winfried Hellmann: Objektivität, Subjektivität u. Erzählkunst. Zur Romantheorie Friedrich Spielhagens. In Wesen u. Wirklichkeit des Menschen. FS Helmuth Plessner. Gött. 1957, S. 340-397. – Richard Brinkmann (Hg.): Begriffsbestimmung des literar. R. Darmst. 1969. 31987. – Sengle 1, S. 257-291. – Werner Hahl: Reflexion u. Erzählung. Ein Problem der Romantheorie von der Spätaufklärung bis zum programmat. R. Stgt. 1971. – H. Widhammmer: R. u. klassizist. Tradition. Zur Theorie der Literatur in Dtschld. 1848-60. Tüb. 1972. – Hermann Kinder: Poesie als Synthese. Ffm. 1973. – Reinhold Grimm u. Jost Hermand (Hg.): Realismustheorien in Literatur, Malerei, Musik u. Politik. Stgt. 1975. – U. Eisele: R. u. Ideologie. Zur Kritik der literar. Theorie nach 1848 am Beispiel des ›Deutschen Museums‹. Ebd. 1976. – Stephan Kohl: Realismustheorie u. Gesch. Mchn. 1977. – H. Widhammer: Die Literaturtheorie des dt. R. (1848-60). Ebd. 1977. – Franz Rhöse: Konflikt u. Versöhnung. Untersuchungen zur Theorie des Romans v. Hegel bis zum Naturalismus. Ebd. 1978. – Andrea Fischbacher-Bosshardt: Anfänge der modernen Erzählkunst. Untersuchungen zu Friedrich Spielhagens theoretischem u. literarischem Werk. Bern u. a. 1988. – Literaturgeschichte und Interpretation: R. Brinkmann: Wirklichkeit u. Illusion. Studien über Gehalt u. Grenzen des Begriffs R. für die erzählende Dichtung des 19. Jh. Tüb. 1957. 31977. – Fritz Martini: Dt. Literatur im bürgerl. R. 1848-98. Stgt. 1962. 41981. – Wolfgang Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft. Studien zur Erzähl-kunst des poetischen R. Mchn. 1963. 21976. – Georg Lukács: Probleme des R. I-III. Neuwied 1964/65. – H. Aust: Literatur des R. Stgt. 1977. 21981. – W. Hahl: R. u. Utopie in den 50er Jahren. Zu Gottfried Kellers Fähnlein der sieben Aufrechten. In: Alberto Martino (Hg.): Literatur in der sozialen Bewegung. Tüb. 1977, S. 327-354. – U. Eisele: Der Dichter u. sein Detektiv. Raabes Stopfkuchen u. die Frage des R. Tüb. 1979. – H. Denkler (Hg.): Romane u. Erzählungen des Bürgerlichen R. Neue Interpretationen. Stgt. 1980. – Gert Sautermeister: Gottfried Keller, Der grüne Heinrich. Gesellschaftsroman, Seelendrama, Romankunst. In: ebd., S. 80-123. – Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben. Ffm. 1981. – Clifford Albrecht Bernd: German Poetic Realism. Boston 1981. – Joseph P. Stern: Über literar. R. Mchn. 1983. – Roy C. Cowen: Der Poetische R. Kommentar zu einer Epoche. Ebd. 1985. – Hermann Korte: Ordnung & Tabu. Studien zum poetischen R. Bonn 1989.

Werner Hahl

Werner Hahl: "Realismus". In: Walther Killy (Hg.): Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Sachlexikon: Realismus, Bd. 14, S. 265 ff.