Gesundheit Und Gesellschaft

Embed Size (px)

Citation preview

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    1/314

    Gesundheit und Gesellschaft

    Herausgegeben von

    U. Bauer, Essen, DeutschlandU. H. Bittlingmayer, Freiburg, DeutschlandM. Richter, Halle, Deutschland 

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    2/314

    Der Forschungsgegenstand Gesundheit ist trotz reichhaltiger Anknüpungspunktezu einer Vielzahl sozialwissenschaflicher Forschungselder – z. B. Sozialstruktur-analyse, Lebensverlausorschung, Alterssoziologie, Sozialisationsorschung, poli-tische Soziologie, Kindheits- und Jugendorschung – in den Reerenzproessionenbisher kaum präsent. Komplementär dazu schöpen die Gesundheitswissenschafen

    und Public Health, die eher anwendungsbezogen arbeiten, die verügbare sozial-wissenschafliche Expertise kaum ernsthaf ab.

    Die Reihe „Gesundheit und Gesellschaf“ setzt an diesem Vermittlungsdezit anund systematisiert eine sozialwissenschafliche Perspektive au Gesundheit. DieBeiträge der Buchreihe umassen theoretische und empirische Zugänge, die sichin der Schnittmenge sozial- und gesundheitswissenschaflicher Forschung benden.Inhaltliche Schwerpunkte sind die detaillierte Analyse u. a. von Gesundheits-konzepten, gesundheitlicher Ungleichheit und Gesundheitspolitik.

    Herausgegeben von

    Ullrich BauerUniversität Duisburg-Essen,Deutschland

    Uwe H. Bittlingmayer

    PH Freiburg,Deutschland

    Matthias RichterMartin-Luther-UniversitätHalle-Wittenberg,Deutschland

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    3/314

     Timo-Kolja Pförtner 

    Armut und Gesundheitin Europa

     Theoretischer Diskursund empirische Untersuchung

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    4/314

    Timo-Kolja PörtnerUniversitätsklinikum HalleHalle, Deutschland

     Dissertation Universität zu Köln, 2012.

     

    ISBN 978-3-658-01411-7 ISBN 978-3-658-01412-4 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-01412-4

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio-nalbibliograe; detaillierte bibliograsche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabruar.

    Springer VS© Springer Fachmedien Wiesbaden 2013Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung,die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedar der vorherigen Zu-stimmung des Verlags. Das gilt insbesondere ür Vervielältigungen, Bearbeitungen, Über-setzungen, Mikroverlmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen

    Systemen.

    Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in die-sem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dasssolche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als rei zubetrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen.

     Gedruckt au säurereiem und chlorrei gebleichtem Papier

    Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der FachverlagsgruppeSpringer Science+Business Media.www.springer-vs.de

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    5/314

     

    Inhalt

    1  Einleitung ...................................................................................... 11 

    2  Begriffliches .................................................................................. 17 2.1  Was ist Gesundheit? ....................................................................... 17 2.2  Was ist Armut? ............................................................................... 22 

    3  Mikro- und makrosoziologische Theorien zur Beziehungzwischen Armut und Gesundheit ................................................. 33 

    3.1  Mikrosoziologische Ansätze ........................................................... 33 3.1.1 Die Selektions- oder Drifthypothese ................................................ 343.1.2 Die Verursachungshypothese .......................................................... 353.1.3 Abschließendes Resümee ................................................................ 50

    3.2  Theorie psychosozialer Vergleichsprozesse ..................................... 51 3.2.1 Der epidemiologische Übergang ..................................................... 52

    3.2.2 Die ökonomische Ungleichheit ........................................................ 533.2.3 Die soziale Angst ............................................................................ 543.2.4 Der soziale Zusammenhalt .............................................................. 553.2.5 Die Einkommensungleichheit und der soziale Zusammenhalt ........... 583.2.6 Der soziale Zusammenhalt und die Gesundheit ............................... 603.2.7 Abschließendes Resümee ................................................................ 63

    3.3  Der neo-materialistische Ansatz ...................................................... 64 3.3.1 Theoretische Einordnung ................................................................ 643.3.2 Was sind Infrastrukturbedingungen? ............................................... 663.3.3 Die Zugangsgerechtigkeit im Gesundheitssystem ............................. 673.3.4 Gesundheitspolitische Interventionsansätze gegen

    armutsinduzierte Gesundheitsunterschiede ...................................... 743.3.5 Abschließendes Resümee ................................................................ 84

    3.4  Das dreigliedrige Erklärungsmodell ................................................ 85 3.4.1 Die sozialen und politischen Aspekte des

    Wirtschaftsliberalismus .................................................................. 863.4.2 Der globale Kapitalismus und das Wohlfahrtsregime ...................... 88

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    6/314

    6 Inhalt

    3.4.3 Das armutsinduzierte Gesundheitsrisiko in liberalenGesellschaften ................................................................................ 92

    3.4.4 Abschließendes Resümee ................................................................ 95

    3.5  Theoretische Schlussbetrachtung .................................................... 95 4  Aktueller Forschungsstand........................................................... 99 4.1  Zum Wirken absoluter und/oder relativer Armut ............................. 99 4.2  Empirische Befunde zum dreigliedrigen Erklärungsmodell ............ 105 4.2.1 Die Variation armutsinduzierter Gesundheitsunterschiede im

    Wohlfahrtsregimevergleich ........................................................... 1064.2.2 Die Einkommensungleichheit und der soziale Zusammenhalt im

    Wohlfahrtsregimevergleich ........................................................... 113

    4.2.3 Europas Gesundheitssysteme und Interventionspolitiken gegen gesundheitliche Ungleichheit ........................................................ 118

    4.3  Abschließendes Resümee .............................................................. 134 

    5  Forschungsfragen und Hypothesen ............................................ 137 5.1  Hypothesen zur ländervergleichenden Längsschnittstudie .............. 137 5.2  Hypothesen zur Querschnittsanalyse mit hierarchischen Daten ...... 142 

    6  Methode ...................................................................................... 147 6.1  Allgemeine Untersuchungsstrategie .............................................. 147 6.2  Die ländervergleichende Zeitreihenanalyse ................................... 148 6.2.1 Einleitung ..................................................................................... 1486.2.2 Daten und Operationalisierung ..................................................... 1486.2.3 Methoden der ländervergleichenden Zeitreihenanalyse ................. 1516.2.4 Untersuchungsstrategie ................................................................ 159

    6.3  Die Querschnittsanalyse mit hierarchischen Daten......................... 160 6.3.1 Einleitung ..................................................................................... 1606.3.2 Daten und Operationalisierung ..................................................... 160

    6.3.3 Methoden der Mehrebenenanalyse ................................................ 1666.3.4 Untersuchungsstrategie ................................................................ 173

    7  Befunde zur Beziehung zwischen Armut und Gesundheit inEuropa ........................................................................................ 175 

    7.1  Ergebnisse der ländervergleichenden Zeitreihenanalyse ................. 175 7.1.1 Deskriptive Darstellung ................................................................ 1767.1.2 Der epidemiologische Übergang ................................................... 1777.1.3 Multivariate Analysen ................................................................... 1797.1.4 Zum Einfluss unterschiedlicher Wohlfahrtsregime ......................... 185

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    7/314

    Inhalt 7

    7.1.5 Abschließendes Resümee .............................................................. 195

    7.2  Ergebnisse der Querschnittsanalyse mit hierarchischen Daten ........ 197 7.2.1 Deskriptive Analyse armutsinduzierter

    Gesundheitsunterschiede .............................................................. 1987.2.2 Deskriptive Darstellung der Kontextfaktoren ................................. 2027.2.3 Multivariate Mehrebenenanalyse zu den armutsinduzierten

    Gesundheitsunterschieden in Europa ............................................ 2057.2.4 Zum Einfluss unterschiedlicher Wohlfahrtsregime ......................... 2147.2.5 Abschließendes Resümee .............................................................. 222

    8  Fazit ............................................................................................ 225 8.1  Zusammenfassung der Ergebnisse ................................................. 225 

    8.2  Folgerung für die gesundheitliche Ungleichheitsforschung ............ 230 8.3  Folgerung für die Gesundheitspolitik ............................................ 240 8.4  Ausblick ....................................................................................... 242 

    9  Anhang ........................................................................................ 247 

    Literaturverzeichnis................................................................................. 265 

    Abbildungsverzeichnis ............................................................................. 317

    Tabellenverzeichnis .................................................................................. 319

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    8/314

     

    Vorwort

    Die gegenwärtige Finanzkrise verdeutlicht, dass das Projekt eines gemeinsamenEuropas mit vielen Widrigkeiten zu kämpfen hat. Die wesentlichen Ziele derEuropäischen Union, wie beispielsweise den allgemeinen Wohlstand in Europazu verbessern, rücken dadurch in ferne Zukunft. So existieren zum gegenwärti-gen Zeitpunkt noch erhebliche Unterschiede unter den europäischen Ländern.

    Die in jüngster Zeit aufkeimende Diskussion kreist sich dabei mehrheitlich umdie Wirtschaftskraft der einzelnen Länder und die daraus resultierenden Diskre- panzen. Ein detaillierter Blick zeigt jedoch, dass diese Debatte mit Bezug auf die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten häufig zu kurzgreift. Denn auch dort zeigen sich zum Teil erhebliche Divergenzen, die für dieLebensqualität und Lebenschancen der Bürger Europas prägend sind.

    Gleichwohl haben diese sozialen, politischen, wirtschaftlichen wie auchkulturellen Unterschiede auch Einfluss auf die gesundheitliche Situation dereuropäischen Bevölkerung. Die Gesundheitswissenschaft diskutiert vor diesem

    Hintergrund bereits seit langem, wie das Soziale unter die Haut kommt und wel-che Lebensbedingungen maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass die Gesund-heit von spezifischen Bevölkerungsgruppen besser ist als von anderen. So bele-gen Studien, dass die Gesundheit sozial benachteiligter Personen zwar generellschlechter ist, aber unter den Ländern Europas deutlich variiert. Diese Variation gesundheitlicher Ungleichheit  konterkariert das solidarische Prinzip der Europäi-schen Kommission zur sozialen Gerechtigkeit, gleichberechtigten Teilhabe undmedizinischen Vorsorge, sind aber auch Ausdruck der unterschiedlichen Le- bensbedingungen in Europa. Welche Gründe für das unterschiedliche Ausmaß

    gesundheitlicher Ungleichheit verantwortlich sind, ist bis zum gegenwärtigenZeitpunkt noch nicht eindeutig geklärt.

    Die vorliegende Arbeit knüpft an dieser Lücke an und lässt sich der gesund-heitlichen Ungleichheitsforschung für Europa zuordnen. Sie wird auf Basis einestheoretischen Diskurs empirische Befunde zur Beziehung zwischen Armut undGesundheit in Europa nennen. Diese wurde bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt inden Gesundheitswissenschaften noch nicht breit diskutiert, obwohl auf europäi-scher Ebene bereits seit den 1980er Jahren eine umfassende Armutsdebatte exis-tiert. Aus diesem Grunde wird zunächst der theoretische Diskurs zur Beziehung

    zwischen Armut und Gesundheit nachgezeichnet und anhand empirischer Be-

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    9/314

     

    funde ergänzt. Neben mikrosoziologischen Erklärungsmodellen liegt ein beson-derer Schwerpunkt auf Kontexttheorien, die die Variation der Beziehung zwi-schen Armut und Gesundheit über Ländermerkmale erklären. Darüber hinaus

    wird die in jüngster Zeit breit diskutierte Wohlfahrtsregimeforschung zur ge-sundheitlichen Ungleichheit in ein umfassendes Erklärungsmodell überführt, dasdie bisherigen Erklärungsansätze um einen Handlungskontext erweitert. DiesesModell wird schließlich anhand ländervergleichender Zeitreihenanalysen undhierarchisch angeordneten Mehrebenenanalysen überprüft. Die Ziele der vorlie-genden Untersuchung liegen daher einerseits in der Reflexion theoretischer Mo-delle und empirischer Befunde zur Beziehung zwischen Armut und Gesundheitund andererseits in der empirischen Aufarbeitung dieses Themas für Europa.Dadurch soll das Thema Armut und Gesundheit nicht nur stärker in den Fokus

    der gesundheitswissenschaftlichen Diskussion gerückt werden, sondern auchwesentliche Gründe dafür genannt werden, weshalb die Beziehung zwischenArmut und Gesundheit in Europa variiert.

    Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2011 im Graduiertenkolleg Soclife ander Universität zu Köln als Dissertation eingereicht und von Professor Dr. FrankSchulz-Nieswandt und Professor Dr. Hans-Jürgen Andress begutachtet. Dabeiwaren die letzten drei Jahre durchaus auch von Mühen und Hindernissen ge- prägt. Die Betreuer, Kollegen, Freunde und Familie haben mich beim Meisterndieser Widrigkeiten aber stets unterstützt, weshalb ihnen mein tiefster Dank gilt.

    Zunächst möchte ich mich bei meinem Erstgutachter Prof. Dr. FrankSchulz-Nieswandt für die fachliche und freundliche Betreuung sowie für dieErstellung des Erstgutachtens bedanken. Auch Herr Prof. Dr. Hans-JürgenAndress gilt mein Dank für die inhaltliche Unterstützung und die Übernahme desZweitgutachtens. Darüber hinaus bin ich meinen Kollegen und insbesondereAndrea Britze, Judith Niehues, Patrick Siegers, Dennis Spies und AnneleneWengler für ihre Unterstützung dankbar. Ferner will ich den vielen externenKollegen, wie Wienke Boerma, David Coburn, Nico Dragano, Hugh Gravelle,Arden Handler, Christian Janßen, Thomas von Lengerke, Irene Moor, Ralf Ptak,

    Katharina Rathmann, Matthias Richter und Hannes Winner, für ihre prompteHilfe bei fachlichen Fragen danken. Schließlich wäre meine Doktorarbeit ohnedas Stipendium des Graduiertenkollegs Soclife und der Deutschen Forschungs-gemeinschaft nicht möglich gewesen, sodass auch ihnen meine Danksagunggewidmet ist.

     Nicht in Worte zu fassen ist die tiefe Dankbarkeit meiner Familie, meinenFreunden und meiner Lebenspartnerin Elodie Vermeersch gegenüber, für ihreLiebe, ihre Geduld und ihr Verständnis.

    Halle, November 2012 Timo-Kolja Pförtner 

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    10/314

     

    1  Einleitung

    Die Themen Armut und Gesundheit nehmen in unserem alltäglichen Leben einen besonderen Stellenwert ein, der sich nicht nur durch die Debatten in Politik undWissenschaft nachzeichnen lässt (Judge et al. 2006; Stahl et al. 2006; Europäi-sche Kommission 2009; 2010a; 2010b; Atkinson und Marlier 2010; OECD2010). Für jeden Einzelnen von uns haben beide Begriffe eine zum Teil existen-

    zielle Bedeutung, da ihnen Vorstellungen über Wohlstand, Sozialstatus, Teilha- be/Exklusion, Krankheit, Leid, Lebensqualität und/oder Tod gemein sind. DasThema Armut hat in Europa durch den allgemeinen Anstieg der sozialen Un-gleichheit in den letzten 30 Jahren an erheblicher Relevanz gewonnen. DieserBedeutungszuwachs wird von Diskussionen begleitet, die mit einer intensivenEmotionalität und Polemik einhergehen (Lepianka et al. 2009, 2010; Sachweh2012). Die subjektive Angst um den sozialen Abstieg, die soziale Verantwort-lichkeit gegenüber sozial benachteiligten Personen wie auch die tatsächlichenund suggerierten Auswirkungen der Armut auf das soziale Zusammenleben, sind

    nur einige Themeninhalte, die den öffentlichen Diskurs prägen. Auf der anderenSeite wird die Gesundheit als das höchste Gut eines Menschen beschrieben(Gerber und Stünzner 1999). Denn mit ihr ist eine Vielzahl von (Lebens-)Chancen verbunden, die den eigenen Lebenslauf und die Teilhabe am gesell-schaftlichen Leben bestimmen. Auch für das soziale Umfeld sind Themen, wieKrankheit, Benachteiligung und Tod, von solch emotionaler Bedeutung, dassihnen in besonders tragischen Umständen die gesamte Aufmerksamkeit ge-schenkt wird. Darüber hinaus expandiert das Thema Gesundheit in modernenGesellschaften als Leitwert und etabliert sich als Ausdruck individuellen Wohl-

    stands (Kickbusch 2006).Diese Beispiele verdeutlichen den erheblichen Stellenwert beider Themen

    in der Öffentlichkeit wie auch in der Sozialpolitik. GesundheitswissenschaftlicheStudien zeigen indes, dass die Lebensqualität von sozial benachteiligten Perso-nen in besonderer Weise eingeschränkt ist. Denn der soziale Status einer Personist in vielen europäischen Ländern unmittelbar mit der Gesundheit assoziiert(Huisman et al. 2003; van Doorslaer und Koolman 2004; Kunst et al. 2004; Ma-ckenbach 2006; Olsen und Dahl 2007; Eikemo et al. 2008a, 2008b, 2008c; Ma-ckenbach et al. 2008; Bambra et al. 2009, 2010a; Borrell et al. 2009; OECD

    2010; Gesthuizen et al. 2011). Demnach leiden sozial benachteiligte Personen in

    Timo-Kolja Pförtner, Armut und Gesundheit in Europa, Gesundheit und Gesellschaft,

    DOI 10.1007/978-3-658-01412-4_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    11/314

    12 Einleitung

    ihrem ohnehin kürzeren Leben unter einer höheren Krankheitslast. Diese  ge- sundheitlichen Ungleichheiten konterkarieren das solidarische Prinzip der Euro- päischen Kommission (1992) zur sozialen Gerechtigkeit, gleichberechtigten

    Teilhabe und medizinischen Vorsorge. Selbst eine Vielzahl verschiedener Pro- jekte und Initiativen hat zu keiner maßgeblichen Reduktion der gesundheitlichenUngleichheiten in Europa geführt (vgl. bspw. Judge et al. 2006; Crombie et al.2005; Stahl et al. 2006; Costongs et al. 2007; Eurothine 2007; Marmot et al.2008; Europäische Kommission 2009). So wurde der aus den gesundheitlichenUnterschieden resultierende Wohlfahrtsverlust im Jahr 2004 von Mackenbach etal. (2011) auf knapp 980 Milliarden US$ bzw. auf 9,4 % des europäischen Brut-toinlandprodukts geschätzt. Ein Verlust, der sich in Europa nicht gleichmäßigverteilt, da die sozialen Unterschiede in der Gesundheit zum Teil erheblich vari-

    ieren (Huisman et al. 2003; van Doorslaer und Koolman 2004; Kunst et al. 2004;Mackenbach 2006; Olsen und Dahl 2007; Eikemo et al. 2008a, 2008b, 2008c;Mackenbach et al. 2008; Bambra et al. 2009, 2010a; Borrell et al. 2009; OECD2010; Gesthuizen et al. 2011). Ein wesentlicher Grund für die Variation der ge-sundheitlichen Ungleichheit in Europa liegt nach Solar und Irwin (2007) in densozialen, ökonomischen und politischen Verhältnissen der jeweiligen Länder.Diese zu identifizieren und in ihrem Einflusspotenzial zu analysieren, steht imMittelpunkt der nachfolgenden Untersuchung.

    Die vorliegende Arbeit fokussiert sich dabei auf die Beziehung zwischen

    Armut und Gesundheit. Diese wurde durch die Gesundheitswissenschaften biszum gegenwärtigen Zeitpunkt nur sporadisch (Dowler und Dobson 1997; Hel-mert et al. 1997a, 1997b; McCally et al. 1998; Williamson und Reutter 1999;Kawachi et al. 2002; Santana 2002; Lampert 2011; Pförtner et al. 2011) bzw.ohne inhaltliche Bedeutung diskutiert (Starfield 1992; Marmot und Bobak 2001;Riste et al. 2001; Baker 2002; Shaw et al. 2006; Kuruvilla und Jacob 2007).Schließlich verwenden einige Studien einen Armutsindikator, ohne seine inhalt-liche Definition zu nennen (Fuchs 1995; Hahn et al. 1995; Weich und Lewis1998; Regidor et al. 2003; Breckenkamp et al. 2007; Wilkinson und Picket 2007;

    Bolte und Fromme 2008; Gillium et al. 2008; Scharte und Bolte 2011). Die nach-folgenden Ausführungen setzen an diesem Forschungsdefizit an und diskutierenanhand theoretischer Erklärungsansätze die Beziehung zwischen Armut undGesundheit. Darüber hinaus wird die Untersuchung als eine der ersten einenBeitrag zur Identifikation kontextueller Determinanten armutsbedingter Gesund-heitsunterschiede in Europa leisten. Dadurch lassen sich die bestehenden Argu-mentationen der gesundheitlichen Ungleichheitsforschung überprüfen und weiterausbauen.

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    12/314

    Einleitung 13

    Die Ziele der nachfolgenden Untersuchung lassen sich wie folgt zusammen-fassen: 1) den sozialen Tatbestand der Armut den Gesundheitswissenschaftenvorzustellen, 2) den Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit vor dem

    Hintergrund umfassender Theorien zu erläutern, 3) auf Basis theoretischer Kon-zeptionen und empirischer Evidenz Kontextdeterminanten der Beziehung zwi-schen Armut und Gesundheit auf der Länderebene zu benennen, 4) mittels ver-schiedener Datensätze mögliche Variationsmuster armutsbedingter Gesundheits-unterschiede in Europa zu identifizieren und zu erklären wie auch 5) möglichewissenschaftliche wie gesundheitspolitische Implikationen zu formulieren.

    Den Mittelpunkt der folgenden Analyse bildet dabei Europa, das durch diesozialen und politischen Bestrebungen eine Identität aufweist, die einer bloßenCharakterisierung nach geografischer Lage nicht gerecht wird. Dieser sich ei-

    nende Charakter Europas wird unter anderem durch die europäischen Maßnah-men zur Steigerung der allgemeinen Lebensqualität und Verringerung der ge-sundheitlichen Ungleichheit deutlich (Judge et al. 2006; Crombie et al. 2005;Stahl et al. 2006; Costongs et al. 2007; Eurothine 2007; Marmot et al. 2008;Europäische Kommission 2009; 2010a; 2010b). Ob diese Anliegen Erfolg hattenoder sich auch weiterhin erhebliche soziale und gesundheitliche Unterschiedeunter den Ländern Europas identifizieren lassen, wird die vorliegende Untersu-chung zeigen. Vor diesem Hintergrund versteht sich diese Arbeit nicht nur alsein erster Ansatz zur gesundheitswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit

    dem Thema Armut und Gesundheit, auch werden die bestehenden Verhältnissemit Bezug zur europäischen Idee von Solidarität und Gleichheit diskutiert.Inhaltlich werden dazu zunächst verschiedene Armutsdefinitionen vorge-

    stellt, die einer sozialen Benachteiligung unterschiedliche Facetten zuschreiben.Sie setzen sich in Anlehnung an Laderchi et al. (2003) aus dem monetären An-satz, dem Capability-Approach bzw. dem Lebenslageansatz wie auch aus demAnsatz der sozialen Exklusion zusammen. Ihnen ist gemein, dass Armut als einmultidimensionaler Tatbestand verstanden werden muss, die nicht nur den Ge-staltungsspielraum der eigenen Lebensführung eingrenzt, sondern auch mit ei-

    nem sozialen Exklusionsprozess einhergeht. Die inhaltliche Diskussion um denArmutsbegriff ist notwendig, um das potenzielle Belastungsspektrum einer so-zialen Benachteiligung nachzeichnen zu können.

    Denn nach Maßgabe verschiedener Erklärungsansätze impliziert die Armutweitreichende Folgen für die Gesundheit (Raphael 2006). Nach dem materiellenAnsatz besitzen die mit der Armut einhergehenden Lebensumstände einen nega-tiven Gesundheitseffekt, der über verschiedene Faktoren vermittelt wird. Zudiesen zählen die materiellen Einschränkungen, die psychosoziale Belastung derArmut wie auch das gesundheitliche Fehlverhalten von in Armut lebenden Per-sonen, die in Wechselwirkung zueinander stehen.

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    13/314

    14 Einleitung

    Der Ansatz psychosozialer Vergleichsprozesse führt die mit Armut einher-gehende Gesundheitslast hingegen auf das Ausmaß der ökonomischen Ungleich-heit und des sozialen Zusammenhalts in modernen Gesellschaften zurück. Beide

    gelten als Gradmesser für die sozialen Hierarchisierungstendenzen und den ge-sellschaftlichen Stellenwert des sozialen Status. Ist die Relevanz der sozialenStatusposition innerhalb einer Gesellschaft hoch, sehen sich in Armut lebendePersonen einer sozialen Exklusion und psychosozialen Belastungsfolgen ausge-setzt, die in letzter Konsequenz für die Entstehung und Entwicklung gesundheit-licher Ungleichheiten verantwortlich sind.

    Der neo-materialistische Ansatz hingegen sieht in den gesundheitlichen Inf-rastrukturbedingungen eine weitaus bedeutendere Determinante armutsbedingterGesundheitsunterschiede. Insbesondere der vom sozialen Status unabhängige

    Zugang zum Gesundheitssystem (Fiscella et al. 2000; Andersen et al. 2002; vanDoorslaer et al. 2004, 2006; Busse 2006; Janßen et al. 2009; von dem Knesebecket al. 2009) wie auch das gesundheitspolitische Niveau an Initiativen gegen ge-sundheitliche Ungleichheit (Gepkens und Gunning-Schepers 1996; Whitehead1998, 2007; Sihto und Keskimäki 2000; Stronks 2002; Mackenbach und Stronks2002; Mackenbach und Bakker 2003; Hurrelmann 2006b; Lehmann und Weyers2007) spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Denn beide habennach Maßgabe verschiedener Erklärungsansätze das Potenzial, die mit Armuteinhergehenden Belastungszustände zu reduzieren bzw. im Vorhinein zu verhin-

    dern. Erweisen sich demnach die gesundheitlichen Infrastrukturbedingungen fürdie in Armut lebende Bevölkerung als günstiger, sind die sozialen Disparitäten inder Gesundheit vergleichsweise geringer, so die Argumentation.

    Coburn (2000, 2003, 2004; Coburn und Coburn 2007) und Lynch (2000)haben schließlich auf Basis der genannten Ansätze ein umfassendes Erklärungs-modell zur gesundheitlichen Ungleichheit entwickelt. Dieses vereint die genann-ten Theorien und erweitert sie um eine soziale und politische Dimension, die alsmakrospezifische Determinante die Lebensweisen (Individualebene) und Le- bensbedingungen (Mesoebene) der in Armut lebenden Person prägen. Gemäß

    der Autoren sind es dabei marktorientierte Länder, die für in Armut lebendePersonen gesundheitsbeeinträchtigende Lebensbedingungen schaffen. Denn dieliberale Ausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik lässt ökonomische Un-gleichheiten gewähren, reduziert den sozialen Zusammenhalt und überführt diegesundheitliche Infrastruktur in ein marktähnliches System. Als Konsequenz - sodie idealtypische Argumentation - sehen sich generell mehr Personen der Armutund den damit einhergehenden Risikofaktoren ausgesetzt.

    Die theoretischen Argumente zur Variation armutsbedingter Gesundheitsun-terschiede in Europa werden mittels empirischer Untersuchungen überprüft.Dazu werden sowohl aktuelle Forschungsergebnisse evaluiert und vorgestellt als

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    14/314

    Einleitung 15

    auch verschiedene Analyseverfahren hinzugezogen. Neben einer länderverglei-chenden Längsschnittstudie, die Informationen aus 25 europäischen Ländernzwischen den Jahren 1980 und 2006 bereithält, werden Individualdaten aus dem

    EU-SILC und Kontextinformationen aus 26 europäischen Ländern von 2006untersucht. In beiden Analysekapiteln werden deskriptive und multivariate Me-thoden durchgeführt, da sie eine zuverlässige Überprüfung der postulierten Hy- pothesen zulassen. Des Weiteren wird das Wohlfahrtsregimekonzept genutzt, umdie theoretischen Implikationen zum Wirken liberaler Länder empirisch darstel-len zu können. Das Wohlfahrtsregimekonzept hat bereits Eingang in einer Viel-zahl von Studien zur Analyse gesundheitlicher Ungleichheiten gefunden (Na-varro und Shi 2001; Chung und Muntaner 2006, 2007; Dahl et al. 2006; Raphael2006, 2008; Bambra 2006a; 2007, 2009; Zambon et al. 2006; Eikemo et al.

    2008a, 2008b, 2008c; Espelt et al. 2008, 2010; Lundberg 2008; 2010a, 2010b;Lundberg et al. 2008; Beckfield und Krieger 2009; Bambra et al. 2010a; Grana-dos 2010; Huijts et al. 2010; Karim et al. 2010; Hurrelmann et al. 2011; Munta-ner et al. 2011; Brennestuhl et al. 2012; Richter et al. 2012).

    Vor diesem Hintergrund werden die zu untersuchenden Länder einem libe-ralen (Großbritannien, Irland), einem sozialdemokratischen (Dänemark, Finn-land, Island, Norwegen, Schweden), einem post-kommunistischen (TschechischeRepublik, Estland, Ungarn, Litauen, Lettland, Polen, Slowenien, Slowakei),einem christdemokratischen (Österreich, Belgien, Deutschland, Frankreich, Lu-

    xemburg, Niederlanden) und einem südeuropäischen Wohlfahrtsregime (Italien,Portugal, Griechenland, Spanien) zugeordnet. Dadurch ist einerseits eine detail-lierte Analyse zum Wirken liberaler Gesellschaften möglich. Andererseits gestat-ten sie aber auch einen explorativen Einblick in das regimespezifische Variati-onsmuster der Beziehung zwischen Armut und Gesundheit.

    Die vorliegende Arbeit sieht folgende Struktur vor. Zunächst werden in Ka- pitel 2 die Begriffe Gesundheit und Armut diskutiert und definiert. Beiden istgemein, dass für sie keine allgemeingültige Definition existiert und eine objekti-ve Begriffsbestimmung daher kaum möglich ist. Das darauffolgende Kapitel 3

    setzt sich auf Basis theoretischer Konzeptionen und empirischer Evidenz mitdem Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit auseinander. Dazu werdenzunächst die mikrosoziologischen Wirkungsmechanismen der Beziehung zwi-schen Armut und Gesundheit vorgestellt. Der darauffolgende Abschnitt erweitertden theoretischen Bezugsrahmen und diskutiert auf Basis makrotheoretischerErklärungsmodelle die armutsbedingten Gesundheitsunterschiede zwischen Ge-sellschaften. Im Mittelpunkt stehen hierbei die Theorie psychosozialer Ver-gleichsprozesse, der neo-materialistische Ansatz und das dreigliedrige Modellzur Beziehung zwischen Armut und Gesundheit.

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    15/314

    16 Einleitung

    Im empirischen Stand der Forschung (Kapitel 4) werden einerseits empiri-sche Argumente angeführt, auf die im theoretischen Teil nicht eingegangen wer-den konnte, und andererseits ein erster Einblick in die armutsbedingten Gesund-

    heitsunterschiede in Europa gewährt. Unter anderem setzt sich dieses Kapitel mitden Fragen auseinander, ob 1) die Beziehung zwischen Armut und Gesundheit inmodernen Gesellschaften auf dem Wirken absoluter und/oder relativer Armut beruht, inwieweit 2) die gesundheitliche Ungleichheit, die Einkommensun-gleichheit und die soziale Kohäsion der Wohlfahrtstypologie entsprechen, wiesich 3) die gesundheitssystemischen Bedingungen und gesundheitspolitischenInitiativen in Europa darstellen und 4) welche Rolle liberale Länder in der Be-antwortung der letztgenannten Fragen einnehmen.

    Auf Basis der vorangehenden Ausführungen werden in Kapitel 5 die For-

    schungsfragen und Hypothesen der vorliegenden Untersuchung formuliert. Dasanschließende Kapitel 6 widmet sich der methodischen Herangehensweise undder allgemeinen Analysestrategie. Die Ergebnisse zur ländervergleichendenLängsschnittstudie und zur Querschnittsanalyse mit hierarchisch angeordnetenDaten werden in Kapitel 7 vorgestellt. Im Schlusskapitel 8 werden die Befundeihrem jeweiligen Handlungskontext zugeordnet und hinsichtlich zentraler Frage-stellungen diskutiert.

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    16/314

     

    2  Begriffliches

    2.1  Was ist Gesundheit?

    Der Begriff Gesundheit findet im Alltag, in der Wissenschaft wie auch in derPolitik häufigen Gebrauch. Allein im täglichen Leben nimmt das Thema Ge-sundheit einen so hohen Stellenwert ein, dass es sich in den jährlichen Wunsch-

    listen der Bundesbürger an vorderster Stelle befindet und deshalb auch als das„höchste Gut“ bezeichnet wird (Gerber und Stünzner 1999). Welche Aspekteaber unter dem Gesundheitsbegriff verstanden werden und was die Gesundheiteiner Person ausmacht, ist abhängig von den historischen Gegebenheiten (La- bisch 1992), dem sozialen Kontext (Schwartz et al. 2003) und der disziplinärenAusrichtung des Betrachters (Hurrelmann und Franzkowiak 2003). So verwun-dert es nicht, dass bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine allgemeingültige Ge-sundheitsdefinition existiert.

    Dieses Problem wird bereits seit geraumer Zeit in der medizinischen Philo-

    sophie diskutiert (Sadegh-Zadeh 2000; Nordenfelt 2007). Im Kern geht es dabeium die Frage, ob die Gesundheit als ein wertneutral-deskriptiver Begriff verstan-den werden kann (z. B. Boorse 1977) oder ihr Verständnis von normativen Zu-schreibungen abhängt (z. B. Wakefield 1992). Eine Vielzahl von Studien zu denkulturellen Aspekten gesellschaftlicher Gesundheitsvorstellungen verdeutlicht,dass eine objektiv-wertneutrale Interpretation von Gesundheit unmöglich ist (vgl.Boddington und Räisänen 2009: 50f.). Denn der kulturelle Hintergrund einerGesellschaft prägt das normative Verständnis von Gesundheit und Krankheit(Landrine und Klonoff 1992; MacLachlan 2006; Helman 2007; Uskul 2010). So

    führen beispielsweise individualistische Gesellschaften die Gesundheit eher auf physiologische Prozesse zurück, die von umweltgebundenen Faktoren losgelöstsind (vgl. Uskul 2010: 351). Hingegen nehmen kollektivistische Gesellschafteneine eher holistische Perspektive bei der Definition von Gesundheit ein.

    Der normative Charakter des Gesundheitsbegriffs wird auch im historischenKontext deutlich. So konnte der Medizinhistoriker Larson (1999) das sich in derwestlichen Welt stetig wandelnde Gesundheitsverständnis im historischen Ver-lauf nachzeichnen. Die Antike verstand beispielsweise unter der Gesundheit einauf Harmonie bzw. Gleichgewicht basierenden Zustand, der auch heute noch

    Gegenstand vieler Gesundheitsdefinitionen ist. Die Renaissance gilt in diesem

    Timo-Kolja Pförtner, Armut und Gesundheit in Europa, Gesundheit und Gesellschaft,

    DOI 10.1007/978-3-658-01412-4_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    17/314

    18 Was ist Gesundheit?

    Zusammenhang als eine weitere bedeutende Epoche, die unser gegenwärtigesGesundheitsverständnis mitgeprägt hat. Denn der bis dahin existierende Glaube,dass der Ort und Zeitpunkt des Todes unmöglich verschoben werden kann, wur-

    de durch die Fortschritte in der Medizin, unter anderem getragen durch FrancoisBacon, infrage gestellt. Schließlich hat sich unter René Descartes ein wissen-schaftliches Gesundheitsverständnis entwickelt, dass die Gesundheit einer Per-son nach Maßgabe der Funktionsfähigkeit seines Körpers ähnlich einer Maschine beschreibt (ebd.). Dieses bio-medizinische Verständnis um Gesundheit ist auchheute noch unter westlichen Medizinern durchaus üblich.

    Dass dem Gesundheitsbegriff eine normative Bedeutung innewohnt, wird jedoch nicht nur durch die zeithistorische Reflexion deutlich. Auch  Laientheo-rien  bzw.  subjektive Theorien von Gesundheit und Krankheit   zielen auf diesen

    Aspekt ab, indem sie eine Verbindung zwischen der sozialen Herkunft einerPerson und seinen Gesundheitsvorstellungen herstellen (Radley und Billig 1996;Faltermaier et al. 1998; Flick 1998; Faltermaier und Bengel 2000; Faltermaierund Kühnlein 2000). So zeichnen beispielsweise Hughner und Kleine (2004:408) nach, dass der sozial privilegiertere Bevölkerungskreis bei der Gesund-heitsdefinition oftmals positive Formulierungsmuster verwendet, während sozial benachteiligte Personen oft auf negative bzw. funktionsorientierte Interpretatio-nen zurückgreifen. Darüber hinaus lassen sich nach Faltermaier (2008a: 38f.)auch geschlechtsspezifische Aspekte im Gesundheitsverständnis identifizieren.

    In Abhängigkeit von den Rollenvorstellungen, den Lebensbedingungen undInteressen verwenden Frauen ein weitaus differenzierteres Gesundheitsbild, dasoftmals am psychischen Befinden ansetzt. Das männliche Gesundheitsverständ-nis, das bei Extrembodybildern deutlich in Erscheinung tritt, zielt hingegen meistauf die physische Leistungsfähigkeit ab (Monaghan 2001; Robertson 2006).

    Das Gesundheitsverständnis hängt demnach von verschiedenen sozialenund zeithistorischen Aspekten ab, die sich nur schwer durch eine objektiv-wertneutrale Definition erfassen lassen. Aus diesem Grunde existieren selbst inder Wissenschaft verschiedene Gesundheitsvorstellungen, die im Folgenden kurz

    vorgestellt werden. In Anlehnung an verschiedene Übersichtsartikel kann Ge-sundheit definiert werden als (Franke 1993; Hughner und Kleine 2004):

      Störungsfreiheit   Leistungsfähigkeit   Homöostase/Gleichgewichtszustand   Flexibilität   Anpassung   Wohlbefinden 

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    18/314

    Was ist Gesundheit? 19

    Gesundheit als Störungsfreiheit  zu definieren, ist das klassische Modell derSchulmedizin. Wie bereits weiter oben dargelegt, wurde dieses Gesundheitsver-ständnis unter anderem durch die naturwissenschaftliche Denkrichtung eines

    René Descartes geprägt (vgl. Larson 1999: 124f.). Das auch als biomedizinischesModell beschriebene Paradigma, das die Gesundheit einer Person in Abhängig-keit seiner körperlichen und seelischen Verfassung beschreibt, deutet jede biolo-gisch- physikalisch messbare Abweichung von der „gesunden Norm“ als Krank-heit (vgl. Greiner 1998: 40). Vor diesem Hintergrund beruft sich die Medizin aufdiagnostizierbare Symptome und Krankheitsbilder mittels biologischer Verursa-chermechanismen. 

    Das Prinzip, das Gesundheit als  Leistungsfähigkeit   versteht, bezieht sichhingegen auf die Anforderungen und Aufgaben, die eine Person im Alltag zu

     bewältigen hat. Kann diese Person die durch die Gesellschaft definierten Anfor-derungen nicht angemessen erfüllen, gilt sie als krank. Die vorliegende Gesund-heitsvorstellung orientiert sich demnach an einem gesellschaftlichen Rollenver-ständnis, das schulmedizinische Aspekte zunächst ausklammert (vgl. Franke1993: 22; Hughner und Kleine 2004: 407). Aus soziologischer und politischerSicht ist die Leistungsfähigkeit einer Person dabei nicht nur für die eigenen Ent-wicklungschancen maßgebend (Siegrist 2005), sondern auch für die Funktions-fähigkeit einer Gesellschaft insgesamt (Franke 1993).

    Gesundheit als einen dynamischen Zustand des Gleichgewichts  bzw. der

     Harmonie zu beschreiben hat einen langen zeitgeschichtlichen Hintergrund, der bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt fortwährt. Wie bereits dargelegt, etablierte sich bereits in der Antike die Vorstellung über ein universelles, kosmisch wie biolo-gisch gesteuertes Gleichgewichtssystem, das in der sogenannten Säftelehre  ihreEntsprechung findet (vgl. Mühlum et al. 1997: 82; Engelhardt 1995: 13). Ähnli-che Interpretationen existieren auch heute noch in der traditionell-fernöstlichenGesundheitslehre (vgl. Saylor 2004: 104f.), aber auch in den westlichen Gesund-heitswissenschaften. Im biopsychosozialen Modell  von Antonovsky (1987; sog.Salutogonese) beispielsweise wird Gesundheit als ein dynamischer Prozess ver-

    standen (vgl. Lippke und Renneberg 2006: 10f.). Ähnlich definiert die WHO dieGesundheit als „ein positiver funktioneller Gesamtzustand im Sinne eines dyna-mischen, biopsychologischen Gleichgewichtszustands, der von der Person erhal-ten bzw. immer wieder hergestellt werden muss“ (WHO 1986, zitiert nach Lip p-ke und Renneberg 2006). Die Gesundheit beschreibt demzufolge keinen unver-änderlichen Zustand. Vielmehr muss sie in Abhängigkeit von der individuellenLebensbiografie als ein dynamischer Balancezustand zwischen vollkommenerUnversehrtheit und krankheitsbedingtem Tod verstanden werden (vgl. Gerberund Stünzner 1999: 46).

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    19/314

    20 Was ist Gesundheit?

    Gesundheit als Flexibilität  eines Menschen zu definieren zielt auf den As- pekt des „sich-weiter-veränderns“ ab (vgl. Franke 1993: 27; Hughner und Kleine2004: 408f.). Dieses in der Psychologie und Philosophie angesiedelte Gesund-

    heitsparadigma, das als Selbstaktualisierungsmodell   bezeichnet wird, definiertden gesunden Menschen als ein moralisches, selbstverantwortliches und auto-nom handelndes Wesen (vgl. Becker 1982: 147). Gesunde Menschen sind nachdieser Vorstellung unabhängig, sind in moralischer Hinsicht autonom wie selbst-verantwortlich und setzen sich zu jeder Zeit kritisch mit den gesellschaftlichenBedingungen auseinander. Gesundheit gilt daher nicht als ein unveränderlicherZustand, sondern wird als Prozess verstanden, in dem auch Krankheitszuständeund -risiken als integrale Bestandteile mitberücksichtigt werden müssen.

    Demgegenüber bezieht sich das Gesundheitsverständnis der Anpassung  auf

    die Fähigkeit, sich mit den umweltgebundenen Einflussfaktoren angemessenauseinanderzusetzen (vgl. Franke 1993: 28; Larson 1999: 131ff.). Nach der ausder Psychologie stammenden Auffassung gilt eine Person dann als gesund, wennsie die Fähigkeit besitzt, sich an die Bedingungen und Veränderungen der unmit-telbaren Lebenswelt optimal anzupassen. So definiert Weiner (1983: 16) dieGesundheit als die „[relativ optimale] Anpassung auf biochemischer, physiologi-scher, immunbiologischer, sozialer und kultureller Ebene.“ Wesentliche Voraus-setzung für die optimale Anpassung ist „der gesunde und intakte Zustand der betreffenden Personen, einschließlich der körperlichen Aspekte“ (ebd.). In die-

    sem Sinne besitzen gesunde Menschen die Fähigkeit, sich an veränderte Bedin-gungen so anzupassen, dass Einschränkungen nicht wahrgenommen und eigeneBestrebungen weiterhin verfolgt werden können (vgl. Greiner 1998: 47).

    Schließlich ist das Wohlbefinden Gegenstand einiger Gesundheitsdefinitio-nen (vgl. Franke 1993: 30; Larson 1999: 128f.; Saylor 2004: 100f.). Denn dasaffektive Wohlbefinden hat einen unmittelbaren Einfluss auf die Gesundheiteiner Person (vgl. Greiner 1998: 43). Fühlt sich diese nach eigener Einschätzungwohl, wird sie als gesund definiert. Eine der bekanntesten und meist zitiertenGesundheitsdefinitionen, die den Begriff des Wohlbefindens mitberücksichtigt,

    stammt aus dem Jahr 1946 und wurde von der WHO formuliert. Diese verstehtGesundheit als „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialenWohlbefindens und nicht nur [als] das Freisein von Krankheit und Gebrechen“(WHO 1946). Das Wohlbefinden einer Person in allen Dimensionen des alltägli-chen Lebens rückt somit in den Vordergrund und verdrängt die rein biomedizini-sche Sichtweise (vgl. Hurrelmann und Franzkowiak 2003: 52).

    Die angeführten Gesundheitsvorstellungen zeigen, dass es keine allgemein-gültige Definition von Gesundheit gibt. Vielmehr existieren verschiedene An-sichten über Krankheit und Gesundheit. Dennoch hat sich in den Gesundheits-wissenschaften mehrheitlich ein multidimensionales Verständnis von Gesundheit

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    20/314

    Was ist Gesundheit? 21

    durchgesetzt. Gesundheit wird demzufolge als ein holistischer Zustand verstan-den, der durch das psychische wie physische Befinden wie auch durch sozialeund kulturelle Aspekte bestimmt wird (vgl. Saylor 2004: 101; Boddington und

    Räisänen 2009: 51). Darüber hinaus lassen sich nach Williams und Wood (1986)zwei weitere Aspekte des Gesundheitsbegriffs identifizieren, die nachfolgendvorgestellt werden: der subjektive und objektive Tatbestand von Gesundheit.

    Der objektive  Tatbestand von Gesundheit orientiert sich am biomedizini-schen Modell und definiert eine Person als gesund, wenn ihr keine krankheits-wertigen Symptome attestiert werden können. Der Vorteil dieser objektivenInterpretation von Gesundheit liegt darin, dass sie wertneutral und Gesundheit inihrer Sachlichkeit betrachtet (vgl. Boorse 1977: 542f.). Sie ermöglicht daher eineIdentifikation von Krankheiten, die die betroffene Person selbst erst zeitlich

    verzögert wahrnimmt (Helfferich 1993: 36). Zu diesen Erkrankungen zählen beispielsweise erhöhte Blutdruck- oder Blutzuckerwerte wie auch Tumorerkran-kungen (vgl. Brähler und Schumacher 2002: 211). Schließlich stellt die bewusste bzw. unbewusste Leugnung von diagnostizierten Krankheitsbildern selbst einKrankheitsverhalten dar, sodass objektive Standards nicht vernachlässigt werdendürfen (vgl. Myrtek 1998: 19f.).

    Gesundheit muss zudem durch eine subjektive  Perspektive erweitert wer-den, indem die betroffene Person ihren eigenen Gesundheitszustand beschreibt.Diese gilt gemäß den Ausführungen zum Wohlbefinden dann als gesund, wenn

    sie keine subjektiven Beschwerden anzeigt. Dadurch löst sich der Gesundheits- begriff von einer rein objektiven Betrachtungsweise und ermöglicht eine nähereBerücksichtigung der individuellen Wahrnehmung von Krankheit und Gesund-heit. Diese ist insoweit wichtig, als sie darüber aufklärt, wie Gesundheit undKrankheit in den jeweiligen Situationen erlebt und empfunden werden (Franz-kowiak 2003). Auf der anderen Seite sind subjektive Beurteilungen hilfreich beider Erforschung und Entdeckung neuer Erkrankungen (vgl. Brähler und Schu-macher 2002: 208).

    Aufgrund der Vor- und Nachteile, die mit einer subjektiven und objektiven

    Beurteilung von Gesundheit einhergehen kann, gilt es, beide Perspektiven in dieDefinition des Gesundheitsbegriffs einfließen zu lassen. Denn erst durch ihreKombination ist es möglich, den Gesundheitszustand einer Person optimal zu beschreiben. Gesundheit wird in der vorliegenden Arbeit deshalb wie folgt defi-niert:

    „Gesundheit ist der objektive wie subjektive Zustand einer Person, der sich durchdie Abwesenheit von physischen sowie psychischen Beschwerden und durch ein ge-sundheitliches Wohlbefinden ausdrückt.“ 

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    21/314

    22 Was ist Gesundheit?

    Diese Definition orientiert sich zwar stark am biomedizinischen Modell, soll jedoch auch hervorheben, dass die Gesundheit von sozialen Facetten abhängtund bestimmt wird. Von einer Verwendung holistischer Gesundheitskonzeptio-

    nen wurde in diesem Zusammenhang jedoch abgesehen, da diese meist auch potenzielle Gesundheitsdeterminanten mitberücksichtigen. Schließlich musskritisch angemerkt werden, dass die formulierte Gesundheitsdefinition äußerstsensibel gegenüber gesundheitlichen Beschwerden reagiert und zwischen ver-schiedenen Schweregraden nicht unterscheiden kann. Diese Problematik ist je-doch immanent in den Gesundheitswissenschaften und kann durch die vorlie-gende Arbeit nicht gelöst werden.

    2.2 

    Was ist Armut?

    Die Armut wird in der öffentlichen Diskussion um sozialpolitisch relevanteThemen häufig verwendet. Mit ihm werden unter anderem Ungleichheiten alsskandalös beschrieben, auf das gesellschaftliche Problem einer sozialen Unter-schicht hingewiesen oder auch bloße Existenzängste unter der Mittelschichtgeschürt. Um den Armutsbegriff kreisen sich zudem Vorurteile, stereotypischeDenkmuster und Laientheorien über die Gründe für einen sozialen Abstieg, diesich einer gewissen Polemik nicht entziehen (vgl. Cozzarelli et al. 2001; Eiffe

    und Heitzmann 2006: 44f.). Demgegenüber gesellen sich verschiedene wissen-schaftliche Disziplinen hinzu, die sich zwar einer nüchterneren Herangehenswei-se bedienen, sich aber trotzdem uneins darüber sind, was unter Armut verstandenwerden kann. Insbesondere die zeitgeschichtliche, soziale wie politische Veror-tung der verschiedenen Akteure hat einen Einfluss auf das Armutsverständnis(vgl. Huster et al. 2008: 16). So existieren bis zum gegenwärtigen Zeitpunktverschiedene Ansichten, welche Lebensumstände mit einer Verarmung einher-gehen und wie sich Armut definieren lässt. Schließlich zeigt sich, dass der Ar-mutsbegriff wie auch seine methodische Umsetzung an normativen Entschei-

    dungen gebunden ist, weshalb er keinesfalls als „wertneutraler“, wissenschaftlichobjektiver Begriff verstanden werden kann (Lipsmeier 2001: 3).Grundsätzlich lassen sich nach Laderchi et al. (2003) drei Armutskonzepte

    identifizieren: 1) der monetäre Ansatz, 2) der Capability-Approach bzw. derLebenslageansatz und 3) der Ansatz der sozialen Exklusion.1 

    1Daneben existiert nach Laderchi et al. (2003) die sogenannte  partizipatorische Methode, bei der diesubjektiven Armutsinterpretationen von Befragten in die Armutsdefinition einfließen. Dieser Ansatzwird im Folgenden nicht diskutiert, da er keine inhaltliche Interpretation zulässt, sondern vielmehrmethodische Aspekte betont, die sich den anderen Armutsdefinitionen zuordnen lassen.

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    22/314

    Was ist Armut? 23

    Diese wurden mit Ausnahme des monetären Ansatzes erst in der zweitenHälfte des 20. Jahrhunderts ausgearbeitet, obwohl uns das Thema Armut seitAnbeginn begleitet und entsprechend dokumentiert wurde (Schäfer 2008). Als

    soziales Massenphänomen wurde die Armut erst in der frühen Phase der Indust-rialisierung in Europa „bewusst“ wahrgenommen (vgl. Eichler 2001: 22; Schäfer2008: 237f.). Die als  Pauperismus  beschriebene Umbruchphase zur Zeit derFrühindustrialisierung prägte zum ersten Mal einen spezifischen Teil der Gesell-schaft als arm. Diese fortschreitende Umgestaltung der sozialen Verhältnisse wares auch, die das Thema Armut auf die politische Agenda gerückt hat. VorherigeArmutsproblematiken betrafen entweder gesamte Gesellschaften oder warendurch hierarchische Herrschaftssysteme, dem religiösen Glauben oder durch einStändesystem legitimiert (Eichler 2001; Schäfer 2008).2 Diese Legitimationsmit-

    tel hatten in der frühen Phase der Industrialisierung keinen Bestand mehr, sodassdie Gefahr sozialer Unruhen ausgehend von den massenhaft Verarmten anstieg.Schließlich reagierten Akteure aus Politik, Wissenschaft und Philosophie

    auf die aufkeimende Armut des frühen 20. Jahrhunderts mit verschiedenen Initia-tiven. Exemplarisch hierfür sind die Abhandlungen von Karl Marx und FriedrichEngels zur Herausbildung zweier ökonomischer Klassen, die Einführung derSozialgesetze durch Otto von Bismarck im ausgehenden 19. Jahrhundert oder dievon Charles Booth im Jahre 1887 und von Seebohm Rowntree im Jahre 1902veröffentlichten Studien zur Armut in den britischen Städten London und York.

     Nach Eichler (2001) haben eben diese wie auch weitere Maßnahmen dazu ge-führt, dass das als „alte Armut“ bezeichnete Massenphänomen bekämpft undweitestgehend aus dem öffentlichen Leben moderner Gesellschaften verschwand.

    Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte in den entwickeltenIndustrienationen eine erneute Auseinandersetzung mit dem Thema Armut ein.Ausgelöst durch soziale und wirtschaftliche Veränderungsprozesse, wie bei-spielsweise der  Krise des  Fordismus Ende der 1960er Jahre, wurde das ThemaArmut in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft revitalisiert. Inhaltlich zielte derBegriff jedoch nun nicht mehr auf eine absolute Existenzsicherung ab, sondern

    hatte als „neue“ Armut die relativen Lebensverhältnisse einer Gesellschaft imBlick (vgl. ebd.: 23). Dieses veränderte Armutsverständnis beruht auf dem all-gemeinen Wohlstandswachstum der Industrienationen nach Ende des 2. Welt-kriegs, der eine materielle Grundversorgung existenzieller Bedürfnisse implizier-te (Piachaud 1992).

    2 Im historischen Rückblick existierten seit jeher Ansätze zur Verringerung der absoluten Armut. Inihrem Ausmaß und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung können sie jedoch nicht mit den revolutionä-ren Umwälzungen des 19. Jahrhunderts verglichen werden (vgl. Schäfer 2008).

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    23/314

    24 Was ist Armut?

    Aus diesem zeitgeschichtlichen Einblick in das sich wandelnde Armutsver-ständnis wird deutlich, wie die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ver-hältnisse die inhaltliche Interpretation von Armut prägen. Zum gegenwärtigen

    Zeitpunkt werden in der Armutsforschung drei Armutsdefinitionen diskutiert, diesich inhaltlich aber auch methodisch relativ stark voneinander unterscheiden.3 

    Der monetäre Ansatz  stammt aus der Ökonomie und definiert eine Personals arm, wenn die ihr zur Verfügung stehenden (finanziellen) Ressourcen einevorher fixierte Armutsgrenze unterschreiten. Als indirekter   Armutsindikator(Ringen 1988) misst der monetäre Ansatz den potenziellen Nutzen bzw. Konsumeiner Person, der auf Basis seiner finanziellen Ressourcen möglich ist (Andress1999). Diese Ressourcen besitzen jedoch direkt keinen intrinsischen Wert, da sievielmehr zur Generierung von Dingen mit intrinsischem Wert herangezogen

    werden (vgl. Ringen 1988: 355). Der durch die finanziellen Mittel ermöglichteKonsum von Dingen mit intrinsischem Wert stellt im monetären Ansatz daherauch den Schlüssel zum Wohlbefinden einer Person dar (vgl. Frank 1997: 1832).Um schließlich den indirekten „Konsum“ unter den Gesellschaftsmitgliedernvergleichen zu können, postuliert der monetäre Ansatz, dass die zur Verfügungstehenden Ressourcen optimal, nach rationalen Gesichtspunkten eingesetzt wer-den (vgl. ebd.; Laderchi et al. 2003: 247).

    Inwieweit diese Annahme jedoch den tatsächlichen Verhältnissen ent-spricht, wird insbesondere durch Sen (1981: 26ff.) kritisch hinterfragt. Denn die

    zur rationalen Entscheidungsfindung notwendige Bedingung transparenter Märk-te ist häufig nicht vorhanden (vgl. Ringen 1988: 358). Darüber hinaus bleibenalternative (soziale wie öffentliche) Ressourcen im monetären Ansatz weitestge-hend unberücksichtigt (ebd.; Andress 2003: 118). Ferner können auch Normen,Konsumverhalten oder die Haltung gegenüber Marktpreisen unter den Gesell-schaftsmitgliedern variieren, sodass der „potenzielle“ Konsum nur verzerrt dar-gestellt werden kann. Diese Aspekte können einen erheblichen Einfluss auf dieFormulierung einer Armutsgrenze ausüben. Dabei existieren im monetären An-satz zwei Standards zur Bestimmung von Armut (Ravillion et al. 2008; Ravillion

    2010): die absolute und relative Armut.Getreu der absoluten  Armutsdefinition gilt eine Person dann als arm, wenndie ihr zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen ein zeitinvariantesExistenzminimum unterschreiten. Die absolute Armutsgrenze bezieht sich un-mittelbar auf die physische Existenzsicherung einer Person (vgl. Hauser und Neumann 1992: 245; Zimmermann 1998: 36), die unabhängig vom materiellenWohlstand einer Gesellschaft über die Zeit Bestand hat (vgl. Piachaud 1992: 64).

    3 Nach Laderchi et al. (2003) können diese nach Umfang, Verallgemeinerungsfähigkeit, Objektivier- barkeit, Beobachtungsebene, Multidimensionalität, zeitlicher Dynamik, ihrer Definition einer Ar-mutsgrenze und ihrem interpretativen Charakter unterschieden werden.

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    24/314

    Was ist Armut? 25

    Ob sich aber Existenzmittel über die Zeit als konstant definieren lassen, wirdrelativ stark bezweifelt (vgl. Ludwig-Mayerhofer und Barlösius 2001: 26; Ha-genaars und De Vos 1988: 213). Denn existenzsichernde Güter können vor dem

    Hintergrund der natürlichen Lebenswelt deutlich variieren (vgl. Hauser 2008:96). Darüber hinaus ist die Auswahl zeitinvarianter Existenzmittel insofern prob-lematisch, als sich die Lebensbedingungen einer Gesellschaft und die damiteinhergehenden Notwendigkeiten und Bedürfnisse im Zeitverlauf stetig verän-dern (vgl. Piachaud 1992: 64; Ravillion et al. 2008; Ravillion 2010).4 So variie-ren selbst unter den unterentwickeltsten Ländern die Kriterien einer absolutenArmut (Ravillion et al. 2008; Ravillion 2010).

    In den westlichen Industrienationen hat sich mehrheitlich eine relative Ar-mutsdefinition des monetären Ansatzes durchgesetzt. Denn mit dem steigenden

    Wohlstand und einer garantierten Grundversorgung treten existenzbedrohte Le- benslagen nur noch selten auf (vgl. Piachaud 1992: 64f.; Ravillion 2010). Ihremethodische Umsetzung erfolgt dabei meist an einem spezifischen Punkt dergesamtgesellschaftlichen Einkommensverteilung, die den Anschluss zur gesell-schaftlichen Teilhabe markiert (vgl. Andress 1999: 83). Nach Auslegung derSozialwissenschaft und Ökonomie charakterisiert dieser Punkt daher auch dendurchschnittlichen Lebensstandard einer Gesellschaft (vgl. Andress 1998: 2;Frank 1997; Ravillion 2010: 14ff.). Kann eine Person mit den ihr zur Verfügungstehenden ökonomischen Mitteln den historisch geltenden, sozial und kulturell

    typischen Lebensstandard nicht erreichen, wird diese als arm definiert (vgl. Hau-ser und Neumann 1992: 246). Armut bildet im relativen Armutskonzept dahereine „soziale Kategorie“ (vgl. Andress 1999: 71), in der ein gesellschaftlicher„Common Sense“ über die sozialen Notwendigkeiten gebildet wird (vgl. Barlö-sius 2001: 76). Inwieweit jedoch die formulierte Armutsgrenze den gesellschaft-lichen wie individuellen Mindeststandards entspricht, bleibt ähnlich wie dieFrage zur rationalen Verwendung finanzieller Mittel zunächst offen.

    Schließlich kann die Definition einer Armutsgrenze bei beiden Definitionenauf unterschiedlichen Ansätzen beruhen. Zum einen können  sozial-politische

    Standards  herangezogen werden, wie beispielsweise der Sozialhilferegelsatzoder das Arbeitslosenentgelt (vgl. Piachaud 1992: 66; Veit-Wilson 1998: 29ff.;Andress 1999: 90). Daneben kann aber auch ein spezifischer Warenkorb erstelltwerden (Bradshaw et al. 1987). Diese erstellt auf Basis unterschiedlicher Kon-sumgüter und den damit einhergehenden Kosten eine Grenze, die in Abhängig-

     

    4 Adam Smith betonte bereits 1776: „By necessaries, I understand not only the commodities whichare indispensable necessary for the support of life but whatever the custom of the country renders itincident for creditable people, even of the lowest order, to be without. A linen shirt, for example, isstrictly speaking not a necessity of life[…] But in the present time […] a creditable day labourerwould be ashamed to appear in public without a linen shirt” (vgl. Smith 1982: 691). 

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    25/314

    26 Was ist Armut?

    keit von den theoretischen Anforderungen den Eintritt in die Armut markiert.Beispiele für diese Methode sind die Nahrungsenergie- oder die Grundbedürf-niskostenmethode (vgl. Ravillion 2010: 8ff.) oder der Ansatz zur Berechnung

    des Minimaleinkommens für ein gesundes Leben (Morris et al. 2002).Darüber hinaus können aber auch subjektive Kriterien direkt wie indirekt in

    die Formulierung einer Einkommensarmutsgrenze einfließen (vgl. Piachaud1987: 149ff.; Veit-Wilson 1998: 27ff.). Bei der direkten Umsetzung definierendie Befragungsteilnehmer unmittelbar die für sie armutsrelevante Einkommens-grenze (vgl. Piachaud 1992: 72ff.; Andress 1999: 96). Der alternative Ansatzorientiert sich hingegen an den für die Befragungsteilnehmer notwendigen Le- bensverhältnisse, die direkt das physische Überleben und/oder die soziale Teil-habe garantieren, wie beispielsweise die Verfügbarkeit angemessener Kleidung

    oder warmer Mahlzeiten (vgl. Townsend 1979: 261).Die Einkommensarmutsgrenze wird in der Armutsforschung schließlichmehrheitlich anhand  statistischer Verteilungsmaße definiert, die an den relatio-nalen Einkommensverhältnissen einer Gesellschaft ansetzen (vgl. Piachaud1992: 67; Böhnke und Delhey 2001: 316). Die Bestimmung der relativen Ar-mutsgrenze orientiert sich dabei an wissenschaftlichen Standards, die trotz ihresobjektiven Charakters an normativen Entscheidungen gebunden sind. Deshalbkann ein Armutskonzept nur „in dem Sinne objektiv sein, als es explizit, eindeu-tig und überprüfbar ist und auf einer Verwendung der besten verfügbaren Mess-

    methoden beruht“ (vgl. Piachaud 1992: 66). Der Ansatz der Verwirklichungschancen und der Lebenslagenansatz bildendie theoretisch umfassendsten Konzeptionen von Armut. Maßgebend für ihreEntwicklung war die Kritik, dass bisherige Armutsdefinitionen ausschließlichmonetäre Mittel einbeziehen würden. Den beiden Ansätzen zur Folge ist dieindividuelle Wohlfahrt aber als ein multidimensionaler Tatbestand zu verstehen,der verschiedene Lebensbereiche umfasst. Im Gegensatz zum tatsächlichen Kon-sum tritt hierbei der potenzielle Verwirklichungsspielraum individueller Wün-sche und Lebensziele in den Vordergrund (vgl. Leßmann 2006: 31).

    Der Ansatz der  Verwirklichungschancen  wurde von Amartya Sen begrün-det und von Martha Nussbaum und anderen maßgeblich weiterentwickelt(Robeyns 2005; Arndt und Volkert 2006; Gasper 2007; Graf 2011). Dem Ansatzfolgend wird eine Person als arm definiert, wenn ihre Freiheit bzw. ihre Verwirk-lichungschance, unterschiedliche Lebensstile bzw. Funktionen realisieren zukönnen, eingeschränkt ist (vgl. Robeyns 2005: 94f.; Arndt und Volkert 2006: 9).5 

    5 Der Mangel an Verwirklichungschancen steht bei Sen (2000: 95) im Vordergrund, da ihre tatsächli-che Realisation vom Lebensstil beeinflusst wird und zudem ihre relative Bedeutung bestimmt,wodurch eine objektive Abschätzung sozialer Benachteiligung nicht gegeben ist (vgl. Graf 2011:21f.).

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    26/314

    Was ist Armut? 27

    Unter Funktionen fasst Sen Aktivitäten, Zustände und Fähigkeiten, die dasWohlergehen einer Person konstituieren (vgl. Leßmann 2005: 154). Die Ver-wirklichungschancen bilden hingegen die Gesamtheit der Funktionen, die einer

    Person zur Verfügung stehen. Gegenstand der Armutsmessung ist daher nicht dietatsächliche, sondern die potenzielle Lebensführung, die eine Person frei vondenkbaren Barrieren wahrnehmen kann.

    Als Barrieren der Verwirklichungschancen treten die individuellen Potenzi-ale  und instrumentellen Freiheiten  auf (vgl. Robeyns 2005: 98ff.; Arndt undVolkert 2006: 11). Die individuellen Potenziale setzen sich aus den nicht- finanziellen Potenzialen einer Person zusammen, wie seiner Gesundheit, Bildungoder individuellen Kompetenz, und aus den finanziellen Potenzialen, wie seinemVermögen oder Einkommen. Die instrumentellen Freiheiten spiegeln dabei den

    kontextuellen Rahmen wider und beziehen sich nach Sen (2000: 52) auf 1) die politischen Freiheiten, 2) die ökonomischen Einrichtungen, 3) die sozialenChancen, 4) die Transparenzgarantien und 5) die soziale Sicherung. Diese stehenin unmittelbarer Wechselwirkung zueinander, haben aber auch Einfluss auf dieindividuellen Potenziale, indem sie personengebundene Eigenschaften egalisie-ren, bestärken oder beinträchtigen (vgl. Robeyns 2005: 99).6 Eine Person wirddemnach als arm bezeichnet, wenn es ihr an Verwirklichungschancen mangelt.

    Dadurch löst sich der Ansatz von der bloßen Fokussierung auf finanzielleMittel und berücksichtigt alle Faktoren, die zur Verwirklichung unterschiedlicher

    Lebensstile notwendig sind (vgl. Arndt und Volkert 2006: 10; Leßmann 2005:156). Dieser Verwirklichungsspielraum ist das unmittelbare Kriterium der indi-viduellen Wohlfahrt (vgl. Arndt und Volkert 2006: 10). Ihre Bedeutung wirddurch individuelle Präferenzen und Lebensvorstellungen beeinflusst, sodassArmut als Mangel an Verwirklichungschancen sowohl instrumentelle als auchnormative Aspekte anspricht (vgl. Sen 2000: 110).

    Als weiteres Armutskonzept, das dem Ansatz der Verwirklichungschancenäußerst ähnelt, hat sich in Deutschland der  Lebenslageansatz  unter dem Wirkenvon Otto Neurath, Kurt Grelling, Gerhard Weisser, Ingeborg Nahnsen und ande-

    ren entwickelt (Leßmann 2005, 2006; Engels 2006). Als ein multidimensionalesKonzept bezieht der Lebenslageansatz neben personengebundenen Faktoren, wieder Gesundheit oder dem Sozialstatus, auch gesellschaftliche Verhältnisse mitein, die aus der Politik, Wirtschaft oder direkt aus der Gesellschaft folgen (vgl.Hauser 2008: 98).7 

    6 Grundsätzlich hängt die Anzahl der möglichen Potenziale und Freiheiten nach Sen von der Frage-stellung, dem Anwendungsgebiet und dem theoretischen Kontext ab (vgl. Leßmann 2005: 162).7 Die im Lebenslageansatz berücksichtigten Elemente sind keiner Beschränkung unterlegen, da nachWeisser ein breites Spektrum an Präferenzen bzw. Grundanliegen existiert (vgl. Leßmann 2005:162).

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    27/314

    28 Was ist Armut?

    Die Definition der Lebenslage beruht dabei auf zwei unterschiedlichenDenkrichtungen. So versteht Gerhard Weisser unter der Lebenslage den potenzi-ellen  Handlungsspielraum einer Person (zur Befriedigung seiner „unmittelbaren

    Interessen“ bzw. „Grundanliegen“). Kurt Grelling hingegen hat das Konzept derLebenslage um die Dimension der Lebenshaltung  erweitert, die sich auf die Um-setzung der zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten bezieht (vgl.Leßmann 2005: 151; Hauser 2008: 98). Die von Grelling vorgeschlagene Kon-zeption von Armut ermöglicht nach Hauser (2008: 99) eine unmittelbare Mes-sung der Lebensbedingungen einer Person.8  Hingegen bietet das Konzept vonWeisser keine neuen Erkenntnisse, da es dem Ansatz der Verwirklichungschan-cen inhaltlich gleicht (Leßmann 2005, 2006).

    Armut als soziale Exklusion zu definieren hat in Europa eine lange Traditi-

    on. Losgelöst durch die von Réne Lenoir im Jahre 1974 veröffentlichte Studie zuden sozial Ausgeschlossenen („les excludes“) im französischen Versicherungs-system, hat sich der Exklusionsbegriff seit den 1980er Jahren in der Europäi-schen Kommission und in Großbritannien als Armutskriterium etabliert (vgl.Silver 1994: 532ff.; Room 1998, 1999; Atkinson und Davoudi 2000; Burchardt2000: 385ff.).9 Obwohl der Exklusionsbegriff in den letzten Jahrzehnten zuneh-mend an Bedeutung gewonnen hat, konnte sich noch keine allgemeingültigeDefinition zur sozialen Exklusion durchsetzen.

    Selbst in ihrer terminologischen Bedeutung der Begriffe Armut und soziale

    Exklusion besteht bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein erheblicher Diskurs.Dieser geht der Frage nach, ob die soziale Exklusion eine Dimension von Armutist oder nur ein Synonym für Armut darstellt (vgl. Burchardt et al. 1999: 228;Atkinson und Davoudi 2000: 434ff.; Levitas 2006: 126).10 Letztere erklärt sichaus der Kritik der Exklusionsforschung, dass der etablierte Armutsbegriff aus-schließlich auf monetäre Mittel abzielt und die multidimensionalen Facetteneiner sozialen Benachteiligung vernachlässigt.11 In Abhängigkeit von den gesell- 

    8 Eine erste umfassende Analyse zu den „Lebenslagen in Deutschland“ bilden die von der Bundesr e-

    gierung in Auftrag gegebenen Armuts- und Reichtumsberichte.9 In der amerikanischen wie australischen Armutsforschung konnte sich der Exklusionsbegriff hinge-gen nicht durchsetzten. Dort wird vielmehr von „underclass“ gesprochen, die einem liberalen Ver-ständnis über die Verantwortlichkeit individuellen Handelns entspricht (vgl. Room 1998; Burchardt2000: 386; Levitas 2000: 360f.).10  Dieser „Ablösungsprozess“ ist insbesondere auf der Ebene der Europäischen Kommission zu beobachten, den Peace (2001: 19) folgendermaßen beschreibt: „The war on poverty was out and the fight against social exclusion was in“. Dabei zeigt der gegenwärtige Diskurs, dass der Begriff der sozialen Exklusion zunehmend an „Popularität“ verliert und durch den Begriff der  sozialen Inklusion ersetzt wird (bspw. Atkinson et al. 2002).11  In der Öffentlichkeit wird das Ersetzen alter Begrifflichkeiten als strategische Entscheidung ge-nutzt, um die Bedeutungsschwere und die daraus resultierende Auseinandersetzung zu entschärfen bzw. zu umgehen (vgl. Atkinson und Davoudi 2000: 436f.)

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    28/314

    Was ist Armut? 29

    schaftlichen Verhältnissen können die Armut und die damit einhergehende Ex-klusion jedoch verschiedene Lebensbereiche einer Person beeinflussen, wie beispielsweise das soziale oder kulturelle Leben (vgl. Millar 2007: 4ff.). Wesent-

    lich an diesem Verständnis ist, dass die soziale Exklusion von den gesellschaftli-chen Gegebenheiten abhängt. So definiert Peter Townsend in dem von ihm be-gründeten  Lebensstandardansatz  eine Person als arm, „when they lack the re-sources to obtain the type of diet, participate in the activities and have the livingconditions and amenities which are customary, or are at least widely encouragedor approved, in the societies to which they belong“ (1979: 31).

    Diese für den Lebensstandardansatz typische Definition hatte einen erhebli-chen Einfluss auf die gegenwärtige Exklusionsforschung. Denn sie hebt dasrelationale und multidimensionale Verständnis von Armut und sozialer Exklusi-

    on hervor. Darüber hinaus zielt der Ansatz auch auf Aspekte der Verfügbarkeitund Verteilung von Ressourcen ab und berücksichtigt eine für die Exklusionsfor-schung wichtige Dimension von Armut: die soziale Teilhabe (vgl. Levitas 1996:7, 2006: 124).12 Die soziale Teilhabe ist in diesem Zusammenhang der unmittel- bare Schlüssel zur Vermeidung von relativer Armut und Exklusion. Sie ist des-halb auch in Definitionen von Armut bzw. sozialer Exklusion zu finden. So bez-eichnen Burchardt et al. (2002: 30) eine Person als sozial exkludiert, „if he or shedoes not participate in the key activities of the society in which he or she lives.“Eine etwas detailliertere, aber auch typische Definition von sozialer Exklusion

    findet sich in einem Kommunikationspapier der Europäischen Kommission(1992: 8): „The concept of social exclusion is a dynamic one, referring both to processes and consequent situations… More clearly than the concept of poverty,understood far too often as referring exclusively to income, it also states out themultidimensional nature of the mechanisms whereby individuals and groups areexcluded from taking part in the social exchanges, from the component practicesand rights of social integration and of identity.” 

    Die vorangehenden Definitionen verdeutlichen den relationalen und mul-tidimensionalen Charakter des sozialen Exklusionsbegriffs und die Bedeutung

    der sozialen Teilhabe zur Überwindung von Armut. Darüber hinaus verweist diedurch die Europäische Kommission formulierte Definition auf einen weiterenAspekt sozialer Exklusion: ihren dynamischen Charakter . Die soziale Exklusionwird demnach als ein dynamischer Tatbestand beschrieben, der das Resultat biografischer Lebensumstände ist und auf die zukünftigen Lebenschancen Ein-

     

    12 Die Berücksichtigung des Ressourcenaspekts im Lebensstandardansatz resultiert aus der kritischenAuseinandersetzung mit dem bis dato vorherrschenden Verständnis von Armut als ein Mangel anfinanziellen Ressourcen (Andress 2003). Als innovativ kann der Lebensstandardansatz deshalb beschrieben werden, weil er sich als einer der ersten direkt   auf den multidimensionalen  Charakterrelativer  Armut bezieht (vgl. Ringen 1988; Andress 1999: 73).

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    29/314

    30 Was ist Armut?

    fluss nimmt (vgl. Room 1998; Millar 2007: 3f.). Theoretisch wie auch metho-disch wirft die Berücksichtigung einer zeitlichen Dynamik jedoch erheblicheProbleme auf. So diskutiert Burchardt (2000: 389) beispielsweise die Frage, ob

    eine gegenwärtige Benachteiligung als soziale Exklusion verstanden werdendarf, wenn die bewusste Entscheidung dafür zeitlich zurückliegt.

    Daneben haben einige Autoren den Exklusionsbegriff inhaltlich erweitert.So betont Room (1999) wie auch Tsakloglou und Papadopoulos (2002), dass diesoziale Exklusion auch auf Unzulänglichkeiten der lokalen Umwelt beruht unddaher als ein kollektives Phänomen  verstanden werden muss. Darüber hinausführen Atkinson (1998) wie auch Tsakloglou und Papadopoulos (2002) den Be-griff der eingeschränkten Handlungsfähigkeit (agency) ein und verweisen auf dieVerantwortlichkeit der an der Exklusion beteiligten Akteure (agents). Ähnlich

    definieren Burchardt et al. (1999: 229) eine Person als sozial exkludiert, „if (a)he or she is geographically resident in a society but (b) for reasons beyond his orher control her or she cannot participate in the normal activities of citizens in thatsociety and (c) he or she would like to participate.”  Eine freiwillige Einschrän-kung der sozialen Teilhabe kann demnach nicht als soziale Exklusion verstandenwerden. Inwieweit diese Entscheidung jedoch tatsächlich frei getroffen wurde,ist in der Exklusionsforschung umstritten (Barry 2000). So betont Barry (ebd.:23ff.), dass die soziale Exklusion, ob freiwillig oder erzwungen, nicht nur die soziale Gerechtigkeit  einschränkt, sondern auch einen negativen Einfluss auf die

     gesamtgesellschaftliche Solidarität   ausübt. Vor diesem Hintergrund scheint esdaher auch nicht relevant zu sein, ob die soziale Exklusion auf Freiwilligkeitoder sozialen Zwang beruht.

     Neben dem inhaltlichen Diskurs sind auch methodische Aspekte ausschlag-gebend für eine weitere Ausarbeitung des Exklusionskonzepts. Diese muss bei-spielsweise der Frage nachgehen, in welchen Lebensbereichen eine Person ex-kludiert sein kann und wie diese Bereiche in Interaktion zueinanderstehen. Ent-sprechende Umsetzungsversuche, wie der von Burchardt (2000), der sich auf dieBereiche des Konsums, der Produktion, der Politik und des Sozialen bezieht,

    haben häufig einen willkürlichen Charakter, da ihnen ein theoretischer Bezugs-rahmen fehlt. Adäquatere Ansätze, wie beispielsweise der Lebensstandardansatz,werden hingegen weitestgehend nicht beachtet.

    Die Ausführungen haben gezeigt, dass die Definition von Armut wie auchihre methodische Umsetzung an normativen Entscheidungen gebunden ist. Den-noch lassen sich einige Aspekte nennen, die allen Konzeptionen von Armut ge-mein sind. Armut ist demnach in entwickelten Wohlstandsländern ein relativerTatbestand, der vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Verhältnisse definiertwerden muss. Die soziale Teilhabe bildet dabei ein wesentliches Kriterium rela-tiver Armut, die daher auch als multidimensionaler Tatbestand verstanden wer-

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    30/314

    Was ist Armut? 31

    den muss. Sie drückt sich in einem tatsächlichen wie potenziellen Mangel anLebenschancen aus, der dem Diskurs um eine gerechte Chancenverteilung ent-spricht. Darüber hinaus wird die relative Armut durch soziale Gegebenheiten

    aufgezwungen und ist daher nicht das Resultat einer freiwilligen Entscheidung.Inwieweit hierfür temporäre Gegebenheiten verantwortlich sind und wie sich derdynamische Charakter der Armut erfassen lässt, sind bis zum gegenwärtigenZeitpunkt noch ungeklärte Fragen.

    In der vorliegenden Arbeit wird eine Definition von Armut gewählt, die alsrelationaler wie multidimensionaler Tatbestand begriffen wird. Auf die weiterenDimensionen wird im Folgenden nicht näher eingegangen, da sie einer umfas-senden Ausarbeitung bedürfen. Eine entsprechende, in der Literatur häufig anzu-treffende Armutsdefinition hat der Rat der Europäischen Gemeinschaft im Jahre

    1984 formuliert. Dieser Definition folgend werden in der vorliegenden ArbeitEinzelpersonen, Familien und Personengruppen als arm bezeichnet, wenn sie… 

    „…über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie vonder Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben,als Minimum annehmbar ist“ (vgl. Europäische Gemeinschaft 1985: 24). 

    Die Armut wird demnach als ein relativer Tatbestand verstanden, der in seinemmultidimensionalen Charakter in Relation zu den gesellschaftlichen Lebensver-hältnissen definiert wird. Sie resultiert aus einer unzureichenden Ressourcenver-

    fügbarkeit, die eine durch Zwang erzeugte Benachteiligung initiiert. Die dynami-schen Aspekte von Armut wie auch mögliche Verwirklichungschancen werdenin der vorliegenden Definition nicht berücksichtigt, da sie vor dem Hintergrundder vorliegenden Untersuchung zu weit greifen.

    Schließlich bleibt resümierend festzuhalten, dass das Verständnis von Ar-mut trotz seines häufigen Gebrauchs relativ stark variiert und die Wissenschafteine inhaltliche Diskussion um einen einheitlichen Armutsbegriff versäumt hat.Denn wie der Literatur zeigt, werden in der Debatte um den Armutsbegriff meistmethodische Fragen behandelt. Ausgangspunkt ist hierbei häufig der monetäre

    Ansatz, der in verschiedenen Disziplinen das Armutsverständnis repräsentiert.So lässt sich einerseits ein umfassender Diskurs um die methodischen Mängeldes (monetären) Armutskonzeptes finden, andererseits eine Verdrängung desArmutsbegriffs durch neue Ansätze, wie dem Verwirklichungskonzept oder demKonzept der sozialen Exklusion/Inklusion. Eine eingehende Auseinandersetzungmit dem Erleben und Begreifen von Armut konnte daher nicht erfolgen, weshalbdieser Forschungsbereich auch gegenwärtig noch so lückenhaft erscheint.

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    31/314

     

    3  Mikro- und makrosoziologische Theorien zurBeziehung zwischen Armut und Gesundheit

    Der Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit wird in den Gesundheits-wissenschaften und speziell in der gesundheitlichen Ungleichheitsforschung überverschiedene Erklärungsansätze hergeleitet. Diese setzen an unterschiedlichen

    Betrachtungsebenen an und bilden den theoretischen Rahmen zur Erklärung derBeziehung zwischen Armut und Gesundheit. Neben mikrosoziologischen Theo-rien haben sich seit jüngster Zeit auch makrosoziologische Konzeptionen zurgesundheitlichen Ungleichheit durchgesetzt. Diese bilden im Folgenden dentheoretischen Diskussionshintergrund zur Variation der Beziehung zwi-schen Armut und Gesundheit in Europa. Die jeweiligen Ausarbeitungen werdendazu im Kontext ihrer theoretischen Verortung diskutiert, vorgestellt und vergli-chen. Den Anfang bilden hierbei mikrosoziologische Ansätze zur Beziehungzwischen Armut und Gesundheit. Die anschließenden Ausführungen beziehensich auf Konzepte, die einen Einfluss von kontextuellen Faktoren auf die Bezie-hung zwischen Armut und Gesundheit postulieren.

    3.1 

    Mikrosoziologische Ansätze

    Der klassische Ansatz erklärt die Beziehung zwischen Armut und Gesundheitüber mikrosoziologische Wirkungsmechanismen. Der Kontext und die damiteinhergehenden Lebensumstände werden im Rahmen dieser Denkrichtung wei-testgehend ausgeblendet, da ihnen kein wesentlicher Erklärungsbeitrag zu denarmutsbezogenen Gesundheitsunterschieden beigemessen wird. In den mikroso-ziologischen Theorien der gesundheitlichen Ungleichheitsforschung finden sichzwei Wirkungshypothesen, die inhaltlich diametral zueinanderstehen. Gemäß derVerursachungsyhpothese  („causation hypothesis“) beeinflussen die mit der Ar-mut einhergehenden Lebensumstände die Anfälligkeit für Krankheit und dieLebenserwartung. Hingegen sind laut der Selektions- bzw. Drifthypothese („sel-ection hypothesis“) die gesundheitlichen Beeinträchtigungen für den Verbleib bzw. für den Eintritt in die Armut verantwortlich (vgl. Steinkamp 1999: 114).Die leitende Frage lautet also: Führt Armut zu Krankheit oder Krankheit zu Ar-

    Timo-Kolja Pförtner, Armut und Gesundheit in Europa, Gesundheit und Gesellschaft,

    DOI 10.1007/978-3-658-01412-4_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    32/314

    34 Mikrosoziologische Ansätze

    mut? Vor diesem Hintergrund plädieren Vertreter der sogenannten  Lebenslauf- perspektive beide Hypothesen nicht exklusiv voneinander zu verstehen, sondernals integrale Bestandteile einer möglichen „Belastungskarriere“ (vgl. van de

    Mheen et al. 1998; Kuh et al. 2003: 778; Davey Smith und Lynch 2004: 107;Hallqvist et al. 2004; Rosvall et al. 2006; Dragano 2007: 24; Power und Kuh2008; Dragano und Siegrist 2009; Szanton et al. 2010). Entsprechende Studienlegen einen solchen Schluss nahe (Thiede und Traub 1997; Mulatu und Schooler2002; Münning 2008; Halleröd und Gustafsson 2011). Jedoch wird der Verursa-chungshypothese in industrialisierten Ländern ein höherer Stellenwert bei derErklärung gesundheitlicher Ungleichheit insbesondere im Erwachsenenalterzugesprochen (vgl. Blane et al. 1993: 560; West 1991: 548; Hudson 2005; Mün-ning 2008).

    3.1.1   Die Selektions- oder Drifthypothese

    Gemäß der  Selektions-  oder  Drifthypothese  basiert die Beziehung zwischenArmut und Gesundheit auf den selektiven Wirkungsmechanismen, die das ge-sundheitliche Befinden auf die sozialen Mobilitätschancen ausübt (West 1991;Blane et al. 1993). Ist eine Person demnach über einen spezifischen Zeitraumgesundheitlichen Einschränkungen ausgesetzt, steigt das Risiko, in die Armut

    abzusteigen bzw. dort zu verweilen. Vor diesem Hintergrund hat Steinkamp(1999: 118ff.) zwei Selektionsmechanismen identifizieren können: eine natürli-che und eine soziale Selektion. 

    Einerseits kann die Beziehung zwischen Armut und Gesundheit auf einemnatürlichen Selektionsprozess beruhen. In diesem steuert die betroffene Personaufgrund ihrer körperlichen, geistigen und/oder genetischen Prädisposition un-weigerlich einer Armutskarriere entgegen.13  Die prädispositionale Benachteili-gung wirkt sich von Geburt an negativ auf den ökonomischen Werdegang aus.So werden die beruflichen wie finanziellen Potenziale bereits im Schulalter

    durch die körperliche und/oder geistige Verfassung der betroffenen Person de-terminiert.Andererseits können die sozialen Unterschiede in der Gesundheit Resultat

    einer  sozialen Selektion  sein. Hierbei wirkt die Gesundheit als Richtschnur fürden sozialen Auf- bzw. Abstieg. Während Personen ohne gesundheitliche Be-schwerden ihre sozioökonomische Position verbessern bzw. halten können, stei-gen erkrankte Personen eher in die Armut ab bzw. verbleiben dort. Körperlichewie mentale Beschwerden in den frühen Lebensjahren können dabei die schuli- 

    13 Mackenbach (2005) bezieht sich bei der Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten als einer derersten auf die genetische Prädisposition von Individuen.

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    33/314

    Mikrosoziologische Ansätze 35

    schen wie beruflichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche sozioökonomischeEntwicklung behindern. Auch bei Erkrankungen während der Erwerbsperiodewird postuliert, dass sie zu Armut führen können, sofern sie mit einer längerfris-

    tigen Unterbrechung (Arbeitslosigkeit) bzw. mit einem Abbruch der beruflichenKarriere (Frühverrentung) einhergehen (McDonough und Ill 2001; Stewart 2001;Jusot et al. 2008).

    Indes variieren beide Selektionsmechanismen in ihrer Wirkung gemäß derSchwere der gesundheitlichen Belastung. Diese hängt nach West (1991) nichtnur von der eigentlichen Beeinträchtigung ab, sondern auch von möglichen sozi-alen (Ab-)Wertungsprozessen. Demzufolge wird die soziale Selektion von einemStigmatisierungsprozess begleitet, der insbesondere bei psychischen Erkrankun-gen in Erscheinung tritt und einen Einfluss auf die weiteren Lebenschancen aus-

    übt. Aus diesem Grunde existieren einige soziale Institutionen - seien sie nundurch den Staat oder durch Wohlfahrtsorganisationen organisiert -, die sozialeChancen ausgleichen und Vorurteile abbauen. Schließlich fast West (ebd.: 550)die Wirkungsweise gesundheitlicher Selektionsmechanismen folgendermaßenzusammen:

    „In a fundamental sense, health selection - direct or indirect - does not occur in asocial vacuum; it is the outcome of an interaction between more or less valued at-tributes of individuals and the opportunity structures and the institutions and socialagencies which control access to and processes within them.” 

    Dabei gelten die unter der Selektionshypothese subsumierten Mechanismenempirisch als teilweise gesichert. In diesem Zusammenhang haben Elovainio etal. (2011) herausgefunden, dass die Selektions- bzw. Drifthypothese vorwiegendim Jugendalter als Determinante des beruflichen Erfolgs bestand hat. Insgesamtwird ihr Erklärungsanteil aber als relativ gering eingestuft (vgl. Blane et al.1993: 560; West 1991: 548; Hudson 2005; Münning 2008).

    3.1.2 

     Die Verursachungshypothese

     Nach der Verursachungshypothese resultieren aus der Armut und den damiteinhergehenden Lebensumständen gesundheitliche Beschwerden. Diese werdenin Anlehnung an Mackenbach (2006: 32) über drei zentrale Mechanismen ver-mittelt und treten maßgeblich im Erwachsenenalter in Erscheinung (Elovainio etal. 2011): 1) die materielle Unterversorgung , 2) die psychosoziale Belastung  und3) das gesundheitliche Fehlverhalten (vgl. Raphael 2006: 657; Judge und Pater-son 2001: 6f.; Solar und Irwin 2007: 12f.; Kawachi et al. 2002: 649).

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    34/314

    36 Mikrosoziologische Ansätze

    In Abbildung 1 sind die kausalen Einflussmechanismen der Armut auf dieGesundheit vereinfacht dargestellt. Demzufolge wirken die mit der absolutenArmut assoziierten Belastungszustände und Verhaltensweisen direkt wie indirekt

    auf die Gesundheit und interagieren relativ stark untereinander. So hat beispiels-weise die materielle Unterversorgung einen direkten wie auch indirekten Ein-fluss - über die psychosoziale Belastung und das Verhalten kommuniziert - aufdas Befinden der in Armut lebenden Person.

     Abbildung 1:  Vereinfachte Darstellung der Verursachungshypothese zumEinfluss von Armut auf Gesundheit. 

    Vgl. Mackenback (2006: 32)

    Wie schon erwähnt, ist das vorliegende Modell als eine vereinfachte Darstellungder Verursachungshypothese zu verstehen. Denn vor dem Hintergrund einerkritischen Bewertung zeigt sich, dass unter anderem die zeitlichen wie auchräumlichen Aspekte gesundheitlicher Ungleichheit nicht berücksichtigt werden(vgl. Richter und Hurrelmann 2009: 23). In den folgenden Ausführungen werdendaher die Erklärungsfaktoren armutsinduzierter Gesundheitsunterschiede nichtnur umfassend dargestellt und evaluiert, sondern - sofern notwendig - auch vordem Hintergrund ihrer räumlichen und zeitlichen Dimension hin diskutiert. Be-ginnend wird dazu auf die gesundheitlichen Belastungsfolgen einer materiellenUnterversorgung eingegangen. Die darauffolgenden Ausführungen widmen sichden psychosozialen Implikationen der Armut. Abschließend steht das mit Armutassoziierte Gesundheitsverhalten im Mittelpunkt.

    Armut 

    MaterielleUnterversorgung 

    Gesundheits-verhalten  Gesundheit 

    Psychosoziale

    Belastung 

    Armut

    MaterielleUnterversorgung

    Gesundheits-verhalten

    Gesundheit

    Psychosoziale

    Belastung

     

  • 8/17/2019 Gesundheit Und Gesellschaft

    35/314

    Mikrosoziologische Ansätze 37

    - Die materielle Unterversorgung -

    Der Wirkungszusammenhang zwischen den materiellen Lebensbedingungen und

    der Gesundheit findet im materiellen Ansatz  seine Entsprechung. Dieser besagt,dass die materielle Unterversorgung der Armut sich direkt wie indirekt auf dasAuftreten und die Entwicklung gesundheitlicher Beschwerden auswirkt (vgl.Blane et al. 1997; Lynch und Kaplan 2000: 24; Raphael 2006: 657). In seinemhistorischen Ursprung kann der materielle Ansatz im Wesentlichen auf den For-schungsbereich hygienebedingter Erkrankungen ( sanitary approach) zurückge-führt werden (vgl. Lynch und Kaplan 2000: 24; Awofeso 2004). Dieser entwi-ckelte sich in der frühen Phase der Industrialisierung vor dem Hintergrund eineraufkeime