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Medizin – im Widerspruch mit Ethik und Recht? Studium Generale der Universität Mainz 12. Februar 2003 Gesellschaftliche Einflüsse Gesellschaftliche Einflüsse auf Gesundheit und Krankheit auf Gesundheit und Krankheit zur ethischen Dimension sozialer Ungleichheit zur ethischen Dimension sozialer Ungleichheit Johannes Siegrist Institut für Medizinische Soziologie Universität Düsseldorf

Gesellschaftliche Einflüsse auf Gesundheit und … · 2003-02-17 · Johannes Siegrist Institut für Medizinische Soziologie Universität Düsseldorf. Verhältnis der Sterberaten

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Page 1: Gesellschaftliche Einflüsse auf Gesundheit und … · 2003-02-17 · Johannes Siegrist Institut für Medizinische Soziologie Universität Düsseldorf. Verhältnis der Sterberaten

Medizin – im Widerspruch mit Ethik und Recht?Studium Generale der Universität Mainz

12. Februar 2003

Gesellschaftliche Einflüsse Gesellschaftliche Einflüsse auf Gesundheit und Krankheit auf Gesundheit und Krankheit ––

zur ethischen Dimension sozialer Ungleichheit zur ethischen Dimension sozialer Ungleichheit

Johannes Siegrist

Institut für Medizinische SoziologieUniversität Düsseldorf

Page 2: Gesellschaftliche Einflüsse auf Gesundheit und … · 2003-02-17 · Johannes Siegrist Institut für Medizinische Soziologie Universität Düsseldorf. Verhältnis der Sterberaten

Verhältnis der Sterberaten zwischen Verhältnis der Sterberaten zwischen manuellen und nichtmanuellen und nicht--manuellen (= 1.0) Berufsgruppen manuellen (= 1.0) Berufsgruppen

(Männer 30(Männer 30--59 Jahre), in drei Perioden (rate ratio)59 Jahre), in drei Perioden (rate ratio)

1

1,2

1,4

1,6

1,8

2

FinnlandSchwedenNorwegen

Engl./WalesTurin

1980-19841985-19891990-1994

Quelle: J.P. Mackenbach & A.M. Bakker (2002) Reducing Inequalities in Health. London: Routledge.

Dänemark

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1010--JahresJahres--Mortalität (%)Mortalität (%)

0

24

68

1012

1416

alle Ursachen KHK übrige

Leitende Dienste Gehobene Einfache Un- / Angelernte

Quelle: M. Marmot et al. (1984) Lancet: 1003.

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ErklErkläärungsansrungsansäätzetze des des sozialensozialen GradientenGradienten

1. Ergebnis unterschiedlichen Zugangs zurmedizinischen Versorgung

2. Selektionseffekt (Krankheit ! sozialer Abstieg)

3. Vulnerabilität in Schwangerschaft / früher Kindheit

4. Gesundheitsschädigendes Verhaltenim Erwachsenenalter

5. Materielle und psychosoziale Belastungenin Beruf und Familie

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SozialeSoziale UngleichheitUngleichheit von von GesundheitGesundheit und und KrankheitKrankheit in in derder frfrüühenhen KindheitKindheit

" Schwangerschaft- Mangelnde Vorsorge- Fehlernährung ! pränatale Stoffwechselstörung - Suchtmittel, Infektionsgefahr (HIV / HCV),

chronischer Distress

" Unfall- und Verletzungsgefahr" Frühe Mutter-Kind-Beziehung

- Gestörte affektive Bindung- Soziale Benachteiligung (v.a. Alleinerziehende)

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BMI bei 1350 5BMI bei 1350 5-- bis 7bis 7--jährigen Kindern nach jährigen Kindern nach sozialer Schicht und Gewichtsstatus der Elternsozialer Schicht und Gewichtsstatus der Eltern

14

15

16

17

18

niedrig mittel hochSoziale Schicht

Quelle: K. Langnäse et al. (2002) Int J Obesity 26: 566.

beide Elternteile

ein Elternteil

kein Elternteil

Übergewicht der Eltern

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Beeinträchtigung der MutterBeeinträchtigung der Mutter--KindKind--Beziehung Beziehung in früher Kindheitin früher Kindheit

" Emotionale Bindungssicherheit beim Säugling: wesentliche Bedingung gesunder psychischer Entwicklung (Affektregulation)

" Einfühlsame Bedürfnisbefriedigung durch die Mutter: entscheidende Determinante der Bindungssicherheit

" Fehlender sozialer Rückhalt (durch Partner) und defizitäres Elternverhalten: wichtigste Einflussfaktoren

" Diese Einflussfaktoren finden sich häufiger bei sozial benachteiligten Gruppen (ungewollte Frühschwanger-schaft, Alleinerziehende in prekärer sozialer Lage)

Quelle: P. Fonagy (1996)

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Sterblichkeit und schwere Gesundheitsstörungen Sterblichkeit und schwere Gesundheitsstörungen bei 6bei 6-- bis 18bis 18--jährigen Kindern Alleinerziehender jährigen Kindern Alleinerziehender

in Schweden (N=65.085 vs. 921.257)in Schweden (N=65.085 vs. 921.257)

" Allgemeine Mortalität" Suizid" Psychiatrische Krankheiten" Opfer von Gewalt" Alkoholbedingte Störungen

Relative Risiken der Inzidenz 1991 – 1998

1.21(*)

2.43*2.08*2.02*2.42*

1.54*1.83*2.52*1.62*2.18*

Mädchen Jungen

(*) p < 0.10* p < 0.05

Quelle: G. Ringbäck Weitoft et al. (2003) Lancet 361: 289.

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SozialSozial-- und und gesundheitspolitischegesundheitspolitische FolgerungenFolgerungen

" Verbesserte Gesundheitsberatung und Vorsorgewährend der Schwangerschaft

" Verbesserung der ökonomischen und sozialen Lage Alleinerziehender

" Angebote von Programmen “erfolgreicher Elternschaft”" Angebote von Krippenplätzen mit guter Betreuung" Verstärkte Unfallprävention" Soziales Kompetenztraining (Vorschule, Schule)" Koordination kommunaler Gesundheits-

und Sozialdienste

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SozialeSoziale UngleichheitUngleichheit von von GesundheitGesundheit und und KrankheitKrankheitimim mittlerenmittleren ErwachsenenalterErwachsenenalter: : ErklErkläärungsschemarungsschema

niedrigere soziale Schicht

höhere Belastungen (v.a. Beruf, Familie)

geringere Ressourcen der Bewältigung

gesundheitsschädigendesVerhalten #

chronischer Distress #

Morbidität / Mortalität #(v.a. KHK / Depressionen)

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Ungünstige Auswirkungen des ArbeitsmarktesUngünstige Auswirkungen des Arbeitsmarktesauf die Gesundheit („Eisberg“) auf die Gesundheit („Eisberg“)

Arbeitslosigkeit(kurz-/langzeitig)

Prekäre Beschäftigung(Unsicherheit, geringer Schutz, niedriger Lohn)

Belastende stabile Beschäftigung(Modelle psychosozialer Arbeitsbelastungen)

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AnforderungsAnforderungs--KontrollKontroll--ModellModell(R. (R. KarasekKarasek))

passiv

aktiv

NiedrigerDistress

hoch

Entscheidungs-Spielraum/Kontrolle

gerin

g

gering hoch

quantitative Anforderungen

Page 13: Gesellschaftliche Einflüsse auf Gesundheit und … · 2003-02-17 · Johannes Siegrist Institut für Medizinische Soziologie Universität Düsseldorf. Verhältnis der Sterberaten

Modell beruflicher GratifikationskrisenModell beruflicher Gratifikationskrisen(J. Siegrist)(J. Siegrist)

Veraus-gabung

Belohnung

- Anforderungen- Verpflichtungen

- Lohn, Gehalt- Wertschätzung- Aufstiegsmöglichkeiten

Arbeitsplatzsicherheit

Erwartung(‘übersteigerte

Verausgabungsbereitschaft‘)

Ungleichgewicht aufrechterhalten bei:" fehlender Arbeitsplatzalternative" strategischem Verhalten" psychischer Disposition: übersteigerte

Verausgabungsbereitschaft

Erwartung(‘übersteigerte

Verausgabungsbereitschaft‘)

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VerausgabungsVerausgabungs--BelohnungsBelohnungs--Ungleichgewicht / Ungleichgewicht / Kontrolle über Arbeitsaufgabe und Neuerkrankung an KHKKontrolle über Arbeitsaufgabe und Neuerkrankung an KHK

Männer und Frauen: Whitehall IIMänner und Frauen: Whitehall II--StudieStudie

0

0,5

1

1,5

2

2,5

3

keineBelastung

mittlereKontrolle

geringeKontrolle

0

0,5

1

1,5

2

2,5

3

keineBelastung

hoheVerausg.

oder geringeBelohn.

hoheVerausg. +

geringeBelohn.

adjustiert für Alter, Geschlecht, Zeitraum bis Nachuntersuchung+ jeweils alternatives Arbeitsstressmodell+ Dienstgrad, koronare Risikofaktoren, negative Affektivität

Quelle: J. Bosma et al. (1998) Amer J Publ Health 88: 68–74.

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Mortalitätsrisiko (HerzMortalitätsrisiko (Herz--KreislaufKreislauf--Krankheiten) Krankheiten) in Abhängigkeit von psychosozialen Arbeitsbelastungenin Abhängigkeit von psychosozialen Arbeitsbelastungen

NNmaxmax=812 (73 Todesfälle); Zeitraum: 25,6 Jahre=812 (73 Todesfälle); Zeitraum: 25,6 Jahre

0

0,5

1

1,5

2

2,5

1 2 3 1 2 3

Anforderungs-Kontroll-Modell

Terzile (Belastung):

1 = keine; 2 = mittlere;3 = hohe

Modell beruflicher Gratifikationskrisen

Quelle: M. Kivimäki et al. (2002) BMJ 325: 857.

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Assoziation von Arbeitsstress und Depression Assoziation von Arbeitsstress und Depression bei japanischen Arbeitern mit Arbeitsplatzunsicherheitbei japanischen Arbeitern mit Arbeitsplatzunsicherheit

OR* 95 % KI p

" Hohe Anforderung 0,83 0.32 – 2.15 .70" Niedrige Kontrolle 4.71 1.16 – 13.72 .00" +Anf./-Kontrolle 2.16 0.85 – 5.51 .10" Gratifikationskrise 4.13 1.39 – 12.28 .01" Verausgabungsber. 2.56 1.01 – 6.47 .05

* Kontrolliert für Alter, Geschlecht, berufliche Position, Berufsgruppeund Arbeitsplatzmerkmale

Quelle: Tsutsumi et al. (2001) Scand J Work Environ Health 27(2): 146 – 153.

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Koronare Herzkrankheit und DepressionKoronare Herzkrankheit und Depression

„Bis zum Jahr 2020 werdenDepression und Koronare

Herzkrankheit weltweit die führenden Ursachen vorzeitigen Todes und durch

Behinderung eingeschränkter Lebensjahre sein.“

(Murray and Lopez 1996)

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Psychosoziale Arbeitsbelastungen Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Gesundheitund Gesundheit

" Wissenschaftlich dokumentierte Zusammenhänge bestehen ebenso bei- Muskulo-skelettalen Beschwerden- Alkoholabhängigkeit- Psychosomatischen Störungen- Arbeitsunfähigkeit

! Direkte und indirekte Kosten!! Auswirkungen auf Frühberentung!

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Praktische FolgerungenPraktische Folgerungen

" Gesundheitsförderung in Betrieben (Verhaltens- und Verhältnisprävention, theoriegeleitete Intervention)

" Verbesserte Umsetzung von Arbeitsschutz und Arbeitsrecht (v.a. bei prekärer Beschäftigung)

" Orientierung gesundheits- und sozialpolitischer Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität derArbeit am Gesundheitsziel „Abbau sozialerUngleichheit“

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Auswirkungen einer veränderten Arbeitsteilung Auswirkungen einer veränderten Arbeitsteilung auf Gesundheit (N=1193 schwedische Angestellte)auf Gesundheit (N=1193 schwedische Angestellte)

**10,77,85,0AU-Tage (Ø)

**10,26,04,1Tablettenkonsum

*24,421,716,9Magenschmerzen

***14,39,95,7Kopfschmerzen

**52,451,139,5Erschöpfung

***27,818,413,7Depressivität

pC %B %A %Symptome

A: erhöhte Kontrolle und größerer Entscheidungsspielraum B: erhöhte Kontrolle oder größerer Entscheidungsspielraum C: keine Veränderung

Quelle: R.A. Karasek et al. (1990)

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Forderungen an die betriebliche und Forderungen an die betriebliche und überbetriebliche Gesundheitspolitiküberbetriebliche Gesundheitspolitik

$ Arbeitsplatzsicherheit

$ Angemessene Bezahlung / qualifikationsgerechter Aufstieg

$ Verbessertes Führungsverhalten / Anerkennungskultur

$ Erweiterter Handlungsspielraum / Partizipation

$ Verbesserter Informationsfluss

$ Verstärkte Fort- und Weiterbildung