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Geschichte Kanalisation und Klärwerk in WiesbadenVOM 19. JAHRHUNDERT BIS HEUTE
Inhalt
Vorwort.......................................................................................................................3
Abwasserbeseitigung.in.Deutschland
– Generelle Geschichte der Abwasserableitung ............................................................... 4
– Abwasserbeseitigung in Wiesbaden vom Spätmittelalter bis in die Mitte
des 19. Jahrhunderts ....................................................................................................... 5
– Das neue Kanalbauprojekt 1885 .................................................................................. 10
– Stadthygiene und Assanierung .................................................................................... 11
Naturwissenschaftliche.Erkenntnisse
– Chronologische Angaben zu medizinischen und hygienischen Erkenntnissen .......... 12
– Hydraulik und Siedlungswasserwirtschaft ................................................................... 14
– Bau- und Entwässerungstechnik .................................................................................. 14
– Darstellung der wirtschaftlichen Dynamik .................................................................. 16
Cholera.und.Typhus.–.tödliche.Gefahr.in.Europa
– Übertragbare Krankheiten ............................................................................................ 18
– „Nach den hiesigen Verhältnissen kann dies nur das vollständige
Schwemmsystem sein“ ................................................................................................. 20
– Der Stolz der Stadt – Führungen im Untergrund .......................................................... 28
– Die Salzbachfrage und das Klärwerk ........................................................................... 29
– Im Dienste des Umweltschutzes – der Salzbachkanal ................................................ 37
Einfluss.und.Wirken.von.Politikern,.Wissenschaftlern.und.Ingenieuren.in.Wiesbaden
– Dr. jur. Carl von Ibell (1847 – 1924) .............................................................................. 39
– Reinhard Baumeister (1833 – 1917) ............................................................................ 40
– Prof. Dr. Ing. Felix Genzmer (1856 – 1929) ................................................................... 40
– Prof. Dr. Ing. Joseph Brix (1859 – 1943) ........................................................................ 41
– Oberingenieur Martin Frensch (1861 – 1944) .............................................................. 41
– Karl Frobenius (1852 – 1932) und Josef Stübben (1845 – 1936) ................................ 42
– Carl Remigius Fresenius (1818 – 1897) ........................................................................ 42
Entwässerung.in.Wiesbaden.bis.heute
– Die Kanalisation und Kläranlage an der Spelzmühle .................................................. 43
Literaturverzeichnis..................................................................................................50
Anmerkungen.und.Impressum.................................................................................51
Bis.ins.19..Jahrhundert.hinein.war.die.Ableitung.der.häuslichen.Abwässer.und.die.Entsorgung.
der.Fäkalien.Privatangelegenheit..Da.die.Städte.zumeist.noch.von.überschaubarer.Größe.waren,.
funktionierte.die.private.Abwasserbeseitigung.auch.in.der.Regel..Die.Stadt.sorgte.mittels.Ord-
nungsrecht.für.die.Reinhaltung.der.Straßen..Bei.größeren.Missständen.wurde.bestraft..Erst.als.im.
19..Jahrhundert.die.Städte.größer.wurden,.setzte.sich.die.Erkenntnis.durch,.dass.die.Kommunen.
für.Stadthygiene.Verantwortung.übernehmen.müssen..
Neben der Trinkwasserversorgung, um die sich die Kommunen schon seit längerem im Rahmen der
Daseinsvorsorge kümmerten, wurde nun auch die Abwasserbeseitigung städtischerseits betrieben.
Ursächlich dafür war der Druck des Bürgertums, die Konkurrenz zu anderen Städten – in Wiesbaden ins-
besondere die Konkurrenz der internationalen Kurstädte. Spätestens nachdem in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts die Bürger die aus England in Mode gekommenen Wassertoiletten nutzen wollten, war
der Trend weg von der Fäkaliengrube hin zur Stadtentwässerung gegeben. Außerdem wurde 1866 mit
der Annexion Nassaus Wiesbaden preußisch. Preußen war zu dieser Zeit bereit durch Auflagen und neue
Gesetze generelle Verbesserungen in der Stadthygiene durchzusetzen.
1885 war in Wiesbaden mit dem Bau der Abwasserkanäle der Einstieg in die moderne Stadtentwässerung
vollzogen. Die Abwasserableitung wurde ab diesem Zeitpunkt professionell durchgeführt. Grundstücks-
entwässerung und Kanalbau erfolgten in Wiesbaden auf hohem Niveau, wie an Hand des Planbestandes,
der Veröffentlichungen und der heute noch existierenden Bauwerke nachvollziehbar wird. Hier profitierte
Wiesbaden ganz bewusst auch von andernorts bereits gesammelten Erfahrungen. So wurde z.B. mit
Joseph Brix als erstem Leiter der Stadtentwässerung eine Person mit viel Kenntnis und Erfahrung einge-
stellt. Dass Joseph Brix und der etwa zur gleichen Zeit für Wiesbaden tätige Stadtplaner Felix Genzmer
später zusammen als Professoren in Berlin führend in der Entwicklung der Stadtentwässerung als eigener
Fachrichtung wirkten, bestätigt die Güte dieser Auswahl. Auch weitere Nachfolger wie Martin Frensch,
der als Bauingenieur Erfahrung in Elberfeld und Mainz gesammelt hatte, konnten diesen hohen Standard
sicherstellen.
Einige weitere Informationen zur Geschichte der Abwasserbeseitigung können wir Ihnen in den nach-
folgenden Ausführungen bieten.
Joachim Silberzahn
Baudirektor
Joachim Silberzahn
Baudirektor
Vorwort
4 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE ABWASSERBESEIT IGUNG IN DEUTSCHLAND
Abwasserbeseitigung in Deutschland
Das Mittelalter war bezüglich der bauhygienischen Belange
bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts eine „düstere Epoche
des Stillstandes und des Rückschritts.“ Der Reinlichkeits-
sinn des gehobenen Bürgertums der Antike ging verloren,
Kanalbauanlagen wie die „cloaca maxima“ in Rom oder in
Köln wurden nicht mehr genutzt. Eine pauschale Verurteilung
des schmutzstarrenden Zeitalters wäre jedoch trotz erschre-
ckender Missstände verfehlt. „Im früheren Mittelalter hatte
sich in Deutschland im Gegensatz zur antiken Stadtkultur
eine vorwiegend agrarische Ordnung herausgebildet. Folglich
verspürte man auch keinen so unmittelbaren Bedarf an Hy-
gieneeinrichtungen der Ver- und Entsorgung mehr. Auf dem
Land wie auch in den kleineren Städten betrachtete man die
Befriedigung des relativ geringen Wasserbedarfs als Privatan-
gelegenheit des einzelnen Einwohners, der seinen Eigenver-
brauch durch Entnahme aus Zieh – und Schöpfbrunnen und
aus dem Oberflächenwasser deckte“.2
Trotz all dieser Missstände verfügten die Bewohner der Städte
in Deutschland über technische Vorrichtungen zur Abwas-
serbeseitigung. Jedoch entsprachen die aus dem ländlichen
Raum übernommenen Formen nicht mehr den Erfordernissen
von Ballungsräumen, zu denen sich die Städte des 19. Jahr-
hunderts immer mehr entwickelten. Außerdem konnte die
Trinkwasserversorgung, die größtenteils über öffentliche und
private Brunnen geschah, nicht mehr die geforderten Mengen
und die erforderliche Qualität sicherstellen.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Wasserversorgung
von den Kommunen in der Regel schnell mit zum Teil recht
großem Aufwand den wachsenden Bevölkerungszahlen ange-
passt. Die Versorgung mit Trinkwasser über zentrale städtische
Brunnen oder auch mit eigenständig betriebenen Brunnen,
deren Wasserqualität aufgrund der unterschiedlichen nach-
barschaftlichen Nutzung der Grundstücke höchst zweifelhaft
war, passte nicht mehr in die Zeit. Der Nutzen einer soliden
Trinkwasserversorgung war für jedermann offensichtlich und
auch die Nachfrage war gegeben. Die Bürger waren bereit,
für die Trinkwasserversorgung, d. h. die Trinkwasserzuleitung
zu ihren Häusern und Wohnungen, zu bezahlen. Demgegen-
über war noch längere Zeit die Abwasserbeseitigung eine
private Aufgabe. An deren Begleitumstände wie Gestank und
Schmutz hatte man sich gewöhnt. Wurde es zu arg, dann
beschwerte man sich. Die Stadtverwaltungen waren bemüht,
mittels Verordnungen zur Reinhaltung der Gassen, Kontrol-
len und Strafen einen ordentlichen Zustand sicherzustellen,
was nicht immer gelang. Abwässer und Fäkalien waren auch
Auslöser für Krankheiten. Die Ursachen von Epidemien lagen
bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts im Dunkeln. Die
Ansichten über die Auslöser von Krankheiten wurden sehr
kontrovers diskutiert. Der führende deutsche Hygiene-Wissen-
schaftler dieser Zeit, Max von Pettenkofer, vertrat lange Zeit
die Miasmen-Theorie, die davon ausging, dass Krankheiten
über „schlechte Gerüche“ der in die Böden eingedrungenen
Exkremente verursacht würden.
Generelle.Geschichte.der.Abwasserableitung.
Im Mittelalter war die Beseitigung der häuslichen Abwässer Privatsache
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE ABWASSERBESEIT IGUNG IN DEUTSCHLAND | 5
Die Lage Wiesbadens in einem Talkessel am südlichen Rand
des Taunus, begrenzt von Main und Rhein, brachte dem Ort
schon immer Vorteile. Schon die Römer nutzten die im Gebiet
von „Aquae Mattiacorum“ liegenden Thermalquellen für ihre
Zwecke; Wasser spielte also von Anfang an eine bedeutende
Rolle. Dies wussten auch die Merowinger zu nutzen, die um
830 in „Wisabada“ einen Königshof errichteten. Seit dem
Spätmittelalter gehörte Wiesbaden den Grafen von Nassau.
Im 13. Jahrhundert war es bis zur Zerstörung durch den Main-
zer Erzbischof 1242 vorübergehend Reichsstadt. 1547 und
1561 vernichteten Brände fast die gesamte mittelalterliche
Bausubstanz. Auch der Dreißigjährige Krieg brachte verhee-
rende Wirkungen mit sich, die Einwohnerzahl sank rapide.
Doch ab 1690 wurde die Stadt, die damals nur rund 730 Ein-
wohner zählte, erweitert und neu befestigt. 1744 verlegte
Fürst Karl von Nassau-Usingen seine Residenz in das Biebri-
cher Schloss, und Wiesbaden wurde Sitz der Regierung des
Fürstentums, später des Herzogtums Nassau (1806 bis 1866).
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Stadt zu einem
internationalen Kurort. Dem Aufschwung Wiesbadens tat
die Annexion Nassaus durch Preußen 1866 keinen Abbruch.
Wiesbaden wurde Hauptstadt eines Regierungsbezirks und
beliebter Ruhesitz von Offizieren, höheren Beamten und Ren-
tiers, die von ihren Pensionen beziehungsweise den Zinsen
Abwasserbeseitigung.in.Wiesbaden.vom.Spätmittelalter.bis.in.die.Mitte.des.
19..Jahrhunderts
Das Niederschlagswasser von Dach- und Hofflächen sowie Straßen wurde in nahege-
legene Gewässer eingeleitet. Fäkalien wurden in Gruben gesammelt und landwirt-
schaftlich genutzt.
Wiesbaden im späten 18. Jahrhundert
ihrer Vermögen lebten. Das Stadtbild wurde geprägt von reprä-
sentativen Wohnhäusern, Hotelpalästen und vornehmen Villen.
Die Bevölkerungszahl von knapp 2.500 Einwohner im Jahr 1805
wuchs rapide auf rund 100.000 Einwohner hundert Jahre später.
Die rasch wachsende Stadt musste ihre Infrastruktur anpassen.
So erfolgte die Trinkwasserversorgung bis ins 19. Jahrhundert
durch private Pumpbrunnen, lediglich der Marktbrunnen wurde
vermutlich von einer öffentlichen Leitung gespeist3. Die fünf
Bäche, die vom Taunus in die Stadt flossen und sich am Wil-
helmsplatz zum Salzbach vereinigten, dienten der Abfuhr von
Niederschlagswasser, Schmutzwasser und überschüssigem Ther-
malwasser sowie dem Antrieb vieler Mühlen. Die fünf, meist
offenen Gewässer – Schwarzbach, Rambach, Dambach, Kessel-
bach und Wellritzbach – konnten trotz geringer Wasserführung
noch aufgeteilt und durch viele Straßen geleitet werden.
Von den Privatgrundstücken gelangten die Abwässer mittels
einfacher Gräben aus Bruchsteinmauerwerk, Rinnen und Rohren
zur Entsorgung in die Bachläufe und Gräben. Fäkalien wurden,
wie in nahezu allen Städten, in Gruben gesammelt und per
Abfuhr entsorgt.
Diese Abtrittgruben waren meist gemauerte Gruben mit einem
Überlauf für die flüssigen Stoffe, aber auch das Tonnensystem
(fosses mobiles) war gestattet, wenn die Tonnen aus verzink-
tem Eisenblech mit entsprechenden Sieben und Überläufen
gefertigt waren.4
6 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE ABWASSERBESEIT IGUNG IN DEUTSCHLAND
Bis ins 19. Jahrhundert hinein konnten die Wiesbadener gut
mit ihrem einfachen System der Abwasserableitung leben,
war es doch ein kleiner, bäuerlich geprägter Ort, eine Acker-
bürgerstadt.
Die Gassenreinigungsordnung von 1770 regelte die Sauber-
keit, die Abtrittgruben wurden von Tagelöhnern gesäubert
und die gesammelten Fäkalien den Bauern als Dünger über-
geben und auf die Felder verteilt. Doch wie alle Städte wuchs
auch Wiesbaden im 19. Jahrhundert rasch, die Infrastruktur
musste angepasst werden. Das drückte sich nicht nur in der
oberirdischen Stadterweiterung aus. Eine wachsende Bevöl-
kerung bedeutete auch mehr Wasserverbrauch und Abwässer,
die weggeleitet werden mussten.
Die ältere Kanalisation, die bis ca. 1850 bestand, hatte ur-
sprünglich die Aufgabe, den Abfluss der Thermalwässer in die
offenen Bäche zu regeln. Die Kanäle und Rinnen wurden auf
einfachste, billigste Weise und planlos hergestellt, „nur roh
und in Bruchsteinen, oft ohne jedes Bindemittel…“5 Doch bald
führte man diesen Kanälen auch die häuslichen und gewerb-
lichen Abwässer zu, durch die Überlaufe der Abtrittgruben
sowie durch die nun vermehrt vorhandenen „Waterclosets“
in den Häusern wohlhabender Bürger. Die Feststoffe setzten
sich in den Bächen und Kanälen mit ihren flachen Sohlen und
geringen Gefällen als Schlamm ab und faulten in dem durch
warmes Thermalwasser aufgeheizten Wasser. Übler Gestank
machte sich überall bemerkbar.
„Wie im Jahr 1809 das in dieser Weise hergestellte
Kanalnetz aussah, zeigt untenstehendes kleines
Kärtchen, welches aus einem von Herrn Landesdi-
rector Sartorius der Stadt Wiesbaden zum Geschenk
gemachten, sehr sorgfältig ausgeführten und aus
dieser Zeit stammenden Plane zusammengestellt
wurde.“ (Brix, 1886).
Erster noch verfügbarer Entwässerungsplan von Wiesbaden
Handzeichnung der Wiesbadener Kanalprofile
um 1860 (oben) und Gassen-Reinigungsordnung
aus dem Jahr 1810 (rechts)
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE ABWASSERBESEIT IGUNG IN DEUTSCHLAND | 7
Große Wasserverbraucher waren in erster Linie Wirts- und
Badehäuser bzw. der Kurbetrieb sowie die Metzger bzw.
der Schlachthof. Doch diese Nutzer verursachten auch die
immer stärker in die Nase steigenden Probleme: Das warme
Thermalwasser und die mit Schlachtabfällen verunreinigten
Abwässer der Schlachter führten zu Beschwerden seitens der
Bevölkerung und Kurgäste. 1863 reichten in der Stadt woh-
nende Engländer eine Petition beim herzoglichen Staatsmi-
nisterium ein mit dem Ziel, eine Überwölbung des Salzbachs
zu erreichen: „…denn fürwahr, es ist unglaublich, daß hier
in unserer großen Kurstadt nächst der großen Promenaden,
nächst der prachtvollen Landhäuser noch ein derartiger Übel-
stand wie er in der offenen und stinkenden Cloake, Salzbach
genannt, hier besteht…“6
Es waren sicherlich nicht die ersten Beschwerden über Ge-
stank und Verunreinigung der Bachläufe und bisher beste-
henden Kanäle. Insbesondere der Salzbach als Hauptsammler
der Abwässer war mit Fäkalien, Urin, Schlachtabfällen und
Haushaltsabwässern stark verunreinigt. Die „Salzbachfrage“
sollte die Wiesbadener Stadtpolitik noch lange beschäftigen
und oft wurde sie Zielscheibe von Klagen, aber auch von
Hohn und Spott. „Der Salzbach löst sich in Gas auf, will aber
nicht brennen, obwohl die ganze Bachfrage eine brennende
ist“, notierte die Mittelrheinische Zeitung schon 1861 in ihrer
Rubrik „Humoristische Prophezeiungen“.7
Die Abstellung dieser Übelstände, insbesondere die Überwöl-
bung von Salzbach und weiteren Kanälen und Bächen, sollte
noch viele Jahre in Anspruch nehmen. Dennoch begann die
Stadt mit der Beseitigung der Übelstände. 1867 bescheinigte
Sanitätsrat Dr. Bickel in seinem Bericht: „Die zur Salubrität
[gesunder Zustand] der Stadt höchst nötige Kanalisation
derselben hat gute Fortschritte gemacht.“8 Die städtische
Baukommission pflichtete dem bei und führte aus,
dass der Gemeinderat in den vergangenen
Jahren mit bedeutendem Kostenaufwand
erste Schritte zur Reinhaltung der Luft und
des Bodens eingeleitet habe: „Die gesund-
heitswidrigen Bäche erhielten eine Einfassung
in spülbare, teils gemauerte, teils gußeiserne
Rohrleitungen.“ Nun stand der Einführung des
Wasserklosetts mit direktem Anschluss an das
Kanalsystem nichts mehr im Wege. Endziel sei,
so war man sich einig, eine Vereinigung der ge-
samten Kanalisation in einem großen Spülsystem.9
Die Neuerungen und Verbesserungen des alten Kanalsys-
tems waren der Verdienst des 1873 aus dem Amt schei-
denden Stadtbaumeisters Alexander Fach. Der Bau dieser
37 Kilometer Kanäle, so bescheinigte ihm Joseph Brix zwölf
Jahre später, geschah nach den richtigen Grundsätzen, doch
„leider wurde hierbei kein einheitlicher, die Gesamtentwäs-
serungsverhältnisse in Betracht ziehender Plan verfolgt.“ Es
fehlte an einheitlicher moderner Bauweise, Spülvorrichtungen
und Ventilation. Zudem waren die Kanalverbindungen man-
gelhaft, teilweise stießen sie rechtwinklig aufeinander. Immer
noch existierten „tote Enden“ und ein zu geringes Gefälle.10
EINE WACHSENDE BEVÖLKERUNG BEDEUTETE
AUCH MEHR WASSERVERBRAUCH UND ABWÄSSER,
DIE WEGGELEITET WERDEN MUSSTEN.
8 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE ABWASSERBESEIT IGUNG IN DEUTSCHLAND
Tractus-Risse erstellt durch Werkmeister Weber
im Jahr 1812, überarbeitet durch Herrn Querfeld
im Jahr 1825
DIE ABLEITUNG DER ABWÄSSER AUF
KURZEM WEG ZUM GEWÄSSER WURDE
BIS IN DIE 1880ER JAHRE FORTGEFÜHRT.
NEBEN DEN KANÄLEN ZUM ABLEITEN
DER BACHWÄSSER VERFÜGTE WIESBA-
DEN SCHON ÜBER EIN KANALNETZ VON
INSGESAMT CIRCA 35 KM LÄNGE.
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE ABWASSERBESEIT IGUNG IN DEUTSCHLAND | 9
Tractus-Risse.=.Gebiets-.bzw..Flächenskizzen.(Stand.1812)
1. Wasserleitung Hof des Freyherr von
Marschall
2. Wasserleitung Gasthof zum Einhorn
3. Hauptabtauche Friedrich Schmidts Haus
4. Abtauchen-Gewässer Zuchthaus bis
Kimbel-Mühle
5. Abtauchen Metzger Gasse, Warmer Teich
und Fluthgewässer
6. Abtauchen Friedrichstraße
7. Fluthgraben Heydnischer Berg
8. Kochbrunnen im Adler und theilhabende
Badehäuser
9. Abtauche Saalgasse
10. Warme Wasserleitungen Judenbad und
Wasserleitung zum Reichsapfel und Sten
11. Wasserleitung Badequellen Spiegelgasse,
Goldgasse, Kranzplatz und Judenbad
12. Wasserleitung Haupt-Kochbrunnen und
dessen Wasserleitungen
13. Abtauche Badhaus zur Blume bis Herren-
mühle
14. Abtauche Hospital Nero-Straße
10 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE ABWASSERBESEIT IGUNG IN DEUTSCHLAND
Der Salzbach, der alle Abwässer der wachsenden Stadt auf-
nahm um sie in den Rhein unterhalb von Biebrich zu leiten,
gab Anlass zu Klagen, Beschwerden, Spott und Hohn. Schon
1875 hatte die Preußische Regierung Oberbürgermeister
Wilhelm Lanz gedrängt, die Überwölbung des Salzbaches
in Angriff zu nehmen, hatten doch immer wieder Bürger
und Kurgäste Klagen über Gestank und Dreck geführt. Aber
die Stadtverwaltung spielte auf Zeit, denn eine umfassende
Sanierung hätte große Kosten verursacht.
Zunächst versuchte man nur die nötigsten Übelstände zu
beseitigen. So wurde einer Wiesbadener Düngerabfuhrgesell-
schaft im Jahr 1879 die Betriebsgenehmigung zur Leerung
der Abtrittgruben mit Tonnensystem erteilt mit der Auflage,
sich an die Vorgaben der entsprechenden Polizeiverordnung
„strengstens“ zu halten.11 Mittels Fasswagen, Pumpe (Entlee-
rungsmaschine), Schlauchwagen und Arbeitskräften versuchte
man also die Missstände zu beseitigen, doch die Ursache des
Übels, die veraltete Kanalisation, bestand weiter.
Zudem drohten die Mühlenbesitzer mit Klagen, da ihrer
Ansicht nach ein „Verschluss“ des Salzbachs dessen Reinigung
erschweren würde.12 Dabei waren die zahlreichen Mühlen
ein Teil des Problems, stauten sie doch das Wasser für den
Betrieb der Wasserräder und trugen so zum langsamen Ab-
fluss bei. Der Salzbach hatte sich zu einer Kloake entwickelt,
dessen „einst fischreiches Wasser schon seit Jahren in einen
schwarzen, träge hinfließenden Pfuhl verwandelt worden
sei…“ beschwerten sich Bürger im Gemeinderat.13 Auch die
Stadt Biebrich-Mosbach schloss sich 1878 den Beschwerden
an und intervenierte bei der königlichen Regierung in Berlin,
denn man machte die Verunreinigung des Salzbaches für den
Ausbruch einiger Typhusfälle verantwortlich.
Der preußische Innenminister gab der Nachbarstadt recht
und forderte die Stadt Wiesbaden auf, Abhilfe zu schaffen und
den Bau eines „Bassins“ zum Auffangen der Schweb- und
Feststoffe am Salzbach zu erwägen. Flugs setzte die Stadt
Wiesbaden eine besondere Kommission – bestehend aus
Dr. Pagenstecher, Dr. Berle, Dr. Schirm und Wasserwerkdirektor
Winter – ein, sich eingehend mit der Materie zu befassen
und Erkundigungen in Frankfurt am Main einzuziehen.14
Die Zeit drängte, denn auch das preußische Ministerium des
Inneren, der Geistlichen-, Unterrichts- und Medicinalangele-
genheiten forderte in einer Verfügung vom 20. Juli 1884, dass
„baldigst ein einheitliches Kanalsystem ausgeführt, die Her-
stellung von Watercloseteinrichtungen obligatorisch gemacht
und eine gründliche mechanische und chemische Reinigung
der gesamten, mittels besonderen Hauptkanals in den Rhein
zu leitenden städtischen Abgänge bewirkt werde.“ Damit war
der Stadt endgültig untersagt, ihre Abwässer ohne Klärung in
den Rhein zu leiten oder auf den Feldern zu verrieseln.
Das.neue.Kanalbauprojekt.1885
Im Jahr 1885 wurde das Wiesbadener Großprojekt „Neue Canalisation“ initiiert, die
Gründe hierfür waren vielfältig.
„…dass die Fertigstellung des Kanalisations- Projekts für die hiesige
Stadt mit allem Nachdruck gefördert werden muß…“ Mahnung der
preußischen Regierung an Bürgermeister von Ibell vom 18.12.1885.
MIT FASSWAGEN UND PUMPEN ENTSORGTE MAN DIE ABTRITTGRUBEN AUCH IN WIESBADEN
Lageplan mit Darstellung des Salzbachverlaufs
und den vielen Mühlenkanälen
Die Leistungen der Stadthygiene auf dem Gebiet der Trinkwas-
serversorgung und Abwasserentsorgung sind in ihren Anfän-
gen zu verstehen als Antwort auf verheerende Cholera- und
Typhusepidemien, die in den im Zuge der Industrialisierung
anwachsenden Städten viele Todesopfer forderten. Aus dieser
unmittelbaren Bedrohung heraus wurden in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts Konzepte der öffentlichen Gesund-
heitspflege entworfen, in deren Mittelpunkt die Wasserver-
sorgung und Beseitigung der festen und flüssigen Abfallstoffe
stand.15 England war auf dem Gebiet der Abwassertechnik bis
Stadthygiene.und.Assanierung
Wohnraumnot, Elend, Gestank, Dreck und lebensbedrohliche Krankheiten waren in
vielen Städten Europas die Folge der Industrialisierung und des Wachstums.
ins späte 19. Jahrhundert führend, obschon es auch Vorläufer
von Schwemmkanalisationen in anderen Ländern gab. Diese
Technik schützte nicht nur die Bevölkerung der Großstädte
vor den epidemischen Krankheiten wie Cholera und Typhus,
sondern diente auch der Reinhaltung der Flüsse und Gewässer.
Mit Hilfe englischer Ingenieure sollte sich auch bald auf dem
Festland, insbesondere in Deutschland, die moderne Kanalisa-
tion durchsetzen. Auf dem Gebiet der Wasser-, insbesondere
der Abwassertechnik, sollten deutsche Ingenieurskunst und
Bautechnik bald führend werden.
Blick auf die Rheinstraße stadteinwärts vor 1900
Naturwissenschaftliche Erkenntnisse
Chronologische.Angaben.zu.medizinischen.und.hygienischen.Erkenntnissen
Im achtzehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhundert waren in Medizin,
Hydraulik und Siedlungswasserwirtschaft sowie Bautechnik bereitgestellten Wissen, die
theoretischen Grundlagen für eine städtische Kanalisation gegeben. Dies zeigt die nach-
folgende Auflistung für die Bereiche Medizin, Hydraulik und Siedlungswasserwirtschaft.
die Sanierung der unhygienischen
Wohn- und Lebensverhältnisse der
Unterschichtenbevölkerung vorsah.
Dieses Konzept enthielt neue Kom-
petenzen für die Stadtverwaltungen,
mit deren Hilfe sie die Versorgung der
Bevölkerung mit sauberem Wasser,
die Straßenreinigung und Kehrichtab-
fuhr ebenso wie eine befriedigende
Beseitigung der Fäkalien und der
übrigen Abwässer sicherstellten. Im
Bereich Stadtentwässerung befür-
wortete Chadwick die Einrichtung
der Schwemmkanalisation. Chadwick
ergänzte das Konzept mit einem Gut-
achten des Londoner Ingenieurs John
Roe, welcher Verbesserungen in der
Kanalbautechnik plante. Chadwicks
Konzept entsprach auch der Vorschlag,
die Kanaljauche auf landwirtschaft-
lich genutzte Felder zur Düngung
und Bewässerung von Kulturen zu
leiten, statt die offenen Gewässer zu
verschmutzen.
1848.
beobachtete Rudolf Virchow, einer der
Begründer der sozialen Hygiene in
Deutschland, Forscher und Arzt im als
Typhusgebiet bekannten Oberschle-
sien, dass die Seuchen am härtesten
die von Hunger- und Wirtschaftskri-
sen geschwächten Bevölkerungs-
kreise trafen. Auch er forderte eine
umfassende staatliche Aktivität im
Bereich des Gesundheitswesens und
die Errichtung eines Ministeriums für
öffentliche Gesundheitspflege. Man
hatte also durchaus schon einen Zusam-
menhang zwischen dem Zusammenle-
ben auf engem Raum in den Städten
und der unbefriedigenden Entsorgung
von Schmutzwasser, insbesondere von
Fäkalien, erkannt.
1854.
Entdeckte der italienische Anatom Fili-
po Pacini das Cholera-Bakterium.
Diese Entdeckung wurde anfangs noch
nicht richtig gewürdigt. Erst dreißig
Jahre später sollte Robert Koch mit
seinen Forschungsergebnissen die
Bedeutung der Entdeckung bestätigen
und einordnen.
1854.
veröffentlichte der Chemiker und Hygi-
eniker Max von Pettenkofer seine Bo-
dentheorie zur Verbreitung von Cholera.
Er glaubte nicht, dass die Cholera, die
1854 auch in München ausbrach, allein
von einem Erreger ausgelöst werde,
sondern maß der Boden- und Grund-
wasserbeschaffenheit die Hauptbedeu-
tung zu. Danach begünstigen mulden-
artiges Gelände, lockerer, Feuchtigkeit
aufsaugender Boden sowie undichte
Sink- und Abortgruben die Verbreitung
der Cholera.
Zur Abwehr der Seuche forderte er
eine geordnete Stadtentwässerung,
veranlasste eine aufwendige Sanierung
des Münchener Abwassersystems und
verhinderte bei der weltweiten Cholera-
epidemie von 1892, die auch Deutsch-
Die Erkenntnisse um Abwassertechnik
und Maßnahmen zur städtischen Hy-
giene basierten auf Beobachtungen
und Erkenntnissen von Medizinern
sowie auf Erfindungen und Innovati-
onen der Ingenieurskunst. Dabei darf
nicht verschwiegen werden, dass
sich durchaus unterschiedliche und
gar umkämpfte Standpunkte bei der
Umsetzung ergaben.
1779.
Als Urvater der modernen Stadthy-
giene gilt der deutsche Arzt Johann
Peter Frank. Mit der Veröffentlichung
seines Werks “System einer vollstän-
digen medicinischen Polizey“ legte er
die Grundlagen für die Sozialmedizin
und ein öffentliches Gesundheitssys-
tem. Erst im 19. Jahrhundert sollten
die Errungenschaften der Mediziner
und Techniker den Anschub zur
Einführung der Kanalisationssysteme
geben.
1840.
wies Justus von Liebig nach, dass für
das Pflanzenwachstum Mineralstoffe
wie Stickstoff, Phosphor und Kalium
erforderlich sind. Er verband mit der
Schwemmkanalisation das Risiko,
dass Nährstoffe verloren gehen.
1842
entwarf Edwin James Chadwick
ein umfassendes Konzept, das auf
die Lösung der sozialen Probleme
abzielte und als Mittel zum Zweck
12 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE NATURWISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISSE
land erreichte und in Hamburg mehr
als 8.000 Todesopfer forderte, einen
Ausbruch der Krankheit in München.
Von Pettenkofer arbeitete u.a. auch
als Gutachter für die Stadt Wiesbaden.
Als Anhänger der Miasma-Theorie (Mi-
asma = übler Dunst, Verunreinigung,
Befleckung, Ansteckung) standen
seine Thesen im Widerspruch zu den
Erkenntnissen und Forschungen der
Mikrobakteriologie. Die Entdeckungen
von Robert Koch (Milzbranderreger,
Typhusbakterium), Louis Pasteur, Paul
Ehrlich und Theodor Escherich (Coliba-
terium) führten zu einem Richtungs-
streit innerhalb der Medizin, der sich
auch auf die Entwicklung der Abwas-
sersysteme niederschlug.
1865
stellte in England die River Pollution
Commission fest, dass die Selbstrei-
nigung der Flüsse nicht existent ist
oder zumindest viel zu langsam für
englische Flüsse verläuft. Demgegen-
über vertrat beispielsweise Reinhard
Baumeister in Deutschland weiterhin
die Meinung, dass ein natürliches
Recht bestehe, jeglichen „Unrath“ in
die Gewässer zu entsorgen. Max von
Pettenkofer entwickelte diesbezüglich
im Sinne der Abwasserproduzenten
die Selbstreinigungstheorie weiter
und betonte die Unbedenklichkeit der
Einleitung städtischer Abwässer in
Flüsse. Durch starke Verdünnung im
Flusswasser verlören die Abwässer
ihre Gefährlichkeit.
1868.
veröffentlichte der Chemiker Edward
Frankland seine wissenschaftliche
Beurteilung der Abwasserbehand-
lungsmethoden, die dem Beginn einer
neuzeitlichen Betrachtung der Abwas-
serbeseitigung entsprachen.
1887.
kam Josef König, ein Agrikultur- und
mit einer der ersten Lebensmittel-
chemiker zu dem Ergebnis, dass eine
direkte Oxidation der Abwasserinhalts-
stoffe durch Sauerstoff nicht stattfin-
det, sondern vor allem Mikroben die
organischen Stoffe zersetzen. Doch
noch galten von Pettenkofers Ansich-
ten, obwohl längst erwiesen war, dass es
nicht allein auf den Grad der Verdünnung
der Abwässer, sondern vor allem auf
deren Zusammensetzung und auf eine
Reihe anderer Faktoren ankommt. Damit
konnten die Stadtväter und die Industrie
ihre Abwassereinleitungen in die Flüsse
jahrelang mit der Selbstreinigungskraft
der Flüsse rechtfertigen und die schädli-
che Wirkung der Abwässer durch Gutach-
ter und Experten entkräften lassen.
Erst um 1910 war es gesichertes Wissen,
dass zwar gelöste Verunreinigungen von
Bakterien, Pilzen, Algen und auch höhe-
ren Wasserpflanzen absorbiert und verar-
beitet werden, dass sich die Grenzen der
Selbstreinigungskraft aber dann zeigen,
wenn ein Gewässer mit Abfallstoffen
überlastet ist.
1925..
ergänzten Streeter und Phelps, zwei
britische Biologen, mit ihren ersten
Formeln zur Bestimmung des Sauer-
stoffgehalts in Flüssen dieses Wissen
und gaben damit einen Hinweis zu
deren Belastbarkeit.
Colibakterien Escherichia
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE NATURWISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISSE | 13
14 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE NATURWISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISSE
Hydraulik.und.Siedlungswasserwirtschaft.
Bau-.und.Entwässerungstechnik
Im.Mittelalter erforschte Leonardo da Vinci (1452 – 1549)
die Grundlagen der Hydraulik.
Der Mathematiker Euler (1707 – 1783) entwickelte die Strö-
mungsgleichung und formulierte den Impulssatz wie auch
sein französischer Kollege Bernoulli (1700 – 1782).
Blaise Pascal schrieb ein umfassendes Werk über die
Hydrostatik.
1775.
entwickelte in England der Uhrmacher
Alexander Cumming das erste patentier-
te Watercloset, obwohl die Toilette mit
Spülung schon viel älter war, sich aber
bis dahin nicht durchgesetzt hatte. Erst
als im 19. Jahrhundert die Trink- und
Brauchwasserversorgung in den Häusern
obligatorisch wurde, setzten sich Toilet-
ten mit Wasserspülung und Bäder durch.
Um die immer größer werdenden Men-
gen von Zu- und Abwasser zu regeln,
wurden schnell neue Techniken im
Kanalbau notwendig. Hierzu gehörten
neue Bautechniken für den unterirdi-
schen Bereich.
1818.
Marc Isambard Brunel, ein britischer In-
genieur und technischer Pionier, erfand
den Tunnelschild und ließ ihn zusammen
mit Sir Thomas Cochrane patentieren.
Kanäle konnten nun auch ohne offene
1768
Blaise Pascal erstellte die erste hydraulische Gerinneformel,
die um 1840 zur Dimensionierung der Kanäle in Paris ein-
gesetzt wurde. Joseph Bramah erfand 1796 die hydraulische
Presse (Tenner, 2009).
1869
wurden die Formeln nach Bazin-Kutter und Bürkli-Ziegler ver-
öffentlicht. Mit ihnen kann der Abfluss in Rohren und öffentli-
chen Gerinnen gut berechnet werden.
Baugrube in bergmännischem Verfah-
ren verlegt werden.
1830.
ließ sich Sir Thomas Cochrane, Politi-
ker, Freiheitskämpfer und Erfinder, die
Druckluftschleuse für Vortriebsbaumaß-
nahmen zum Bau von Tunnels und zur
Verlegung von Rohren patentieren.
1843
wurde der Tunnel unter der Themse
für die Öffentlichkeit geöffnet. Dieser
Tunnel wurde im Vortriebsverfahren
hergestellt.
1879.
folgten die ersten Tunnel im Druckluft-
vortrieb in New York und Antwerpen.
Hinsichtlich der Bautechnik war man
bereits im 19. Jahrhundert in der Lage,
die erforderlichen Kanalbaumaßnah-
men zu realisieren. Gegen Mitte des
19. Jahrhunderts kamen dann weitere
technische Erfindungen bezüglich des
Rohrvortriebs und der Materialwahl
hinzu.
Neben der Kanalherstellung in offener
Baugrube wurde in besonderen Fällen
wie bei großer Überdeckungshöhe
oder beim Kreuzen von Bahnen oder
Wasserstraßen die geschlossene
unterirdische Bauweise angewandt,
d. h. der bergmännische Stollen- und
Tunnelvortrieb mit Getriebezimmerung.
Seit der Wende zum 20. Jahrhundert
gab es für den begehbaren Nennwei-
tenbereich nach der Entwicklung der
entsprechenden Maschinen und Geräte
als Alternative bereits den Schild- und
den hydraulischen Rohrvortrieb. Der
Hohlraum wird beim Schildvortrieb
gesichert durch Spritzbeton, Ortbeton
oder Tübbinge und beim Rohrvortrieb
durch Fertigrohre.
Rohre.aus.Beton.sind.so.alt.wie.der.
Zement.der.technischen.Neuzeit..
In der Mitte des 19. Jahrhunderts
nahmen die ersten deutschen Portland-
zementwerke ihre Produktion auf,
schon bald darauf wurden auch die ers-
ten „Cementguß-Röhren“ hergestellt,
zunächst in hölzernen oder gemauerten
Formen gegossen. Kurz danach wurden
Rohre auch im Stampfverfahren gefer-
tigt. Später setzten sich maschinelle
Verdichtungsverfahren, wie Pressen,
Schleudern und Rütteln durch.
1889.
Um höheren Beanspruchungen aus
Innendruck und äußeren Lasten gerecht
zu werden, begann lange vor der Jahr-
hundertwende die Entwicklung von
Rohren aus Stahlbeton. Ausgehend von
Patenten des Franzosen Monier wurden
in Deutschland im Jahre 1889 die
ersten „Cementröhren mit Eiseneinla-
gen“ oder „Eisenbetonrohre“ nach dem
Zisselerverfahren gefertigt.
Wassercloset nach Comming
Werbung der Firma Dyckerhoff und Widmann
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE NATURWISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISSE | 15
1910
Das älteste deutsche Verfahren zur
Herstellung von Schleuderbetonrohren
der Firma Schlosser, Meißen wurde von
der Dyckerhoff & Widmann KG über-
nommen.
1923.
folgte die Firma Ed. Züblin & Cie. mit
dem italienischen Vianini- Schleuder-
verfahren. In den folgenden Jahrzehn-
ten gelangten weitere im In- und
Ausland entwickelte Fertigungsmetho-
den zur Anwendung. Hierzu zählen das
Vakuumverfahren, das Walzverfahren
und die oben erwähnten Verdichtungs-
verfahren wie Rütteln und Pressen,
die auch miteinander kombiniert wer-
den können.
Seit diesen Anfängen wurden Beton-
technologie und Herstellverfahren
ständig weiterentwickelt und den
gestiegenen Anforderungen angepasst.
Die heutige Generation von Beton- und
Stahlbetonrohren wird in Werken ge-
fertigt, die aufgrund ihrer Ausstattung
mit modernen Produktionsanlagen
und qualifiziertem Fachpersonal sowie
einer lückenlosen Qualitätskontrolle
eine gleichbleibend hohe Rohrqualität
sicherstellen. Die neuen Techniken
erleichterten den Bau von Tunneln und
Kanälen enorm, sie waren billiger und
schneller herzustellen.
16 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE NATURWISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISSE
Die Modernisierung der Städte im 19. Jahrhundert (Assanierung) war von wirtschaft-
licher Dynamik geprägt. Die Entwicklung der Firma Dyckerhoff ist eng mit dieser
Zeit verbunden.
Wilhelm.Gustav.Dyckerhoff (1805 – 1894) war ein deut-
scher Zement-Fabrikant und Gründer der Dyckerhoff AG, der
Vorläuferfirma des großen Baukonzerns Dywidag. Nach Lehre
und Tätigkeit in einer Eisenwarenhandlung in Ronsdorf und ab
1833 in einem Porzellangeschäft in Stuttgart war Dyckerhoff
seit 1835 selbstständiger Kaufmann in Mannheim, insbeson-
dere für den Vertrieb von Waren der Firma Villeroy & Boch.
1850 gab er das eigene Geschäft auf und war als Prokurist der
Mannheimer Verkaufsniederlassung der Firma Villeroy & Boch
tätig, bis diese 1860 mit der Fertigstellung der Eisenbahnlinie
über Mettlach, ihrem Betriebssitz, für sich selbst günstigere
Vertriebswege fand. Dyckerhoff versuchte sich daraufhin seit
1861 im Zementhandel und in der Zementproduktion. Im Juni
1864 gründete er mit seinen Söhnen Gustav Dyckerhoff und
Rudolf Dyckerhoff die Portland-Cementfabrik Dyckerhoff &
Söhne in Mainz- Amöneburg. Schon im zweiten Jahr erzeug-
ten sie 2.228 Tonnen Zement. Sie wurden nicht nur durch
den Bauboom der Gründerzeit begünstigt, sondern expor-
tierten schon bald in über 100 Länder. Ihr Zement fand unter
anderem Verwendung beim Bau der Metropolitan Opera, des
Waldorf Astoria Hotels und des Fundaments der Freiheits-
statue in New York City. Dyckerhoff blieb bis ins hohe Alter in
der Unternehmensleitung aktiv.
1865 war Dyckerhoff auch Mitbegründer der „Fa. Lang & Cie.,
Cementwaaren-Fabrik“ in Karlsruhe, der späteren Baufirma
Dyckerhoff & Widmann. Die Firma stellte damals Betonwaren
her, zum Beispiel Skulpturen und Rohre. Die Interessen der
Familie nahm allerdings schon ein Jahr später sein Sohn Eugen
Dyckerhoff wahr und trat in die Firma ein, die sich unter
seiner Leitung zu einer Betonbau-Firma entwickelte und zur
Demonstration der Fähigkeiten des Werkstoffs Beton 1880
auf der Gewerbeausstellung in Düsseldorf eine Beton-
brücke errichtete.
Prospekt für Zementrohre von Dyckerhoff & Widmann
Darstellung.der.wirtschaftlichen.Dynamik
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE NATURWISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISSE | 17
Produktskizzen der Firma Dyckerhoff
18 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA
Cholera und Typhus – tödliche Gefahr in Europa
Übertragbare.Krankheiten
Nach der letzten Typhusepidemie 1885 in Wiesbaden begann der systematische
Ausbau der Kanalisation.
Als Typhus (abgeleitet vom griechischen Wort „typhos“ =
Dunst, Schwindel) bezeichnet man eine schwere fieberhafte
Infektionskrankheit, die unbehandelt zum Tod führen kann.
Zwischenzeitlich weiß man, dass der Erreger ein Bakterium
ist, das durch verunreinigte Nahrungsmittel oder verschmutz-
tes Wasser übertragen wird. Nach bewältigter Erkrankung
scheiden circa fünf Prozent der Infizierten die Bakterien
dauerhaft mit ihrem Kot aus, da sich die Erreger in der Gallen-
blase und den Gallenwegen einnisten können. Diese Perso-
nen können, ohne selbst noch Krankheitszeichen zu zeigen,
andere anstecken. Behandelt wird der Typhus heutzutage
mit Antibiotika.
Die Infektionskrankheit Cholera war bis ins 19. Jahrhundert in
Europa nahezu unbekannt, doch sollte sie dann in Europa und
den USA in mehreren Epidemiewellen zahlreiche Opfer for-
dern. So forderte die Pandemie von 1831/32 in London mehr
als 14.000 und in Wien 2.000 Tote. Und 1892, bei dem letzten
großen Ausbruch der Cholera in Deutschland, starben in Ham-
burg zahlreiche Menschen. Bei nahezu allen dieser Epidemien
trugen nach einstimmiger Meinung der Fachleute im In- und
Ausland die unhygienischen, beengten Lebensbedingungen
zur Verbreitung der Krankheit sowie den Todesfällen bei. In
allen Städten wurden als Gegenmaßnahmen Kanalisationen
und Klärwerke gebaut oder ausgebaut, sowie Toiletten mit
Wasserspülung eingeführt.
Als Filippo Pacini 1854 das Bakterium Vibrio cholerae als
Erreger der Cholera beschrieb, war er mit seiner Vermutung
eines Mikroorganismus als Auslöser der Cholera nicht allein.
Der englische Arzt John Snow untersuchte 1854 erneut die
Übertragung der Cholera über verschmutztes Trinkwasser,
nachdem das Spülen der Londoner Kanalisation die damalige
Epidemie von 1832 beschleunigt hatte, da das Trinkwasser für
die Weltstadt aus der Themse bezogen wurde. Zusammen mit
Arthur Hill Hassall berichtete er im gleichen Jahr in London
dem Medical Council of the General Board of Health, dass
die Hypothese Pacinis eine ernst zu nehmende Überlegung
sei, würden doch in den charakteristischen reiswasserarti-
gen Ausscheidungen der Kranken „Myriaden von Vibrionen“
wimmeln. 1855 zeigte Snow in seiner „East“-Studie, dass die
schwere Cholera-Epidemie im Londoner Stadtteil Soho ihre
Ursache in verunreinigtem Trinkwasser aus einer Pumpen-
anlage in der Broad Street hatte. Hassall untersuchte auf
Wunsch von John Snow das Wasser der Pumpenanlage und
der Themse und die Stuhlproben der Patienten und fand in
allen Fällen Choleraerreger. Die Wiederkehr der Seuche führte
dann zum Bau des großen Londoner Abwassernetzes durch
Joseph Bazalgette.
Der Gedanke der Hygiene zur Gefahrenabwehr für diese
Krankheiten setzte sich nun allmählich durch, denn genau
daran mangelte es im 19. Jahrhundert. Insbesondere ver-
unreinigtes Trinkwasser führte immer wieder zu schweren
Epidemien. In den Jahren 1815, 1839, 1881, 1882, 1883
und 1884 kam es zu Typhusausbrüchen in Wiesbaden. Bei
dem letzten Typhusausbruch in Wiesbaden im Sommer 1885
wurden unter den rund 55.000 Einwohnern 938 Erkrankun-
gen und 52 Tote gezählt. Während in den Villengebieten
fast keine Erkrankungen verzeichnet wurden, häufte sich die
Ansteckung in Stadtteilen, in welchen die ärmsten Menschen
unter beengten Verhältnissen wohnten. Die Epidemie hatte
aber auch wirtschaftliche Folgen, wie die Handwerkskammer
Wiesbaden belegte, denn sie führte zu einer Beeinträchti-
gung des Kurwesens. In diesem für die Kurstadt wichtigsten
Wirtschaftszweig wurden im Vergleich zum Vorjahreszeitraum
weit weniger zahlende Kurgäste und Fremde gezählt, denn
der Ausbruch der Epidemie in Wiesbaden wurde rasch europa-
weit bekannt.16
Die Epidemie wurde von Regierungsseite im August 1885 für
beendet erklärt. Und die meisten Fachleute befanden, dass es
sich um keine sonderlich schwere Epidemie gehandelt habe.
Doch prompt setzte ein heftiger Streit über die Ursachen ein.
Der Stadtverwaltung wurde in und von der Presse vorge-
worfen, dass sie schon in der Vergangenheit auf Hinwiese
einer mangelhaften Hygiene kaum reagiert habe. Bürger-
meister von Ibell, sowie Gemeinderat und die Fachleute der
Verwaltung wehrten sich hingegen und warfen den Kriti-
kern unsachgemäße Berichterstattung vor. Ein Artikel in der
„Chemiker-Zeitung“ vom September 1885, der vielfach nach-
gedruckt wurde, stellte sich auf die Seite der Kritiker: „Von
sachkundiger Seite geht uns über den Ausbruch der Epidemie
die Mittheilung zu, welche die Sorglosigkeit der zuständigen
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA | 19
DIE ZEICHNUNG DES KARIKATURISTEN G. SCHMITT AUS DER „FRANKFURTER
LATERN“ VOM 23. MÄRZ 1872 ZEIGT DIE VERSCHMUTZUNG DES MAINS DURCH
FRANKFURT UND DIE PROBLEME FÜR DIE UNTERLIEGER (ÄHNLICHE PROBLEME
HATTE AUCH WIESBADEN).
Behörden in ein sonderbares Licht stellt und diese geradezu
als Ursache des Ausbruches der Krankheit erkennen lässt.“ Als
einer der Hauptursachen machte der Autor des Berichts die
Arbeiten am Trinkwasserstollen im Münzberg aus. „Die Stadt
Wiesbaden braucht bei ihrer stetigen Vergrösserung immer
mehr Wasser und lässt deshalb fortwährend im Taunus nach
neuen Quellen schürfen, um sie der bestehenden Wasser-
leitung zuzuführen. Zu diesem Zwecke war neuerdings im
sogenannten Münzberg ein 1.600 m langer Stollen einge-
trieben und nach der Art der Tonnengewölbe grösstentheils
ausgemauert worden. Am hinteren Ende des Stollens wird
noch rüstig weitergearbeitet, und verkehren daher beständig
Arbeiter in grösserer Anzahl in dem Gewölbe, auf dessen
Sohle bereits unter den Laufbrettern das Wasser einiger fertig
gefasster Quellen zu Tage rinnt.“ Da die
Arbeiter einige ausgediente Petroleum-
fässer im Stollen als Toiletten nutzen,
vermutete der Schreiber des Artikels
die Verseuchung des schon nutzbaren
Trinkwassers aus dem Münzberg und
behauptete zudem, dass die erste
Erkrankung an Typhus zwei Arbeiter des
Münzbergprojekts erfasste.
Vehementen Widerspruch erntete der
Artikel seitens fachkundiger Wiesbade-
ner, zumal die Stadtverwaltung sofort
eine „Typhus Commission“ einsetzte,
um die Ursachen der Epidemie heraus-
zufinden und geeignete Gegenmaßnah-
men vorzuschlagen. Den Vorschlägen
dieser Kommission, die aus auswärtigen
Fachleuten der Hygiene, Bautechnik,
Epidemiologie sowie Fachärzten des
Ärztlichen Vereins Wiesbaden bestand,
sah sich der Gemeinderat unter Bürger-
meister von Ibell verpflichtet. Mitglie-
der der Kommission waren Prof. von
Pettenkofer, Baurat Baumeister, Prof.
Fresenius, Dr. Hüppe, Dr. von Langen-
beck, Dr. Pagenstecher, Dr. E. Pfeiffer,
Dr. Wibel und Prof. Dr. Seitz.
In mehreren Gutachten machten sie
deutlich, dass Trinkwasser nicht die
Ursache des Ausbruches der Krankheit war. Ihrer Auffassung
nach waren in erster Linie die „verseuchten Böden“ durch
undichte Abtrittgruben und Kanäle sowie die dichte Bebauung
für den Ausbruch und Verlauf der Epidemie verantwortlich. Als
Sofortmaßnahmen schlugen die Gutachter vor: „Wir empfeh-
len deshalb zur alsbaldigen Einführung: eine fortdauernde
Überprüfung der Dichtigkeit der Gruben, einen regelmäßigen
Turnus der Leerung mit kurzen Terminen, eine sorgfältigere
Behandlung des abgefahrenen Grubeninhalts in der Umge-
bung der Stadt, eine Änderung der Polizei-Vorschriften über
die Fallröhren…“. Deutlich stellten sie heraus, dass als Ziel ein
anderes System der Beseitigung der Fäkalien ins Auge gefasst
werden solle, um alle aufgeführten Mängel und Missstände
für die Zukunft zu beheben.17
„Nach.den.hiesigen.Verhältnissen.kann.dies.nur.das.vollständige.
Schwemmsystem.sein“
Das Projekt „Neue Canalisation“ in Wiesbaden 1885
Festlegung der Hauptgrundsätze für die neue Kanalisation durch Brix.
20 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA
Die Typhusepidemie war keineswegs der Auslöser für den
Bau einer neuen, modernen Kanalisation in Wiesbaden, sie
gab lediglich den letzten Schub für eine positive Entschei-
dung des Gemeinderats. Denn schon vor Ausbruch der
Krankheit beauftragte der Gemeinderat in einer Sitzung
Ende März 1885 den Bauingenieur Josef Brix, Konzept und
Planung für eine Schwemmkanalisation vorzulegen und
deren Umsetzung zu begleiten.18
Mit dieser Entscheidung fanden die über Jahre dauernden
Auseinandersetzungen um System und Zeitpunkt ein Ende.
Brix konzipierte eine Schwemmkanalisation für ein zu-
künftiges Wachstum Wiesbadens zunächst ausgelegt für
150.000, später für 350.000 Einwohner bei einer mögli-
chen zu bebauenden Fläche von 2.400 Hektar. Dabei teilte
er die Stadt in mehrere Einzugsgebiete ein.
„Canalisation der Stadt Wiesbaden“ Plan aus dem Jahr 1887.
Bachkanal, an der Kreuzung des Kaiser-Wilhelm-Ringes,
Blick aufwärts in die Kaiserstraße.
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA | 21
Im Plan sind die nachfolgend aufgezählten Einzugsgebiete, die
der ersten Berechnung zu Grunde gelegt wurden, dargestellt.
I. Gebiet Geisberg 70,9 ha
II. Gebiet Leberberg 68,2 ha
III. Gebiet der Thermen 77,4 ha
IV. Rieder- und Michelsberg 19,8 ha
V. Gebiet Überhoben und Friedrichstraße 48,9 ha
VI. Gebiet Weinreb 153,3 ha
VII. Südwestliche Ringstaße
a.) Rheinstraße – Nicolasstraße 95,5 ha
b.) Schiersteinerweg – Ringstraße 132,9 ha
VIII. Gebiet Südöstliche Ringstraße
a.) Diebswies 76,8 ha
b.) Südöstliche Ringstraße 93,2 ha
c.) Südseite der unteren südöstlichen Ringstraße 11,2 ha
IX. Haingraben 42,7 ha
X. Heiligenborn 75,1 ha
XI. Hauptsammelcanal 168,5 ha
Sa. 1134,4 ha
Der Oberingenieur für die städtische Kanalisation, Joseph Brix,
war überzeugt, dass durch die gewählte Einteilung der Ent-
wässerungsgebiete die Profilgrößen nahezu aller bestehenden
Kanäle auch für die Zukunft vollständig genügen. Zugleich
sei der hygienischen Forderung, dass die Kanalwässer auf
kürzestem Wege die Stadt verlassen sollen, auf die wohl best-
möglichste Weise nachgekommen worden. Dimensionierungs-
grundlage war ein einstündiger Regen mit 35 Millimeter/h.
22 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA
Standardprofile des Kanalbetriebs um 1890
1895 wurde die Bemessungsregenmenge auf 42 Millimeter/h
und sechs Jahre später 1901 auf 50 Millimeter/h erhöht.
Zudem wurde das Einzugsgebiet erweitert. Die Wasserschei-
den bildeten nun die Grenzen des Gesamteinzugsgebiets.
Aus heutiger Sicht besonders bemerkenswert ist, dass selbst
Flächen und Gemarkungsteile von damals noch selbstständi-
gen Nachbargemeinden zur Dimensionierung der städtischen
Kanalisation berücksichtigt wurden.
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA | 23
Schnitt durch das Kanalprofil des FaulbachkanalsStandardprofile des Kanalbetriebs um 1890
Plan für den Hauptsammelkanal nach Sonnenberg
24 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA
Die Kanalisation war im Mischverfahren ausgelegt, d. h., dass
Schmutzwasser und „Meteorwasser“ ihre Lasten in einer ge-
meinsamen Kanalisation abführten. Nun erreichten sämtliche
Schmutz- und Abwässer aus den Gebäuden, von den Dächern
und Höfen über die Hausentwässerungsanlagen sowie die
Schmutzwässer von öffentlichen Straßen und Plätzen die
Kanalisation. Über Sammelkanäle gelangten sie dann in den
Hauptsammelkanal, der alle Abwässer der Stadt der im Salz-
bachtal befindlichen Kläranlage zuführte.
Nach der Genehmigung des Entwurfs für ein einheitliches
Schwemmsystem nebst Reinigungsanlage durch die königli-
chen Behörden im Juni 1886 erfolgte die rasche Umsetzung.
Zunächst musste das Gebiet eingemessen werden – Be-
zugspunkt war der Pegel in Amsterdam. Es wurde klar, dass
einige Kanäle tiefer zu legen und größere Gefälle einzuplanen
waren. Auch Spülschächte und Einstiegsschächte für eine
Revision waren umzusetzen. Von den vorhandenen 37 Kilo-
meter Kanälen konnten 28 Kilometer Strecke in die Planun-
gen eingebunden werden. Penibel wurden die Querschnitte
der Kanäle berechnet, um auch für eventuelle Hochwasser
gerüstet zu sein. Die Menge der Exkremente bezifferte Brix
auf rund 102 Liter pro Kopf und Jahr.19
Zur Vorbereitung bzw. Umsetzung des Projektes musste die
Stadt Wiesbaden teilweise ungewöhnliche und kostspielige
Maßnahmen ergreifen. So wurden die Mühlenrechte (Gefäl-
lerechte) im Rahmen der Umsetzung der Generalentwässe-
rungsplanung von der Stadt erworben: Der Stadt wurde sogar
erlaubt, Enteignungen durch-
zusetzen, um die geplanten
Streckenführungen
auch über Privatgelände
zu gewährleisten.
Genehmigung zum Bau der Kanalisation, Juni 1886
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA | 25
26 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA
Vom Oberingenieur Frensch verantwortlich gegengezeichneter
Kanalquerschnitt eines Notauslasskanals
Alter Plan eines Kanalquerschnitts, in dem die Be- und Entlüftung
eines Kanals dargestellt sind
Die auf Basis dieser Grundlagen dimensionierten Sammel-
kanäle werden auch heute noch genutzt. Eine Überlastung der
Kanäle wurde, von wenigen Ausnahmen abgesehen, inner-
halb der letzten 100 Jahre Abwasserbetrieb nicht festgestellt.
Damit ist die damalige Konzeption auch aus heutiger Sicht
noch praktikabel.
Das Großbauprojekt „Neue Canalisation“ war mit Kosten
in Höhe von 2 Millionen Mark und mehreren Jahren Bauzeit
veranschlagt. Lukrativ war es für viele Firmen, die um die
einzelnen Gewerke konkurrierten. Hierbei kam es zu man-
chem Streit. So beschwerten sich Wiesbadener Baufirmen
heftig, dass die Mainzer Firma Zulehner & Co öfter berück-
sichtigt wurde, da sie billiger anbieten konnte. Und erst nach
Intervention der Baukommission sowie einem Preisnachlass
der Wiesbadener Firmen wurden diese mit den Arbeiten am
Hauptsammelkanal beauftragt.
Ende 1886 waren die ersten Arbeiten abgeschlossen. Der
Bachkanal in der Faulbrunnenstraße und der Kanal in der
Paulinenstraße waren hergestellt sowie alte undichte Kanäle
in mehreren Straßenzügen stillgelegt. Die Mühlenrechte (Ge-
fälle) der Kimpel- und Herrenmühle erwarb die Stadt, um das
Bachwasser für Spülzwecke nutzen zu können; entsprechende
Spülvorrichtungen wurden hierfür errichtet. Neue Kanäle auf
dem Schulberg sowie der Sammelkanal in der Taunusstraße
konnten trotz widrigem Untergrund fertiggestellt werden.20
Die über Jahre dauernden Arbeiten führten immer wieder zu
Beeinträchtigungen und zu heftigen Klagen der Wiesbadener.
„Der Auswurf der Gruben, der durch die Arbeiten zu Tage
gefördert wird, bietet weder dem Auge noch der Nase Ange-
nehmes, und die angewandten Desinfektionsmittel verbessern
den Geruch nicht. Beispielsweise liegt eben in der Marktstraße
eine ganz unbeschreibliche Masse von wer weiß welchem
Stoffe dunklen Aussehens, als käme sie direkt aus dem Höl-
lenpfuhle…“, schrieb ein Leser des Wiesbadener Tagblatts im
Februar 1890.21 Andere wiederum beklagten den zu langsa-
men Ausbau, da die Arbeiten das Stadtbild für Einheimische
und für Fremde störten.
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA | 27
Skizze eines Anschlussantrags aus dem Jahr 1888
(Bauaufsichtsamt/Denkmalschutz)
Nach und nach wurde das neue Kanalisationssystem
ausgebaut und weitestgehend im Jahr 1895 bzw. 1898
fertiggestellt. Doch schon bald musste infolge des geplanten
Neubaus des Hauptbahnhofes die Verlegung des Salzbaches
und des Hauptsammelkanals in Angriff genommen werden.
Die Umsetzung oblag dem Nachfolger von Brix, Ingenieur
Martin Frensch. Da immer wieder Nachbesserungen und
Neuanlagen wie die Sammelkanalstrecken Salzbach nebst
Kläranlage nötig waren, ist ein genauer Zeitpunkt der
Fertigstellung nicht datierbar. Bis zum Jahr 1908 hatte das
Projekt mit seinen 122 Kilometern Kanälen rund 10 Millio-
nen Mark gekostet.
28 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA
Der.Stolz.der.Stadt.–.Führungen.im.Untergrund
Wiesbaden hatte sich im 19. Jahrhundert zu einer der führenden Kurstädte Europas
entwickelt. Um den wachsenden Zahlen von Kurgästen und Besuchern Rechnung zu
tragen, wurden zahlreiche private und öffentliche repräsentative Gebäude errichtet
sowie Kur- und Parkanlagen angelegt.
Auch der 1906 fertiggestellte Neubau
des Hauptbahnhofs nach Plänen von
Fritz Klingholz gehörte dazu. Alle diese
neuen Stadtansichten waren für jeden
Besucher und Bürger offensichtlich.
Aber die Stadtverwaltung war auch
stolz auf ihr neues Kanalsystem. „Um
auch den Fernerstehenden, insbe-
sondere den in Wiesbaden stets sehr
zahlreich anwesenden Kurfremden
einen Einblick in die Entwässerungsver-
hältnisse der Stadt zu ermöglichen und
um ihnen zu zeigen, dass die Ausfüh-
rung und der Betrieb der Kanalisation
in sorgfältigster und mustergültiger
Weise erfolgt, finden allwöchentlich
an einem bestimmten Tage öffentliche
Besichtigungen der Kanalanlagen in
der Kaiserstrasse und Wilhelmstrasse
statt.“22 Heute steht dieses unterirdi-
sche Bauwerk unter Denkmalschutz.
Reinigung eines Straßenkanales, Rahlsen (1908)
Mit Stolz stellte die Stadtverwaltung der
Bevölkerung und Gästen die neue Kanalisa-
tion vor, Broschüre für Führungen, 1908
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA | 29
Die.Salzbachfrage.und.das.Klärwerk
Von Rechen, Sieben, Absetzbecken
und Chemikalien
Die Entsorgung von Schmutzstoffen, insbesondere der
Fäkalien, stellte für jede größere Stadt in Europa spätes-
tens mit Beginn des 19. Jahrhunderts ein Problem dar.
Die bisherigen Entsorgungssysteme wie Abtrittgruben
oder Tonnensysteme waren überholt und entsprachen
nicht den Ansprüchen an Hygiene. Die geregelte saube-
re Einleitung der Abwässer in die Flusssysteme oder in
Rieselanlagen stellte die nächste Herausforderung dar.
Bild unten: Skizze eines Anschlussantrags aus dem
Jahr 1888 (Bauaufsichtsamt/Denkmalschutz)
Bild oben: Grafische Zusammenstellung der Hausentwässerungs-
elemente (Brix,1886)
30 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA
Ursprünglich um die Pumpen zu schützen, die die Abwässer
zu den Rieselanlagen auf den Landflächen beförderten, war
es notwendig, die in den Abwässern transportierten Fest- und
Grobstoffe herauszufiltern. Doch schon Mitte des 19. Jahrhun-
derts erkannten Ingenieure, Ärzte und Hygieniker, dass man
damit auch die Flussläufe vor den Schmutzwässern schützen
konnte: Die ersten Kläranlagen entstanden. Zunächst wurden
mechanische Siebe oder Rechen zur Abscheidung der Feststof-
fe eingesetzt. 1853 nutzte man in England perforierte Platten
für die Abwasserpassage, elf Jahre später, 1864, kamen die
ersten Käfigrechen in zwei Londoner Pumpstationen zum Ein-
satz. 1865 folgte ein Stabrechen mit mechanischer Räumung
im Crossness-Pumpwerk. 1868 erfand Jennings den Trommel-
rechen und 1869 folgte Lathams rotierender Scheibenrechen.
Weitere Erfindungen waren der Stabrechen mit Harke an einer
Endloskette aus dem Jahr 1883, der Bandrechen von Smith
mit selbsttätigem Antrieb 1889 sowie der Einsatz von Fein-
rechen ab dem Jahr 1898. In den Jahren 1907 und 1908 folg-
ten Flügelrechen und halbkreisförmiger Rundrechen.
In Deutschland war man noch nicht soweit und hatte dem-
entsprechend erheblichen Nachholbedarf. Wie schon be-
schrieben, behalf man sich zunächst mit dem Abtransport der
Abtrittgruben und Tonnen durch die Bauern, die den Inhalt
als Dünger für ihre Felder nutzten. Menschliche Exkremente
als Düngemittel ließen sich auch verkaufen, sie landeten
entweder direkt als Dünger auf dem Acker oder kamen zur
Weiterverarbeitung in „Poudrette Fabriken“, in denen die
menschlichen Ausscheidungen für landwirtschaftliche Zwecke
nutzbar gemacht wurden. Das System der Verrieselung setzte
sich in einigen Städten durch. Justus von Liebig galt als vehe-
Übersichtsplan des Salzbachflutgrabens von der Kläranlage an der Spelzmühle zum Rhein, 1907
MENSCHLICHE EXKREMENTE WURDEN ALS
DÜNGER VERWENDET.
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA | 31
menter Befürworter dieser Art von Beseitigung der Abwässer,
die dadurch als Dünger für die Landwirtschaft nützlich waren.
In Wiesbaden brachte man die Exkremente aus den Abtritt-
gruben auf die Felder der umliegenden Bauern. Erst als die
Stadt wuchs und die Menge der Abfallstoffe überhand nahm,
wurden auch Sammelgruben an Straßen außerhalb des Stadt-
gebietes angelegt. Die gegründete Düngerausfuhrgesellschaft
entsorgte dort den Inhalt der Gruben und Tonnen, zudem
nahm die Stadt auch Verhandlungen mit der Preussischen
Eisenbahngesellschaft auf, um den Abtransport in entferntere
Regionen zu gewährleisten.
Unbefriedigend stand es hingegen um den Salzbach. Als
Hauptabfluss aller Gewässer war er schon immer der „natürli-
che Hauptsammler“ aller Abwässer. Schon Jahrzehnte vor dem
Kanalprojekt gab er immer wieder Anlass zu Beschwerden
und Spott wegen der damit verbundenen Verschmutzung und
Geruchsbelästigung, nicht nur seitens der Wiesbadener, son-
dern auch von Seiten der Mühlenbesitzer und Unterlieger.
Biebrich-Mosbach, damals noch selbstständige Gemeinde, be-
klagte sich direkt bei der königlichen Regierung in Berlin und
hatte Erfolg. So berichtete das Wiesbadener Tagblatt 1882,
dass der Minister des Innern eine Beschwerde der Biebricher
vom November 1881 wegen „gesundheitsschädigender Ver-
unreinigung des Salzbachs“ als begründet anerkannt habe.23
Ein Jahr später vermeldete der Rheinische Kurier: „Behufs
Verunreinigung des Salzbaches ist von der Königlichen Regie-
rung der städtischen Verwaltung die Anlegung eines größe-
ren Bassins am unteren Ende des Weichbildes der Stadt zur
Erwägung anheimgegeben worden.“ In diesem Bassin sollten
die Fäkalstoffe gesammelt und das desinfizierte Wasser in ei-
nem Kanal dem Rhein zugeführt werden.24 Umgehend setzte
die Stadt eine Kommission bestehend aus Dr. Pagenstecher,
32 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA
Dr. Berle, Dr. Schirm und Wasserwerksdirektor Winter ein, die
sich mit der Materie beschäftigen sollte. Gleichzeitig nahm
man Kontakt mit Frankfurt am Main auf, da hier schon der
Bau einer Kläranlage im Gange war und man erste Erfahrun-
gen im Betrieb gesammelt hatte.
Erst nachdem die Berliner Behörde in der schon erwähnten
Verfügung vom 20. Juli 1884 die Stadtverwaltung nach-
drücklich aufforderte, nicht nur schnellstens ein einheitliches
Kanalsystem auszuführen, sondern auch „eine gründliche
mechanische und chemische Reinigung der gesamten, mittels
besonderen Hauptkanals in den Rhein zu leitenden städti-
schen Abgänge bewirkt werde“, wurde klar, dass die Stadt
handeln musste. In weiteren Verhandlungen mit Vertretern
der Königlichen Regierung hatte man die Option Rieselfelder
und Tonnenabfuhrsystem verworfen, es blieb somit nur der
Bau einer Kläranlage. Zugleich wurde den Vertretern der Stadt
aber deutlich gemacht, dass die Einrichtung von Klärbassins
auch die Einführung von „Wasserclosetts“ obligatorisch ma-
che. Es blieb der Stadt nur übrig, der Auflage einer zunächst
provisorischen Kläranlage nachzukommen und diese baldigst
in Betrieb zu nehmen.25 Noch im gleichen Jahr erwarb die
Stadtgemeinde für 175.000 Mark von Heinrich Werner die
Spelzmühle nebst zweier Äcker unterhalb der Kupfermühle
am Salzbach für den Bau einer Klärbeckenanlage. Der Standort
war in mehrerer Hinsicht geeignet: Er lag am tiefsten Punkt
innerhalb der Gemarkung und damals noch außerhalb der
Stadt. 60.000 Mark stellte die Stadt für den Bau der Anlage
bereit. Zügig begannen nun die Baumaßnahmen. Ende des
Jahres 1885 war das Klärwerk an der Spelzmühle weitgehend
fertiggestellt. „Die Erfahrungen“, so der Bericht im Wiesbade-
ner Tagblatt vom 26. Februar 1886, „die man bisher mit der
Funktion der mechanischen Klärvorrichtungen gemacht hat,
sind die besten.“ „Lediglich die chemische Reinigung konnte
noch nicht eingesetzt werden“, so berichtete der Autor, da die
heftigen Niederschläge die Wassermassen über die Flutgrä-
Bild oben: Spelzmühle mit Kläranlage, Bild unten: Kläranlage um 1890: Grundriss und Schnitte
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA | 33
ben abgeleitet hätten und der Einsatz von Chemikalien somit
überflüssig geworden sei. Die Technik dieser ersten Kläranlage
auf Wiesbadener Boden war einfach, entsprach aber dem
damaligen Stand. Die Klärung der Abwässer erfolgte sowohl
mechanisch als auch chemisch. Siebe und Gitter hielten die
Grobstoffe zurück, die Beimischung von Kalkmilch sollte die
Ausfällung der feineren Stoffe bewirken. Um dem Wasser die
Zeit zur Klärung zu geben, wurde die Fließgeschwindigkeit in
den Bassins gebremst. Der sich absetzende Schlamm wurde
gehoben und zunächst gelagert bzw. als Dünger verkauft.
„Zur Besichtigung der fertiggestellten Klärbeckenanlage im
Mühlbachthale hatten sich am Donnerstag nachmittags um
4 ½ Uhr, bei der Spelzmühle eingefunden die Herren Regie-
rungspräsident von Wurmb, Landrat Graf Mattuschka-Greiffen-
clau, Bürgermeister von Ibell, Mitglieder des Gemeinderats
und Bürgerausschusses, eine Anzahl Ärzte von Wiesbaden,
von Biebrich der Bürgermeisterstellvertreter Wolff, einige Ge-
meinderäte und Offiziere der Unteroffizierschule. Der Direktor
der städtischen Wasserwerke Winter erläuterte dem Publikum
die Anlage.“26
Pläne für den Bagger der Kläranlage
Pläne für einen Fangrost zum Sandfang
von der Frankfurter Firma Fries & Sohn,
1898
34 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA
1901, Technische Zeichnung einer Versuchsrechenanlage
Mit Stolz berichtete die Zeitung26: „Im wesentlichen ent-
spricht unsere Anlage der Frankfurter. Die ganze Anlage ist
bestimmt für die Reinigung der Spüljauche, die aus dem
Kanalnetze Wiesbadens diesem Klärwerk zugeführt wird, und
besteht aus 3 Gruppen von je 2 Schlammfängen mit auf- und
abwärts gehender Bewegung und je einem Klärbassin.“ Die
Schlammfänge waren 4,50 Meter tief und 10 Meter breit, die
Klärbassins 2,50 Meter tief, 10 Meter breit und 30 Meter lang.
Die Größe, so die Ausführungen weiter, waren den Verhältnis-
sen angepasst: 6500 Kubikmeter Abwasser konnten binnen
24 Stunden gereinigt werden. Das gesamte Wasser musste
bei seiner Ankunft zuerst die mechanische
Klärung, die Eintauchplatten und Siebe im
Zulaufkanal, passieren. Diese Platten, die
sich heben und kippen ließen, schöpften
schwimmende Gegenstände ab. In den
drei parallel angeordneten Klärbecken ver-
weilte das Wasser nun fünf Stunden und man konnte so unter
Beigabe von Kalkmilch die Schwebstoffe ausfällen. Diese setz-
ten sich als Schlamm am Boden bzw. in der Schlammfangan-
lage ab. Mittels einer Pumpe konnte dieser Schlamm gehoben
und als Dünger seitlich der Klärbecken gelagert werden. Das
so geklärte Wasser wurde wieder dem Salzbach zugeführt
und in den Rhein abgeleitet. In den folgenden Jahren merkte
man aber schnell, dass mit der genutzten Technik die erhoffte
Wirksamkeit nicht zu erreichen war. Bald galt die Kläranlage
als zu klein dimensioniert, die Reinigungsleistung als zu dürf-
tig. Und der Klärschlamm war als Dünger unbrauchbar, da er zu
lange in den Bassins lagerte. Zudem lag die Stadt Wiesbaden
im Streit mit der Stadt Biebrich über die Verschmutzung des
Salzbachs. Auch der Vorschlag des Zementwerkbesitzers Bruch
aus Wiesbaden, nach dessen Verfahren die Klärrückstände zur
Herstellung von „hydraulischem Kalk bzw. Zement“ hätten ge-
nutzt werden können, überzeugte nicht.27 Rasch machten sich
Stadtverordnete, der Magistrat und die Fachleute Gedanken
über eine neue Kläranlage. Prinzipiell hatte man zwei Optio-
nen: Einen Neubau auf dem Gelände des bestehenden Klär-
werkes oder einen Neubau auf der Rettbergsau im Rhein. Für
beide Standorte entwickelte man die Planungen.
Noch im Jahr 1895 favorisierte Bürgermeister von
Ibell eine Verlegung der Kläranlage: „Wenn man
an einem anderen Punkte am Rheine die neue
Anlage machen wolle, würden für die in der Nähe
etwa entstehenden menschlichen Ansiedlungen
immer wieder Schwierigkeiten geschaffen werden. Um diesen
entrückt zu sein, habe der Magistrat den Plan für den besten
gehalten, welcher die ganze Anlage auf die Rettbergsau ver-
legt…“.28 Es sollte noch einige Jahre dauern, bis man zu einer
Lösung gelangte. Immer wieder prüften Fachkommissionen
und Stadtverordnete die Vorschläge. Mit den Projekten „Rett-
bergsau“ und „Spelzmühle“ wurde die Firma Rothe & Co aus
Cöthen in Anhalt beauftragt. Zeitgleich wurde im bestehenden
Klärwerk ein Sandfang im offenen Kanal in Betracht gezogen,
sowie eine Rechenanlage nach Frankfurter Muster.29
ES GAB ZWEI OPTIONEN: EIN
NEUBAU AUF BESTEHENDEM
GELÄNDE OBER EIN NEUBAU
AUF DER RETTBERGSAU
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA | 35
1898, Entwürfe zu einer Kläranlage auf der Rettbergs-Au
36 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA
Das Projekt „Rettbergsau“ wurde aus Kostengründen ver-
worfen, da man die Grundstücke erst erwerben und eine
aufwendige Dükeranlage unter dem Rhein hätte bauen
müssen. So verlegten sich die Techniker und Planer um Martin
Frensch darauf, die alte Anlage stetig zu modernisieren und
den jeweiligen Größenbedürfnissen anzupassen. Die zunächst
versuchsweise angewandte Technik im Jahr 1907 bestand
aus einem drehbaren Rechen mit 40 Millimeter sowie einem
Rechen mit 15 Millimeter Stabweite. Das Wasser wurde hier
von den Grobstoffen gereinigt, um danach in einem lang ge-
streckten Sandfang die mitgeführten mineralischen Bestand-
teile und andere Sinkstoffe abzulagern. In einer weiteren
Stufe durchfloss das Abwasser mehrere Feinsiebe mit einer
Durchgangsweite von 2 Millimeter, um die letzten Schweb-
stoffe einzufangen. Somit konnten pro Tag im Durchschnitt
13 Kubikmeter Sink- und Schwebstoffe aus dem Wasser
entfernt werden. Die als Dünger verwertbaren Rückstände
wurden zur Vermeidung von Geruchsbelästigungen in einer
Lagerhalle mit Torf überdeckt und den Landwirten unentgelt-
lich zur Verfügung gestellt.
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA | 37
Das über ein oberschlächtiges Mühlrad der Spelzmühle
ablaufende Wasser nutzte man zum Betrieb der Pumpen für
die Herstellung der Kalkmilch und der Pressluft, später auch
zur Gewinnung elektrischer Energie. Zum Klärwerk gehörten
ein eigener Kalksteinbruch und eine Kalksteinbrennerei zur
Herstellung der Kalkmilch. Zudem wurden immer wieder neue
Techniken erforscht. So sollten verschiedene Rechentypen –
Harken- und Drehrechen – die Klärung verbessern.
MIT FUG UND RECHT KONNTEN DIE WIESBADENER
BEHAUPTEN, DASS SIE ÜBER EINE DER MODERNSTEN
ANLAGEN IN DEUTSCHLAND VERFÜGTEN. 30
Zu viel Schlamm lagerte sich immer noch im Salzbach ab,
der immer wieder ausgehoben werden musste und jährliche
Kosten in Höhe von ca. 4000 Mark verursachte. Handaus-
hub oder Besenreinigung wie im Jahr 1901 waren ebenso
gescheitert wie die Reinigung per Schlitten. Die praktischste
Lösung schien das Kratzen mit Holzstangen im Bachbett, um
den Schlamm aufzuwühlen und dann durch schnelles Heben
der Schieber das Schlammwasser fortzuspülen. Doch bald
wurde klar, dass auch diese Lösung den Anforderungen der
Regierungsbehörden nicht genügte.
Im.Dienste.des.Umweltschutzes.–.der.Salzbachkanal
Obwohl Wiesbaden ab 1885 große Anstrengungen unternommen hatte, um den An-
forderungen an eine moderne Abwasserentsorgung gerecht zu werden, hörten die
Klagen nicht auf.
38 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE CHOLERA UND TYPHUS – TÖDLICHE GEFAHR IN EUROPA
Bauarbeiten am Salzbachkanal (Fotos von Baumaßnahmen für Abwasserkanäle aus dem ersten Jahrzehnt gibt es leider nicht.)
„Die Kommission wollt gehen
An der Salzbach lang
Flugs war es geschehen,
Mit ´ner langen Stang;
Morgens in der Still,
Wohliges Gefühl!
Biebrich hat so gerne:
Wiesbad’ner Odeur.“*
„Es rauscht in verdächtigem Dunkel
Trübselig der Salzbach durch‘s Land.
Der Fischlein stummes Gemunkel
Klingt leise bedeutend vom Strand:
Zeitgleich mit dem Bau der Kläranlage sowie dem Bau des Hauptsammelkanals in Wiesbaden, beschäftigten sich die Stadtpoli-
tiker sowohl von Wiesbaden als auch von Biebrich intensiv mit der „Salzbachfrage“.
Die Streitigkeiten um den Salzbach zogen sich noch mehrere Jahre hin. Doch Wiesbaden kam, wie andere Städte auch, nicht
umhin, eine Lösung zu finden. Diese bestand in dem Bau eines unterirdischen Eisenrohrkanals, der das geklärte Abwasser von
der Kläranlage bis in den Rhein leitete. Der Auslass lag ca. 100 Meter vom Rheinufer entfernt im Flussbett, damit „den Bade-
nixen die sommerliche Freude nicht von einer vorbeitreibenden toten Maus getrübt wird.“32
Wir hatten den Salzbach erlesen
Als Brutstatt für unseren Laich.
Da kommt nun dies mullrige Wesen
Wie tief aus dem muffigsten Teich.
Sonst haben in freundlicher Klärung
Dem Liebsten in’s Aug‘ wir geschaut;
Nun trübt sich’s in plötzlicher Gährung,
Die Alles verbrodelt, verbraut.
Sonst floß es gesiebt und gesundlich
Vom Wiesbad, mit Augen wie Speck;
Jetzt riecht es und schmeckt es so
schundlich, Pfui Kukuk! – wie Biebricher
Dr….
Wo Wasser und Leute so putzig,
Da wollen wir länger nicht sein.
Wir lassen, was trübe und Schmutzig
Und baden lieber im Rhein.
Sie sprachen‘s und schwummen
von hinnen
Kaum blicken das Ufer sie an;
Das hat das „rühr’nde“ Beginnen
Der Salzbach-„Verbesserer“ gethan.“1
* Damensitzung des Sprudel 1891, hiermit unterstellte man den Biebrichern, dass sie vor Besichtigung durch eine Kommission den Schlamm des Baches extra aufwühlten, um die Verschmutzung zu verdeutlichen.
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE E INFLUSS UND WIRKEN VON POLIT IKERN, WISSENSCHAFTLERN UND INGENIEUREN IN WIESBADEN | 39
Einfluss und Wirken von Politikern, Wissenschaftlern und Ingenieuren in Wiesbaden
Dr..jur..Carl.von.Ibell.(1847.–.1924).
Unter Bürgermeister Carl von Ibell wurde in die Zukunft investiert. Es wurden weitrei-
chende politische Entscheidungen für konzeptionelle Stadterweiterung, Städteplanung
und zum Bau herausragender Gebäude getroffen. Gleichzeitig wurden die finanziellen
Mittel zur Schaffung einer modernen Infrastruktur mit Wasserversorgung, Abwasserab-
leitung (Kanalisation) und Beleuchtung bereitgestellt.
Von Ibell zeigte sich wie sonst kein
Stadtoberhaupt von Wiesbaden darum
bemüht, die Attraktivität Wiesbadens
zu steigern. Vordergründig ging es ihm
dabei um die Wahrung der Spitzenpo-
sition unter den mondänen Badeorten.
Damit wollte er vermehrt die Attrak-
tivität für reiche Ansiedlungswillige
steigern. Gemessen an der Einwohner-
zahl vereinte Wiesbaden mit Berlin und
Köln schließlich die meisten Millionäre
des Landes.33
Zur weiteren Aufwertung des Stadt-
bildes wurden unter ihm zahlreiche
öffentliche Gebäude von meist be-
deutenden auswärtigen Architekten in
kommunalem und staatlichem Auftrag
errichtet. Am Anfang standen der
Rathausneubau am Schlossplatz von
dem Münchner Georg Hauberisser im
Neorenaissancestil, das Hoftheater am
Warmen Damm durch das Wiener Büro
Fellner und Helmer, das Theaterfoyer
durch Genzmer, das Augusta-Viktoria-
Bad vom Berliner Architekten Ludwig
Modrow, der Kurhausneubau von Friedrich von Thiersch
sowie der Bahnhof durch Klingholz. Damit wurden unter
seinem Einfluss neue Schwerpunkte mit großstädtischem
Habitus gesetzt.
In seine Amtszeit fiel die glanzvollste Zeit Wiesbadens und
der Aufstieg zur Großstadt. Ziel war, Wiesbaden als „Luxus-
stadt“, also als Stadt ohne störendes Gewerbe mit denkbar
besten hygienischen Verhältnissen, weiterzuentwickeln. Dazu
gehörte, dass bei der Stadtentwick-
lung ästhetische Aspekte nicht mehr
von neuesten Erkenntnissen der Stadt-
hygiene getrennt werden konnten.
Die Bedeutung des Kanalbaus spiegelt
sich auch in den getätigten Investitio-
nen wider. Die ersten zehn Jahre des
Kanalbaus waren mit einem Investi-
tionsvolumen von 10 Millionen Mark
verbunden. Davon wurden ca. 6 Milli-
onen Mark zur Ableitung der Nieder-
schlags- und Schmutzwässer ver-
wendet und ca. 4 Millionen Mark zur
Ableitung der Gewässer verwendet.
Bei der Vielzahl von Baumaßnahmen
der Ver- und Entsorgung erfolgte im
Jahr 1904 der Beschluss des Gemein-
derats, für Bauten des Kanalisations-
wesens und für die Licht-, Kraft- und
Wasserversorgung eine Anleihe in
Höhe von 21,165 Millionen Mark (ent-
spricht heute ca. 120 Millionen Euro!)
aufzunehmen.
Unter dem 30 Jahre als Bürgermeister
bzw. Oberbürgermeister tätigen von
Ibell waren nicht nur herausragende Stadtplaner wie Felix
Genzmer und der Bauingenieur Josef Brix konzeptionell
tätig. Darüber hinaus wurden die damals in Deutschland
führenden Stadtplaner, wie der später noch aufgeführte
Reinhardt Baumeister, mittels Aufträgen zu Gutachten und
Planentwürfen an der planerischen Entwicklung Wiesbadens
beteiligt. „Seit 1894 erfolgte die Stadterweiterung plan-
mäßig nach einem Gutachten des Geheimen Oberbaurats
Professor Baumeister in Karlsruhe“.
01.08.1883 ERSTER BÜRGERMEISTER
IN WIESBADEN, SEIT 1886 MIT DEM
TITEL OBERBÜRGER-MEISTER, BIS
31.03.1913. SEIT 1892 MITGLIED
DES HERRENHAUSES, 1901 MITGLIED
DES PROVINZIALRATS. EHRENBÜRGER
VON WIESBADEN.
40 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE E INFLUSS UND WIRKEN VON POLIT IKERN, WISSENSCHAFTLERN UND INGENIEUREN IN WIESBADEN
Prof..Dr..Ing..Felix.Genzmer.(1856 – 1929),.Stadtbaumeister,.königlicher.Hofbaurat
Felix Genzmer propagierte einen
künstlerischen Städtebau mit moder-
ner Großstadtplanung, die Fortsetzung
der künstlerisch-architektonischen und
landschaftlichen Gestaltungsgrundsätze
für die Villengebiete (der farbenfrohe
Genzmer), Korrekturen und Verbesse-
rungen der Villengebiete im Sinne der
ursprünglichen Vision einer arkadischen
Landhaus-Landschaft und die Forderung
nach einer von Gestalt und Funktion
geprägten Architektur. Als Stadtbaumeis-
ter von Wiesbaden war er 1881 bis 1903
für große Teile der damaligen Stadtplanung verantwortlich
(Feldherrenviertel, Rheingauviertel, Dich-
terviertel) und entwarf viele Gebäude
selbst, darunter mehrere Schulen, das Fo-
yer des Hessischen Staatstheaters (1902),
das Römertor (1902) sowie Platzgestal-
tungen wie die Marktunterkellerung
(1899 – 1901) und Versorgungsbauten.
Durch sein Wirken prägte er wesentlich
das Stadtbild Wiesbadens. Als Nachfolger
Raschdorffs kam Felix Genzmer 1903 aus
Wiesbaden an die TH Charlottenburg auf
die Professur für Städtebau und farbige
Dekoration an der Abt. Architektur, die in
dieser Form auf seinen Wunsch hin eingerichtet wurde.
Wiesbaden setzte bei der planerischen Entwicklung auf Erfahrungen, die bereits an-
derswo gesammelt wurden. Wissen und Kenntnis profilierter Ingenieure wurden he-
rangezogen. Darunter waren mit Reinhard Baumeister, Felix Genzmer und Josef Brix
bedeutende Gründer der Siedlungswasserwirtschaft als eigenständiger Wissenschaft.
Reinhard Baumeister war einer der
ersten Stadtplaner, die Infrastruktur und
Stadthygiene als wesentlichen inhaltli-
chen Bestandteil der Stadtplanung an-
sahen. Er war nicht nur für die Entwick-
lung von Bebauungskonzeptionen und
Bebauungsplänen zuständig, sondern
auch führend bei der Festlegung wasser-
wirtschaftlicher Anforderungen an die
Abwasserableitung. Die Lebensgeschich-
te Baumeisters beginnt in Hamburg.
Der Vater war Richter und die Mutter
Kunstmalerin. Erwähnt werden sollte
auch noch der Großvater Reinhard Woltman (1757 – 1837),
der ein bedeutender Techniker, Erbauer der Hafenanlagen der
Hansestadt Hamburg und Erfinder des „Woltman-Zählers“ war,
eines Instruments, mit dem die Durchflussgeschwindigkeit
des Wassers gemessen werden konnte. Geprägt von diesem
technischen Hintergrund, sah es Baumeister als seine Aufgabe
an, über die Stadtplanung eine geordnete Trinkwasserver- und
Abwasserentsorgung einzurichten und damit die Verbreitung
von Typhus und Cholera zu verhindern. Auch den Kampf
gegen Tuberkulose hielt er ohne Verbesserung des Wohnungs-
Reinhard.Baumeister.(1833 – 1917)
wesens nicht für gewinnbar. Mit seinem
Vorschlag einer reichsgesetzlichen Rege-
lung aller Fragen des Bauwesens eilte er
seiner Zeit weit voraus; sie kam infolge
des Pochens der Bundesstaaten auf ihre
Eigenständigkeit jedoch nicht zustande.
In Wiesbaden wurde Baumeister, der
allgemein auch als Begründer eines sozi-
alen, technischen und wissenschaftlichen
Städtebaus gilt, mit der Erstellung einer
Planung für die Stadterweiterung 1893
und 1914 beauftragt.34 Auf dieser Pla-
nung beruhte die Neugestaltung Wiesba-
dens bis weit in die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Weiterhin wurde Prof. Baumeister vom „Medicinischen Rat
Preußens“ zur Erstellung von Gutachten bezüglich der Einlei-
tung von Abwasser in den Rhein und zum direkten Anschluss
von „Water-Closets“ an die Abwasserableitung beauftragt. Mit
letzterem Gutachten hat er die weitere Entwicklung der Stadt-
planung und der Stadtentwässerung Wiesbadens maßgeblich
beeinflusst, da erst aufgrund dieses Gutachtens der direkte
Anschluss der Wasserklosetts an die Kanalisation und deren
Betrieb von Seiten der Stadt erlaubt werden konnte.
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE E INFLUSS UND WIRKEN VON POLIT IKERN, WISSENSCHAFTLERN UND INGENIEUREN IN WIESBADEN | 41
Joseph Brix hatte an der technischen
Hochschule bzw. Universität München
ein Studium als Cultur- und Bauingenieur
absolviert. Er wurde 1881 Ingenieur bei
der Königlich Bayrischen Commission für
die Europäische Gradmessung, danach
von 1881 bis Ende 1882 Bauführer beim
Bau der Münchener Wasserversorgung.
Von dort wechselte er Ende 1882 nach
Mainz, wo er bis 1884 als Ingenieur bei
der „Canalbauabtheilung“ des Mainzer
Stadtbauamtes arbeitete und Erfahrun-
gen in der Umsetzung einer zeitgemäßen
Kanalisation sammelte. 1884 bis 1885 war er Hilfsarbeiter des
Directors der Orientalischen Eisenbahnen bei der „General-
direction“ der sogenannten Bahngesellschaft zu Wiesbaden.
Passend zu der Strategie Ibells, eine saubere Stadt mit einer
modernen Stadtentwässerung zu verwirklichen, wurde Joseph
Brix im Jahr 1885 bei der Stadt Wiesbaden angestellt. Dort
war er im Wesentlichen während eines Zeitraums von 10 Jah-
ren (1.5.1885 bis 1.4.1895) für die Konzeption der Entwässe-
rung zuständig. Im Anschluss daran ging er als Stadtbaurat für
ca. 3 Jahre nach Altona.
In Altona beschäftigte er sich verstärkt mit stadtplanerischen
Projekten sowie mit Hochbaumaßnahmen. Als ein hervorra-
gendes Bauwerk dieser Zeit ist das Altonaer Rathaus zu nen-
nen. 1898 gründete Josef Brix ein Ingenieurbüro, die Allge-
meine Gesellschaft für Städtereinigung. 1904 erhielt er eine
Professur für Städtebau und städtischen Tiefbau, als ersten
selbstständigen Lehrstuhl dieser Fachrichtung in Deutschland.
Das Ingenieurbüro betrieb Brix mit einigem Erfolg weiter,
was u.a. auch an den internationalen Aufträgen zur Planung
Prof..Dr..Ing..Joseph.Brix.(1859 – 1943)
der Kanalisation für Sofia und Bergen
sowie zur Erstellung der Bebauungs-
pläne für Montevideo und Darul-Aman
festgemacht werden kann. Innerdeutsch
sind die Generalentwässerungspläne für
Rüsselsheim, Bingen und Kempten durch
Brix erstellt worden. Zusammen mit Felix
Genzmer, der bis 1903 in Wiesbaden für
alle städtischen Gebäude, darunter auch
den Bahnhofsneubau, und die generelle
Stadtplanung zuständig war, begründete
er das erste Seminar zum Thema Städte-
bau. Der Lehrstuhl für Siedlungswasser-
wirtschaft der Universität Berlin bezieht sich hinsichtlich seiner
Gründung auf Josef Brix und stellt ihn als einen der Gründer-
väter der modernen Stadtplanung, die auch eine zeitgemäße
Infrastruktur in der Planung berücksichtigt, dar.
Aus heutiger Sicht kann festgestellt werden, dass die kommu-
nale Abwasserbeseitigung bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts
von wenigen Personen dominiert wurde. Zu nennen sind
hier William Lindley und seine drei Söhne, die in Hamburg,
Frankfurt, Warschau und Moskau zu Rate gezogen wurden,
James Hobrecht, der unter anderem für Berlin, Potsdam und
Bremen die Entwässerungsplanung konzipierte sowie James
Gordon, der die Entwässerungsplanung von München, Stutt-
gart, Heilbronn und Nürnberg mitentwickelte und eben Joseph
Brix sowie eine weitere, in den ersten Jahrzehnten recht
überschaubare Anzahl gut qualifizierter Ingenieure. Insgesamt
wurde in einem Vierteljahrhundert die neuzeitliche Kanalisa-
tion in Deutschland etabliert. Mit Baumeister, Genzmer und
Brix wurde dazu die Stadtentwässerung als eigenständige
Wissenschaft in Deutschland etabliert.
Oberingenieur.Martin.Frensch.(1861 – 1944)
Martin Frensch sammelte berufliche Erfahrung von 1881 bis
1885 in Frankfurt, war dann von 1885 bis 1887 in Elberfeld
(damals bereits eine Stadt mit über hunderttausend Einwoh-
nern, später mit 4 anderen Städten zu Wuppertal vereinigt)
tätig, danach erneut zwei Jahre in Frankfurt und schließlich
von 1889 bis 1891 in Altona. Ab 1891 war Frensch dann als
Ingenieur, ab 1895 als Oberingenieur in Wiesbaden tätig.
Frensch hatte augenscheinlich seine beruflichen Tätigkeiten
an seinem fachlichen Interesse für die Stadtentwässerung
orientiert. Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass Wiesba-
den nach dem Ausscheiden von Brix mit Stadtbaurat Martin
Frensch einen hervorragenden Nachfolger gefunden hatte, der
viel fachliche Kompetenz aufweisen konnte und sich damit
auch in der Lage sah, grundlegende Planungen von Brix, die
der rasanten Entwicklung der Stadt Wiesbaden nicht mehr
entsprachen, zu überarbeiten. Vieles von dem, was hinsicht-
lich der Entwässerungskonzeption von Brix vorgesehen war,
konnte erst zu Zeiten von Martin Frensch umgesetzt werden.
Sie war die erste ihrer Art in Preußen. Gemeinsam mit seinem
Kollegen Josef Brix (1859 – 1943), der das Fach Städtebau in
der Abteilung Bauingenieurwesen vertrat, gründete Genzmer
im Wintersemester 1907/1908 das Seminar für Städtebau.
42 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE E INFLUSS UND WIRKEN VON POLIT IKERN, WISSENSCHAFTLERN UND INGENIEUREN IN WIESBADEN
Karl.Frobenius.(1852 – 1932).und.Josef.Stübben.(1845 – 1936)
Carl.Remigius.Fresenius.(1818 – 1897)
Frobenius war ab 1905 Stadtbaurat in Wiesbaden. In die-
ser Funktion förderte er weit offene Villengebiete und eine
Reduzierung der Baudichte aus Gründen der Hygiene und
der städtebaulichen Auflösung geschlossener Häuserzeilen.
In dieser Hinsicht setzte er die Tradition der Stadt nach einer
Carl Remigius Fresenius war ein deut-
scher analytischer Chemiker, Geheimer
Hofrat sowie Begründer und Direktor des
chemischen Labors zu Wiesbaden, das
bis heute seinen Namen trägt. Als Sohn
des Rechtsanwalts Dr. Jakob Samuel
Heinrich Fresenius in Frankfurt am Main
geboren, besuchte er das Bendersche In-
stitut zu Weinheim und das Gymnasium
zu Frankfurt. 1836 begann er eine Lehre
in der Steinschen Apotheke in Frankfurt.
In seiner Lehrzeit hörte er Vorlesungen
von Rudolf Böttger in Chemie und Physik
am Physikalischen Verein. Aufgrund
seines großen Interesses für die analytische Chemie richtete
er sich im Gartenhaus seines Vaters ein eigenes kleines
Labor ein.
Bereits im zweiten Semester seines Studiums der Chemie an
der Universität Bonn verfasste er 1841 sein grundlegendes
Werk „Anleitung zur quantitativen chemischen Analyse“, das
17 Auflagen erlebte. Nach seinem Entschluss, sich ganz der
Chemie zu widmen, ging er in das damalige Zentrum der
Chemie nach Gießen zu Justus von Liebig, dessen Privat-
assistent er von April 1842 bis zum Herbst 1845 war. Die
2. Auflage der „Anleitung zur qualitativen chemischen Ana-
lyse“ enthielt ein lobendes Vorwort Liebigs, der es auch als
Lehrbuch in seinem Labor einführte. In Anerkennung dieses
Werkes promovierte ihn die philosophische Fakultät 1842
zum Doktor. 1843 habilitierte Fresenius als Privatdozent mit
einer Arbeit über die sichere quantitative Bestimmung von
Arsen, bis ihn im September 1845 ein Ruf als Professor für
weitsichtigen Stadtplanung fort. Ebenso ist es kein Zufall,
dass Wiesbaden nach Reinhard Baumeister Joseph Stüb-
ben, den bedeutendsten preußischen Stadtplaner seiner
Zeit, mit der Fortschreibung der städtebaulichen General-
planung betraute.
Chemie, Physik und Technologie an das
herzoglich-nassauische Landwirtschaft-
liche Institut auf dem Hof Geisberg bei
Wiesbaden führte. Im Frühjahr 1848
eröffnete er nach dem Vorbild von Justus
von Liebig sein chemisches Labor in
einem von ihm gekauften Haus, das spä-
ter um einige Abteilungen erweitert und
zur Fachakademie ausgebaut wurde. An
diesem Chemischen Laboratorium Frese-
nius Wiesbaden wurden Chemie und seit
1862 im Rahmen der Pharmaceutischen
Lehranstalt auch Pharmazie und seit
1868 Agrikulturchemie und Ökologie
unterrichtet. Seit 1862 war Fresenius Herausgeber der „Zeit-
schrift für Analytische Chemie“. 1873 erschien sein Buch
„Geschichte des chemischen Laboratoriums zu Wiesbaden“.
Im Jahr 1852 wurde er zum Mitglied der Leopoldina ge-
wählt. Zu seinen Fachgebieten zählte die Trinkwasserana-
lyse. In seiner Funktion als Chemiker und Stadtverordneter
beriet er fachlich in den entsprechenden Kommissionen den
Magistrat in Fragen der Trinkwasserver- und Abwasserent-
sorgung und beschäftigte sich intensiv mit den Fragen der
Hygiene. Fresenius war Mitglied der nassauischen Abge-
ordnetenkammer, Mitglied des Kommunallandtags für den
Bezirk Wiesbaden, des Provinziallandtags für die Provinz
Hessen-Nassau und Vorsitzender der Wiesbadener Stadtver-
ordnetenversammlung. Auf Grund seiner Verdienste um die
Stadt wurde er auch Ehrenbürger von Wiesbaden.
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE ENTWÄSSERUNG IN WIESBADEN BIS HEUTE | 43
Entwässerung in Wiesbaden bis heute
Die.Kanalisation.und.die.Kläranlage.an.der.Spelzmühle.überdauerten.die.nächs-
ten.Jahrzehnte.weitestgehend.in.ihrem.Zustand.aus.dem.Jahr.1907..Alle.Pläne.für.
eine.Modernisierung.der.Kläranlage.an.der.Spelzmühle.oder.für.einen.Neubau.auf.
der.Rettbergsaue.wurden.nicht.umgesetzt.
Abwasser-Reinigungsanlage der Stadt Wiesbaden, Dezember 1934
Der erste Weltkrieg sowie
dessen Folgen setzten andere
Prioritäten. Auch in der natio-
nalsozialistischen Zeit sahen die
Machthaber keinen Anlass, Geld
für einen Neubau in die Hand zu
nehmen. Lediglich geringfügige
Änderungen der Technik wurden
vorgenommen. Bis zum Ende des
zweiten Weltkriegs wurden die
Wiesbadener Kanäle an vielen
Stellen, der Ablaufkanal bis zum
Rhein an 14 Stellen sowie die
Kläranlage durch Bombentreffer
schwer beschädigt. Den schwers-
ten Schaden richteten Bomben
am Hauptbahnhof an, wo sie
einen Krater in das Gelände rissen
und die darunter liegenden Kanäle verschütteten. In den
folgenden Jahren floss das Abwasser der Wiesbadener Innen-
stadt völlig ungereinigt in den Salzbach – und darüber in den
Rhein. 1950 wurde dann an gleicher Stelle mit dem Bau
einer mechanischen Reinigungsanlage mit Schlammfau-
lung begonnen.
Zeitungsausschnitt aus dem Wiesbadener Tagblatt vom 23. Februar 1950
44 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE ENTWÄSSERUNG IN WIESBADEN BIS HEUTE
Oben: Hauptkläranlage Wiesbaden, 1952
Wie zuvor auch wurde das Abwasser zuerst mittels Grob-
und Feinrechen gesäubert. Ein Tiefsandfang nahm den aus
der Kanalisation mitgespülten Sand und Schlamm auf, bevor
die Abwässer in ein rundes Absetzbecken mit 45 Metern
Durchmesser gelangten. Die lediglich von festen Inhaltsstof-
fen gereinigten Abwässer wurden anschließend über einen
Eisenrohrkanal, gebaut bereits Ende des 19. Jahrhunderts
und bis heute Ableitungskanal des Hauptklärwerks, in den
Rhein abgeleitet..Die Sediment- bzw. Absetzstoffe – pro Tag
ca. 200 Kubikmeter – wurden aus dem Schlammtrichter in
zwei große, 13 Meter hohe und 3000 Kubikmeter fassende
Faulschlammtürme gepumpt und dienten der Methangasge-
winnung, welches mittels einer Leitung von dem Gasometer
zu einer Tankstelle an der Mainzer Straße transportiert und
für die Stadtbusse genutzt wurde. Bei der biochemischen
Umsetzung des Schlammes in den Faultürmen wurde unter
Abwesenheit von Sauerstoff neben der gewünschten Methan-
gasbildung auch eine Reduktion der Schlammmenge um rund
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE ENTWÄSSERUNG IN WIESBADEN BIS HEUTE | 45
Hauptkläranlage Wiesbaden, 1955
30% reduziert. Der übrige Faulschlamm, nun fast geruchlos,
stand nach der Trocknung als Dünger für Kleingärtner und
Landwirte zur Verfügung35. Die neue Reinigungsanlage wurde
1952 in Betrieb genommen.
In den Jahren 1952–1962 erweiterte und verbesserte man die
Anlage technisch Zug um Zug. Das Abwasser von 150.000 Ein-
wohnern konnte in dieser Kläranlage gereinigt werden.
Dennoch war sie bald zu klein und völlig überlastet.
46 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE ENTWÄSSERUNG IN WIESBADEN BIS HEUTEN
Ein Jahrzehnt später setzte sich eine weitere wasserwirt-
schaftliche und ökologische Betrachtungsweise durch. Die
Überzeugung, dass der Nährstoffeintrag aus Kläranlagen in die
Gewässer in starkem Maße zur Überdüngung beiträgt, setzte
sich durch. Daher wurden neue Anforderungen an Kläranlagen
diskutiert. In den Kläranlagen mussten nun die Nährstoffkon-
zentration des Abwassers, in Form von Ammonium, Nitrat
und Phosphor, und damit der Nährstoffeintrag ins Gewässer
reduziert werden.
1976 wurden bundesweite Anforderungen an das Einleiten
von Abwasser in Gewässer erlassen. Mit dem Erlass der sog.
Mindestanforderungen hat der Gesetzgeber dafür gesorgt,
dass Abwasserreinigungstechniken, die sich allgemein
bewährt hatten, auch insgesamt deutschlandweit Anwen-
dung finden. Insbesondere bei großen Kläranlagen sollte der
Reinigungsaufwand nicht nur durch die Größe der Gewässer
definiert werden. Es sollten auch fachlich bewährte allgemein
anerkannte Verfahren, wie z.B. die mechanisch-biologische
Klärung, zur Anwendung kommen.
Biologische Reinigung und Faultürme 1977 Vorklärbecken und Biologische Reinigung 1978
Das aufkommende Umweltbewusstsein trug sein Übriges
zu einem Neubau bei. Sauerstoffmangel war ursächlich
für Fischsterben in Gewässern. Der Sauerstoffgehalt der
Gewässer wurde damals zum maßgebenden Parame-
ter der Wasserqualität des Rheins. Zur Reduzierung des
Schmutzfrachteintrags und insbesondere zur Reduzierung
sauerstoffzehrender biochemischer Vorgänge in Gewässern
wurde die Anlage in den siebziger Jahren umgebaut
und modernisiert.
Nacheinander konnten die mechanische Reinigungsstufe
(1974), die Schlammentwässerung (1975), die Faultürme
(1976) und die neue biologische Klärstufe (1977) in Be-
trieb genommen werden. Nun kam in Wiesbaden endlich
eine biologische Reinigungsstufe zur Anwendung. Mit
dieser „Belebungsanlage“ wurden biochemische Vorgän-
ge, die auch in Gewässern ablaufen, verfahrenstechnisch
in der Kläranlage nachgeahmt. Damit wurde die Sauer-
stoffzehrung des gereinigten Abwassers im Gewässer um
mindestens 80 % reduziert.
Straßenbauplan 1973
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE ENTWÄSSERUNG IN WIESBADEN BIS HEUTE | 47
Schneckenpumpwerk und Faultürme 1979
Das in den 80er Jahren auftretende Rob-
bensterben, die Algenpest in der Nordsee
und der weiterhin hohe Verschmutzungs-
grad der Flüsse machte eine weiterge-
hende Abwasserreinigung erforderlich.
Die Mindestanforderungen wurden primär
bezüglich des anorganischen Stickstoffs
und Phosphol verschärft. Grund dafür war
die Erkenntnis, dass die Nährstoffeinträge
vieler europäischer Fließgewässer sich auf
den biologischen Zustand der europäischen
Meere, Ost- und Nordsee und Mittelmeer,
auswirken. Wiesbaden ist als Rheinanlieger
für die Gewässerqualität mitverantwortlich.
Die Einleitungen machten sich dauerhaft
störend bemerkbar. Somit stand bereits
zweiundzwanzig Jahre nach Bau der ersten
mechanisch-biologischen Kläranlage Wies-
badens erneut eine Modernisierung des
Hauptklärwerks auf der Tagesordnung. Hauptklärwerk Ende der 70er Jahre
48 | HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE ENTWÄSSERUNG IN WIESBADEN BIS HEUTEN
Nachklärbecken 1985Belebungsbecken 1981
Insgesamt wurde die Anlage acht Jahre lang, von 1995 bis
2003 – bei laufendem Betrieb – umgebaut. Ebenso wurden im
Zeitraum 1994 bis 2005 die Speicher im Kanalsystem moderni-
siert und erweitert. Mit Hilfe moderner Berechnungsmethoden
und Mess- und Regelungstechnik konnte die Abwassereinlei-
tung aus der Mischkanalisation in die Wiesbadener Gewässer
deutlich reduziert werden. Seit einigen Jahren besitzt die
hessische Landeshauptstadt nun eine moderne Kanalisation
mit einer hochmoderner Kläranlage.
Im Hauptklärwerk werden die Abwässer der folgenden Wiesba-
dener Stadtteile gereinigt: Auringen, Bierstadt, Dotzheim (teil-
weise), Erbenheim, Heßloch, Igstadt, Klarenthal, Kloppenheim,
Medenbach, Naurod, Rambach und Sonnenberg. Die Abwässer
aus Biebrich, Dotzheim (teilweise), Frauenstein, Mainz-Amöne-
burg, Mainz-Kastel, Mainz-Kostheim und Schierstein werden im
Klärwerk Biebrich gereinigt. Die Abwässer der Vororte Brecken-
heim, Delkenheim und Nordenstadt fließen dem Abwasserver-
band Flörsheim zu36.
Hauptklärwerk Wiesbaden 2005
HISTORISCHE KANALBROSCHÜRE ENTWÄSSERUNG IN WIESBADEN BIS HEUTE | 49
Regenüberlaufbecken Hauptklärwerk heute
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1866 und 1878.5 Brix, Josef, Die Canalisation der Stadt Wiesbaden, S. 5 in:
Den Mitgliedern und Theilnehmern der 60. Versammlung
Deutscher Naturforscher und Ärzte, Wiesbaden 1887.6 Mittelrheinische Zeitung vom 08.09.1863.7 Mittelrheinische Zeitung vom 02.11.1861.8 Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden 405/6521, Bl.59 Mittelrheinische Zeitung vom 10.3.1868.10 Brix, Josef, Die Canalisation der Stadt Wiesbaden, S. 7f.11 Stadtarchiv Wiesbaden, Wi/2 2692 Schreiben des Polizei-
präsidiums vom 16.9.1879.12 Rheinischer Kurier vom 6.10.1875 und 9.11.1875.13 Rheinischer Kurier vom 13.5.1876 Bericht über Gemeinde-
ratssitzung.14 Rheinischer Kurier vom 4.2.1883, Die Stadt Frankfurt hatte
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18 Rheinischer Kurier vom 29.3.1885.19 Brix, Josef, Die Canalisation der Stadt Wiesbaden, 1887.20 Rheinischer Kurier vom 04.01.1887.21 Wiesbadener Tagblatt vom 15.2.1890.22 Frensch, Martin, Beseitigung der Abfallstoffe – Die Canali-
sation, in: Die öffentliche Gesundheitspflege Wiesbadens,
S. 54, Wiesbaden 1908.23 Wiesbadener Tagblatt vom 10.12.1882.24 Rheinischer Kurier vom 4.2.1883.25 Wiesbadener Tagblatt vom 23.8.1884.26 Wiesbadener Tagblatt vom 26.2.1886.27 Rheinischer Kurier vom 29.9.1884.28 Stadtverordnetenversammlung vom 15.11.1885 in: Wiesba-
dener General Anzeiger vom 17.11.188529 Stadtarchiv Wiesbaden, Verwaltungsbericht 1900.30 Frensch, Martin, Beseitigung der Abfallstoffe – Die Canali-
sation, in: Die öffentliche Gesundheitspflege Wiesbadens,
S. 59f, Wiesbaden 1908.31 Damensitzung des Sprudel 1891, hiermit unterstellte man
den Biebrichern, dass sie vor Besichtigung durch eine Kom-
mission den Schlamm des Baches extra aufwühlten, um die
Verschmutzung zu verdeutlichen.32 Wiesbadener Kurier vom 26.10.1948.33 Müller-Werth, H., Geschichte und Kommunalpolitik der Stadt
Wiesbaden, 196334 Böhm, 200635 Wiesbadener Tagblatt vom 18. und 19.02.195036 ELW: „Geschichte der Kläranlagen“, 2010
ImpressumHerausgeber
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Wir danken den Mitarbeitern des Stadtarchivs Wiesbaden für
die Unterstützung bei den Recherchearbeiten. Besonderen
Dank gilt Herrn Dr. Bernd Neese, der großzügig seine privaten
Quellen zur Verfügung stellte und Herrn Dipl.-Ing. Arch. Bert-
hold Bubner, für seine Beratung.
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