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FUTURE PUBLIC SPACE Die Zukunſt des öffentlichen Raums Von Marta Kwiatkowski, Stefan Breit und Leonie almann

FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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Page 1: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

FUTURE PUBLIC SPACEDie Zukunft des oumlffentlichen Raums

Von Marta Kwiatkowski Stefan Breit und Leonie Thalmann

Impressum

AutorenMarta Kwiatkowski Stefan Breit und Leonie Thalmann

KoautorVerfasserAdrian Lobe

LektoratSupertext

LayoutIllustrationJoppe Berlin

GDI Research BoardDavid Bosshart Karin Frick Alain Egli Detlef Guumlrtler Jakub Samochowiec und Christine Schaumlfer

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 RuumlschlikonZuumlrichwwwgdich

In Zusammenarbeit mitETH ZuumlrichInstitut fuumlr LandschaftsarchitekturProf Guumlnther Vogt und Thomas KisslingNeunbrunnenstrasse 50CH-8050 Zuumlrichwwwvogtarchethzch

Im Auftrag vonZentrum Oumlffentlicher Raum (ZORA)Werftestrasse 1CH-6002 Luzernwwwzora-cepch

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 1

Inhalt

02 Summary

05 Vorwort

06 Zur Vermessung von Schweizer Staumldten

13 Warum es den oumlffentlichen Raum nicht gibt

21 Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raumsgt Strukturwandel beeinflusst Gebrauch und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen Raumsgt Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen neue Spielraumlumegt Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimentegt Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend gt Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulatio-

nen dominieren

34 Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen Raum

42 Diskussion und Fazit

43 Anhanggt Glossargt Methodisches Vorgehengt Ausgewaumlhltes Literaturverzeichnisgt Expertinnen und Experten

FUTURE PUBLIC SPACE2

Staumldte werden dichter Immer mehr Menschen muumlssen sich immer weniger Platz teilen Gleichzei-tig wandelt sich der staumldtische Raum Neue Ar-beitswelten veraumlnderte Mobilitaumlt Zielkonflikte zwischen Bewohnern und Touristen oder Struk-turwandel im Handel tragen dazu bei Wird der oumlffentliche Raum wichtiger Und weshalb ist er dies uumlberhaupt

Den oumlffentlichen Raum zu definieren erweist sich als ein schwieriges Unterfangen Das hat primaumlr mit den unterschiedlichen Definitionen zu tun die von Verwaltung Architektur Soziologie und den Nutzern des oumlffentlichen Raums ndash der Oumlffentlich-keit selbst ndash verwendet werden Ein Kriterium das sich jedoch herausstreichen laumlsst ist die Zugaumlng-lichkeit fuumlr alle Doch immer mehr Spielregeln Hausregeln Gebote und Verbote scheinen den oumlf-fentlichen Raum zu bedrohen Er gilt sowohl als Kulisse unserer gesellschaftlichen Inszenierung als auch der Infrastruktur zur Verbindung und Vernetzung des gemeinschaftlichen Lebens Dabei wird schnell klar ganz egal ob der oumlffentliche Raum zu oder abnimmt er veraumlndert sich schnell Die Studie beschreibt fuumlnf Thesen die den oumlffentli-chen Raum in Zukunft deutlich praumlgen duumlrften

DER STRUKTURWANDEL IM HANDEL UND DER MOBILITAumlT VERAumlNDERT DIE NUTZUNG DES

OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Handel praumlgte uumlber Jahrzehnte ndash ja sogar Jahrhunderte ndash unsere Innenstaumldte Einige der prominentesten Strassen der Welt verdanken ihre Bekanntheit ihren exklusiven Laumlden Die Fifth Avenue die Via Montenapoleone die Champs-Eacutelyseacutees oder auch die Bahnhofstrasse in Zuumlrich Doch der Klick-Konsum haumllt Einzug und es ist schneller und bequemer online zu shoppen als sich durch die den Witterungen ausgesetzte La-denzeilen zu schieben Dabei verdankt zum Bei-spiel Bern seine pittoresken - heute bei Touristen

beliebten ndash laquoLaubenraquo dem Handel des Mittelal-ters Auch die Mobilitaumlt steckt mitten in einem Veraumlnderungsprozess Shared Mobility setzt sich bei jungen urbanen Bevoumllkerungsschichten im-mer mehr durch In Kombination mit dem Hoff-nungstraumlger des autonomen Fahrens wird sich das Erscheinungsbild von Mobilitaumlt in der Stadt deutlich veraumlndern Ob dadurch wieder mehr Raum frei wird ist schwer vorherzusagen da die-se neuen Konzepte in starker Abhaumlngigkeit zu an-deren Einflussfaktoren stehen So kommen mit dem autonomen Fahren neue Nutzergruppen ins Spiel die heute nicht am Individualverkehr parti-zipieren wie beispielsweise Hochbetagte oder Kinder Und natuumlrlich wird auch das Pricing im Verhaumlltnis zum oumlffentlichen Verkehr eine dimen-sionierende Rolle spielen

DIE POLARITAumlTEN VON OumlFFENTLICH UND PRIVAT VERWISCHEN IMMER MEHR

Lange hat uns Architektur und Stadtplanung klar identifizierbare Zonen des Privaten und des oumlf-fentlichen eingerichtet Die Normen und Regeln waren eindeutig Doch mittlerweile kaufen Fir-men wie Daimler oder Nike Plaumltze auf die sie zu Urban Entertainment Centern umgestalten Auf oumlffentlichen Plaumltzen stehen sofagleiche Sitzgele-genheiten und man wird mit WLAN versorgt Er-weiterte Realitaumlten erzeugen zudem eine neue hyperindividualisierte Wahrnehmung des oumlffent-lichen Raums Jeder Nutzer dieser Technologie erhaumllt dadurch eine individuelle und damit priva-tisierte Wahrnehmung dieses Raums ndash mit laquofreundlicher Unterstuumltzungraquo von Google Insta-gram und Apple gewissermassen Es entsteht eine personalisierte Oumlffentlichkeit

DAS URBANE GEFUumlHL HAT VERSCHIEDENE GESICHTER

Schweizer Staumldte sind im Vergleich zu internatio-nalen Metropolen Doumlrfer Daher wird auch ein

Summary

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 3

anderes Gefuumlhl von Urbanitaumlt kultiviert als dies in Paris oder Berlin der Fall ist Schweizer Staumldte sind von Kriegen unbeschadet geblieben Das macht sie fuumlr Einheimische lebenswert fuumlr Touristen at-traktiv und fuumlr Investoren kommerziell interes-sant Insgesamt hat diese Anziehungskraft auch hohe Mieten und Preise zur Folge Das etablierte Lebensgefuumlhl fuumlhrt zu einem eher bewahrenden Verhalten Die komfortable Situation soll erhalten bleiben Innovation hat daher wenig Platz Zudem sind die Mieten dafuumlr zu teuer geworden Diese Lock-In Situation fuumlhrt zu einem kreativen Ab-fluss in die Peripherie der Kernstaumldte und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

OumlFFENTLICHER RAUM IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN FREIHEIT UND SICHERHEIT

Unter dem Eindruck von Terrorgefahr und unan-gemessenem Verhalten werden oumlffentliche Raumlume immer mehr uumlberwacht Sich beobachtet zu fuumlh-len fuumlhrt unweigerlich zu einem anderen Verhal-ten ergo einer Unfreiheit Doch mit der Digitalisierung findet ein Shift statt von sichtbarer zu unsichtbarer Uumlberwachung Anstelle der sicht-baren Uumlberwachung durch Videokameras ist die unsichtbare Uumlberwachung in Laternenpfahle oder Smartphones integriert Codierte Menschen die sich uumlber Fitnesstracker und soziale Netzwerke quasi selbst uumlberwachen in einer codierten Stadt die sich selbst optimiert indem Algorithmen die Abfallentsorgung kontrollieren oder die Luftqua-litaumlt messen Der Mensch wird integraler Bestand-teil der Smart City und verschmilzt zu einem neuen Oumlkosystem

VOM REGULATOR ZUM MODERATOR ROLLEN-SHIFT DER STADTVERWALTUNGEN

Ob Zuhause bei der Arbeit oder unterwegs die Menschen sind praktisch immer online Google hilft bei der Navigation durch die Stadt Whats-

App bei der Kommunikation oder Tinder bei der Partnersuche Die Sicht auf unsere Umwelt erfolgt zunehmend durch den Filter einer der Big Seven der Tech Industrie (Google Apple Facebook Amazon Baidu Alibaba und Tencent) Diese glo-balen Player stellen ihre eigenen Hausregeln in Bezug auf die Nutzung ihrer Dienstleistungen auf - werden zu den eigentlichen laquoKreatorenraquo der Staumld-te - womit sie unweigerlich auch auf die Verhal-tensnormen der physischen Umgebung einwirken Diese Nutzungsbedingungen aus Sicht eines Users uumlbertragen sich auf die Rolle als Buumlrger Der Buumlr-ger versteht sich immer mehr als User einer Stadt deren Qualitaumlt und Usability analog TripAdvisor bewertet werden kann Die Verwaltungen der Staumldte finden sich in einem neuen Oumlkosystem wie-der wo sie von einer Rolle des Regulators immer mehr zu einer Rolle des Moderators uumlbergehen

FUTURE PUBLIC SPACE4

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 5

Die oumlffentlichen Raumlume in den Staumldten stellen einen zentralen Faktor fuumlr die Lebensqualitaumlt dar Wer beruflich mit dem oumlffentlichen Raum zu tun hat ist immer wieder mit einer grossen Dynamik und haumlufig unerwarte-ten Entwicklungen konfrontiert sei dies im Nachtleben im Tourismus im Verkehr im Detailhandel im Freizeitverhalten in Kunst und Kultur Die Staumldte muumlssen diese dynamischen Entwicklungen aufnehmen Wer die Zeitraumlume der politischen Ablaumlufe und der Planungsprozesse kennt weiss dass dies nicht immer einfach ist Da liegt der Wunsch in die Zu-kunft blicken zu koumlnnen nahe Nun ist das mit der Zukunft so eine Sache laquoWir stellen uns eben die Zukunft wie einen in einen leeren Raum proji-zierten Reflex der Gegenwart vor waumlhrend sie oft das bereits ganz nahe Ergebnis von Ursachen ist die uns zum groumlszligten Teil entgehenraquo erkannte schon Marcel Proust

Die vorliegende Studie versucht diese Herausforderung greifbar zu ma-chen indem sie erkennbare Entwicklungen in Form von fuumlnf Hypothesen aufzeigt Dass sich dabei durchaus auch widerspruumlchliche Aussagen erge-ben liegt in der Natur der Dinge Die Zukunftsforschung zeigt Trends und Gegentrends auf Nicht immer ist eindeutig welcher sich durchsetzt

Ziel von GDI und ZORA ist es die Verantwortlichen in den Staumldten fuumlr die Herausforderungen die sich aus den aktuellen Entwicklungen erge-ben zu sensibilisieren Getreu dem Grundsatz laquoZukunft passiert nicht wir gestalten sieraquo muumlssen sich die Staumldte daruumlber klar werden ob und wie sie Entwicklungen mitsteuern wollen Die Studie beleuchtet wichtige Handlungsfelder beispielsweise moumlgliche Anspruumlche an die Nutzbarkeit oumlffentlicher Raumlume die Veraumlnderung des Verstaumlndnisses von Oumlffentlich-keit die Verschiebungen im Stadtgefuumlge oder das Spannungsfeld zwi-schen Freiheitswunsch und Sicherheitsbeduumlrfnissen Auch auf die zukuumlnftige Bedeutung unterschiedlicher Akteure geht sie ein

Wir wuumlnschen uns dass diese Studie die Diskussion unter den Akteurin-nen und Akteuren in den Staumldten anregt und dazu fuumlhrt den oumlffentlichen Raum und die wichtigen Zukunftsthemen weit oben auf die Agenda zu setzen

Christoph Baumlttig Vorsitzender laquoZentrum Oumlffentlicher Raumraquo ZORA

Vorwort

FUTURE PUBLIC SPACE6

1 httpswwwbfsadminchbfsdehomestatistikenkataloge-datenbankenmedienmitteilungenassetdetail38618html

2 Bundesamt fuumlr Raumentwicklung Bauzonenstatistik Schweiz 2017

3 httpsnzzasnzzchkulturvittorio-magnago-lampugnaniwie-kann-man-verhindern-dass-die-schweiz-verschandelt-wird-wir-sollten-uns-schoenheit-etwas-kosten-lassen--ld1357554-reduced=true

4 Bundesamt fuumlr Raumentwicklung Bauzonenstatistik Schweiz 2017

Zur Vermessung von Schweizer Staumldten

BEVOumlLKERUNGSWACHSTUM16 Bevoumllkerungswachstum

zwischen 2015 und 2030 und 95 Millionen Einwohner im 20304

STAumlDTE WERDEN DICHTER(jedoch primaumlr ihre Agglomerationen)

59 Millionen resp 73 der Menschen in der Schweiz leben in Agglomerationen 84 der Bevoumllkerung in Gemeinden mit

staumldtischem Charakter auf 41 der Landesflaumlche1

2-3 ist die houmlchste Ausnuumltzungsziffer von Zuumlrich das Verhaumlltnis der Nutzflaumlche

der Gebaumlude zum Grundstuumlck 4-5 ist die Kernziffer fuumlr die Dichte im historischen

Zentrum Roms das wegen seiner urbanen Atmosphaumlre geschaumltzt wird3

75 DER SCHWEIZ IST SIEDLUNGSFLAumlCHE

359 Landwirtschaftsflaumlche313 Waldflaumlche

253 unproduktive Flaumlchen (Gletscher Fels usw)5

URBANER RAUM Weltweit leben 54 der Menschen im

urbanen Siedlungsraum6 Der urbane Raum (Staumldte) belegt jedoch lediglich 2-3 der

Flaumlche der Welt7

+16 54

5 httpswwwareadmincharedehomeraumentwicklung-und-raumplanunggrundlagen-und-datenfakten-und-zahlenraeumliche-bevoelkerungsverteilunghtml

6 httpsdataworldbankorgindicatorSPURBTOTLINZS7 httpbrandondonnellycompost146850094613the-back-

end-of-our-cities

FLAumlCHE DER BAUZONE2

weitere Bauzonen 1

Verkehrszonen innerhalb der Bauzonen 2

Tourismus- und Freizeitzonen 1

Arbeitszonen 14

Wohnzonen 46

eingeschraumlnkte Bauzonen 3

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen 11

Zentrumszonen 11

Mischzonen 11

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 7

8 Kessler Patrick Hochreutener Thomas und Windel Jens On-line- und Versandhandelsmarkt Schweiz 2016 Praumlsentation fuumlr Medienkonferenz am 132017 (anlaumlsslich Veroumlffentlichung der Resultate der Gesamtmarkterhebung fuumlr Online- und Versand-handel des VSV GfK und der Post) S13

9 EbdS1510 Wuest amp Partner 201811 GfK Markt Monitor 2017 S8312 httpwwwmobilitaetbschgesamtverkehrverkehrskennzah-

lenparkplatzkatasterhtml

Wertmaumlssige Anteile des Online-Versandhandels am Schweizer Detailhandel8

16 17 18 19

113 123 137153

16

101

Food Non-Food

2012 2013 2014 2015 2016

in

NUTZUNGSANSPRUumlCHEBis zum Jahr 2020 moumlchte Basel durch

Parkplaumltze frei gewordene Flaumlchen um 10 (gguuml 2000) zugunsten von Spielraumlumen und

anderen Nutzungsanspruumlchen senken15

VERAumlNDERTE MOBILITAumlTSKONZEPTE (Beispiel Stadt Basel)

302rsquo478m2 Flaumlche Autoparkplaumltze (-16)19rsquo862m2 Flaumlche Veloparkplaumltze12

307rsquo351m2 Flaumlche Autoparkplaumltze 18rsquo373m2 Flaumlche Veloparkplaumltze

2015

2017

AUTONOME FAHRZEUGE SPAREN BIS ZU 20 FLAumlCHE

Experten schaumltzen dass mit autonomen Fahrzeugen bis zu 20 Flaumlche eingespart

werden kann13 Jedoch nur wenn die bishe-rigen Nutzer oumlffentlicher Transportmittel

nicht auf Automobile umsteigen14

+10

13 httpswwwvoxcomanew-economy-futurecars-cities-tech-nologies

14 httpswwwmapcorgfarechoices15 Regierungsrat des Kantons Stadt Basel laquoRatschlag und Be-

richt Kantonale Volksinitiative Ja zu Parkraum auf privatem Grund und laquoGegenvorschlag fuumlr eine Anpassung des Bau- und Planungsgesetzes betreffend Abstellplaumltze fuumlr Fahrzeugeraquo Re-gierungsratsbeschluss vom 10 Mai 2011 Basel

VOM BOOM DER LADENFLAumlCHEN699 Quadratmeter Flaumlche umfasste ein La-den im Schnitt im Jahr 2017 1980 lag dieser Wert noch bei 172 Quadratmetern Gemaumlss

GfK geht dieser Trend jedoch wieder in Richtung kleinere Ladenformate11

699 M2

DER HANDEL VERSCHIEBT SICH Waumlhrend der Non-Food Konsum im

stationaumlren Handel sinkt waumlchst er im Online- und Versandhandel9

02

-145

03

-045

055

-115

035

-115

05

-25

05

-19

2011 2012 2013 2014 2015 2016

0

Non-Food Online

Non-Food Stationaumlr

in

FLAumlCHENBOOM Im Flaumlchenboom der letzten 20 Jahre

(Kernstaumldte 1995-2015) hat sich der Druck des Onlinehandels noch nicht bemerkbar

gemacht Gesamtschweizerisch haben die Handelsflaumlchen um 28 zugenommen

(Zuumlrich +36 Luzern +15)10

FUTURE PUBLIC SPACE8

Warum es den oumlffentlichen Raum nicht gibt

laquoEine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig

sie ist vielleicht gar keine OumlffentlichkeitraquoJUumlRGEN HABERMAS PHILOSOPH

Umstrittene DefinitionWas ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt Eine ab-schliessend richtige Definition gibt es nicht Zu vielfaumlltig sind die Vorstellungen vom oumlffentlichen Raum zu unterschiedlich die Anspruumlche Klar scheint jedoch dass sich der oumlffentliche Raum in erster Linie durch Zugaumlnglichkeit kennzeichnet laquoDer oumlffentliche Raum kann verstanden werden als ein allgemein zugaumlnglicher Bereich in dem Menschen ohne Beschraumlnkungen ein- und ausge-hen Die Menschen bewegen sich in diesem Be-reich frei Zufaumlllig oder geplant begegnen wir uns hier Der oumlffentliche Raum ist offen und wird be-grenzt von dessen Gegensatz dem nicht allgemein zugaumlnglichen Bereich Daher verlangt der oumlffentli-che Raum um als solcher wahrgenommen zu werden auch ein Gegenstuumlck das Privateraquo16 Auch Juumlrgen Habermas stellt das Zugangskriterium in den Vordergrund laquoDie buumlrgerliche Oumlffentlichkeit steht und faumlllt mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs Eine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig sie ist vielleicht gar keine Oumlffentlichkeitraquo17 Treibt man dieses Kriterium der Zugaumlnglichkeit noch etwas weiter und uumlbersetzt es sprachlich in die Gegenwart so ist der oumlffentli-che Raum rund um die Uhr zugaumlnglich nicht uumlberwacht ndash und man kann sich dort laumlnger als ein paar Minuten aufhalten ohne weggewiesen zu werden Folgt man der Definition der Zugaumlnglich-keit so kann man leicht den Schluss ziehen dass der oumlffentliche Raum bedroht ist Der Zugang wird immer mehr vordefiniert es gibt immer we-niger nicht uumlberwachte oder unbewachte Raumlume ndash und an vielen Orten herrscht Konsumzwang

Fazit Es gibt nicht nur keine abschliessend richti-ge Definition des oumlffentlichen Raums ndash auch unser Verstaumlndnis des oumlffentlichen Raums ist nicht kon-stant

Diskussionen uumlber den oumlffentlichen Raum werden in Europa besonders heftig gefuumlhrt Das ist nicht weiter erstaunlich weil der oumlffentliche Raum in diesem Kulturkreis an den Mythos der griechi-schen Polis anknuumlpft in der sich auf der Agora Menschen frei versammelten und in politischen Austausch traten Aber das ist eine idealisierte Vorstellung Im Griechenland der Antike waren ndash genau wie in der europaumlischen Stadt der Moder-ne ndash stets auch grosse Gruppen von der Oumlffent-lichkeit der Raumlume ausgeschlossen18

Der oumlffentliche Raum moderner Praumlgung ent-stand im 19 Jahrhundert als in Staumldten oumlffentli-che Parks und Plaumltze angelegt wurden wie zum Beispiel der Hyde Park in London oder der Cen-tral Park in New York19

16 Guido Brendgens Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simu-lierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (Dezember 2005) S 1088ndash1097

17 Juumlrgen Habermas Strukturwandel der Oumlffentlichkeit 1990 S 156

18 Jan Wehrheim Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

19 Carsten Benke (2004) Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht In Die alte Stadt 31 Jahrgang

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 9

FUTURE PUBLIC SPACE10

20 Hans Paul Bahrt Umwelterfahrung Muumlnchen 1974 S 35

Ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt wichtig

Das allgemeine Wehklagen uumlber den Verlust des oumlffentlichen Raums beantwortet nicht die Frage warum dieser uumlberhaupt wichtig ist Welche strukturellen Vorteile hat der oumlffentliche Raum gegenuumlber dem privaten Generell laumlsst sich sagen dass durch die geforderte Verdichtung in den Staumldten der oumlffentliche Raum fuumlr die Allgemein-heit wichtiger wird Er dient als Kompensations-raum fuumlr Aktivitaumlten die im engeren privaten Raum nicht ausgefuumlhrt werden koumlnnen Gleich-zeitig druumlckt sich darin auch die Lebensqualitaumlt der Bewohner aus ndash zum Beispiel durch Freizeit-aktivitaumlten die im privaten Raum nur einge-schraumlnkt moumlglich sind Der oumlffentliche Raum laumlsst sich auf verschiedene Arten nutzen ndash beispielswei-se als Erholungsraum als Konsumraum als Ver-kehrsraum oder als Kommunikationsraum Diese Multifunktionalitaumlt ist fuumlr den oumlffentlichen Raum bestimmend laquoStrassen und Plaumltze die typischer-weise von Angehoumlrigen ganz verschiedener Bevoumll-kerungsschichten zu verschiedenen Zwecken gut verteilt uumlber den Tag und den Abend aufgesucht werden zeigen genau das was wir oumlffentliches Le-ben auf der untersten anschaulichsten lokalen Ebene nennen naumlmlich das Rendezvous der Ge-sellschaft mit sich selbst20 Der oumlffentliche Raum ist also ein Ort an dem sich unterschiedliche Menschen begegnen koumlnnen um miteinander zu interagieren und wodurch laquodas Neueraquo entstehen und auch werden kann Er ist ebenso Ort politi-scher Manifestationen sowie des offenen Diskur-ses Viele dieser politischen Manifestationen spielen sich auf zentralen Plaumltzen ab wie zB dem Tahrir-Platz in Kairo waumlhrend des Arabischen Fruumlhlings Der Maidan-Platz in Kiew ist sogar zum Namensgeber ndash Euromaidan ndash der Buumlrger-proteste in der Ukraine geworden die zwischen

dem 21 November 2013 und dem 26 Februar 2014 in der Ukraine stattgefunden habenVerstaumlrkt durch die digitalen Medien und sozia-len Netzwerke verbreiten sich die Anliegen heute rasend schnell Das prominenteste Beispiel dafuumlr ist die Occupy-Bewegung die nicht nur in New York City zum Ausdruck kam sondern sich welt-weit in Staumldten verbreitete

OCCUPYWALLSTREET laquoAre you ready for a Tahrir moment On Sept 17 flood into lower Manhattan

set up tents kitchens peaceful barricades and occupy Wall Streetraquo

ADBUSTERS-WEBSITE AM 13 JULI 2011

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 11

21 Jan Wernheim22 Martina Loumlw Raumsoziologie 200023 Christian Schmid Raum und Regulation Henri Lefebvre und

der Regulationsansatz In Ulrich Brand und Werner Raza (Hrsg) Fit fuumlr den Postfordismus Theoretisch-politische Per-spektiven des Regulationsansatzes Muumlnster Westfaumllisches Dampfboot 2003 S 224

Oumlffentlicher Raum wird ausgehandelt

laquoDie Strasse die der Urbanismus geometrisch festlegt wird durch die Gehenden in einen Raum verwandeltraquo

MICHEL DE CERTEAU SOZIOLO GE HISTORIKER UND KULTURPHILOSOPH

An den oumlffentlichen Raum werden die unterschied-lichsten Anforderungen gestellt Die Nutzungsinte-ressen variieren je nach Milieuzugehoumlrigkeit und reichen von kulturellen Angeboten uumlber Gruumln- und Erholungsflaumlchen bis hin zur Luftreinhaltung Die Qualitaumlt des oumlffentlichen Raums laumlsst sich daher nur bedingt an quantitativen Kriterien wie Luft-qualitaumlt Verkehrsaufkommen Laumlrmbelastung oder Kriminalitaumlt messen Die Nutzung des oumlffentlichen Raums unterliegt einer konstanten Verhandlung mit dauerhafter Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Interessensgruppen Phaumlnomene wie bei-spielsweise das Public Viewing von Sport- und Kul-turveranstaltungen haben sich erst in den vergangenen Jahren entwickelt und stellen ganz neue Nutzungsvarianten fuumlr den oumlffentlichen Raum dar Auch das Smartphone-Game laquoPokeacutemon Goraquo bei dem die Nutzer auf der Jagd nach virtuellen Monstern Plaumltze bevoumllkerten und die entlegensten Orte aufsuchten veraumlndert die Nutzung des oumlffent-lichen Raums und kann als eine Art Neuentde-ckung des Stadtraums bezeichnet werden

Der oumlffentliche Raum wird zuweilen als ein laquophy-sischer Raumraquo betrachtet der von Stadtplanern und Architekten spezifisch laquoals Behaumllter fuumlr Ge-sellschaft und bestimmbares soziales Handelnraquo21 geschaffen wird Raum existiert indessen nicht per se sondern entsteht durch Handlung Wahr-nehmung und Vorstellung der einzelnen Nutzer Raum ist somit nicht ein laquoBehaumlltnisraquo in dem das Leben unberuumlhrt von ihm stattfindet sondern

vielmehr ein gesellschaftliches Produkt das aus den vielschichtigen Beziehungen zwischen den Nutzern und der gebauten Umwelt entsteht Raumlu-me werden auch uumlber die Atmosphaumlre definiert Beispiele dafuumlr sind etwa die sakrale Aura einer Kirche die erholsame Stimmung eines Parks oder das edle Ambiente eines Restaurants22 Was wir erfahren ist somit kein physischer Raum der sich statisch verhaumllt wie ein Modell sondern ein Raum der sich staumlndig veraumlndert den wir jeden Moment neu wahrnehmen ndash eingefaumlrbt durch unsere Erin-nerung und Vorstellung Ein Raum laumlsst sich nur dann wahrnehmen wenn er zuvor gedanklich konzipiert worden ist Somit entstehen Konstruk-tionen und Konzeptionen des oumlffentlichen Raums die sich auf gesellschaftliche Konventionen stuumlt-zen mit der Produktion von Wissen verbunden und mit Machtstrukturen verknuumlpft sind Beim gedanklich konzipierten Raum handelt es sich um eine Darstellung die den Raum abbildet und defi-niert Diese Darstellung entsteht auf der Ebene des Diskurses der Sprache als solcher und um-fasst im engsten Sinne verbalisierte Formen z B Beschreibungen oder Definitionen aber auch Karten und Plaumlne sowie Informationen durch Bil-der und Zeichen Im weiteren Sinne umfasst die Repraumlsentation des Raums auch gesellschaftliche Regeln und eine Ethik23 Aus der gedanklichen Konstruktion von Staumldten erwachsen stets auch neue Idealbilder und Wunschvorstellungen

FUTURE PUBLIC SPACE12

Die Stadt als idealisierte Projektionsflaumlche

Der oumlffentliche Raum dient als Projektionsflaumlche fuumlr Ideen Bilder und Wuumlnsche ndash aber auch fuumlr Utopien Er ist ein Moumlglichkeitsraum in dem sich mit Idealen etwa mit bestimmten Wohnformen (zB Co-Housing) experimentieren laumlsst Diese Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt der Staumldte wo es stets auch um prak-tische Nutzungsperspektiven geht

Die Stadt als Ort des offenen Diskurses und der freien Zusammenkunft wird nicht selten verklaumlrt und romantisiert In Grossbritannien werden die roten gusseisernen Telefonzellen ndash ein Lieblings-gegenstand der Populaumlrkultur und laumlngst Teil des urbanen Inventars ndash neuen Nutzungen zuge-fuumlhrt24 Die Telefonzelle hat im Zeitalter des Smartphones zwar ausgedient wird aber zumin-dest in der aumlusseren Form weiter in Betrieb gehal-ten Damit bedient sie eine Sehnsucht nach jener Zeit als Telefonleitungen die Verbindungsrelais fuumlr das gesamte Empire waren

Die Stadt bleibt ein Sehnsuchtsort Gleichzeitig ist ndash gewissermassen antithetisch ndash aber auch eine Entromantisierung der Stadt festzustellen Staumldte werden assoziiert mit Dreck Muumlll Laumlrm Smog und anderen Emissionen Diese Faktoren gehoumlren zur Stadt wie Haumluser und Bewohner werden aber

durch Idealisierung und Verklaumlrung ausgeblen-det Es gibt Muumlllhauptstaumldte (Neapel) Laumlrm-hauptstaumldte (Mannheim Kairo) Stauhauptstaumldte (Jakarta) und Feinstaubhauptstaumldte (Stuttgart) Solche wenig schmeichelhaften Zuschreibungen die in zahlreichen Rankings auf eine quantifizie-rende Grundlage gestellt werden kratzen am Image der Staumldte In der Schweiz gilt Genf als Stauhauptstadt Bern wird in den Medien zuwei-len als Diebstahlhochburg apostrophiert und Zuuml-rich gilt ndash mit einem 3 Rang im europaweiten Ranking ndash gemeinhin als Kokainhauptstadt der Schweiz Die Quantifizierung des Sozialen25 er-streckt sich auch auf Staumldte die ja vor allem auch ein soziales System konstituieren Beginnt die Stadt als Erfolgsmodell bruumlchig zu werden26

Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt

der Staumldte wo es stets auch um praktische Nutzungs-

perspektiven geht

24 Die Betreiberfirma BT hat das Programm laquoAdopt a Kioskraquo lan-ciert bei dem ausrangierte Telefonzellen zum symbolischen Preis von einem Pfund erworben werden koumlnnen 3500 Ge-meinden haben nach Konzernangaben davon bereits Gebrauch gemacht In Schottland wurde eine Telefonzelle in eine Mini-Bibliothek umfunktioniert in London wurde eine andere zum Kiosk

25 Stefen Mau (2017) Das metrische Wir Uumlber die Quantifizie-rung des Sozialen

26 Richard Florida (2017) The New Urban Crisis

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 13Wofuumlr Flaumlche im Verhaumlltnis pro Einwohner verwendet wird

Quellen Bundesamt fuumlr Statistik Eidg Volkszaumlhlungen 1970 1980 1990 und 2000 (harmonisierte Daten) Bundesamt fuumlr Statistik Statistik des jaumlhrlichen Bevoumllkerungsstandes (ESPOP) 1995 2005 Bundesamt fuumlr Statistik Statistik der Bevoumllkerung und der Haushalte (STATPOP) 2010-2016 Definition der staumlndigen

Wohnbevoumllkerung und des Wohnsitzbegriffs gemaumlss STATPOP Wuest amp Partner 2018 Planungsbuumlro Jud 2017

Bruttogeschossflaumlche pro Einwohner im 2015

Die Verkehrsflaumlche bezieht sich auf die Agglomeration im Jahr 2014

KernstadtAgglomeration

20151970

Staumlndige Wohnbevoumllkerung

St Gallen

80K 144K 76K 166K

Winterthur

92K 107K108K 138K

Luzern

82K 173K81K 226K

Bern

160K 357K132K 411K

Basel

209K 480K170K 541K

Zuumlrich

416K 966K

397K 1334K

FUTURE PUBLIC SPACE14

Sonderposition SchweizDie Schweiz befindet sich im Spannungsfeld die-ser Entwicklungen in einer Sonderposition Sie ist klein beinahe uumlberschaubar und steht auf einem stabilen politischen sozialen und oumlkonomischen Fundament Dank einem breiten Mittelstand und gut bezahlten Mittelschichtjobs ist die Gefahr ei-ner Einkommenspolarisierung ndash zumindest ge-genwaumlrtig ndash deutlich geringer als in anderen Laumlndern oder Regionen

Wegen des starken Wachstums im Silicon Valley hat San Francisco mittlerweile einen houmlheren Gi-ni-Index als Brasilien Schweizer Staumldte erfahren nicht denselben Wachstums- und Verdichtungs-druck wie andere Staumldte in Europa sie bewegen sich praktisch nicht Und das wird sich ndash sowohl im Hinblick auf die Infrastruktur als auch auf das Verhalten einer aumllter werdenden Bevoumllkerung ndash auch nicht so rasch aumlndern Entgegen dem globa-len Trend ist die staumlndige Wohnbevoumllkerung in Staumldten wie Basel Bern oder Zuumlrich in den ver-gangenen Jahrzehnten nur leicht gestiegen In Zuuml-rich wuchs die Wohnbevoumllkerung von 363 000 im Jahr 2000 auf 397 000 Einwohner im Jahr 2015 was einer Veraumlnderung von 142 Prozent ent-spricht In Basel stieg die Einwohnerzahl im glei-chen Zeitraum um lediglich 37 Prozent von 167 000 auf 170 000 Dies veranschaulicht dass die Schweizer Staumldte im Verglichen mit den neuen schnell wachsenden Megacitys ein anderes Ver-haumlltnis zu Wachstum und Dichte haben und da-mit auch andere Herausforderungen

Die neue Vernetzung der StaumldtelaquoThe supply of everything can meet demand for

anything anything or anyone can get nearly anywhereraquoPAR AG KHANNA POLITIKWISSENSCHAFTLER

UND PUBLIZIST

Durch den globalen Handel entsteht eine in der Geschichte noch nie da gewesene Konnektivitaumlt der Staumldte Diese starke Vernetzung fuumlhrt zu einer neuen Geografie der sogenannten laquoKonnektogra-fieraquo in welcher Grenzen Herkunft und staatliche Regulative immer weniger wichtig werden Der paradigmatische Ort fuumlr diese neue Landkarte ist Dubai 90 Prozent der Bevoumllkerung kommt aus dem Ausland die Steuern sind niedrig die Expor-te hoch laquoThe supply of everything can meet de-mand for anything anything or anyone can get nearly anywhereraquo27 Radikal verkuumlrzt Alles und alle koumlnnen uumlberallhin gehen Die laquoKonnektogra-fieraquo kann auch auf die Schweiz heruntergebrochen werden Als Nichtmitglied der EU spielt das Land im internationalen System zwar eine Sonderrolle die Schweizer Staumldte sind aber dennoch in ein glo-bales Geflecht eingewoben Die Digitalisierung macht auch vor dem kleinsten Dorf nicht halt Das Internet eroumlffnet einerseits neue Wettbe-werbsmoumlglichkeiten ndash so wurde beispielsweise die virtuelle Waumlhrung Ethereum in Zug program-miert ndash andererseits entstehen neue Verwundbar-keiten etwa durch Hackerangriffe auf smarte Staumldte

Aus raumplanerischer Sicht ist die Schweiz ein einziges urbanes System ndash zumindest zwischen dem Bodensee und Genf die Unterschiede zwi-schen Stadt und Land sind obsolet Aus gesell-

27 Parag Khanna (2016) Connectography Mapping the Global Network Revolution

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 15

schaftlicher Sicht jedoch sind diese Kategorien noch nicht uumlberwunden im Gegenteil Zu starr sind die unterschiedlichen Einstellungen Werte und Lebensstile der staumldtischen und der laumlndli-chen Bevoumllkerung Dennoch ist klar dass oumlffentli-che Raumlume keine Grenzen kennen Die Schweiz ist ein einziges urbanes System inmitten eines einzi-gen urbanen Systems namens Welt In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne ndash etwa bei der Standortwahl fuumlr neue Forschungs- und Entwicklungszentren Im Ge-baumlude der ehemaligen Zuumlrcher Sihlpost hat Goog-le einen neuen Hub eroumlffnet Bis 2021 sollen in der Limmatstadt weitere 2000 Google-Mitarbeiter be-schaumlftigt werden28 ndash neben den 2000 laquoZooglernraquo aus 75 Nationen die schon heute auf dem Huumlrli-mann-Areal arbeiten Das beweist dass die Mitar-beiter des Unternehmens als laquoAnywheresraquo eine flexible transportable Identitaumlt besitzen

Anders als die Landwirtschaft oder die verarbei-tende Industrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen fuumlr Aumlcker und Fabriken sondern vor allem gut ausgebildete mobile Men-schen und hochgeruumlstete Laboratorien Im Ge-gensatz zur ersten industriellen Revolution wo die Fabriken mit ihren rauchenden Kaminen am Stadtrand hochgezogen wurden kehren die Tech-nologiefirmen in die Zentren zuruumlck Amazon hat sich an seinem Hauptstandort Seattle mit zahlrei-chen Ausbauten ndash darunter die neue Firmenzent-

28 httpswwwnzzchzuerichgoogle-in-zuerich-innovationen-made-in-zurich-ld140285

29 httpswwwtheatlanticcomtechnologyarchive201709the-great-thing-about-apple-christening-their-stores-town-squares539667

rale laquoThe Spheresraquo mit drei gewaumlchshausaumlhnlichen Glaskuppeln ndash zu einer Stadt in der Stadt verdich-tet Und Apple nennt seine ikonischen Apple Stores kuumlnftig laquoTown Squareraquo (Marktplatz) und unterstreicht damit den urbanen Charakter seiner Laumlden29 Gleichzeitig findet eine Ruumlckkehr zur Company Town statt wie man sie aus der An-fangszeit der Industrialisierung kennt Der Schuh-lieferant Zappos liess mitten in Las Vegas fuumlr 350 Millionen Dollar ein eigenes Staumldtchen mit einem Unterhaltungskomplex und einem Hotel bauen Facebook enthuumlllte juumlngst Plaumlne fuumlr den Bau des neuen Willow Campus In dieser hippen hoch technisierten Idylle pendeln die Mitarbeiter zwi-schen veganen Cafeacutes und Co-Working-Spaces ndash und kontrollieren einander im Rahmen einer Art Nachbarschaftshilfe gegenseitig Aumlhnliche Sied-lungen liess einst der deutsche Industrielle Alfred Krupp in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Fa-briken bauen

In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz

mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne

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DATENSTAU

DATENHIGHWAY

Smart City500GB

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17

Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

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Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

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Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21

der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23

die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

FUTURE PUBLIC SPACE26

40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 27

FUTURE PUBLIC SPACE28

Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 29

41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

FUTURE PUBLIC SPACE30

laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 31

Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 33

strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 2: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

Impressum

AutorenMarta Kwiatkowski Stefan Breit und Leonie Thalmann

KoautorVerfasserAdrian Lobe

LektoratSupertext

LayoutIllustrationJoppe Berlin

GDI Research BoardDavid Bosshart Karin Frick Alain Egli Detlef Guumlrtler Jakub Samochowiec und Christine Schaumlfer

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 RuumlschlikonZuumlrichwwwgdich

In Zusammenarbeit mitETH ZuumlrichInstitut fuumlr LandschaftsarchitekturProf Guumlnther Vogt und Thomas KisslingNeunbrunnenstrasse 50CH-8050 Zuumlrichwwwvogtarchethzch

Im Auftrag vonZentrum Oumlffentlicher Raum (ZORA)Werftestrasse 1CH-6002 Luzernwwwzora-cepch

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 1

Inhalt

02 Summary

05 Vorwort

06 Zur Vermessung von Schweizer Staumldten

13 Warum es den oumlffentlichen Raum nicht gibt

21 Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raumsgt Strukturwandel beeinflusst Gebrauch und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen Raumsgt Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen neue Spielraumlumegt Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimentegt Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend gt Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulatio-

nen dominieren

34 Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen Raum

42 Diskussion und Fazit

43 Anhanggt Glossargt Methodisches Vorgehengt Ausgewaumlhltes Literaturverzeichnisgt Expertinnen und Experten

FUTURE PUBLIC SPACE2

Staumldte werden dichter Immer mehr Menschen muumlssen sich immer weniger Platz teilen Gleichzei-tig wandelt sich der staumldtische Raum Neue Ar-beitswelten veraumlnderte Mobilitaumlt Zielkonflikte zwischen Bewohnern und Touristen oder Struk-turwandel im Handel tragen dazu bei Wird der oumlffentliche Raum wichtiger Und weshalb ist er dies uumlberhaupt

Den oumlffentlichen Raum zu definieren erweist sich als ein schwieriges Unterfangen Das hat primaumlr mit den unterschiedlichen Definitionen zu tun die von Verwaltung Architektur Soziologie und den Nutzern des oumlffentlichen Raums ndash der Oumlffentlich-keit selbst ndash verwendet werden Ein Kriterium das sich jedoch herausstreichen laumlsst ist die Zugaumlng-lichkeit fuumlr alle Doch immer mehr Spielregeln Hausregeln Gebote und Verbote scheinen den oumlf-fentlichen Raum zu bedrohen Er gilt sowohl als Kulisse unserer gesellschaftlichen Inszenierung als auch der Infrastruktur zur Verbindung und Vernetzung des gemeinschaftlichen Lebens Dabei wird schnell klar ganz egal ob der oumlffentliche Raum zu oder abnimmt er veraumlndert sich schnell Die Studie beschreibt fuumlnf Thesen die den oumlffentli-chen Raum in Zukunft deutlich praumlgen duumlrften

DER STRUKTURWANDEL IM HANDEL UND DER MOBILITAumlT VERAumlNDERT DIE NUTZUNG DES

OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Handel praumlgte uumlber Jahrzehnte ndash ja sogar Jahrhunderte ndash unsere Innenstaumldte Einige der prominentesten Strassen der Welt verdanken ihre Bekanntheit ihren exklusiven Laumlden Die Fifth Avenue die Via Montenapoleone die Champs-Eacutelyseacutees oder auch die Bahnhofstrasse in Zuumlrich Doch der Klick-Konsum haumllt Einzug und es ist schneller und bequemer online zu shoppen als sich durch die den Witterungen ausgesetzte La-denzeilen zu schieben Dabei verdankt zum Bei-spiel Bern seine pittoresken - heute bei Touristen

beliebten ndash laquoLaubenraquo dem Handel des Mittelal-ters Auch die Mobilitaumlt steckt mitten in einem Veraumlnderungsprozess Shared Mobility setzt sich bei jungen urbanen Bevoumllkerungsschichten im-mer mehr durch In Kombination mit dem Hoff-nungstraumlger des autonomen Fahrens wird sich das Erscheinungsbild von Mobilitaumlt in der Stadt deutlich veraumlndern Ob dadurch wieder mehr Raum frei wird ist schwer vorherzusagen da die-se neuen Konzepte in starker Abhaumlngigkeit zu an-deren Einflussfaktoren stehen So kommen mit dem autonomen Fahren neue Nutzergruppen ins Spiel die heute nicht am Individualverkehr parti-zipieren wie beispielsweise Hochbetagte oder Kinder Und natuumlrlich wird auch das Pricing im Verhaumlltnis zum oumlffentlichen Verkehr eine dimen-sionierende Rolle spielen

DIE POLARITAumlTEN VON OumlFFENTLICH UND PRIVAT VERWISCHEN IMMER MEHR

Lange hat uns Architektur und Stadtplanung klar identifizierbare Zonen des Privaten und des oumlf-fentlichen eingerichtet Die Normen und Regeln waren eindeutig Doch mittlerweile kaufen Fir-men wie Daimler oder Nike Plaumltze auf die sie zu Urban Entertainment Centern umgestalten Auf oumlffentlichen Plaumltzen stehen sofagleiche Sitzgele-genheiten und man wird mit WLAN versorgt Er-weiterte Realitaumlten erzeugen zudem eine neue hyperindividualisierte Wahrnehmung des oumlffent-lichen Raums Jeder Nutzer dieser Technologie erhaumllt dadurch eine individuelle und damit priva-tisierte Wahrnehmung dieses Raums ndash mit laquofreundlicher Unterstuumltzungraquo von Google Insta-gram und Apple gewissermassen Es entsteht eine personalisierte Oumlffentlichkeit

DAS URBANE GEFUumlHL HAT VERSCHIEDENE GESICHTER

Schweizer Staumldte sind im Vergleich zu internatio-nalen Metropolen Doumlrfer Daher wird auch ein

Summary

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 3

anderes Gefuumlhl von Urbanitaumlt kultiviert als dies in Paris oder Berlin der Fall ist Schweizer Staumldte sind von Kriegen unbeschadet geblieben Das macht sie fuumlr Einheimische lebenswert fuumlr Touristen at-traktiv und fuumlr Investoren kommerziell interes-sant Insgesamt hat diese Anziehungskraft auch hohe Mieten und Preise zur Folge Das etablierte Lebensgefuumlhl fuumlhrt zu einem eher bewahrenden Verhalten Die komfortable Situation soll erhalten bleiben Innovation hat daher wenig Platz Zudem sind die Mieten dafuumlr zu teuer geworden Diese Lock-In Situation fuumlhrt zu einem kreativen Ab-fluss in die Peripherie der Kernstaumldte und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

OumlFFENTLICHER RAUM IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN FREIHEIT UND SICHERHEIT

Unter dem Eindruck von Terrorgefahr und unan-gemessenem Verhalten werden oumlffentliche Raumlume immer mehr uumlberwacht Sich beobachtet zu fuumlh-len fuumlhrt unweigerlich zu einem anderen Verhal-ten ergo einer Unfreiheit Doch mit der Digitalisierung findet ein Shift statt von sichtbarer zu unsichtbarer Uumlberwachung Anstelle der sicht-baren Uumlberwachung durch Videokameras ist die unsichtbare Uumlberwachung in Laternenpfahle oder Smartphones integriert Codierte Menschen die sich uumlber Fitnesstracker und soziale Netzwerke quasi selbst uumlberwachen in einer codierten Stadt die sich selbst optimiert indem Algorithmen die Abfallentsorgung kontrollieren oder die Luftqua-litaumlt messen Der Mensch wird integraler Bestand-teil der Smart City und verschmilzt zu einem neuen Oumlkosystem

VOM REGULATOR ZUM MODERATOR ROLLEN-SHIFT DER STADTVERWALTUNGEN

Ob Zuhause bei der Arbeit oder unterwegs die Menschen sind praktisch immer online Google hilft bei der Navigation durch die Stadt Whats-

App bei der Kommunikation oder Tinder bei der Partnersuche Die Sicht auf unsere Umwelt erfolgt zunehmend durch den Filter einer der Big Seven der Tech Industrie (Google Apple Facebook Amazon Baidu Alibaba und Tencent) Diese glo-balen Player stellen ihre eigenen Hausregeln in Bezug auf die Nutzung ihrer Dienstleistungen auf - werden zu den eigentlichen laquoKreatorenraquo der Staumld-te - womit sie unweigerlich auch auf die Verhal-tensnormen der physischen Umgebung einwirken Diese Nutzungsbedingungen aus Sicht eines Users uumlbertragen sich auf die Rolle als Buumlrger Der Buumlr-ger versteht sich immer mehr als User einer Stadt deren Qualitaumlt und Usability analog TripAdvisor bewertet werden kann Die Verwaltungen der Staumldte finden sich in einem neuen Oumlkosystem wie-der wo sie von einer Rolle des Regulators immer mehr zu einer Rolle des Moderators uumlbergehen

FUTURE PUBLIC SPACE4

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 5

Die oumlffentlichen Raumlume in den Staumldten stellen einen zentralen Faktor fuumlr die Lebensqualitaumlt dar Wer beruflich mit dem oumlffentlichen Raum zu tun hat ist immer wieder mit einer grossen Dynamik und haumlufig unerwarte-ten Entwicklungen konfrontiert sei dies im Nachtleben im Tourismus im Verkehr im Detailhandel im Freizeitverhalten in Kunst und Kultur Die Staumldte muumlssen diese dynamischen Entwicklungen aufnehmen Wer die Zeitraumlume der politischen Ablaumlufe und der Planungsprozesse kennt weiss dass dies nicht immer einfach ist Da liegt der Wunsch in die Zu-kunft blicken zu koumlnnen nahe Nun ist das mit der Zukunft so eine Sache laquoWir stellen uns eben die Zukunft wie einen in einen leeren Raum proji-zierten Reflex der Gegenwart vor waumlhrend sie oft das bereits ganz nahe Ergebnis von Ursachen ist die uns zum groumlszligten Teil entgehenraquo erkannte schon Marcel Proust

Die vorliegende Studie versucht diese Herausforderung greifbar zu ma-chen indem sie erkennbare Entwicklungen in Form von fuumlnf Hypothesen aufzeigt Dass sich dabei durchaus auch widerspruumlchliche Aussagen erge-ben liegt in der Natur der Dinge Die Zukunftsforschung zeigt Trends und Gegentrends auf Nicht immer ist eindeutig welcher sich durchsetzt

Ziel von GDI und ZORA ist es die Verantwortlichen in den Staumldten fuumlr die Herausforderungen die sich aus den aktuellen Entwicklungen erge-ben zu sensibilisieren Getreu dem Grundsatz laquoZukunft passiert nicht wir gestalten sieraquo muumlssen sich die Staumldte daruumlber klar werden ob und wie sie Entwicklungen mitsteuern wollen Die Studie beleuchtet wichtige Handlungsfelder beispielsweise moumlgliche Anspruumlche an die Nutzbarkeit oumlffentlicher Raumlume die Veraumlnderung des Verstaumlndnisses von Oumlffentlich-keit die Verschiebungen im Stadtgefuumlge oder das Spannungsfeld zwi-schen Freiheitswunsch und Sicherheitsbeduumlrfnissen Auch auf die zukuumlnftige Bedeutung unterschiedlicher Akteure geht sie ein

Wir wuumlnschen uns dass diese Studie die Diskussion unter den Akteurin-nen und Akteuren in den Staumldten anregt und dazu fuumlhrt den oumlffentlichen Raum und die wichtigen Zukunftsthemen weit oben auf die Agenda zu setzen

Christoph Baumlttig Vorsitzender laquoZentrum Oumlffentlicher Raumraquo ZORA

Vorwort

FUTURE PUBLIC SPACE6

1 httpswwwbfsadminchbfsdehomestatistikenkataloge-datenbankenmedienmitteilungenassetdetail38618html

2 Bundesamt fuumlr Raumentwicklung Bauzonenstatistik Schweiz 2017

3 httpsnzzasnzzchkulturvittorio-magnago-lampugnaniwie-kann-man-verhindern-dass-die-schweiz-verschandelt-wird-wir-sollten-uns-schoenheit-etwas-kosten-lassen--ld1357554-reduced=true

4 Bundesamt fuumlr Raumentwicklung Bauzonenstatistik Schweiz 2017

Zur Vermessung von Schweizer Staumldten

BEVOumlLKERUNGSWACHSTUM16 Bevoumllkerungswachstum

zwischen 2015 und 2030 und 95 Millionen Einwohner im 20304

STAumlDTE WERDEN DICHTER(jedoch primaumlr ihre Agglomerationen)

59 Millionen resp 73 der Menschen in der Schweiz leben in Agglomerationen 84 der Bevoumllkerung in Gemeinden mit

staumldtischem Charakter auf 41 der Landesflaumlche1

2-3 ist die houmlchste Ausnuumltzungsziffer von Zuumlrich das Verhaumlltnis der Nutzflaumlche

der Gebaumlude zum Grundstuumlck 4-5 ist die Kernziffer fuumlr die Dichte im historischen

Zentrum Roms das wegen seiner urbanen Atmosphaumlre geschaumltzt wird3

75 DER SCHWEIZ IST SIEDLUNGSFLAumlCHE

359 Landwirtschaftsflaumlche313 Waldflaumlche

253 unproduktive Flaumlchen (Gletscher Fels usw)5

URBANER RAUM Weltweit leben 54 der Menschen im

urbanen Siedlungsraum6 Der urbane Raum (Staumldte) belegt jedoch lediglich 2-3 der

Flaumlche der Welt7

+16 54

5 httpswwwareadmincharedehomeraumentwicklung-und-raumplanunggrundlagen-und-datenfakten-und-zahlenraeumliche-bevoelkerungsverteilunghtml

6 httpsdataworldbankorgindicatorSPURBTOTLINZS7 httpbrandondonnellycompost146850094613the-back-

end-of-our-cities

FLAumlCHE DER BAUZONE2

weitere Bauzonen 1

Verkehrszonen innerhalb der Bauzonen 2

Tourismus- und Freizeitzonen 1

Arbeitszonen 14

Wohnzonen 46

eingeschraumlnkte Bauzonen 3

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen 11

Zentrumszonen 11

Mischzonen 11

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 7

8 Kessler Patrick Hochreutener Thomas und Windel Jens On-line- und Versandhandelsmarkt Schweiz 2016 Praumlsentation fuumlr Medienkonferenz am 132017 (anlaumlsslich Veroumlffentlichung der Resultate der Gesamtmarkterhebung fuumlr Online- und Versand-handel des VSV GfK und der Post) S13

9 EbdS1510 Wuest amp Partner 201811 GfK Markt Monitor 2017 S8312 httpwwwmobilitaetbschgesamtverkehrverkehrskennzah-

lenparkplatzkatasterhtml

Wertmaumlssige Anteile des Online-Versandhandels am Schweizer Detailhandel8

16 17 18 19

113 123 137153

16

101

Food Non-Food

2012 2013 2014 2015 2016

in

NUTZUNGSANSPRUumlCHEBis zum Jahr 2020 moumlchte Basel durch

Parkplaumltze frei gewordene Flaumlchen um 10 (gguuml 2000) zugunsten von Spielraumlumen und

anderen Nutzungsanspruumlchen senken15

VERAumlNDERTE MOBILITAumlTSKONZEPTE (Beispiel Stadt Basel)

302rsquo478m2 Flaumlche Autoparkplaumltze (-16)19rsquo862m2 Flaumlche Veloparkplaumltze12

307rsquo351m2 Flaumlche Autoparkplaumltze 18rsquo373m2 Flaumlche Veloparkplaumltze

2015

2017

AUTONOME FAHRZEUGE SPAREN BIS ZU 20 FLAumlCHE

Experten schaumltzen dass mit autonomen Fahrzeugen bis zu 20 Flaumlche eingespart

werden kann13 Jedoch nur wenn die bishe-rigen Nutzer oumlffentlicher Transportmittel

nicht auf Automobile umsteigen14

+10

13 httpswwwvoxcomanew-economy-futurecars-cities-tech-nologies

14 httpswwwmapcorgfarechoices15 Regierungsrat des Kantons Stadt Basel laquoRatschlag und Be-

richt Kantonale Volksinitiative Ja zu Parkraum auf privatem Grund und laquoGegenvorschlag fuumlr eine Anpassung des Bau- und Planungsgesetzes betreffend Abstellplaumltze fuumlr Fahrzeugeraquo Re-gierungsratsbeschluss vom 10 Mai 2011 Basel

VOM BOOM DER LADENFLAumlCHEN699 Quadratmeter Flaumlche umfasste ein La-den im Schnitt im Jahr 2017 1980 lag dieser Wert noch bei 172 Quadratmetern Gemaumlss

GfK geht dieser Trend jedoch wieder in Richtung kleinere Ladenformate11

699 M2

DER HANDEL VERSCHIEBT SICH Waumlhrend der Non-Food Konsum im

stationaumlren Handel sinkt waumlchst er im Online- und Versandhandel9

02

-145

03

-045

055

-115

035

-115

05

-25

05

-19

2011 2012 2013 2014 2015 2016

0

Non-Food Online

Non-Food Stationaumlr

in

FLAumlCHENBOOM Im Flaumlchenboom der letzten 20 Jahre

(Kernstaumldte 1995-2015) hat sich der Druck des Onlinehandels noch nicht bemerkbar

gemacht Gesamtschweizerisch haben die Handelsflaumlchen um 28 zugenommen

(Zuumlrich +36 Luzern +15)10

FUTURE PUBLIC SPACE8

Warum es den oumlffentlichen Raum nicht gibt

laquoEine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig

sie ist vielleicht gar keine OumlffentlichkeitraquoJUumlRGEN HABERMAS PHILOSOPH

Umstrittene DefinitionWas ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt Eine ab-schliessend richtige Definition gibt es nicht Zu vielfaumlltig sind die Vorstellungen vom oumlffentlichen Raum zu unterschiedlich die Anspruumlche Klar scheint jedoch dass sich der oumlffentliche Raum in erster Linie durch Zugaumlnglichkeit kennzeichnet laquoDer oumlffentliche Raum kann verstanden werden als ein allgemein zugaumlnglicher Bereich in dem Menschen ohne Beschraumlnkungen ein- und ausge-hen Die Menschen bewegen sich in diesem Be-reich frei Zufaumlllig oder geplant begegnen wir uns hier Der oumlffentliche Raum ist offen und wird be-grenzt von dessen Gegensatz dem nicht allgemein zugaumlnglichen Bereich Daher verlangt der oumlffentli-che Raum um als solcher wahrgenommen zu werden auch ein Gegenstuumlck das Privateraquo16 Auch Juumlrgen Habermas stellt das Zugangskriterium in den Vordergrund laquoDie buumlrgerliche Oumlffentlichkeit steht und faumlllt mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs Eine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig sie ist vielleicht gar keine Oumlffentlichkeitraquo17 Treibt man dieses Kriterium der Zugaumlnglichkeit noch etwas weiter und uumlbersetzt es sprachlich in die Gegenwart so ist der oumlffentli-che Raum rund um die Uhr zugaumlnglich nicht uumlberwacht ndash und man kann sich dort laumlnger als ein paar Minuten aufhalten ohne weggewiesen zu werden Folgt man der Definition der Zugaumlnglich-keit so kann man leicht den Schluss ziehen dass der oumlffentliche Raum bedroht ist Der Zugang wird immer mehr vordefiniert es gibt immer we-niger nicht uumlberwachte oder unbewachte Raumlume ndash und an vielen Orten herrscht Konsumzwang

Fazit Es gibt nicht nur keine abschliessend richti-ge Definition des oumlffentlichen Raums ndash auch unser Verstaumlndnis des oumlffentlichen Raums ist nicht kon-stant

Diskussionen uumlber den oumlffentlichen Raum werden in Europa besonders heftig gefuumlhrt Das ist nicht weiter erstaunlich weil der oumlffentliche Raum in diesem Kulturkreis an den Mythos der griechi-schen Polis anknuumlpft in der sich auf der Agora Menschen frei versammelten und in politischen Austausch traten Aber das ist eine idealisierte Vorstellung Im Griechenland der Antike waren ndash genau wie in der europaumlischen Stadt der Moder-ne ndash stets auch grosse Gruppen von der Oumlffent-lichkeit der Raumlume ausgeschlossen18

Der oumlffentliche Raum moderner Praumlgung ent-stand im 19 Jahrhundert als in Staumldten oumlffentli-che Parks und Plaumltze angelegt wurden wie zum Beispiel der Hyde Park in London oder der Cen-tral Park in New York19

16 Guido Brendgens Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simu-lierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (Dezember 2005) S 1088ndash1097

17 Juumlrgen Habermas Strukturwandel der Oumlffentlichkeit 1990 S 156

18 Jan Wehrheim Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

19 Carsten Benke (2004) Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht In Die alte Stadt 31 Jahrgang

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 9

FUTURE PUBLIC SPACE10

20 Hans Paul Bahrt Umwelterfahrung Muumlnchen 1974 S 35

Ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt wichtig

Das allgemeine Wehklagen uumlber den Verlust des oumlffentlichen Raums beantwortet nicht die Frage warum dieser uumlberhaupt wichtig ist Welche strukturellen Vorteile hat der oumlffentliche Raum gegenuumlber dem privaten Generell laumlsst sich sagen dass durch die geforderte Verdichtung in den Staumldten der oumlffentliche Raum fuumlr die Allgemein-heit wichtiger wird Er dient als Kompensations-raum fuumlr Aktivitaumlten die im engeren privaten Raum nicht ausgefuumlhrt werden koumlnnen Gleich-zeitig druumlckt sich darin auch die Lebensqualitaumlt der Bewohner aus ndash zum Beispiel durch Freizeit-aktivitaumlten die im privaten Raum nur einge-schraumlnkt moumlglich sind Der oumlffentliche Raum laumlsst sich auf verschiedene Arten nutzen ndash beispielswei-se als Erholungsraum als Konsumraum als Ver-kehrsraum oder als Kommunikationsraum Diese Multifunktionalitaumlt ist fuumlr den oumlffentlichen Raum bestimmend laquoStrassen und Plaumltze die typischer-weise von Angehoumlrigen ganz verschiedener Bevoumll-kerungsschichten zu verschiedenen Zwecken gut verteilt uumlber den Tag und den Abend aufgesucht werden zeigen genau das was wir oumlffentliches Le-ben auf der untersten anschaulichsten lokalen Ebene nennen naumlmlich das Rendezvous der Ge-sellschaft mit sich selbst20 Der oumlffentliche Raum ist also ein Ort an dem sich unterschiedliche Menschen begegnen koumlnnen um miteinander zu interagieren und wodurch laquodas Neueraquo entstehen und auch werden kann Er ist ebenso Ort politi-scher Manifestationen sowie des offenen Diskur-ses Viele dieser politischen Manifestationen spielen sich auf zentralen Plaumltzen ab wie zB dem Tahrir-Platz in Kairo waumlhrend des Arabischen Fruumlhlings Der Maidan-Platz in Kiew ist sogar zum Namensgeber ndash Euromaidan ndash der Buumlrger-proteste in der Ukraine geworden die zwischen

dem 21 November 2013 und dem 26 Februar 2014 in der Ukraine stattgefunden habenVerstaumlrkt durch die digitalen Medien und sozia-len Netzwerke verbreiten sich die Anliegen heute rasend schnell Das prominenteste Beispiel dafuumlr ist die Occupy-Bewegung die nicht nur in New York City zum Ausdruck kam sondern sich welt-weit in Staumldten verbreitete

OCCUPYWALLSTREET laquoAre you ready for a Tahrir moment On Sept 17 flood into lower Manhattan

set up tents kitchens peaceful barricades and occupy Wall Streetraquo

ADBUSTERS-WEBSITE AM 13 JULI 2011

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 11

21 Jan Wernheim22 Martina Loumlw Raumsoziologie 200023 Christian Schmid Raum und Regulation Henri Lefebvre und

der Regulationsansatz In Ulrich Brand und Werner Raza (Hrsg) Fit fuumlr den Postfordismus Theoretisch-politische Per-spektiven des Regulationsansatzes Muumlnster Westfaumllisches Dampfboot 2003 S 224

Oumlffentlicher Raum wird ausgehandelt

laquoDie Strasse die der Urbanismus geometrisch festlegt wird durch die Gehenden in einen Raum verwandeltraquo

MICHEL DE CERTEAU SOZIOLO GE HISTORIKER UND KULTURPHILOSOPH

An den oumlffentlichen Raum werden die unterschied-lichsten Anforderungen gestellt Die Nutzungsinte-ressen variieren je nach Milieuzugehoumlrigkeit und reichen von kulturellen Angeboten uumlber Gruumln- und Erholungsflaumlchen bis hin zur Luftreinhaltung Die Qualitaumlt des oumlffentlichen Raums laumlsst sich daher nur bedingt an quantitativen Kriterien wie Luft-qualitaumlt Verkehrsaufkommen Laumlrmbelastung oder Kriminalitaumlt messen Die Nutzung des oumlffentlichen Raums unterliegt einer konstanten Verhandlung mit dauerhafter Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Interessensgruppen Phaumlnomene wie bei-spielsweise das Public Viewing von Sport- und Kul-turveranstaltungen haben sich erst in den vergangenen Jahren entwickelt und stellen ganz neue Nutzungsvarianten fuumlr den oumlffentlichen Raum dar Auch das Smartphone-Game laquoPokeacutemon Goraquo bei dem die Nutzer auf der Jagd nach virtuellen Monstern Plaumltze bevoumllkerten und die entlegensten Orte aufsuchten veraumlndert die Nutzung des oumlffent-lichen Raums und kann als eine Art Neuentde-ckung des Stadtraums bezeichnet werden

Der oumlffentliche Raum wird zuweilen als ein laquophy-sischer Raumraquo betrachtet der von Stadtplanern und Architekten spezifisch laquoals Behaumllter fuumlr Ge-sellschaft und bestimmbares soziales Handelnraquo21 geschaffen wird Raum existiert indessen nicht per se sondern entsteht durch Handlung Wahr-nehmung und Vorstellung der einzelnen Nutzer Raum ist somit nicht ein laquoBehaumlltnisraquo in dem das Leben unberuumlhrt von ihm stattfindet sondern

vielmehr ein gesellschaftliches Produkt das aus den vielschichtigen Beziehungen zwischen den Nutzern und der gebauten Umwelt entsteht Raumlu-me werden auch uumlber die Atmosphaumlre definiert Beispiele dafuumlr sind etwa die sakrale Aura einer Kirche die erholsame Stimmung eines Parks oder das edle Ambiente eines Restaurants22 Was wir erfahren ist somit kein physischer Raum der sich statisch verhaumllt wie ein Modell sondern ein Raum der sich staumlndig veraumlndert den wir jeden Moment neu wahrnehmen ndash eingefaumlrbt durch unsere Erin-nerung und Vorstellung Ein Raum laumlsst sich nur dann wahrnehmen wenn er zuvor gedanklich konzipiert worden ist Somit entstehen Konstruk-tionen und Konzeptionen des oumlffentlichen Raums die sich auf gesellschaftliche Konventionen stuumlt-zen mit der Produktion von Wissen verbunden und mit Machtstrukturen verknuumlpft sind Beim gedanklich konzipierten Raum handelt es sich um eine Darstellung die den Raum abbildet und defi-niert Diese Darstellung entsteht auf der Ebene des Diskurses der Sprache als solcher und um-fasst im engsten Sinne verbalisierte Formen z B Beschreibungen oder Definitionen aber auch Karten und Plaumlne sowie Informationen durch Bil-der und Zeichen Im weiteren Sinne umfasst die Repraumlsentation des Raums auch gesellschaftliche Regeln und eine Ethik23 Aus der gedanklichen Konstruktion von Staumldten erwachsen stets auch neue Idealbilder und Wunschvorstellungen

FUTURE PUBLIC SPACE12

Die Stadt als idealisierte Projektionsflaumlche

Der oumlffentliche Raum dient als Projektionsflaumlche fuumlr Ideen Bilder und Wuumlnsche ndash aber auch fuumlr Utopien Er ist ein Moumlglichkeitsraum in dem sich mit Idealen etwa mit bestimmten Wohnformen (zB Co-Housing) experimentieren laumlsst Diese Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt der Staumldte wo es stets auch um prak-tische Nutzungsperspektiven geht

Die Stadt als Ort des offenen Diskurses und der freien Zusammenkunft wird nicht selten verklaumlrt und romantisiert In Grossbritannien werden die roten gusseisernen Telefonzellen ndash ein Lieblings-gegenstand der Populaumlrkultur und laumlngst Teil des urbanen Inventars ndash neuen Nutzungen zuge-fuumlhrt24 Die Telefonzelle hat im Zeitalter des Smartphones zwar ausgedient wird aber zumin-dest in der aumlusseren Form weiter in Betrieb gehal-ten Damit bedient sie eine Sehnsucht nach jener Zeit als Telefonleitungen die Verbindungsrelais fuumlr das gesamte Empire waren

Die Stadt bleibt ein Sehnsuchtsort Gleichzeitig ist ndash gewissermassen antithetisch ndash aber auch eine Entromantisierung der Stadt festzustellen Staumldte werden assoziiert mit Dreck Muumlll Laumlrm Smog und anderen Emissionen Diese Faktoren gehoumlren zur Stadt wie Haumluser und Bewohner werden aber

durch Idealisierung und Verklaumlrung ausgeblen-det Es gibt Muumlllhauptstaumldte (Neapel) Laumlrm-hauptstaumldte (Mannheim Kairo) Stauhauptstaumldte (Jakarta) und Feinstaubhauptstaumldte (Stuttgart) Solche wenig schmeichelhaften Zuschreibungen die in zahlreichen Rankings auf eine quantifizie-rende Grundlage gestellt werden kratzen am Image der Staumldte In der Schweiz gilt Genf als Stauhauptstadt Bern wird in den Medien zuwei-len als Diebstahlhochburg apostrophiert und Zuuml-rich gilt ndash mit einem 3 Rang im europaweiten Ranking ndash gemeinhin als Kokainhauptstadt der Schweiz Die Quantifizierung des Sozialen25 er-streckt sich auch auf Staumldte die ja vor allem auch ein soziales System konstituieren Beginnt die Stadt als Erfolgsmodell bruumlchig zu werden26

Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt

der Staumldte wo es stets auch um praktische Nutzungs-

perspektiven geht

24 Die Betreiberfirma BT hat das Programm laquoAdopt a Kioskraquo lan-ciert bei dem ausrangierte Telefonzellen zum symbolischen Preis von einem Pfund erworben werden koumlnnen 3500 Ge-meinden haben nach Konzernangaben davon bereits Gebrauch gemacht In Schottland wurde eine Telefonzelle in eine Mini-Bibliothek umfunktioniert in London wurde eine andere zum Kiosk

25 Stefen Mau (2017) Das metrische Wir Uumlber die Quantifizie-rung des Sozialen

26 Richard Florida (2017) The New Urban Crisis

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 13Wofuumlr Flaumlche im Verhaumlltnis pro Einwohner verwendet wird

Quellen Bundesamt fuumlr Statistik Eidg Volkszaumlhlungen 1970 1980 1990 und 2000 (harmonisierte Daten) Bundesamt fuumlr Statistik Statistik des jaumlhrlichen Bevoumllkerungsstandes (ESPOP) 1995 2005 Bundesamt fuumlr Statistik Statistik der Bevoumllkerung und der Haushalte (STATPOP) 2010-2016 Definition der staumlndigen

Wohnbevoumllkerung und des Wohnsitzbegriffs gemaumlss STATPOP Wuest amp Partner 2018 Planungsbuumlro Jud 2017

Bruttogeschossflaumlche pro Einwohner im 2015

Die Verkehrsflaumlche bezieht sich auf die Agglomeration im Jahr 2014

KernstadtAgglomeration

20151970

Staumlndige Wohnbevoumllkerung

St Gallen

80K 144K 76K 166K

Winterthur

92K 107K108K 138K

Luzern

82K 173K81K 226K

Bern

160K 357K132K 411K

Basel

209K 480K170K 541K

Zuumlrich

416K 966K

397K 1334K

FUTURE PUBLIC SPACE14

Sonderposition SchweizDie Schweiz befindet sich im Spannungsfeld die-ser Entwicklungen in einer Sonderposition Sie ist klein beinahe uumlberschaubar und steht auf einem stabilen politischen sozialen und oumlkonomischen Fundament Dank einem breiten Mittelstand und gut bezahlten Mittelschichtjobs ist die Gefahr ei-ner Einkommenspolarisierung ndash zumindest ge-genwaumlrtig ndash deutlich geringer als in anderen Laumlndern oder Regionen

Wegen des starken Wachstums im Silicon Valley hat San Francisco mittlerweile einen houmlheren Gi-ni-Index als Brasilien Schweizer Staumldte erfahren nicht denselben Wachstums- und Verdichtungs-druck wie andere Staumldte in Europa sie bewegen sich praktisch nicht Und das wird sich ndash sowohl im Hinblick auf die Infrastruktur als auch auf das Verhalten einer aumllter werdenden Bevoumllkerung ndash auch nicht so rasch aumlndern Entgegen dem globa-len Trend ist die staumlndige Wohnbevoumllkerung in Staumldten wie Basel Bern oder Zuumlrich in den ver-gangenen Jahrzehnten nur leicht gestiegen In Zuuml-rich wuchs die Wohnbevoumllkerung von 363 000 im Jahr 2000 auf 397 000 Einwohner im Jahr 2015 was einer Veraumlnderung von 142 Prozent ent-spricht In Basel stieg die Einwohnerzahl im glei-chen Zeitraum um lediglich 37 Prozent von 167 000 auf 170 000 Dies veranschaulicht dass die Schweizer Staumldte im Verglichen mit den neuen schnell wachsenden Megacitys ein anderes Ver-haumlltnis zu Wachstum und Dichte haben und da-mit auch andere Herausforderungen

Die neue Vernetzung der StaumldtelaquoThe supply of everything can meet demand for

anything anything or anyone can get nearly anywhereraquoPAR AG KHANNA POLITIKWISSENSCHAFTLER

UND PUBLIZIST

Durch den globalen Handel entsteht eine in der Geschichte noch nie da gewesene Konnektivitaumlt der Staumldte Diese starke Vernetzung fuumlhrt zu einer neuen Geografie der sogenannten laquoKonnektogra-fieraquo in welcher Grenzen Herkunft und staatliche Regulative immer weniger wichtig werden Der paradigmatische Ort fuumlr diese neue Landkarte ist Dubai 90 Prozent der Bevoumllkerung kommt aus dem Ausland die Steuern sind niedrig die Expor-te hoch laquoThe supply of everything can meet de-mand for anything anything or anyone can get nearly anywhereraquo27 Radikal verkuumlrzt Alles und alle koumlnnen uumlberallhin gehen Die laquoKonnektogra-fieraquo kann auch auf die Schweiz heruntergebrochen werden Als Nichtmitglied der EU spielt das Land im internationalen System zwar eine Sonderrolle die Schweizer Staumldte sind aber dennoch in ein glo-bales Geflecht eingewoben Die Digitalisierung macht auch vor dem kleinsten Dorf nicht halt Das Internet eroumlffnet einerseits neue Wettbe-werbsmoumlglichkeiten ndash so wurde beispielsweise die virtuelle Waumlhrung Ethereum in Zug program-miert ndash andererseits entstehen neue Verwundbar-keiten etwa durch Hackerangriffe auf smarte Staumldte

Aus raumplanerischer Sicht ist die Schweiz ein einziges urbanes System ndash zumindest zwischen dem Bodensee und Genf die Unterschiede zwi-schen Stadt und Land sind obsolet Aus gesell-

27 Parag Khanna (2016) Connectography Mapping the Global Network Revolution

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 15

schaftlicher Sicht jedoch sind diese Kategorien noch nicht uumlberwunden im Gegenteil Zu starr sind die unterschiedlichen Einstellungen Werte und Lebensstile der staumldtischen und der laumlndli-chen Bevoumllkerung Dennoch ist klar dass oumlffentli-che Raumlume keine Grenzen kennen Die Schweiz ist ein einziges urbanes System inmitten eines einzi-gen urbanen Systems namens Welt In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne ndash etwa bei der Standortwahl fuumlr neue Forschungs- und Entwicklungszentren Im Ge-baumlude der ehemaligen Zuumlrcher Sihlpost hat Goog-le einen neuen Hub eroumlffnet Bis 2021 sollen in der Limmatstadt weitere 2000 Google-Mitarbeiter be-schaumlftigt werden28 ndash neben den 2000 laquoZooglernraquo aus 75 Nationen die schon heute auf dem Huumlrli-mann-Areal arbeiten Das beweist dass die Mitar-beiter des Unternehmens als laquoAnywheresraquo eine flexible transportable Identitaumlt besitzen

Anders als die Landwirtschaft oder die verarbei-tende Industrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen fuumlr Aumlcker und Fabriken sondern vor allem gut ausgebildete mobile Men-schen und hochgeruumlstete Laboratorien Im Ge-gensatz zur ersten industriellen Revolution wo die Fabriken mit ihren rauchenden Kaminen am Stadtrand hochgezogen wurden kehren die Tech-nologiefirmen in die Zentren zuruumlck Amazon hat sich an seinem Hauptstandort Seattle mit zahlrei-chen Ausbauten ndash darunter die neue Firmenzent-

28 httpswwwnzzchzuerichgoogle-in-zuerich-innovationen-made-in-zurich-ld140285

29 httpswwwtheatlanticcomtechnologyarchive201709the-great-thing-about-apple-christening-their-stores-town-squares539667

rale laquoThe Spheresraquo mit drei gewaumlchshausaumlhnlichen Glaskuppeln ndash zu einer Stadt in der Stadt verdich-tet Und Apple nennt seine ikonischen Apple Stores kuumlnftig laquoTown Squareraquo (Marktplatz) und unterstreicht damit den urbanen Charakter seiner Laumlden29 Gleichzeitig findet eine Ruumlckkehr zur Company Town statt wie man sie aus der An-fangszeit der Industrialisierung kennt Der Schuh-lieferant Zappos liess mitten in Las Vegas fuumlr 350 Millionen Dollar ein eigenes Staumldtchen mit einem Unterhaltungskomplex und einem Hotel bauen Facebook enthuumlllte juumlngst Plaumlne fuumlr den Bau des neuen Willow Campus In dieser hippen hoch technisierten Idylle pendeln die Mitarbeiter zwi-schen veganen Cafeacutes und Co-Working-Spaces ndash und kontrollieren einander im Rahmen einer Art Nachbarschaftshilfe gegenseitig Aumlhnliche Sied-lungen liess einst der deutsche Industrielle Alfred Krupp in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Fa-briken bauen

In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz

mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne

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DATENSTAU

DATENHIGHWAY

Smart City500GB

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17

Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

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Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

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hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

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Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21

der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

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die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 27

FUTURE PUBLIC SPACE28

Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 29

41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

FUTURE PUBLIC SPACE30

laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 31

Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

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Weiss nicht

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

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Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 3: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 1

Inhalt

02 Summary

05 Vorwort

06 Zur Vermessung von Schweizer Staumldten

13 Warum es den oumlffentlichen Raum nicht gibt

21 Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raumsgt Strukturwandel beeinflusst Gebrauch und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen Raumsgt Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen neue Spielraumlumegt Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimentegt Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend gt Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulatio-

nen dominieren

34 Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen Raum

42 Diskussion und Fazit

43 Anhanggt Glossargt Methodisches Vorgehengt Ausgewaumlhltes Literaturverzeichnisgt Expertinnen und Experten

FUTURE PUBLIC SPACE2

Staumldte werden dichter Immer mehr Menschen muumlssen sich immer weniger Platz teilen Gleichzei-tig wandelt sich der staumldtische Raum Neue Ar-beitswelten veraumlnderte Mobilitaumlt Zielkonflikte zwischen Bewohnern und Touristen oder Struk-turwandel im Handel tragen dazu bei Wird der oumlffentliche Raum wichtiger Und weshalb ist er dies uumlberhaupt

Den oumlffentlichen Raum zu definieren erweist sich als ein schwieriges Unterfangen Das hat primaumlr mit den unterschiedlichen Definitionen zu tun die von Verwaltung Architektur Soziologie und den Nutzern des oumlffentlichen Raums ndash der Oumlffentlich-keit selbst ndash verwendet werden Ein Kriterium das sich jedoch herausstreichen laumlsst ist die Zugaumlng-lichkeit fuumlr alle Doch immer mehr Spielregeln Hausregeln Gebote und Verbote scheinen den oumlf-fentlichen Raum zu bedrohen Er gilt sowohl als Kulisse unserer gesellschaftlichen Inszenierung als auch der Infrastruktur zur Verbindung und Vernetzung des gemeinschaftlichen Lebens Dabei wird schnell klar ganz egal ob der oumlffentliche Raum zu oder abnimmt er veraumlndert sich schnell Die Studie beschreibt fuumlnf Thesen die den oumlffentli-chen Raum in Zukunft deutlich praumlgen duumlrften

DER STRUKTURWANDEL IM HANDEL UND DER MOBILITAumlT VERAumlNDERT DIE NUTZUNG DES

OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Handel praumlgte uumlber Jahrzehnte ndash ja sogar Jahrhunderte ndash unsere Innenstaumldte Einige der prominentesten Strassen der Welt verdanken ihre Bekanntheit ihren exklusiven Laumlden Die Fifth Avenue die Via Montenapoleone die Champs-Eacutelyseacutees oder auch die Bahnhofstrasse in Zuumlrich Doch der Klick-Konsum haumllt Einzug und es ist schneller und bequemer online zu shoppen als sich durch die den Witterungen ausgesetzte La-denzeilen zu schieben Dabei verdankt zum Bei-spiel Bern seine pittoresken - heute bei Touristen

beliebten ndash laquoLaubenraquo dem Handel des Mittelal-ters Auch die Mobilitaumlt steckt mitten in einem Veraumlnderungsprozess Shared Mobility setzt sich bei jungen urbanen Bevoumllkerungsschichten im-mer mehr durch In Kombination mit dem Hoff-nungstraumlger des autonomen Fahrens wird sich das Erscheinungsbild von Mobilitaumlt in der Stadt deutlich veraumlndern Ob dadurch wieder mehr Raum frei wird ist schwer vorherzusagen da die-se neuen Konzepte in starker Abhaumlngigkeit zu an-deren Einflussfaktoren stehen So kommen mit dem autonomen Fahren neue Nutzergruppen ins Spiel die heute nicht am Individualverkehr parti-zipieren wie beispielsweise Hochbetagte oder Kinder Und natuumlrlich wird auch das Pricing im Verhaumlltnis zum oumlffentlichen Verkehr eine dimen-sionierende Rolle spielen

DIE POLARITAumlTEN VON OumlFFENTLICH UND PRIVAT VERWISCHEN IMMER MEHR

Lange hat uns Architektur und Stadtplanung klar identifizierbare Zonen des Privaten und des oumlf-fentlichen eingerichtet Die Normen und Regeln waren eindeutig Doch mittlerweile kaufen Fir-men wie Daimler oder Nike Plaumltze auf die sie zu Urban Entertainment Centern umgestalten Auf oumlffentlichen Plaumltzen stehen sofagleiche Sitzgele-genheiten und man wird mit WLAN versorgt Er-weiterte Realitaumlten erzeugen zudem eine neue hyperindividualisierte Wahrnehmung des oumlffent-lichen Raums Jeder Nutzer dieser Technologie erhaumllt dadurch eine individuelle und damit priva-tisierte Wahrnehmung dieses Raums ndash mit laquofreundlicher Unterstuumltzungraquo von Google Insta-gram und Apple gewissermassen Es entsteht eine personalisierte Oumlffentlichkeit

DAS URBANE GEFUumlHL HAT VERSCHIEDENE GESICHTER

Schweizer Staumldte sind im Vergleich zu internatio-nalen Metropolen Doumlrfer Daher wird auch ein

Summary

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 3

anderes Gefuumlhl von Urbanitaumlt kultiviert als dies in Paris oder Berlin der Fall ist Schweizer Staumldte sind von Kriegen unbeschadet geblieben Das macht sie fuumlr Einheimische lebenswert fuumlr Touristen at-traktiv und fuumlr Investoren kommerziell interes-sant Insgesamt hat diese Anziehungskraft auch hohe Mieten und Preise zur Folge Das etablierte Lebensgefuumlhl fuumlhrt zu einem eher bewahrenden Verhalten Die komfortable Situation soll erhalten bleiben Innovation hat daher wenig Platz Zudem sind die Mieten dafuumlr zu teuer geworden Diese Lock-In Situation fuumlhrt zu einem kreativen Ab-fluss in die Peripherie der Kernstaumldte und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

OumlFFENTLICHER RAUM IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN FREIHEIT UND SICHERHEIT

Unter dem Eindruck von Terrorgefahr und unan-gemessenem Verhalten werden oumlffentliche Raumlume immer mehr uumlberwacht Sich beobachtet zu fuumlh-len fuumlhrt unweigerlich zu einem anderen Verhal-ten ergo einer Unfreiheit Doch mit der Digitalisierung findet ein Shift statt von sichtbarer zu unsichtbarer Uumlberwachung Anstelle der sicht-baren Uumlberwachung durch Videokameras ist die unsichtbare Uumlberwachung in Laternenpfahle oder Smartphones integriert Codierte Menschen die sich uumlber Fitnesstracker und soziale Netzwerke quasi selbst uumlberwachen in einer codierten Stadt die sich selbst optimiert indem Algorithmen die Abfallentsorgung kontrollieren oder die Luftqua-litaumlt messen Der Mensch wird integraler Bestand-teil der Smart City und verschmilzt zu einem neuen Oumlkosystem

VOM REGULATOR ZUM MODERATOR ROLLEN-SHIFT DER STADTVERWALTUNGEN

Ob Zuhause bei der Arbeit oder unterwegs die Menschen sind praktisch immer online Google hilft bei der Navigation durch die Stadt Whats-

App bei der Kommunikation oder Tinder bei der Partnersuche Die Sicht auf unsere Umwelt erfolgt zunehmend durch den Filter einer der Big Seven der Tech Industrie (Google Apple Facebook Amazon Baidu Alibaba und Tencent) Diese glo-balen Player stellen ihre eigenen Hausregeln in Bezug auf die Nutzung ihrer Dienstleistungen auf - werden zu den eigentlichen laquoKreatorenraquo der Staumld-te - womit sie unweigerlich auch auf die Verhal-tensnormen der physischen Umgebung einwirken Diese Nutzungsbedingungen aus Sicht eines Users uumlbertragen sich auf die Rolle als Buumlrger Der Buumlr-ger versteht sich immer mehr als User einer Stadt deren Qualitaumlt und Usability analog TripAdvisor bewertet werden kann Die Verwaltungen der Staumldte finden sich in einem neuen Oumlkosystem wie-der wo sie von einer Rolle des Regulators immer mehr zu einer Rolle des Moderators uumlbergehen

FUTURE PUBLIC SPACE4

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 5

Die oumlffentlichen Raumlume in den Staumldten stellen einen zentralen Faktor fuumlr die Lebensqualitaumlt dar Wer beruflich mit dem oumlffentlichen Raum zu tun hat ist immer wieder mit einer grossen Dynamik und haumlufig unerwarte-ten Entwicklungen konfrontiert sei dies im Nachtleben im Tourismus im Verkehr im Detailhandel im Freizeitverhalten in Kunst und Kultur Die Staumldte muumlssen diese dynamischen Entwicklungen aufnehmen Wer die Zeitraumlume der politischen Ablaumlufe und der Planungsprozesse kennt weiss dass dies nicht immer einfach ist Da liegt der Wunsch in die Zu-kunft blicken zu koumlnnen nahe Nun ist das mit der Zukunft so eine Sache laquoWir stellen uns eben die Zukunft wie einen in einen leeren Raum proji-zierten Reflex der Gegenwart vor waumlhrend sie oft das bereits ganz nahe Ergebnis von Ursachen ist die uns zum groumlszligten Teil entgehenraquo erkannte schon Marcel Proust

Die vorliegende Studie versucht diese Herausforderung greifbar zu ma-chen indem sie erkennbare Entwicklungen in Form von fuumlnf Hypothesen aufzeigt Dass sich dabei durchaus auch widerspruumlchliche Aussagen erge-ben liegt in der Natur der Dinge Die Zukunftsforschung zeigt Trends und Gegentrends auf Nicht immer ist eindeutig welcher sich durchsetzt

Ziel von GDI und ZORA ist es die Verantwortlichen in den Staumldten fuumlr die Herausforderungen die sich aus den aktuellen Entwicklungen erge-ben zu sensibilisieren Getreu dem Grundsatz laquoZukunft passiert nicht wir gestalten sieraquo muumlssen sich die Staumldte daruumlber klar werden ob und wie sie Entwicklungen mitsteuern wollen Die Studie beleuchtet wichtige Handlungsfelder beispielsweise moumlgliche Anspruumlche an die Nutzbarkeit oumlffentlicher Raumlume die Veraumlnderung des Verstaumlndnisses von Oumlffentlich-keit die Verschiebungen im Stadtgefuumlge oder das Spannungsfeld zwi-schen Freiheitswunsch und Sicherheitsbeduumlrfnissen Auch auf die zukuumlnftige Bedeutung unterschiedlicher Akteure geht sie ein

Wir wuumlnschen uns dass diese Studie die Diskussion unter den Akteurin-nen und Akteuren in den Staumldten anregt und dazu fuumlhrt den oumlffentlichen Raum und die wichtigen Zukunftsthemen weit oben auf die Agenda zu setzen

Christoph Baumlttig Vorsitzender laquoZentrum Oumlffentlicher Raumraquo ZORA

Vorwort

FUTURE PUBLIC SPACE6

1 httpswwwbfsadminchbfsdehomestatistikenkataloge-datenbankenmedienmitteilungenassetdetail38618html

2 Bundesamt fuumlr Raumentwicklung Bauzonenstatistik Schweiz 2017

3 httpsnzzasnzzchkulturvittorio-magnago-lampugnaniwie-kann-man-verhindern-dass-die-schweiz-verschandelt-wird-wir-sollten-uns-schoenheit-etwas-kosten-lassen--ld1357554-reduced=true

4 Bundesamt fuumlr Raumentwicklung Bauzonenstatistik Schweiz 2017

Zur Vermessung von Schweizer Staumldten

BEVOumlLKERUNGSWACHSTUM16 Bevoumllkerungswachstum

zwischen 2015 und 2030 und 95 Millionen Einwohner im 20304

STAumlDTE WERDEN DICHTER(jedoch primaumlr ihre Agglomerationen)

59 Millionen resp 73 der Menschen in der Schweiz leben in Agglomerationen 84 der Bevoumllkerung in Gemeinden mit

staumldtischem Charakter auf 41 der Landesflaumlche1

2-3 ist die houmlchste Ausnuumltzungsziffer von Zuumlrich das Verhaumlltnis der Nutzflaumlche

der Gebaumlude zum Grundstuumlck 4-5 ist die Kernziffer fuumlr die Dichte im historischen

Zentrum Roms das wegen seiner urbanen Atmosphaumlre geschaumltzt wird3

75 DER SCHWEIZ IST SIEDLUNGSFLAumlCHE

359 Landwirtschaftsflaumlche313 Waldflaumlche

253 unproduktive Flaumlchen (Gletscher Fels usw)5

URBANER RAUM Weltweit leben 54 der Menschen im

urbanen Siedlungsraum6 Der urbane Raum (Staumldte) belegt jedoch lediglich 2-3 der

Flaumlche der Welt7

+16 54

5 httpswwwareadmincharedehomeraumentwicklung-und-raumplanunggrundlagen-und-datenfakten-und-zahlenraeumliche-bevoelkerungsverteilunghtml

6 httpsdataworldbankorgindicatorSPURBTOTLINZS7 httpbrandondonnellycompost146850094613the-back-

end-of-our-cities

FLAumlCHE DER BAUZONE2

weitere Bauzonen 1

Verkehrszonen innerhalb der Bauzonen 2

Tourismus- und Freizeitzonen 1

Arbeitszonen 14

Wohnzonen 46

eingeschraumlnkte Bauzonen 3

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen 11

Zentrumszonen 11

Mischzonen 11

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 7

8 Kessler Patrick Hochreutener Thomas und Windel Jens On-line- und Versandhandelsmarkt Schweiz 2016 Praumlsentation fuumlr Medienkonferenz am 132017 (anlaumlsslich Veroumlffentlichung der Resultate der Gesamtmarkterhebung fuumlr Online- und Versand-handel des VSV GfK und der Post) S13

9 EbdS1510 Wuest amp Partner 201811 GfK Markt Monitor 2017 S8312 httpwwwmobilitaetbschgesamtverkehrverkehrskennzah-

lenparkplatzkatasterhtml

Wertmaumlssige Anteile des Online-Versandhandels am Schweizer Detailhandel8

16 17 18 19

113 123 137153

16

101

Food Non-Food

2012 2013 2014 2015 2016

in

NUTZUNGSANSPRUumlCHEBis zum Jahr 2020 moumlchte Basel durch

Parkplaumltze frei gewordene Flaumlchen um 10 (gguuml 2000) zugunsten von Spielraumlumen und

anderen Nutzungsanspruumlchen senken15

VERAumlNDERTE MOBILITAumlTSKONZEPTE (Beispiel Stadt Basel)

302rsquo478m2 Flaumlche Autoparkplaumltze (-16)19rsquo862m2 Flaumlche Veloparkplaumltze12

307rsquo351m2 Flaumlche Autoparkplaumltze 18rsquo373m2 Flaumlche Veloparkplaumltze

2015

2017

AUTONOME FAHRZEUGE SPAREN BIS ZU 20 FLAumlCHE

Experten schaumltzen dass mit autonomen Fahrzeugen bis zu 20 Flaumlche eingespart

werden kann13 Jedoch nur wenn die bishe-rigen Nutzer oumlffentlicher Transportmittel

nicht auf Automobile umsteigen14

+10

13 httpswwwvoxcomanew-economy-futurecars-cities-tech-nologies

14 httpswwwmapcorgfarechoices15 Regierungsrat des Kantons Stadt Basel laquoRatschlag und Be-

richt Kantonale Volksinitiative Ja zu Parkraum auf privatem Grund und laquoGegenvorschlag fuumlr eine Anpassung des Bau- und Planungsgesetzes betreffend Abstellplaumltze fuumlr Fahrzeugeraquo Re-gierungsratsbeschluss vom 10 Mai 2011 Basel

VOM BOOM DER LADENFLAumlCHEN699 Quadratmeter Flaumlche umfasste ein La-den im Schnitt im Jahr 2017 1980 lag dieser Wert noch bei 172 Quadratmetern Gemaumlss

GfK geht dieser Trend jedoch wieder in Richtung kleinere Ladenformate11

699 M2

DER HANDEL VERSCHIEBT SICH Waumlhrend der Non-Food Konsum im

stationaumlren Handel sinkt waumlchst er im Online- und Versandhandel9

02

-145

03

-045

055

-115

035

-115

05

-25

05

-19

2011 2012 2013 2014 2015 2016

0

Non-Food Online

Non-Food Stationaumlr

in

FLAumlCHENBOOM Im Flaumlchenboom der letzten 20 Jahre

(Kernstaumldte 1995-2015) hat sich der Druck des Onlinehandels noch nicht bemerkbar

gemacht Gesamtschweizerisch haben die Handelsflaumlchen um 28 zugenommen

(Zuumlrich +36 Luzern +15)10

FUTURE PUBLIC SPACE8

Warum es den oumlffentlichen Raum nicht gibt

laquoEine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig

sie ist vielleicht gar keine OumlffentlichkeitraquoJUumlRGEN HABERMAS PHILOSOPH

Umstrittene DefinitionWas ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt Eine ab-schliessend richtige Definition gibt es nicht Zu vielfaumlltig sind die Vorstellungen vom oumlffentlichen Raum zu unterschiedlich die Anspruumlche Klar scheint jedoch dass sich der oumlffentliche Raum in erster Linie durch Zugaumlnglichkeit kennzeichnet laquoDer oumlffentliche Raum kann verstanden werden als ein allgemein zugaumlnglicher Bereich in dem Menschen ohne Beschraumlnkungen ein- und ausge-hen Die Menschen bewegen sich in diesem Be-reich frei Zufaumlllig oder geplant begegnen wir uns hier Der oumlffentliche Raum ist offen und wird be-grenzt von dessen Gegensatz dem nicht allgemein zugaumlnglichen Bereich Daher verlangt der oumlffentli-che Raum um als solcher wahrgenommen zu werden auch ein Gegenstuumlck das Privateraquo16 Auch Juumlrgen Habermas stellt das Zugangskriterium in den Vordergrund laquoDie buumlrgerliche Oumlffentlichkeit steht und faumlllt mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs Eine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig sie ist vielleicht gar keine Oumlffentlichkeitraquo17 Treibt man dieses Kriterium der Zugaumlnglichkeit noch etwas weiter und uumlbersetzt es sprachlich in die Gegenwart so ist der oumlffentli-che Raum rund um die Uhr zugaumlnglich nicht uumlberwacht ndash und man kann sich dort laumlnger als ein paar Minuten aufhalten ohne weggewiesen zu werden Folgt man der Definition der Zugaumlnglich-keit so kann man leicht den Schluss ziehen dass der oumlffentliche Raum bedroht ist Der Zugang wird immer mehr vordefiniert es gibt immer we-niger nicht uumlberwachte oder unbewachte Raumlume ndash und an vielen Orten herrscht Konsumzwang

Fazit Es gibt nicht nur keine abschliessend richti-ge Definition des oumlffentlichen Raums ndash auch unser Verstaumlndnis des oumlffentlichen Raums ist nicht kon-stant

Diskussionen uumlber den oumlffentlichen Raum werden in Europa besonders heftig gefuumlhrt Das ist nicht weiter erstaunlich weil der oumlffentliche Raum in diesem Kulturkreis an den Mythos der griechi-schen Polis anknuumlpft in der sich auf der Agora Menschen frei versammelten und in politischen Austausch traten Aber das ist eine idealisierte Vorstellung Im Griechenland der Antike waren ndash genau wie in der europaumlischen Stadt der Moder-ne ndash stets auch grosse Gruppen von der Oumlffent-lichkeit der Raumlume ausgeschlossen18

Der oumlffentliche Raum moderner Praumlgung ent-stand im 19 Jahrhundert als in Staumldten oumlffentli-che Parks und Plaumltze angelegt wurden wie zum Beispiel der Hyde Park in London oder der Cen-tral Park in New York19

16 Guido Brendgens Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simu-lierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (Dezember 2005) S 1088ndash1097

17 Juumlrgen Habermas Strukturwandel der Oumlffentlichkeit 1990 S 156

18 Jan Wehrheim Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

19 Carsten Benke (2004) Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht In Die alte Stadt 31 Jahrgang

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20 Hans Paul Bahrt Umwelterfahrung Muumlnchen 1974 S 35

Ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt wichtig

Das allgemeine Wehklagen uumlber den Verlust des oumlffentlichen Raums beantwortet nicht die Frage warum dieser uumlberhaupt wichtig ist Welche strukturellen Vorteile hat der oumlffentliche Raum gegenuumlber dem privaten Generell laumlsst sich sagen dass durch die geforderte Verdichtung in den Staumldten der oumlffentliche Raum fuumlr die Allgemein-heit wichtiger wird Er dient als Kompensations-raum fuumlr Aktivitaumlten die im engeren privaten Raum nicht ausgefuumlhrt werden koumlnnen Gleich-zeitig druumlckt sich darin auch die Lebensqualitaumlt der Bewohner aus ndash zum Beispiel durch Freizeit-aktivitaumlten die im privaten Raum nur einge-schraumlnkt moumlglich sind Der oumlffentliche Raum laumlsst sich auf verschiedene Arten nutzen ndash beispielswei-se als Erholungsraum als Konsumraum als Ver-kehrsraum oder als Kommunikationsraum Diese Multifunktionalitaumlt ist fuumlr den oumlffentlichen Raum bestimmend laquoStrassen und Plaumltze die typischer-weise von Angehoumlrigen ganz verschiedener Bevoumll-kerungsschichten zu verschiedenen Zwecken gut verteilt uumlber den Tag und den Abend aufgesucht werden zeigen genau das was wir oumlffentliches Le-ben auf der untersten anschaulichsten lokalen Ebene nennen naumlmlich das Rendezvous der Ge-sellschaft mit sich selbst20 Der oumlffentliche Raum ist also ein Ort an dem sich unterschiedliche Menschen begegnen koumlnnen um miteinander zu interagieren und wodurch laquodas Neueraquo entstehen und auch werden kann Er ist ebenso Ort politi-scher Manifestationen sowie des offenen Diskur-ses Viele dieser politischen Manifestationen spielen sich auf zentralen Plaumltzen ab wie zB dem Tahrir-Platz in Kairo waumlhrend des Arabischen Fruumlhlings Der Maidan-Platz in Kiew ist sogar zum Namensgeber ndash Euromaidan ndash der Buumlrger-proteste in der Ukraine geworden die zwischen

dem 21 November 2013 und dem 26 Februar 2014 in der Ukraine stattgefunden habenVerstaumlrkt durch die digitalen Medien und sozia-len Netzwerke verbreiten sich die Anliegen heute rasend schnell Das prominenteste Beispiel dafuumlr ist die Occupy-Bewegung die nicht nur in New York City zum Ausdruck kam sondern sich welt-weit in Staumldten verbreitete

OCCUPYWALLSTREET laquoAre you ready for a Tahrir moment On Sept 17 flood into lower Manhattan

set up tents kitchens peaceful barricades and occupy Wall Streetraquo

ADBUSTERS-WEBSITE AM 13 JULI 2011

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21 Jan Wernheim22 Martina Loumlw Raumsoziologie 200023 Christian Schmid Raum und Regulation Henri Lefebvre und

der Regulationsansatz In Ulrich Brand und Werner Raza (Hrsg) Fit fuumlr den Postfordismus Theoretisch-politische Per-spektiven des Regulationsansatzes Muumlnster Westfaumllisches Dampfboot 2003 S 224

Oumlffentlicher Raum wird ausgehandelt

laquoDie Strasse die der Urbanismus geometrisch festlegt wird durch die Gehenden in einen Raum verwandeltraquo

MICHEL DE CERTEAU SOZIOLO GE HISTORIKER UND KULTURPHILOSOPH

An den oumlffentlichen Raum werden die unterschied-lichsten Anforderungen gestellt Die Nutzungsinte-ressen variieren je nach Milieuzugehoumlrigkeit und reichen von kulturellen Angeboten uumlber Gruumln- und Erholungsflaumlchen bis hin zur Luftreinhaltung Die Qualitaumlt des oumlffentlichen Raums laumlsst sich daher nur bedingt an quantitativen Kriterien wie Luft-qualitaumlt Verkehrsaufkommen Laumlrmbelastung oder Kriminalitaumlt messen Die Nutzung des oumlffentlichen Raums unterliegt einer konstanten Verhandlung mit dauerhafter Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Interessensgruppen Phaumlnomene wie bei-spielsweise das Public Viewing von Sport- und Kul-turveranstaltungen haben sich erst in den vergangenen Jahren entwickelt und stellen ganz neue Nutzungsvarianten fuumlr den oumlffentlichen Raum dar Auch das Smartphone-Game laquoPokeacutemon Goraquo bei dem die Nutzer auf der Jagd nach virtuellen Monstern Plaumltze bevoumllkerten und die entlegensten Orte aufsuchten veraumlndert die Nutzung des oumlffent-lichen Raums und kann als eine Art Neuentde-ckung des Stadtraums bezeichnet werden

Der oumlffentliche Raum wird zuweilen als ein laquophy-sischer Raumraquo betrachtet der von Stadtplanern und Architekten spezifisch laquoals Behaumllter fuumlr Ge-sellschaft und bestimmbares soziales Handelnraquo21 geschaffen wird Raum existiert indessen nicht per se sondern entsteht durch Handlung Wahr-nehmung und Vorstellung der einzelnen Nutzer Raum ist somit nicht ein laquoBehaumlltnisraquo in dem das Leben unberuumlhrt von ihm stattfindet sondern

vielmehr ein gesellschaftliches Produkt das aus den vielschichtigen Beziehungen zwischen den Nutzern und der gebauten Umwelt entsteht Raumlu-me werden auch uumlber die Atmosphaumlre definiert Beispiele dafuumlr sind etwa die sakrale Aura einer Kirche die erholsame Stimmung eines Parks oder das edle Ambiente eines Restaurants22 Was wir erfahren ist somit kein physischer Raum der sich statisch verhaumllt wie ein Modell sondern ein Raum der sich staumlndig veraumlndert den wir jeden Moment neu wahrnehmen ndash eingefaumlrbt durch unsere Erin-nerung und Vorstellung Ein Raum laumlsst sich nur dann wahrnehmen wenn er zuvor gedanklich konzipiert worden ist Somit entstehen Konstruk-tionen und Konzeptionen des oumlffentlichen Raums die sich auf gesellschaftliche Konventionen stuumlt-zen mit der Produktion von Wissen verbunden und mit Machtstrukturen verknuumlpft sind Beim gedanklich konzipierten Raum handelt es sich um eine Darstellung die den Raum abbildet und defi-niert Diese Darstellung entsteht auf der Ebene des Diskurses der Sprache als solcher und um-fasst im engsten Sinne verbalisierte Formen z B Beschreibungen oder Definitionen aber auch Karten und Plaumlne sowie Informationen durch Bil-der und Zeichen Im weiteren Sinne umfasst die Repraumlsentation des Raums auch gesellschaftliche Regeln und eine Ethik23 Aus der gedanklichen Konstruktion von Staumldten erwachsen stets auch neue Idealbilder und Wunschvorstellungen

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Die Stadt als idealisierte Projektionsflaumlche

Der oumlffentliche Raum dient als Projektionsflaumlche fuumlr Ideen Bilder und Wuumlnsche ndash aber auch fuumlr Utopien Er ist ein Moumlglichkeitsraum in dem sich mit Idealen etwa mit bestimmten Wohnformen (zB Co-Housing) experimentieren laumlsst Diese Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt der Staumldte wo es stets auch um prak-tische Nutzungsperspektiven geht

Die Stadt als Ort des offenen Diskurses und der freien Zusammenkunft wird nicht selten verklaumlrt und romantisiert In Grossbritannien werden die roten gusseisernen Telefonzellen ndash ein Lieblings-gegenstand der Populaumlrkultur und laumlngst Teil des urbanen Inventars ndash neuen Nutzungen zuge-fuumlhrt24 Die Telefonzelle hat im Zeitalter des Smartphones zwar ausgedient wird aber zumin-dest in der aumlusseren Form weiter in Betrieb gehal-ten Damit bedient sie eine Sehnsucht nach jener Zeit als Telefonleitungen die Verbindungsrelais fuumlr das gesamte Empire waren

Die Stadt bleibt ein Sehnsuchtsort Gleichzeitig ist ndash gewissermassen antithetisch ndash aber auch eine Entromantisierung der Stadt festzustellen Staumldte werden assoziiert mit Dreck Muumlll Laumlrm Smog und anderen Emissionen Diese Faktoren gehoumlren zur Stadt wie Haumluser und Bewohner werden aber

durch Idealisierung und Verklaumlrung ausgeblen-det Es gibt Muumlllhauptstaumldte (Neapel) Laumlrm-hauptstaumldte (Mannheim Kairo) Stauhauptstaumldte (Jakarta) und Feinstaubhauptstaumldte (Stuttgart) Solche wenig schmeichelhaften Zuschreibungen die in zahlreichen Rankings auf eine quantifizie-rende Grundlage gestellt werden kratzen am Image der Staumldte In der Schweiz gilt Genf als Stauhauptstadt Bern wird in den Medien zuwei-len als Diebstahlhochburg apostrophiert und Zuuml-rich gilt ndash mit einem 3 Rang im europaweiten Ranking ndash gemeinhin als Kokainhauptstadt der Schweiz Die Quantifizierung des Sozialen25 er-streckt sich auch auf Staumldte die ja vor allem auch ein soziales System konstituieren Beginnt die Stadt als Erfolgsmodell bruumlchig zu werden26

Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt

der Staumldte wo es stets auch um praktische Nutzungs-

perspektiven geht

24 Die Betreiberfirma BT hat das Programm laquoAdopt a Kioskraquo lan-ciert bei dem ausrangierte Telefonzellen zum symbolischen Preis von einem Pfund erworben werden koumlnnen 3500 Ge-meinden haben nach Konzernangaben davon bereits Gebrauch gemacht In Schottland wurde eine Telefonzelle in eine Mini-Bibliothek umfunktioniert in London wurde eine andere zum Kiosk

25 Stefen Mau (2017) Das metrische Wir Uumlber die Quantifizie-rung des Sozialen

26 Richard Florida (2017) The New Urban Crisis

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 13Wofuumlr Flaumlche im Verhaumlltnis pro Einwohner verwendet wird

Quellen Bundesamt fuumlr Statistik Eidg Volkszaumlhlungen 1970 1980 1990 und 2000 (harmonisierte Daten) Bundesamt fuumlr Statistik Statistik des jaumlhrlichen Bevoumllkerungsstandes (ESPOP) 1995 2005 Bundesamt fuumlr Statistik Statistik der Bevoumllkerung und der Haushalte (STATPOP) 2010-2016 Definition der staumlndigen

Wohnbevoumllkerung und des Wohnsitzbegriffs gemaumlss STATPOP Wuest amp Partner 2018 Planungsbuumlro Jud 2017

Bruttogeschossflaumlche pro Einwohner im 2015

Die Verkehrsflaumlche bezieht sich auf die Agglomeration im Jahr 2014

KernstadtAgglomeration

20151970

Staumlndige Wohnbevoumllkerung

St Gallen

80K 144K 76K 166K

Winterthur

92K 107K108K 138K

Luzern

82K 173K81K 226K

Bern

160K 357K132K 411K

Basel

209K 480K170K 541K

Zuumlrich

416K 966K

397K 1334K

FUTURE PUBLIC SPACE14

Sonderposition SchweizDie Schweiz befindet sich im Spannungsfeld die-ser Entwicklungen in einer Sonderposition Sie ist klein beinahe uumlberschaubar und steht auf einem stabilen politischen sozialen und oumlkonomischen Fundament Dank einem breiten Mittelstand und gut bezahlten Mittelschichtjobs ist die Gefahr ei-ner Einkommenspolarisierung ndash zumindest ge-genwaumlrtig ndash deutlich geringer als in anderen Laumlndern oder Regionen

Wegen des starken Wachstums im Silicon Valley hat San Francisco mittlerweile einen houmlheren Gi-ni-Index als Brasilien Schweizer Staumldte erfahren nicht denselben Wachstums- und Verdichtungs-druck wie andere Staumldte in Europa sie bewegen sich praktisch nicht Und das wird sich ndash sowohl im Hinblick auf die Infrastruktur als auch auf das Verhalten einer aumllter werdenden Bevoumllkerung ndash auch nicht so rasch aumlndern Entgegen dem globa-len Trend ist die staumlndige Wohnbevoumllkerung in Staumldten wie Basel Bern oder Zuumlrich in den ver-gangenen Jahrzehnten nur leicht gestiegen In Zuuml-rich wuchs die Wohnbevoumllkerung von 363 000 im Jahr 2000 auf 397 000 Einwohner im Jahr 2015 was einer Veraumlnderung von 142 Prozent ent-spricht In Basel stieg die Einwohnerzahl im glei-chen Zeitraum um lediglich 37 Prozent von 167 000 auf 170 000 Dies veranschaulicht dass die Schweizer Staumldte im Verglichen mit den neuen schnell wachsenden Megacitys ein anderes Ver-haumlltnis zu Wachstum und Dichte haben und da-mit auch andere Herausforderungen

Die neue Vernetzung der StaumldtelaquoThe supply of everything can meet demand for

anything anything or anyone can get nearly anywhereraquoPAR AG KHANNA POLITIKWISSENSCHAFTLER

UND PUBLIZIST

Durch den globalen Handel entsteht eine in der Geschichte noch nie da gewesene Konnektivitaumlt der Staumldte Diese starke Vernetzung fuumlhrt zu einer neuen Geografie der sogenannten laquoKonnektogra-fieraquo in welcher Grenzen Herkunft und staatliche Regulative immer weniger wichtig werden Der paradigmatische Ort fuumlr diese neue Landkarte ist Dubai 90 Prozent der Bevoumllkerung kommt aus dem Ausland die Steuern sind niedrig die Expor-te hoch laquoThe supply of everything can meet de-mand for anything anything or anyone can get nearly anywhereraquo27 Radikal verkuumlrzt Alles und alle koumlnnen uumlberallhin gehen Die laquoKonnektogra-fieraquo kann auch auf die Schweiz heruntergebrochen werden Als Nichtmitglied der EU spielt das Land im internationalen System zwar eine Sonderrolle die Schweizer Staumldte sind aber dennoch in ein glo-bales Geflecht eingewoben Die Digitalisierung macht auch vor dem kleinsten Dorf nicht halt Das Internet eroumlffnet einerseits neue Wettbe-werbsmoumlglichkeiten ndash so wurde beispielsweise die virtuelle Waumlhrung Ethereum in Zug program-miert ndash andererseits entstehen neue Verwundbar-keiten etwa durch Hackerangriffe auf smarte Staumldte

Aus raumplanerischer Sicht ist die Schweiz ein einziges urbanes System ndash zumindest zwischen dem Bodensee und Genf die Unterschiede zwi-schen Stadt und Land sind obsolet Aus gesell-

27 Parag Khanna (2016) Connectography Mapping the Global Network Revolution

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 15

schaftlicher Sicht jedoch sind diese Kategorien noch nicht uumlberwunden im Gegenteil Zu starr sind die unterschiedlichen Einstellungen Werte und Lebensstile der staumldtischen und der laumlndli-chen Bevoumllkerung Dennoch ist klar dass oumlffentli-che Raumlume keine Grenzen kennen Die Schweiz ist ein einziges urbanes System inmitten eines einzi-gen urbanen Systems namens Welt In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne ndash etwa bei der Standortwahl fuumlr neue Forschungs- und Entwicklungszentren Im Ge-baumlude der ehemaligen Zuumlrcher Sihlpost hat Goog-le einen neuen Hub eroumlffnet Bis 2021 sollen in der Limmatstadt weitere 2000 Google-Mitarbeiter be-schaumlftigt werden28 ndash neben den 2000 laquoZooglernraquo aus 75 Nationen die schon heute auf dem Huumlrli-mann-Areal arbeiten Das beweist dass die Mitar-beiter des Unternehmens als laquoAnywheresraquo eine flexible transportable Identitaumlt besitzen

Anders als die Landwirtschaft oder die verarbei-tende Industrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen fuumlr Aumlcker und Fabriken sondern vor allem gut ausgebildete mobile Men-schen und hochgeruumlstete Laboratorien Im Ge-gensatz zur ersten industriellen Revolution wo die Fabriken mit ihren rauchenden Kaminen am Stadtrand hochgezogen wurden kehren die Tech-nologiefirmen in die Zentren zuruumlck Amazon hat sich an seinem Hauptstandort Seattle mit zahlrei-chen Ausbauten ndash darunter die neue Firmenzent-

28 httpswwwnzzchzuerichgoogle-in-zuerich-innovationen-made-in-zurich-ld140285

29 httpswwwtheatlanticcomtechnologyarchive201709the-great-thing-about-apple-christening-their-stores-town-squares539667

rale laquoThe Spheresraquo mit drei gewaumlchshausaumlhnlichen Glaskuppeln ndash zu einer Stadt in der Stadt verdich-tet Und Apple nennt seine ikonischen Apple Stores kuumlnftig laquoTown Squareraquo (Marktplatz) und unterstreicht damit den urbanen Charakter seiner Laumlden29 Gleichzeitig findet eine Ruumlckkehr zur Company Town statt wie man sie aus der An-fangszeit der Industrialisierung kennt Der Schuh-lieferant Zappos liess mitten in Las Vegas fuumlr 350 Millionen Dollar ein eigenes Staumldtchen mit einem Unterhaltungskomplex und einem Hotel bauen Facebook enthuumlllte juumlngst Plaumlne fuumlr den Bau des neuen Willow Campus In dieser hippen hoch technisierten Idylle pendeln die Mitarbeiter zwi-schen veganen Cafeacutes und Co-Working-Spaces ndash und kontrollieren einander im Rahmen einer Art Nachbarschaftshilfe gegenseitig Aumlhnliche Sied-lungen liess einst der deutsche Industrielle Alfred Krupp in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Fa-briken bauen

In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz

mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne

FUTURE PUBLIC SPACE16

DATENSTAU

DATENHIGHWAY

Smart City500GB

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17

Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

FUTURE PUBLIC SPACE18

Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

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hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

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Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21

der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23

die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 27

FUTURE PUBLIC SPACE28

Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

FUTURE PUBLIC SPACE30

laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 31

Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

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Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

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Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 4: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

FUTURE PUBLIC SPACE2

Staumldte werden dichter Immer mehr Menschen muumlssen sich immer weniger Platz teilen Gleichzei-tig wandelt sich der staumldtische Raum Neue Ar-beitswelten veraumlnderte Mobilitaumlt Zielkonflikte zwischen Bewohnern und Touristen oder Struk-turwandel im Handel tragen dazu bei Wird der oumlffentliche Raum wichtiger Und weshalb ist er dies uumlberhaupt

Den oumlffentlichen Raum zu definieren erweist sich als ein schwieriges Unterfangen Das hat primaumlr mit den unterschiedlichen Definitionen zu tun die von Verwaltung Architektur Soziologie und den Nutzern des oumlffentlichen Raums ndash der Oumlffentlich-keit selbst ndash verwendet werden Ein Kriterium das sich jedoch herausstreichen laumlsst ist die Zugaumlng-lichkeit fuumlr alle Doch immer mehr Spielregeln Hausregeln Gebote und Verbote scheinen den oumlf-fentlichen Raum zu bedrohen Er gilt sowohl als Kulisse unserer gesellschaftlichen Inszenierung als auch der Infrastruktur zur Verbindung und Vernetzung des gemeinschaftlichen Lebens Dabei wird schnell klar ganz egal ob der oumlffentliche Raum zu oder abnimmt er veraumlndert sich schnell Die Studie beschreibt fuumlnf Thesen die den oumlffentli-chen Raum in Zukunft deutlich praumlgen duumlrften

DER STRUKTURWANDEL IM HANDEL UND DER MOBILITAumlT VERAumlNDERT DIE NUTZUNG DES

OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Handel praumlgte uumlber Jahrzehnte ndash ja sogar Jahrhunderte ndash unsere Innenstaumldte Einige der prominentesten Strassen der Welt verdanken ihre Bekanntheit ihren exklusiven Laumlden Die Fifth Avenue die Via Montenapoleone die Champs-Eacutelyseacutees oder auch die Bahnhofstrasse in Zuumlrich Doch der Klick-Konsum haumllt Einzug und es ist schneller und bequemer online zu shoppen als sich durch die den Witterungen ausgesetzte La-denzeilen zu schieben Dabei verdankt zum Bei-spiel Bern seine pittoresken - heute bei Touristen

beliebten ndash laquoLaubenraquo dem Handel des Mittelal-ters Auch die Mobilitaumlt steckt mitten in einem Veraumlnderungsprozess Shared Mobility setzt sich bei jungen urbanen Bevoumllkerungsschichten im-mer mehr durch In Kombination mit dem Hoff-nungstraumlger des autonomen Fahrens wird sich das Erscheinungsbild von Mobilitaumlt in der Stadt deutlich veraumlndern Ob dadurch wieder mehr Raum frei wird ist schwer vorherzusagen da die-se neuen Konzepte in starker Abhaumlngigkeit zu an-deren Einflussfaktoren stehen So kommen mit dem autonomen Fahren neue Nutzergruppen ins Spiel die heute nicht am Individualverkehr parti-zipieren wie beispielsweise Hochbetagte oder Kinder Und natuumlrlich wird auch das Pricing im Verhaumlltnis zum oumlffentlichen Verkehr eine dimen-sionierende Rolle spielen

DIE POLARITAumlTEN VON OumlFFENTLICH UND PRIVAT VERWISCHEN IMMER MEHR

Lange hat uns Architektur und Stadtplanung klar identifizierbare Zonen des Privaten und des oumlf-fentlichen eingerichtet Die Normen und Regeln waren eindeutig Doch mittlerweile kaufen Fir-men wie Daimler oder Nike Plaumltze auf die sie zu Urban Entertainment Centern umgestalten Auf oumlffentlichen Plaumltzen stehen sofagleiche Sitzgele-genheiten und man wird mit WLAN versorgt Er-weiterte Realitaumlten erzeugen zudem eine neue hyperindividualisierte Wahrnehmung des oumlffent-lichen Raums Jeder Nutzer dieser Technologie erhaumllt dadurch eine individuelle und damit priva-tisierte Wahrnehmung dieses Raums ndash mit laquofreundlicher Unterstuumltzungraquo von Google Insta-gram und Apple gewissermassen Es entsteht eine personalisierte Oumlffentlichkeit

DAS URBANE GEFUumlHL HAT VERSCHIEDENE GESICHTER

Schweizer Staumldte sind im Vergleich zu internatio-nalen Metropolen Doumlrfer Daher wird auch ein

Summary

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 3

anderes Gefuumlhl von Urbanitaumlt kultiviert als dies in Paris oder Berlin der Fall ist Schweizer Staumldte sind von Kriegen unbeschadet geblieben Das macht sie fuumlr Einheimische lebenswert fuumlr Touristen at-traktiv und fuumlr Investoren kommerziell interes-sant Insgesamt hat diese Anziehungskraft auch hohe Mieten und Preise zur Folge Das etablierte Lebensgefuumlhl fuumlhrt zu einem eher bewahrenden Verhalten Die komfortable Situation soll erhalten bleiben Innovation hat daher wenig Platz Zudem sind die Mieten dafuumlr zu teuer geworden Diese Lock-In Situation fuumlhrt zu einem kreativen Ab-fluss in die Peripherie der Kernstaumldte und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

OumlFFENTLICHER RAUM IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN FREIHEIT UND SICHERHEIT

Unter dem Eindruck von Terrorgefahr und unan-gemessenem Verhalten werden oumlffentliche Raumlume immer mehr uumlberwacht Sich beobachtet zu fuumlh-len fuumlhrt unweigerlich zu einem anderen Verhal-ten ergo einer Unfreiheit Doch mit der Digitalisierung findet ein Shift statt von sichtbarer zu unsichtbarer Uumlberwachung Anstelle der sicht-baren Uumlberwachung durch Videokameras ist die unsichtbare Uumlberwachung in Laternenpfahle oder Smartphones integriert Codierte Menschen die sich uumlber Fitnesstracker und soziale Netzwerke quasi selbst uumlberwachen in einer codierten Stadt die sich selbst optimiert indem Algorithmen die Abfallentsorgung kontrollieren oder die Luftqua-litaumlt messen Der Mensch wird integraler Bestand-teil der Smart City und verschmilzt zu einem neuen Oumlkosystem

VOM REGULATOR ZUM MODERATOR ROLLEN-SHIFT DER STADTVERWALTUNGEN

Ob Zuhause bei der Arbeit oder unterwegs die Menschen sind praktisch immer online Google hilft bei der Navigation durch die Stadt Whats-

App bei der Kommunikation oder Tinder bei der Partnersuche Die Sicht auf unsere Umwelt erfolgt zunehmend durch den Filter einer der Big Seven der Tech Industrie (Google Apple Facebook Amazon Baidu Alibaba und Tencent) Diese glo-balen Player stellen ihre eigenen Hausregeln in Bezug auf die Nutzung ihrer Dienstleistungen auf - werden zu den eigentlichen laquoKreatorenraquo der Staumld-te - womit sie unweigerlich auch auf die Verhal-tensnormen der physischen Umgebung einwirken Diese Nutzungsbedingungen aus Sicht eines Users uumlbertragen sich auf die Rolle als Buumlrger Der Buumlr-ger versteht sich immer mehr als User einer Stadt deren Qualitaumlt und Usability analog TripAdvisor bewertet werden kann Die Verwaltungen der Staumldte finden sich in einem neuen Oumlkosystem wie-der wo sie von einer Rolle des Regulators immer mehr zu einer Rolle des Moderators uumlbergehen

FUTURE PUBLIC SPACE4

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 5

Die oumlffentlichen Raumlume in den Staumldten stellen einen zentralen Faktor fuumlr die Lebensqualitaumlt dar Wer beruflich mit dem oumlffentlichen Raum zu tun hat ist immer wieder mit einer grossen Dynamik und haumlufig unerwarte-ten Entwicklungen konfrontiert sei dies im Nachtleben im Tourismus im Verkehr im Detailhandel im Freizeitverhalten in Kunst und Kultur Die Staumldte muumlssen diese dynamischen Entwicklungen aufnehmen Wer die Zeitraumlume der politischen Ablaumlufe und der Planungsprozesse kennt weiss dass dies nicht immer einfach ist Da liegt der Wunsch in die Zu-kunft blicken zu koumlnnen nahe Nun ist das mit der Zukunft so eine Sache laquoWir stellen uns eben die Zukunft wie einen in einen leeren Raum proji-zierten Reflex der Gegenwart vor waumlhrend sie oft das bereits ganz nahe Ergebnis von Ursachen ist die uns zum groumlszligten Teil entgehenraquo erkannte schon Marcel Proust

Die vorliegende Studie versucht diese Herausforderung greifbar zu ma-chen indem sie erkennbare Entwicklungen in Form von fuumlnf Hypothesen aufzeigt Dass sich dabei durchaus auch widerspruumlchliche Aussagen erge-ben liegt in der Natur der Dinge Die Zukunftsforschung zeigt Trends und Gegentrends auf Nicht immer ist eindeutig welcher sich durchsetzt

Ziel von GDI und ZORA ist es die Verantwortlichen in den Staumldten fuumlr die Herausforderungen die sich aus den aktuellen Entwicklungen erge-ben zu sensibilisieren Getreu dem Grundsatz laquoZukunft passiert nicht wir gestalten sieraquo muumlssen sich die Staumldte daruumlber klar werden ob und wie sie Entwicklungen mitsteuern wollen Die Studie beleuchtet wichtige Handlungsfelder beispielsweise moumlgliche Anspruumlche an die Nutzbarkeit oumlffentlicher Raumlume die Veraumlnderung des Verstaumlndnisses von Oumlffentlich-keit die Verschiebungen im Stadtgefuumlge oder das Spannungsfeld zwi-schen Freiheitswunsch und Sicherheitsbeduumlrfnissen Auch auf die zukuumlnftige Bedeutung unterschiedlicher Akteure geht sie ein

Wir wuumlnschen uns dass diese Studie die Diskussion unter den Akteurin-nen und Akteuren in den Staumldten anregt und dazu fuumlhrt den oumlffentlichen Raum und die wichtigen Zukunftsthemen weit oben auf die Agenda zu setzen

Christoph Baumlttig Vorsitzender laquoZentrum Oumlffentlicher Raumraquo ZORA

Vorwort

FUTURE PUBLIC SPACE6

1 httpswwwbfsadminchbfsdehomestatistikenkataloge-datenbankenmedienmitteilungenassetdetail38618html

2 Bundesamt fuumlr Raumentwicklung Bauzonenstatistik Schweiz 2017

3 httpsnzzasnzzchkulturvittorio-magnago-lampugnaniwie-kann-man-verhindern-dass-die-schweiz-verschandelt-wird-wir-sollten-uns-schoenheit-etwas-kosten-lassen--ld1357554-reduced=true

4 Bundesamt fuumlr Raumentwicklung Bauzonenstatistik Schweiz 2017

Zur Vermessung von Schweizer Staumldten

BEVOumlLKERUNGSWACHSTUM16 Bevoumllkerungswachstum

zwischen 2015 und 2030 und 95 Millionen Einwohner im 20304

STAumlDTE WERDEN DICHTER(jedoch primaumlr ihre Agglomerationen)

59 Millionen resp 73 der Menschen in der Schweiz leben in Agglomerationen 84 der Bevoumllkerung in Gemeinden mit

staumldtischem Charakter auf 41 der Landesflaumlche1

2-3 ist die houmlchste Ausnuumltzungsziffer von Zuumlrich das Verhaumlltnis der Nutzflaumlche

der Gebaumlude zum Grundstuumlck 4-5 ist die Kernziffer fuumlr die Dichte im historischen

Zentrum Roms das wegen seiner urbanen Atmosphaumlre geschaumltzt wird3

75 DER SCHWEIZ IST SIEDLUNGSFLAumlCHE

359 Landwirtschaftsflaumlche313 Waldflaumlche

253 unproduktive Flaumlchen (Gletscher Fels usw)5

URBANER RAUM Weltweit leben 54 der Menschen im

urbanen Siedlungsraum6 Der urbane Raum (Staumldte) belegt jedoch lediglich 2-3 der

Flaumlche der Welt7

+16 54

5 httpswwwareadmincharedehomeraumentwicklung-und-raumplanunggrundlagen-und-datenfakten-und-zahlenraeumliche-bevoelkerungsverteilunghtml

6 httpsdataworldbankorgindicatorSPURBTOTLINZS7 httpbrandondonnellycompost146850094613the-back-

end-of-our-cities

FLAumlCHE DER BAUZONE2

weitere Bauzonen 1

Verkehrszonen innerhalb der Bauzonen 2

Tourismus- und Freizeitzonen 1

Arbeitszonen 14

Wohnzonen 46

eingeschraumlnkte Bauzonen 3

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen 11

Zentrumszonen 11

Mischzonen 11

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 7

8 Kessler Patrick Hochreutener Thomas und Windel Jens On-line- und Versandhandelsmarkt Schweiz 2016 Praumlsentation fuumlr Medienkonferenz am 132017 (anlaumlsslich Veroumlffentlichung der Resultate der Gesamtmarkterhebung fuumlr Online- und Versand-handel des VSV GfK und der Post) S13

9 EbdS1510 Wuest amp Partner 201811 GfK Markt Monitor 2017 S8312 httpwwwmobilitaetbschgesamtverkehrverkehrskennzah-

lenparkplatzkatasterhtml

Wertmaumlssige Anteile des Online-Versandhandels am Schweizer Detailhandel8

16 17 18 19

113 123 137153

16

101

Food Non-Food

2012 2013 2014 2015 2016

in

NUTZUNGSANSPRUumlCHEBis zum Jahr 2020 moumlchte Basel durch

Parkplaumltze frei gewordene Flaumlchen um 10 (gguuml 2000) zugunsten von Spielraumlumen und

anderen Nutzungsanspruumlchen senken15

VERAumlNDERTE MOBILITAumlTSKONZEPTE (Beispiel Stadt Basel)

302rsquo478m2 Flaumlche Autoparkplaumltze (-16)19rsquo862m2 Flaumlche Veloparkplaumltze12

307rsquo351m2 Flaumlche Autoparkplaumltze 18rsquo373m2 Flaumlche Veloparkplaumltze

2015

2017

AUTONOME FAHRZEUGE SPAREN BIS ZU 20 FLAumlCHE

Experten schaumltzen dass mit autonomen Fahrzeugen bis zu 20 Flaumlche eingespart

werden kann13 Jedoch nur wenn die bishe-rigen Nutzer oumlffentlicher Transportmittel

nicht auf Automobile umsteigen14

+10

13 httpswwwvoxcomanew-economy-futurecars-cities-tech-nologies

14 httpswwwmapcorgfarechoices15 Regierungsrat des Kantons Stadt Basel laquoRatschlag und Be-

richt Kantonale Volksinitiative Ja zu Parkraum auf privatem Grund und laquoGegenvorschlag fuumlr eine Anpassung des Bau- und Planungsgesetzes betreffend Abstellplaumltze fuumlr Fahrzeugeraquo Re-gierungsratsbeschluss vom 10 Mai 2011 Basel

VOM BOOM DER LADENFLAumlCHEN699 Quadratmeter Flaumlche umfasste ein La-den im Schnitt im Jahr 2017 1980 lag dieser Wert noch bei 172 Quadratmetern Gemaumlss

GfK geht dieser Trend jedoch wieder in Richtung kleinere Ladenformate11

699 M2

DER HANDEL VERSCHIEBT SICH Waumlhrend der Non-Food Konsum im

stationaumlren Handel sinkt waumlchst er im Online- und Versandhandel9

02

-145

03

-045

055

-115

035

-115

05

-25

05

-19

2011 2012 2013 2014 2015 2016

0

Non-Food Online

Non-Food Stationaumlr

in

FLAumlCHENBOOM Im Flaumlchenboom der letzten 20 Jahre

(Kernstaumldte 1995-2015) hat sich der Druck des Onlinehandels noch nicht bemerkbar

gemacht Gesamtschweizerisch haben die Handelsflaumlchen um 28 zugenommen

(Zuumlrich +36 Luzern +15)10

FUTURE PUBLIC SPACE8

Warum es den oumlffentlichen Raum nicht gibt

laquoEine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig

sie ist vielleicht gar keine OumlffentlichkeitraquoJUumlRGEN HABERMAS PHILOSOPH

Umstrittene DefinitionWas ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt Eine ab-schliessend richtige Definition gibt es nicht Zu vielfaumlltig sind die Vorstellungen vom oumlffentlichen Raum zu unterschiedlich die Anspruumlche Klar scheint jedoch dass sich der oumlffentliche Raum in erster Linie durch Zugaumlnglichkeit kennzeichnet laquoDer oumlffentliche Raum kann verstanden werden als ein allgemein zugaumlnglicher Bereich in dem Menschen ohne Beschraumlnkungen ein- und ausge-hen Die Menschen bewegen sich in diesem Be-reich frei Zufaumlllig oder geplant begegnen wir uns hier Der oumlffentliche Raum ist offen und wird be-grenzt von dessen Gegensatz dem nicht allgemein zugaumlnglichen Bereich Daher verlangt der oumlffentli-che Raum um als solcher wahrgenommen zu werden auch ein Gegenstuumlck das Privateraquo16 Auch Juumlrgen Habermas stellt das Zugangskriterium in den Vordergrund laquoDie buumlrgerliche Oumlffentlichkeit steht und faumlllt mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs Eine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig sie ist vielleicht gar keine Oumlffentlichkeitraquo17 Treibt man dieses Kriterium der Zugaumlnglichkeit noch etwas weiter und uumlbersetzt es sprachlich in die Gegenwart so ist der oumlffentli-che Raum rund um die Uhr zugaumlnglich nicht uumlberwacht ndash und man kann sich dort laumlnger als ein paar Minuten aufhalten ohne weggewiesen zu werden Folgt man der Definition der Zugaumlnglich-keit so kann man leicht den Schluss ziehen dass der oumlffentliche Raum bedroht ist Der Zugang wird immer mehr vordefiniert es gibt immer we-niger nicht uumlberwachte oder unbewachte Raumlume ndash und an vielen Orten herrscht Konsumzwang

Fazit Es gibt nicht nur keine abschliessend richti-ge Definition des oumlffentlichen Raums ndash auch unser Verstaumlndnis des oumlffentlichen Raums ist nicht kon-stant

Diskussionen uumlber den oumlffentlichen Raum werden in Europa besonders heftig gefuumlhrt Das ist nicht weiter erstaunlich weil der oumlffentliche Raum in diesem Kulturkreis an den Mythos der griechi-schen Polis anknuumlpft in der sich auf der Agora Menschen frei versammelten und in politischen Austausch traten Aber das ist eine idealisierte Vorstellung Im Griechenland der Antike waren ndash genau wie in der europaumlischen Stadt der Moder-ne ndash stets auch grosse Gruppen von der Oumlffent-lichkeit der Raumlume ausgeschlossen18

Der oumlffentliche Raum moderner Praumlgung ent-stand im 19 Jahrhundert als in Staumldten oumlffentli-che Parks und Plaumltze angelegt wurden wie zum Beispiel der Hyde Park in London oder der Cen-tral Park in New York19

16 Guido Brendgens Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simu-lierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (Dezember 2005) S 1088ndash1097

17 Juumlrgen Habermas Strukturwandel der Oumlffentlichkeit 1990 S 156

18 Jan Wehrheim Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

19 Carsten Benke (2004) Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht In Die alte Stadt 31 Jahrgang

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20 Hans Paul Bahrt Umwelterfahrung Muumlnchen 1974 S 35

Ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt wichtig

Das allgemeine Wehklagen uumlber den Verlust des oumlffentlichen Raums beantwortet nicht die Frage warum dieser uumlberhaupt wichtig ist Welche strukturellen Vorteile hat der oumlffentliche Raum gegenuumlber dem privaten Generell laumlsst sich sagen dass durch die geforderte Verdichtung in den Staumldten der oumlffentliche Raum fuumlr die Allgemein-heit wichtiger wird Er dient als Kompensations-raum fuumlr Aktivitaumlten die im engeren privaten Raum nicht ausgefuumlhrt werden koumlnnen Gleich-zeitig druumlckt sich darin auch die Lebensqualitaumlt der Bewohner aus ndash zum Beispiel durch Freizeit-aktivitaumlten die im privaten Raum nur einge-schraumlnkt moumlglich sind Der oumlffentliche Raum laumlsst sich auf verschiedene Arten nutzen ndash beispielswei-se als Erholungsraum als Konsumraum als Ver-kehrsraum oder als Kommunikationsraum Diese Multifunktionalitaumlt ist fuumlr den oumlffentlichen Raum bestimmend laquoStrassen und Plaumltze die typischer-weise von Angehoumlrigen ganz verschiedener Bevoumll-kerungsschichten zu verschiedenen Zwecken gut verteilt uumlber den Tag und den Abend aufgesucht werden zeigen genau das was wir oumlffentliches Le-ben auf der untersten anschaulichsten lokalen Ebene nennen naumlmlich das Rendezvous der Ge-sellschaft mit sich selbst20 Der oumlffentliche Raum ist also ein Ort an dem sich unterschiedliche Menschen begegnen koumlnnen um miteinander zu interagieren und wodurch laquodas Neueraquo entstehen und auch werden kann Er ist ebenso Ort politi-scher Manifestationen sowie des offenen Diskur-ses Viele dieser politischen Manifestationen spielen sich auf zentralen Plaumltzen ab wie zB dem Tahrir-Platz in Kairo waumlhrend des Arabischen Fruumlhlings Der Maidan-Platz in Kiew ist sogar zum Namensgeber ndash Euromaidan ndash der Buumlrger-proteste in der Ukraine geworden die zwischen

dem 21 November 2013 und dem 26 Februar 2014 in der Ukraine stattgefunden habenVerstaumlrkt durch die digitalen Medien und sozia-len Netzwerke verbreiten sich die Anliegen heute rasend schnell Das prominenteste Beispiel dafuumlr ist die Occupy-Bewegung die nicht nur in New York City zum Ausdruck kam sondern sich welt-weit in Staumldten verbreitete

OCCUPYWALLSTREET laquoAre you ready for a Tahrir moment On Sept 17 flood into lower Manhattan

set up tents kitchens peaceful barricades and occupy Wall Streetraquo

ADBUSTERS-WEBSITE AM 13 JULI 2011

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21 Jan Wernheim22 Martina Loumlw Raumsoziologie 200023 Christian Schmid Raum und Regulation Henri Lefebvre und

der Regulationsansatz In Ulrich Brand und Werner Raza (Hrsg) Fit fuumlr den Postfordismus Theoretisch-politische Per-spektiven des Regulationsansatzes Muumlnster Westfaumllisches Dampfboot 2003 S 224

Oumlffentlicher Raum wird ausgehandelt

laquoDie Strasse die der Urbanismus geometrisch festlegt wird durch die Gehenden in einen Raum verwandeltraquo

MICHEL DE CERTEAU SOZIOLO GE HISTORIKER UND KULTURPHILOSOPH

An den oumlffentlichen Raum werden die unterschied-lichsten Anforderungen gestellt Die Nutzungsinte-ressen variieren je nach Milieuzugehoumlrigkeit und reichen von kulturellen Angeboten uumlber Gruumln- und Erholungsflaumlchen bis hin zur Luftreinhaltung Die Qualitaumlt des oumlffentlichen Raums laumlsst sich daher nur bedingt an quantitativen Kriterien wie Luft-qualitaumlt Verkehrsaufkommen Laumlrmbelastung oder Kriminalitaumlt messen Die Nutzung des oumlffentlichen Raums unterliegt einer konstanten Verhandlung mit dauerhafter Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Interessensgruppen Phaumlnomene wie bei-spielsweise das Public Viewing von Sport- und Kul-turveranstaltungen haben sich erst in den vergangenen Jahren entwickelt und stellen ganz neue Nutzungsvarianten fuumlr den oumlffentlichen Raum dar Auch das Smartphone-Game laquoPokeacutemon Goraquo bei dem die Nutzer auf der Jagd nach virtuellen Monstern Plaumltze bevoumllkerten und die entlegensten Orte aufsuchten veraumlndert die Nutzung des oumlffent-lichen Raums und kann als eine Art Neuentde-ckung des Stadtraums bezeichnet werden

Der oumlffentliche Raum wird zuweilen als ein laquophy-sischer Raumraquo betrachtet der von Stadtplanern und Architekten spezifisch laquoals Behaumllter fuumlr Ge-sellschaft und bestimmbares soziales Handelnraquo21 geschaffen wird Raum existiert indessen nicht per se sondern entsteht durch Handlung Wahr-nehmung und Vorstellung der einzelnen Nutzer Raum ist somit nicht ein laquoBehaumlltnisraquo in dem das Leben unberuumlhrt von ihm stattfindet sondern

vielmehr ein gesellschaftliches Produkt das aus den vielschichtigen Beziehungen zwischen den Nutzern und der gebauten Umwelt entsteht Raumlu-me werden auch uumlber die Atmosphaumlre definiert Beispiele dafuumlr sind etwa die sakrale Aura einer Kirche die erholsame Stimmung eines Parks oder das edle Ambiente eines Restaurants22 Was wir erfahren ist somit kein physischer Raum der sich statisch verhaumllt wie ein Modell sondern ein Raum der sich staumlndig veraumlndert den wir jeden Moment neu wahrnehmen ndash eingefaumlrbt durch unsere Erin-nerung und Vorstellung Ein Raum laumlsst sich nur dann wahrnehmen wenn er zuvor gedanklich konzipiert worden ist Somit entstehen Konstruk-tionen und Konzeptionen des oumlffentlichen Raums die sich auf gesellschaftliche Konventionen stuumlt-zen mit der Produktion von Wissen verbunden und mit Machtstrukturen verknuumlpft sind Beim gedanklich konzipierten Raum handelt es sich um eine Darstellung die den Raum abbildet und defi-niert Diese Darstellung entsteht auf der Ebene des Diskurses der Sprache als solcher und um-fasst im engsten Sinne verbalisierte Formen z B Beschreibungen oder Definitionen aber auch Karten und Plaumlne sowie Informationen durch Bil-der und Zeichen Im weiteren Sinne umfasst die Repraumlsentation des Raums auch gesellschaftliche Regeln und eine Ethik23 Aus der gedanklichen Konstruktion von Staumldten erwachsen stets auch neue Idealbilder und Wunschvorstellungen

FUTURE PUBLIC SPACE12

Die Stadt als idealisierte Projektionsflaumlche

Der oumlffentliche Raum dient als Projektionsflaumlche fuumlr Ideen Bilder und Wuumlnsche ndash aber auch fuumlr Utopien Er ist ein Moumlglichkeitsraum in dem sich mit Idealen etwa mit bestimmten Wohnformen (zB Co-Housing) experimentieren laumlsst Diese Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt der Staumldte wo es stets auch um prak-tische Nutzungsperspektiven geht

Die Stadt als Ort des offenen Diskurses und der freien Zusammenkunft wird nicht selten verklaumlrt und romantisiert In Grossbritannien werden die roten gusseisernen Telefonzellen ndash ein Lieblings-gegenstand der Populaumlrkultur und laumlngst Teil des urbanen Inventars ndash neuen Nutzungen zuge-fuumlhrt24 Die Telefonzelle hat im Zeitalter des Smartphones zwar ausgedient wird aber zumin-dest in der aumlusseren Form weiter in Betrieb gehal-ten Damit bedient sie eine Sehnsucht nach jener Zeit als Telefonleitungen die Verbindungsrelais fuumlr das gesamte Empire waren

Die Stadt bleibt ein Sehnsuchtsort Gleichzeitig ist ndash gewissermassen antithetisch ndash aber auch eine Entromantisierung der Stadt festzustellen Staumldte werden assoziiert mit Dreck Muumlll Laumlrm Smog und anderen Emissionen Diese Faktoren gehoumlren zur Stadt wie Haumluser und Bewohner werden aber

durch Idealisierung und Verklaumlrung ausgeblen-det Es gibt Muumlllhauptstaumldte (Neapel) Laumlrm-hauptstaumldte (Mannheim Kairo) Stauhauptstaumldte (Jakarta) und Feinstaubhauptstaumldte (Stuttgart) Solche wenig schmeichelhaften Zuschreibungen die in zahlreichen Rankings auf eine quantifizie-rende Grundlage gestellt werden kratzen am Image der Staumldte In der Schweiz gilt Genf als Stauhauptstadt Bern wird in den Medien zuwei-len als Diebstahlhochburg apostrophiert und Zuuml-rich gilt ndash mit einem 3 Rang im europaweiten Ranking ndash gemeinhin als Kokainhauptstadt der Schweiz Die Quantifizierung des Sozialen25 er-streckt sich auch auf Staumldte die ja vor allem auch ein soziales System konstituieren Beginnt die Stadt als Erfolgsmodell bruumlchig zu werden26

Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt

der Staumldte wo es stets auch um praktische Nutzungs-

perspektiven geht

24 Die Betreiberfirma BT hat das Programm laquoAdopt a Kioskraquo lan-ciert bei dem ausrangierte Telefonzellen zum symbolischen Preis von einem Pfund erworben werden koumlnnen 3500 Ge-meinden haben nach Konzernangaben davon bereits Gebrauch gemacht In Schottland wurde eine Telefonzelle in eine Mini-Bibliothek umfunktioniert in London wurde eine andere zum Kiosk

25 Stefen Mau (2017) Das metrische Wir Uumlber die Quantifizie-rung des Sozialen

26 Richard Florida (2017) The New Urban Crisis

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 13Wofuumlr Flaumlche im Verhaumlltnis pro Einwohner verwendet wird

Quellen Bundesamt fuumlr Statistik Eidg Volkszaumlhlungen 1970 1980 1990 und 2000 (harmonisierte Daten) Bundesamt fuumlr Statistik Statistik des jaumlhrlichen Bevoumllkerungsstandes (ESPOP) 1995 2005 Bundesamt fuumlr Statistik Statistik der Bevoumllkerung und der Haushalte (STATPOP) 2010-2016 Definition der staumlndigen

Wohnbevoumllkerung und des Wohnsitzbegriffs gemaumlss STATPOP Wuest amp Partner 2018 Planungsbuumlro Jud 2017

Bruttogeschossflaumlche pro Einwohner im 2015

Die Verkehrsflaumlche bezieht sich auf die Agglomeration im Jahr 2014

KernstadtAgglomeration

20151970

Staumlndige Wohnbevoumllkerung

St Gallen

80K 144K 76K 166K

Winterthur

92K 107K108K 138K

Luzern

82K 173K81K 226K

Bern

160K 357K132K 411K

Basel

209K 480K170K 541K

Zuumlrich

416K 966K

397K 1334K

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Sonderposition SchweizDie Schweiz befindet sich im Spannungsfeld die-ser Entwicklungen in einer Sonderposition Sie ist klein beinahe uumlberschaubar und steht auf einem stabilen politischen sozialen und oumlkonomischen Fundament Dank einem breiten Mittelstand und gut bezahlten Mittelschichtjobs ist die Gefahr ei-ner Einkommenspolarisierung ndash zumindest ge-genwaumlrtig ndash deutlich geringer als in anderen Laumlndern oder Regionen

Wegen des starken Wachstums im Silicon Valley hat San Francisco mittlerweile einen houmlheren Gi-ni-Index als Brasilien Schweizer Staumldte erfahren nicht denselben Wachstums- und Verdichtungs-druck wie andere Staumldte in Europa sie bewegen sich praktisch nicht Und das wird sich ndash sowohl im Hinblick auf die Infrastruktur als auch auf das Verhalten einer aumllter werdenden Bevoumllkerung ndash auch nicht so rasch aumlndern Entgegen dem globa-len Trend ist die staumlndige Wohnbevoumllkerung in Staumldten wie Basel Bern oder Zuumlrich in den ver-gangenen Jahrzehnten nur leicht gestiegen In Zuuml-rich wuchs die Wohnbevoumllkerung von 363 000 im Jahr 2000 auf 397 000 Einwohner im Jahr 2015 was einer Veraumlnderung von 142 Prozent ent-spricht In Basel stieg die Einwohnerzahl im glei-chen Zeitraum um lediglich 37 Prozent von 167 000 auf 170 000 Dies veranschaulicht dass die Schweizer Staumldte im Verglichen mit den neuen schnell wachsenden Megacitys ein anderes Ver-haumlltnis zu Wachstum und Dichte haben und da-mit auch andere Herausforderungen

Die neue Vernetzung der StaumldtelaquoThe supply of everything can meet demand for

anything anything or anyone can get nearly anywhereraquoPAR AG KHANNA POLITIKWISSENSCHAFTLER

UND PUBLIZIST

Durch den globalen Handel entsteht eine in der Geschichte noch nie da gewesene Konnektivitaumlt der Staumldte Diese starke Vernetzung fuumlhrt zu einer neuen Geografie der sogenannten laquoKonnektogra-fieraquo in welcher Grenzen Herkunft und staatliche Regulative immer weniger wichtig werden Der paradigmatische Ort fuumlr diese neue Landkarte ist Dubai 90 Prozent der Bevoumllkerung kommt aus dem Ausland die Steuern sind niedrig die Expor-te hoch laquoThe supply of everything can meet de-mand for anything anything or anyone can get nearly anywhereraquo27 Radikal verkuumlrzt Alles und alle koumlnnen uumlberallhin gehen Die laquoKonnektogra-fieraquo kann auch auf die Schweiz heruntergebrochen werden Als Nichtmitglied der EU spielt das Land im internationalen System zwar eine Sonderrolle die Schweizer Staumldte sind aber dennoch in ein glo-bales Geflecht eingewoben Die Digitalisierung macht auch vor dem kleinsten Dorf nicht halt Das Internet eroumlffnet einerseits neue Wettbe-werbsmoumlglichkeiten ndash so wurde beispielsweise die virtuelle Waumlhrung Ethereum in Zug program-miert ndash andererseits entstehen neue Verwundbar-keiten etwa durch Hackerangriffe auf smarte Staumldte

Aus raumplanerischer Sicht ist die Schweiz ein einziges urbanes System ndash zumindest zwischen dem Bodensee und Genf die Unterschiede zwi-schen Stadt und Land sind obsolet Aus gesell-

27 Parag Khanna (2016) Connectography Mapping the Global Network Revolution

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 15

schaftlicher Sicht jedoch sind diese Kategorien noch nicht uumlberwunden im Gegenteil Zu starr sind die unterschiedlichen Einstellungen Werte und Lebensstile der staumldtischen und der laumlndli-chen Bevoumllkerung Dennoch ist klar dass oumlffentli-che Raumlume keine Grenzen kennen Die Schweiz ist ein einziges urbanes System inmitten eines einzi-gen urbanen Systems namens Welt In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne ndash etwa bei der Standortwahl fuumlr neue Forschungs- und Entwicklungszentren Im Ge-baumlude der ehemaligen Zuumlrcher Sihlpost hat Goog-le einen neuen Hub eroumlffnet Bis 2021 sollen in der Limmatstadt weitere 2000 Google-Mitarbeiter be-schaumlftigt werden28 ndash neben den 2000 laquoZooglernraquo aus 75 Nationen die schon heute auf dem Huumlrli-mann-Areal arbeiten Das beweist dass die Mitar-beiter des Unternehmens als laquoAnywheresraquo eine flexible transportable Identitaumlt besitzen

Anders als die Landwirtschaft oder die verarbei-tende Industrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen fuumlr Aumlcker und Fabriken sondern vor allem gut ausgebildete mobile Men-schen und hochgeruumlstete Laboratorien Im Ge-gensatz zur ersten industriellen Revolution wo die Fabriken mit ihren rauchenden Kaminen am Stadtrand hochgezogen wurden kehren die Tech-nologiefirmen in die Zentren zuruumlck Amazon hat sich an seinem Hauptstandort Seattle mit zahlrei-chen Ausbauten ndash darunter die neue Firmenzent-

28 httpswwwnzzchzuerichgoogle-in-zuerich-innovationen-made-in-zurich-ld140285

29 httpswwwtheatlanticcomtechnologyarchive201709the-great-thing-about-apple-christening-their-stores-town-squares539667

rale laquoThe Spheresraquo mit drei gewaumlchshausaumlhnlichen Glaskuppeln ndash zu einer Stadt in der Stadt verdich-tet Und Apple nennt seine ikonischen Apple Stores kuumlnftig laquoTown Squareraquo (Marktplatz) und unterstreicht damit den urbanen Charakter seiner Laumlden29 Gleichzeitig findet eine Ruumlckkehr zur Company Town statt wie man sie aus der An-fangszeit der Industrialisierung kennt Der Schuh-lieferant Zappos liess mitten in Las Vegas fuumlr 350 Millionen Dollar ein eigenes Staumldtchen mit einem Unterhaltungskomplex und einem Hotel bauen Facebook enthuumlllte juumlngst Plaumlne fuumlr den Bau des neuen Willow Campus In dieser hippen hoch technisierten Idylle pendeln die Mitarbeiter zwi-schen veganen Cafeacutes und Co-Working-Spaces ndash und kontrollieren einander im Rahmen einer Art Nachbarschaftshilfe gegenseitig Aumlhnliche Sied-lungen liess einst der deutsche Industrielle Alfred Krupp in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Fa-briken bauen

In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz

mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne

FUTURE PUBLIC SPACE16

DATENSTAU

DATENHIGHWAY

Smart City500GB

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17

Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

FUTURE PUBLIC SPACE18

Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

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hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

FUTURE PUBLIC SPACE20

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21

der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23

die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

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Sehr wahrscheinlich

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 27

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 29

41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

FUTURE PUBLIC SPACE30

laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 31

Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

FUTURE PUBLIC SPACE32

Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

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Weiss nicht

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

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Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

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durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

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Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 5: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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anderes Gefuumlhl von Urbanitaumlt kultiviert als dies in Paris oder Berlin der Fall ist Schweizer Staumldte sind von Kriegen unbeschadet geblieben Das macht sie fuumlr Einheimische lebenswert fuumlr Touristen at-traktiv und fuumlr Investoren kommerziell interes-sant Insgesamt hat diese Anziehungskraft auch hohe Mieten und Preise zur Folge Das etablierte Lebensgefuumlhl fuumlhrt zu einem eher bewahrenden Verhalten Die komfortable Situation soll erhalten bleiben Innovation hat daher wenig Platz Zudem sind die Mieten dafuumlr zu teuer geworden Diese Lock-In Situation fuumlhrt zu einem kreativen Ab-fluss in die Peripherie der Kernstaumldte und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

OumlFFENTLICHER RAUM IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN FREIHEIT UND SICHERHEIT

Unter dem Eindruck von Terrorgefahr und unan-gemessenem Verhalten werden oumlffentliche Raumlume immer mehr uumlberwacht Sich beobachtet zu fuumlh-len fuumlhrt unweigerlich zu einem anderen Verhal-ten ergo einer Unfreiheit Doch mit der Digitalisierung findet ein Shift statt von sichtbarer zu unsichtbarer Uumlberwachung Anstelle der sicht-baren Uumlberwachung durch Videokameras ist die unsichtbare Uumlberwachung in Laternenpfahle oder Smartphones integriert Codierte Menschen die sich uumlber Fitnesstracker und soziale Netzwerke quasi selbst uumlberwachen in einer codierten Stadt die sich selbst optimiert indem Algorithmen die Abfallentsorgung kontrollieren oder die Luftqua-litaumlt messen Der Mensch wird integraler Bestand-teil der Smart City und verschmilzt zu einem neuen Oumlkosystem

VOM REGULATOR ZUM MODERATOR ROLLEN-SHIFT DER STADTVERWALTUNGEN

Ob Zuhause bei der Arbeit oder unterwegs die Menschen sind praktisch immer online Google hilft bei der Navigation durch die Stadt Whats-

App bei der Kommunikation oder Tinder bei der Partnersuche Die Sicht auf unsere Umwelt erfolgt zunehmend durch den Filter einer der Big Seven der Tech Industrie (Google Apple Facebook Amazon Baidu Alibaba und Tencent) Diese glo-balen Player stellen ihre eigenen Hausregeln in Bezug auf die Nutzung ihrer Dienstleistungen auf - werden zu den eigentlichen laquoKreatorenraquo der Staumld-te - womit sie unweigerlich auch auf die Verhal-tensnormen der physischen Umgebung einwirken Diese Nutzungsbedingungen aus Sicht eines Users uumlbertragen sich auf die Rolle als Buumlrger Der Buumlr-ger versteht sich immer mehr als User einer Stadt deren Qualitaumlt und Usability analog TripAdvisor bewertet werden kann Die Verwaltungen der Staumldte finden sich in einem neuen Oumlkosystem wie-der wo sie von einer Rolle des Regulators immer mehr zu einer Rolle des Moderators uumlbergehen

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Die oumlffentlichen Raumlume in den Staumldten stellen einen zentralen Faktor fuumlr die Lebensqualitaumlt dar Wer beruflich mit dem oumlffentlichen Raum zu tun hat ist immer wieder mit einer grossen Dynamik und haumlufig unerwarte-ten Entwicklungen konfrontiert sei dies im Nachtleben im Tourismus im Verkehr im Detailhandel im Freizeitverhalten in Kunst und Kultur Die Staumldte muumlssen diese dynamischen Entwicklungen aufnehmen Wer die Zeitraumlume der politischen Ablaumlufe und der Planungsprozesse kennt weiss dass dies nicht immer einfach ist Da liegt der Wunsch in die Zu-kunft blicken zu koumlnnen nahe Nun ist das mit der Zukunft so eine Sache laquoWir stellen uns eben die Zukunft wie einen in einen leeren Raum proji-zierten Reflex der Gegenwart vor waumlhrend sie oft das bereits ganz nahe Ergebnis von Ursachen ist die uns zum groumlszligten Teil entgehenraquo erkannte schon Marcel Proust

Die vorliegende Studie versucht diese Herausforderung greifbar zu ma-chen indem sie erkennbare Entwicklungen in Form von fuumlnf Hypothesen aufzeigt Dass sich dabei durchaus auch widerspruumlchliche Aussagen erge-ben liegt in der Natur der Dinge Die Zukunftsforschung zeigt Trends und Gegentrends auf Nicht immer ist eindeutig welcher sich durchsetzt

Ziel von GDI und ZORA ist es die Verantwortlichen in den Staumldten fuumlr die Herausforderungen die sich aus den aktuellen Entwicklungen erge-ben zu sensibilisieren Getreu dem Grundsatz laquoZukunft passiert nicht wir gestalten sieraquo muumlssen sich die Staumldte daruumlber klar werden ob und wie sie Entwicklungen mitsteuern wollen Die Studie beleuchtet wichtige Handlungsfelder beispielsweise moumlgliche Anspruumlche an die Nutzbarkeit oumlffentlicher Raumlume die Veraumlnderung des Verstaumlndnisses von Oumlffentlich-keit die Verschiebungen im Stadtgefuumlge oder das Spannungsfeld zwi-schen Freiheitswunsch und Sicherheitsbeduumlrfnissen Auch auf die zukuumlnftige Bedeutung unterschiedlicher Akteure geht sie ein

Wir wuumlnschen uns dass diese Studie die Diskussion unter den Akteurin-nen und Akteuren in den Staumldten anregt und dazu fuumlhrt den oumlffentlichen Raum und die wichtigen Zukunftsthemen weit oben auf die Agenda zu setzen

Christoph Baumlttig Vorsitzender laquoZentrum Oumlffentlicher Raumraquo ZORA

Vorwort

FUTURE PUBLIC SPACE6

1 httpswwwbfsadminchbfsdehomestatistikenkataloge-datenbankenmedienmitteilungenassetdetail38618html

2 Bundesamt fuumlr Raumentwicklung Bauzonenstatistik Schweiz 2017

3 httpsnzzasnzzchkulturvittorio-magnago-lampugnaniwie-kann-man-verhindern-dass-die-schweiz-verschandelt-wird-wir-sollten-uns-schoenheit-etwas-kosten-lassen--ld1357554-reduced=true

4 Bundesamt fuumlr Raumentwicklung Bauzonenstatistik Schweiz 2017

Zur Vermessung von Schweizer Staumldten

BEVOumlLKERUNGSWACHSTUM16 Bevoumllkerungswachstum

zwischen 2015 und 2030 und 95 Millionen Einwohner im 20304

STAumlDTE WERDEN DICHTER(jedoch primaumlr ihre Agglomerationen)

59 Millionen resp 73 der Menschen in der Schweiz leben in Agglomerationen 84 der Bevoumllkerung in Gemeinden mit

staumldtischem Charakter auf 41 der Landesflaumlche1

2-3 ist die houmlchste Ausnuumltzungsziffer von Zuumlrich das Verhaumlltnis der Nutzflaumlche

der Gebaumlude zum Grundstuumlck 4-5 ist die Kernziffer fuumlr die Dichte im historischen

Zentrum Roms das wegen seiner urbanen Atmosphaumlre geschaumltzt wird3

75 DER SCHWEIZ IST SIEDLUNGSFLAumlCHE

359 Landwirtschaftsflaumlche313 Waldflaumlche

253 unproduktive Flaumlchen (Gletscher Fels usw)5

URBANER RAUM Weltweit leben 54 der Menschen im

urbanen Siedlungsraum6 Der urbane Raum (Staumldte) belegt jedoch lediglich 2-3 der

Flaumlche der Welt7

+16 54

5 httpswwwareadmincharedehomeraumentwicklung-und-raumplanunggrundlagen-und-datenfakten-und-zahlenraeumliche-bevoelkerungsverteilunghtml

6 httpsdataworldbankorgindicatorSPURBTOTLINZS7 httpbrandondonnellycompost146850094613the-back-

end-of-our-cities

FLAumlCHE DER BAUZONE2

weitere Bauzonen 1

Verkehrszonen innerhalb der Bauzonen 2

Tourismus- und Freizeitzonen 1

Arbeitszonen 14

Wohnzonen 46

eingeschraumlnkte Bauzonen 3

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen 11

Zentrumszonen 11

Mischzonen 11

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 7

8 Kessler Patrick Hochreutener Thomas und Windel Jens On-line- und Versandhandelsmarkt Schweiz 2016 Praumlsentation fuumlr Medienkonferenz am 132017 (anlaumlsslich Veroumlffentlichung der Resultate der Gesamtmarkterhebung fuumlr Online- und Versand-handel des VSV GfK und der Post) S13

9 EbdS1510 Wuest amp Partner 201811 GfK Markt Monitor 2017 S8312 httpwwwmobilitaetbschgesamtverkehrverkehrskennzah-

lenparkplatzkatasterhtml

Wertmaumlssige Anteile des Online-Versandhandels am Schweizer Detailhandel8

16 17 18 19

113 123 137153

16

101

Food Non-Food

2012 2013 2014 2015 2016

in

NUTZUNGSANSPRUumlCHEBis zum Jahr 2020 moumlchte Basel durch

Parkplaumltze frei gewordene Flaumlchen um 10 (gguuml 2000) zugunsten von Spielraumlumen und

anderen Nutzungsanspruumlchen senken15

VERAumlNDERTE MOBILITAumlTSKONZEPTE (Beispiel Stadt Basel)

302rsquo478m2 Flaumlche Autoparkplaumltze (-16)19rsquo862m2 Flaumlche Veloparkplaumltze12

307rsquo351m2 Flaumlche Autoparkplaumltze 18rsquo373m2 Flaumlche Veloparkplaumltze

2015

2017

AUTONOME FAHRZEUGE SPAREN BIS ZU 20 FLAumlCHE

Experten schaumltzen dass mit autonomen Fahrzeugen bis zu 20 Flaumlche eingespart

werden kann13 Jedoch nur wenn die bishe-rigen Nutzer oumlffentlicher Transportmittel

nicht auf Automobile umsteigen14

+10

13 httpswwwvoxcomanew-economy-futurecars-cities-tech-nologies

14 httpswwwmapcorgfarechoices15 Regierungsrat des Kantons Stadt Basel laquoRatschlag und Be-

richt Kantonale Volksinitiative Ja zu Parkraum auf privatem Grund und laquoGegenvorschlag fuumlr eine Anpassung des Bau- und Planungsgesetzes betreffend Abstellplaumltze fuumlr Fahrzeugeraquo Re-gierungsratsbeschluss vom 10 Mai 2011 Basel

VOM BOOM DER LADENFLAumlCHEN699 Quadratmeter Flaumlche umfasste ein La-den im Schnitt im Jahr 2017 1980 lag dieser Wert noch bei 172 Quadratmetern Gemaumlss

GfK geht dieser Trend jedoch wieder in Richtung kleinere Ladenformate11

699 M2

DER HANDEL VERSCHIEBT SICH Waumlhrend der Non-Food Konsum im

stationaumlren Handel sinkt waumlchst er im Online- und Versandhandel9

02

-145

03

-045

055

-115

035

-115

05

-25

05

-19

2011 2012 2013 2014 2015 2016

0

Non-Food Online

Non-Food Stationaumlr

in

FLAumlCHENBOOM Im Flaumlchenboom der letzten 20 Jahre

(Kernstaumldte 1995-2015) hat sich der Druck des Onlinehandels noch nicht bemerkbar

gemacht Gesamtschweizerisch haben die Handelsflaumlchen um 28 zugenommen

(Zuumlrich +36 Luzern +15)10

FUTURE PUBLIC SPACE8

Warum es den oumlffentlichen Raum nicht gibt

laquoEine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig

sie ist vielleicht gar keine OumlffentlichkeitraquoJUumlRGEN HABERMAS PHILOSOPH

Umstrittene DefinitionWas ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt Eine ab-schliessend richtige Definition gibt es nicht Zu vielfaumlltig sind die Vorstellungen vom oumlffentlichen Raum zu unterschiedlich die Anspruumlche Klar scheint jedoch dass sich der oumlffentliche Raum in erster Linie durch Zugaumlnglichkeit kennzeichnet laquoDer oumlffentliche Raum kann verstanden werden als ein allgemein zugaumlnglicher Bereich in dem Menschen ohne Beschraumlnkungen ein- und ausge-hen Die Menschen bewegen sich in diesem Be-reich frei Zufaumlllig oder geplant begegnen wir uns hier Der oumlffentliche Raum ist offen und wird be-grenzt von dessen Gegensatz dem nicht allgemein zugaumlnglichen Bereich Daher verlangt der oumlffentli-che Raum um als solcher wahrgenommen zu werden auch ein Gegenstuumlck das Privateraquo16 Auch Juumlrgen Habermas stellt das Zugangskriterium in den Vordergrund laquoDie buumlrgerliche Oumlffentlichkeit steht und faumlllt mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs Eine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig sie ist vielleicht gar keine Oumlffentlichkeitraquo17 Treibt man dieses Kriterium der Zugaumlnglichkeit noch etwas weiter und uumlbersetzt es sprachlich in die Gegenwart so ist der oumlffentli-che Raum rund um die Uhr zugaumlnglich nicht uumlberwacht ndash und man kann sich dort laumlnger als ein paar Minuten aufhalten ohne weggewiesen zu werden Folgt man der Definition der Zugaumlnglich-keit so kann man leicht den Schluss ziehen dass der oumlffentliche Raum bedroht ist Der Zugang wird immer mehr vordefiniert es gibt immer we-niger nicht uumlberwachte oder unbewachte Raumlume ndash und an vielen Orten herrscht Konsumzwang

Fazit Es gibt nicht nur keine abschliessend richti-ge Definition des oumlffentlichen Raums ndash auch unser Verstaumlndnis des oumlffentlichen Raums ist nicht kon-stant

Diskussionen uumlber den oumlffentlichen Raum werden in Europa besonders heftig gefuumlhrt Das ist nicht weiter erstaunlich weil der oumlffentliche Raum in diesem Kulturkreis an den Mythos der griechi-schen Polis anknuumlpft in der sich auf der Agora Menschen frei versammelten und in politischen Austausch traten Aber das ist eine idealisierte Vorstellung Im Griechenland der Antike waren ndash genau wie in der europaumlischen Stadt der Moder-ne ndash stets auch grosse Gruppen von der Oumlffent-lichkeit der Raumlume ausgeschlossen18

Der oumlffentliche Raum moderner Praumlgung ent-stand im 19 Jahrhundert als in Staumldten oumlffentli-che Parks und Plaumltze angelegt wurden wie zum Beispiel der Hyde Park in London oder der Cen-tral Park in New York19

16 Guido Brendgens Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simu-lierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (Dezember 2005) S 1088ndash1097

17 Juumlrgen Habermas Strukturwandel der Oumlffentlichkeit 1990 S 156

18 Jan Wehrheim Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

19 Carsten Benke (2004) Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht In Die alte Stadt 31 Jahrgang

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 9

FUTURE PUBLIC SPACE10

20 Hans Paul Bahrt Umwelterfahrung Muumlnchen 1974 S 35

Ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt wichtig

Das allgemeine Wehklagen uumlber den Verlust des oumlffentlichen Raums beantwortet nicht die Frage warum dieser uumlberhaupt wichtig ist Welche strukturellen Vorteile hat der oumlffentliche Raum gegenuumlber dem privaten Generell laumlsst sich sagen dass durch die geforderte Verdichtung in den Staumldten der oumlffentliche Raum fuumlr die Allgemein-heit wichtiger wird Er dient als Kompensations-raum fuumlr Aktivitaumlten die im engeren privaten Raum nicht ausgefuumlhrt werden koumlnnen Gleich-zeitig druumlckt sich darin auch die Lebensqualitaumlt der Bewohner aus ndash zum Beispiel durch Freizeit-aktivitaumlten die im privaten Raum nur einge-schraumlnkt moumlglich sind Der oumlffentliche Raum laumlsst sich auf verschiedene Arten nutzen ndash beispielswei-se als Erholungsraum als Konsumraum als Ver-kehrsraum oder als Kommunikationsraum Diese Multifunktionalitaumlt ist fuumlr den oumlffentlichen Raum bestimmend laquoStrassen und Plaumltze die typischer-weise von Angehoumlrigen ganz verschiedener Bevoumll-kerungsschichten zu verschiedenen Zwecken gut verteilt uumlber den Tag und den Abend aufgesucht werden zeigen genau das was wir oumlffentliches Le-ben auf der untersten anschaulichsten lokalen Ebene nennen naumlmlich das Rendezvous der Ge-sellschaft mit sich selbst20 Der oumlffentliche Raum ist also ein Ort an dem sich unterschiedliche Menschen begegnen koumlnnen um miteinander zu interagieren und wodurch laquodas Neueraquo entstehen und auch werden kann Er ist ebenso Ort politi-scher Manifestationen sowie des offenen Diskur-ses Viele dieser politischen Manifestationen spielen sich auf zentralen Plaumltzen ab wie zB dem Tahrir-Platz in Kairo waumlhrend des Arabischen Fruumlhlings Der Maidan-Platz in Kiew ist sogar zum Namensgeber ndash Euromaidan ndash der Buumlrger-proteste in der Ukraine geworden die zwischen

dem 21 November 2013 und dem 26 Februar 2014 in der Ukraine stattgefunden habenVerstaumlrkt durch die digitalen Medien und sozia-len Netzwerke verbreiten sich die Anliegen heute rasend schnell Das prominenteste Beispiel dafuumlr ist die Occupy-Bewegung die nicht nur in New York City zum Ausdruck kam sondern sich welt-weit in Staumldten verbreitete

OCCUPYWALLSTREET laquoAre you ready for a Tahrir moment On Sept 17 flood into lower Manhattan

set up tents kitchens peaceful barricades and occupy Wall Streetraquo

ADBUSTERS-WEBSITE AM 13 JULI 2011

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 11

21 Jan Wernheim22 Martina Loumlw Raumsoziologie 200023 Christian Schmid Raum und Regulation Henri Lefebvre und

der Regulationsansatz In Ulrich Brand und Werner Raza (Hrsg) Fit fuumlr den Postfordismus Theoretisch-politische Per-spektiven des Regulationsansatzes Muumlnster Westfaumllisches Dampfboot 2003 S 224

Oumlffentlicher Raum wird ausgehandelt

laquoDie Strasse die der Urbanismus geometrisch festlegt wird durch die Gehenden in einen Raum verwandeltraquo

MICHEL DE CERTEAU SOZIOLO GE HISTORIKER UND KULTURPHILOSOPH

An den oumlffentlichen Raum werden die unterschied-lichsten Anforderungen gestellt Die Nutzungsinte-ressen variieren je nach Milieuzugehoumlrigkeit und reichen von kulturellen Angeboten uumlber Gruumln- und Erholungsflaumlchen bis hin zur Luftreinhaltung Die Qualitaumlt des oumlffentlichen Raums laumlsst sich daher nur bedingt an quantitativen Kriterien wie Luft-qualitaumlt Verkehrsaufkommen Laumlrmbelastung oder Kriminalitaumlt messen Die Nutzung des oumlffentlichen Raums unterliegt einer konstanten Verhandlung mit dauerhafter Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Interessensgruppen Phaumlnomene wie bei-spielsweise das Public Viewing von Sport- und Kul-turveranstaltungen haben sich erst in den vergangenen Jahren entwickelt und stellen ganz neue Nutzungsvarianten fuumlr den oumlffentlichen Raum dar Auch das Smartphone-Game laquoPokeacutemon Goraquo bei dem die Nutzer auf der Jagd nach virtuellen Monstern Plaumltze bevoumllkerten und die entlegensten Orte aufsuchten veraumlndert die Nutzung des oumlffent-lichen Raums und kann als eine Art Neuentde-ckung des Stadtraums bezeichnet werden

Der oumlffentliche Raum wird zuweilen als ein laquophy-sischer Raumraquo betrachtet der von Stadtplanern und Architekten spezifisch laquoals Behaumllter fuumlr Ge-sellschaft und bestimmbares soziales Handelnraquo21 geschaffen wird Raum existiert indessen nicht per se sondern entsteht durch Handlung Wahr-nehmung und Vorstellung der einzelnen Nutzer Raum ist somit nicht ein laquoBehaumlltnisraquo in dem das Leben unberuumlhrt von ihm stattfindet sondern

vielmehr ein gesellschaftliches Produkt das aus den vielschichtigen Beziehungen zwischen den Nutzern und der gebauten Umwelt entsteht Raumlu-me werden auch uumlber die Atmosphaumlre definiert Beispiele dafuumlr sind etwa die sakrale Aura einer Kirche die erholsame Stimmung eines Parks oder das edle Ambiente eines Restaurants22 Was wir erfahren ist somit kein physischer Raum der sich statisch verhaumllt wie ein Modell sondern ein Raum der sich staumlndig veraumlndert den wir jeden Moment neu wahrnehmen ndash eingefaumlrbt durch unsere Erin-nerung und Vorstellung Ein Raum laumlsst sich nur dann wahrnehmen wenn er zuvor gedanklich konzipiert worden ist Somit entstehen Konstruk-tionen und Konzeptionen des oumlffentlichen Raums die sich auf gesellschaftliche Konventionen stuumlt-zen mit der Produktion von Wissen verbunden und mit Machtstrukturen verknuumlpft sind Beim gedanklich konzipierten Raum handelt es sich um eine Darstellung die den Raum abbildet und defi-niert Diese Darstellung entsteht auf der Ebene des Diskurses der Sprache als solcher und um-fasst im engsten Sinne verbalisierte Formen z B Beschreibungen oder Definitionen aber auch Karten und Plaumlne sowie Informationen durch Bil-der und Zeichen Im weiteren Sinne umfasst die Repraumlsentation des Raums auch gesellschaftliche Regeln und eine Ethik23 Aus der gedanklichen Konstruktion von Staumldten erwachsen stets auch neue Idealbilder und Wunschvorstellungen

FUTURE PUBLIC SPACE12

Die Stadt als idealisierte Projektionsflaumlche

Der oumlffentliche Raum dient als Projektionsflaumlche fuumlr Ideen Bilder und Wuumlnsche ndash aber auch fuumlr Utopien Er ist ein Moumlglichkeitsraum in dem sich mit Idealen etwa mit bestimmten Wohnformen (zB Co-Housing) experimentieren laumlsst Diese Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt der Staumldte wo es stets auch um prak-tische Nutzungsperspektiven geht

Die Stadt als Ort des offenen Diskurses und der freien Zusammenkunft wird nicht selten verklaumlrt und romantisiert In Grossbritannien werden die roten gusseisernen Telefonzellen ndash ein Lieblings-gegenstand der Populaumlrkultur und laumlngst Teil des urbanen Inventars ndash neuen Nutzungen zuge-fuumlhrt24 Die Telefonzelle hat im Zeitalter des Smartphones zwar ausgedient wird aber zumin-dest in der aumlusseren Form weiter in Betrieb gehal-ten Damit bedient sie eine Sehnsucht nach jener Zeit als Telefonleitungen die Verbindungsrelais fuumlr das gesamte Empire waren

Die Stadt bleibt ein Sehnsuchtsort Gleichzeitig ist ndash gewissermassen antithetisch ndash aber auch eine Entromantisierung der Stadt festzustellen Staumldte werden assoziiert mit Dreck Muumlll Laumlrm Smog und anderen Emissionen Diese Faktoren gehoumlren zur Stadt wie Haumluser und Bewohner werden aber

durch Idealisierung und Verklaumlrung ausgeblen-det Es gibt Muumlllhauptstaumldte (Neapel) Laumlrm-hauptstaumldte (Mannheim Kairo) Stauhauptstaumldte (Jakarta) und Feinstaubhauptstaumldte (Stuttgart) Solche wenig schmeichelhaften Zuschreibungen die in zahlreichen Rankings auf eine quantifizie-rende Grundlage gestellt werden kratzen am Image der Staumldte In der Schweiz gilt Genf als Stauhauptstadt Bern wird in den Medien zuwei-len als Diebstahlhochburg apostrophiert und Zuuml-rich gilt ndash mit einem 3 Rang im europaweiten Ranking ndash gemeinhin als Kokainhauptstadt der Schweiz Die Quantifizierung des Sozialen25 er-streckt sich auch auf Staumldte die ja vor allem auch ein soziales System konstituieren Beginnt die Stadt als Erfolgsmodell bruumlchig zu werden26

Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt

der Staumldte wo es stets auch um praktische Nutzungs-

perspektiven geht

24 Die Betreiberfirma BT hat das Programm laquoAdopt a Kioskraquo lan-ciert bei dem ausrangierte Telefonzellen zum symbolischen Preis von einem Pfund erworben werden koumlnnen 3500 Ge-meinden haben nach Konzernangaben davon bereits Gebrauch gemacht In Schottland wurde eine Telefonzelle in eine Mini-Bibliothek umfunktioniert in London wurde eine andere zum Kiosk

25 Stefen Mau (2017) Das metrische Wir Uumlber die Quantifizie-rung des Sozialen

26 Richard Florida (2017) The New Urban Crisis

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 13Wofuumlr Flaumlche im Verhaumlltnis pro Einwohner verwendet wird

Quellen Bundesamt fuumlr Statistik Eidg Volkszaumlhlungen 1970 1980 1990 und 2000 (harmonisierte Daten) Bundesamt fuumlr Statistik Statistik des jaumlhrlichen Bevoumllkerungsstandes (ESPOP) 1995 2005 Bundesamt fuumlr Statistik Statistik der Bevoumllkerung und der Haushalte (STATPOP) 2010-2016 Definition der staumlndigen

Wohnbevoumllkerung und des Wohnsitzbegriffs gemaumlss STATPOP Wuest amp Partner 2018 Planungsbuumlro Jud 2017

Bruttogeschossflaumlche pro Einwohner im 2015

Die Verkehrsflaumlche bezieht sich auf die Agglomeration im Jahr 2014

KernstadtAgglomeration

20151970

Staumlndige Wohnbevoumllkerung

St Gallen

80K 144K 76K 166K

Winterthur

92K 107K108K 138K

Luzern

82K 173K81K 226K

Bern

160K 357K132K 411K

Basel

209K 480K170K 541K

Zuumlrich

416K 966K

397K 1334K

FUTURE PUBLIC SPACE14

Sonderposition SchweizDie Schweiz befindet sich im Spannungsfeld die-ser Entwicklungen in einer Sonderposition Sie ist klein beinahe uumlberschaubar und steht auf einem stabilen politischen sozialen und oumlkonomischen Fundament Dank einem breiten Mittelstand und gut bezahlten Mittelschichtjobs ist die Gefahr ei-ner Einkommenspolarisierung ndash zumindest ge-genwaumlrtig ndash deutlich geringer als in anderen Laumlndern oder Regionen

Wegen des starken Wachstums im Silicon Valley hat San Francisco mittlerweile einen houmlheren Gi-ni-Index als Brasilien Schweizer Staumldte erfahren nicht denselben Wachstums- und Verdichtungs-druck wie andere Staumldte in Europa sie bewegen sich praktisch nicht Und das wird sich ndash sowohl im Hinblick auf die Infrastruktur als auch auf das Verhalten einer aumllter werdenden Bevoumllkerung ndash auch nicht so rasch aumlndern Entgegen dem globa-len Trend ist die staumlndige Wohnbevoumllkerung in Staumldten wie Basel Bern oder Zuumlrich in den ver-gangenen Jahrzehnten nur leicht gestiegen In Zuuml-rich wuchs die Wohnbevoumllkerung von 363 000 im Jahr 2000 auf 397 000 Einwohner im Jahr 2015 was einer Veraumlnderung von 142 Prozent ent-spricht In Basel stieg die Einwohnerzahl im glei-chen Zeitraum um lediglich 37 Prozent von 167 000 auf 170 000 Dies veranschaulicht dass die Schweizer Staumldte im Verglichen mit den neuen schnell wachsenden Megacitys ein anderes Ver-haumlltnis zu Wachstum und Dichte haben und da-mit auch andere Herausforderungen

Die neue Vernetzung der StaumldtelaquoThe supply of everything can meet demand for

anything anything or anyone can get nearly anywhereraquoPAR AG KHANNA POLITIKWISSENSCHAFTLER

UND PUBLIZIST

Durch den globalen Handel entsteht eine in der Geschichte noch nie da gewesene Konnektivitaumlt der Staumldte Diese starke Vernetzung fuumlhrt zu einer neuen Geografie der sogenannten laquoKonnektogra-fieraquo in welcher Grenzen Herkunft und staatliche Regulative immer weniger wichtig werden Der paradigmatische Ort fuumlr diese neue Landkarte ist Dubai 90 Prozent der Bevoumllkerung kommt aus dem Ausland die Steuern sind niedrig die Expor-te hoch laquoThe supply of everything can meet de-mand for anything anything or anyone can get nearly anywhereraquo27 Radikal verkuumlrzt Alles und alle koumlnnen uumlberallhin gehen Die laquoKonnektogra-fieraquo kann auch auf die Schweiz heruntergebrochen werden Als Nichtmitglied der EU spielt das Land im internationalen System zwar eine Sonderrolle die Schweizer Staumldte sind aber dennoch in ein glo-bales Geflecht eingewoben Die Digitalisierung macht auch vor dem kleinsten Dorf nicht halt Das Internet eroumlffnet einerseits neue Wettbe-werbsmoumlglichkeiten ndash so wurde beispielsweise die virtuelle Waumlhrung Ethereum in Zug program-miert ndash andererseits entstehen neue Verwundbar-keiten etwa durch Hackerangriffe auf smarte Staumldte

Aus raumplanerischer Sicht ist die Schweiz ein einziges urbanes System ndash zumindest zwischen dem Bodensee und Genf die Unterschiede zwi-schen Stadt und Land sind obsolet Aus gesell-

27 Parag Khanna (2016) Connectography Mapping the Global Network Revolution

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 15

schaftlicher Sicht jedoch sind diese Kategorien noch nicht uumlberwunden im Gegenteil Zu starr sind die unterschiedlichen Einstellungen Werte und Lebensstile der staumldtischen und der laumlndli-chen Bevoumllkerung Dennoch ist klar dass oumlffentli-che Raumlume keine Grenzen kennen Die Schweiz ist ein einziges urbanes System inmitten eines einzi-gen urbanen Systems namens Welt In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne ndash etwa bei der Standortwahl fuumlr neue Forschungs- und Entwicklungszentren Im Ge-baumlude der ehemaligen Zuumlrcher Sihlpost hat Goog-le einen neuen Hub eroumlffnet Bis 2021 sollen in der Limmatstadt weitere 2000 Google-Mitarbeiter be-schaumlftigt werden28 ndash neben den 2000 laquoZooglernraquo aus 75 Nationen die schon heute auf dem Huumlrli-mann-Areal arbeiten Das beweist dass die Mitar-beiter des Unternehmens als laquoAnywheresraquo eine flexible transportable Identitaumlt besitzen

Anders als die Landwirtschaft oder die verarbei-tende Industrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen fuumlr Aumlcker und Fabriken sondern vor allem gut ausgebildete mobile Men-schen und hochgeruumlstete Laboratorien Im Ge-gensatz zur ersten industriellen Revolution wo die Fabriken mit ihren rauchenden Kaminen am Stadtrand hochgezogen wurden kehren die Tech-nologiefirmen in die Zentren zuruumlck Amazon hat sich an seinem Hauptstandort Seattle mit zahlrei-chen Ausbauten ndash darunter die neue Firmenzent-

28 httpswwwnzzchzuerichgoogle-in-zuerich-innovationen-made-in-zurich-ld140285

29 httpswwwtheatlanticcomtechnologyarchive201709the-great-thing-about-apple-christening-their-stores-town-squares539667

rale laquoThe Spheresraquo mit drei gewaumlchshausaumlhnlichen Glaskuppeln ndash zu einer Stadt in der Stadt verdich-tet Und Apple nennt seine ikonischen Apple Stores kuumlnftig laquoTown Squareraquo (Marktplatz) und unterstreicht damit den urbanen Charakter seiner Laumlden29 Gleichzeitig findet eine Ruumlckkehr zur Company Town statt wie man sie aus der An-fangszeit der Industrialisierung kennt Der Schuh-lieferant Zappos liess mitten in Las Vegas fuumlr 350 Millionen Dollar ein eigenes Staumldtchen mit einem Unterhaltungskomplex und einem Hotel bauen Facebook enthuumlllte juumlngst Plaumlne fuumlr den Bau des neuen Willow Campus In dieser hippen hoch technisierten Idylle pendeln die Mitarbeiter zwi-schen veganen Cafeacutes und Co-Working-Spaces ndash und kontrollieren einander im Rahmen einer Art Nachbarschaftshilfe gegenseitig Aumlhnliche Sied-lungen liess einst der deutsche Industrielle Alfred Krupp in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Fa-briken bauen

In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz

mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne

FUTURE PUBLIC SPACE16

DATENSTAU

DATENHIGHWAY

Smart City500GB

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17

Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

FUTURE PUBLIC SPACE18

Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

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hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

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Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21

der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23

die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 31

Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

FUTURE PUBLIC SPACE32

Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

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Weiss nicht

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 37

Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

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Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 45

Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 47

GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

FUTURE PUBLIC SPACE48

Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

FUTURE PUBLIC SPACE50

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 6: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

FUTURE PUBLIC SPACE4

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 5

Die oumlffentlichen Raumlume in den Staumldten stellen einen zentralen Faktor fuumlr die Lebensqualitaumlt dar Wer beruflich mit dem oumlffentlichen Raum zu tun hat ist immer wieder mit einer grossen Dynamik und haumlufig unerwarte-ten Entwicklungen konfrontiert sei dies im Nachtleben im Tourismus im Verkehr im Detailhandel im Freizeitverhalten in Kunst und Kultur Die Staumldte muumlssen diese dynamischen Entwicklungen aufnehmen Wer die Zeitraumlume der politischen Ablaumlufe und der Planungsprozesse kennt weiss dass dies nicht immer einfach ist Da liegt der Wunsch in die Zu-kunft blicken zu koumlnnen nahe Nun ist das mit der Zukunft so eine Sache laquoWir stellen uns eben die Zukunft wie einen in einen leeren Raum proji-zierten Reflex der Gegenwart vor waumlhrend sie oft das bereits ganz nahe Ergebnis von Ursachen ist die uns zum groumlszligten Teil entgehenraquo erkannte schon Marcel Proust

Die vorliegende Studie versucht diese Herausforderung greifbar zu ma-chen indem sie erkennbare Entwicklungen in Form von fuumlnf Hypothesen aufzeigt Dass sich dabei durchaus auch widerspruumlchliche Aussagen erge-ben liegt in der Natur der Dinge Die Zukunftsforschung zeigt Trends und Gegentrends auf Nicht immer ist eindeutig welcher sich durchsetzt

Ziel von GDI und ZORA ist es die Verantwortlichen in den Staumldten fuumlr die Herausforderungen die sich aus den aktuellen Entwicklungen erge-ben zu sensibilisieren Getreu dem Grundsatz laquoZukunft passiert nicht wir gestalten sieraquo muumlssen sich die Staumldte daruumlber klar werden ob und wie sie Entwicklungen mitsteuern wollen Die Studie beleuchtet wichtige Handlungsfelder beispielsweise moumlgliche Anspruumlche an die Nutzbarkeit oumlffentlicher Raumlume die Veraumlnderung des Verstaumlndnisses von Oumlffentlich-keit die Verschiebungen im Stadtgefuumlge oder das Spannungsfeld zwi-schen Freiheitswunsch und Sicherheitsbeduumlrfnissen Auch auf die zukuumlnftige Bedeutung unterschiedlicher Akteure geht sie ein

Wir wuumlnschen uns dass diese Studie die Diskussion unter den Akteurin-nen und Akteuren in den Staumldten anregt und dazu fuumlhrt den oumlffentlichen Raum und die wichtigen Zukunftsthemen weit oben auf die Agenda zu setzen

Christoph Baumlttig Vorsitzender laquoZentrum Oumlffentlicher Raumraquo ZORA

Vorwort

FUTURE PUBLIC SPACE6

1 httpswwwbfsadminchbfsdehomestatistikenkataloge-datenbankenmedienmitteilungenassetdetail38618html

2 Bundesamt fuumlr Raumentwicklung Bauzonenstatistik Schweiz 2017

3 httpsnzzasnzzchkulturvittorio-magnago-lampugnaniwie-kann-man-verhindern-dass-die-schweiz-verschandelt-wird-wir-sollten-uns-schoenheit-etwas-kosten-lassen--ld1357554-reduced=true

4 Bundesamt fuumlr Raumentwicklung Bauzonenstatistik Schweiz 2017

Zur Vermessung von Schweizer Staumldten

BEVOumlLKERUNGSWACHSTUM16 Bevoumllkerungswachstum

zwischen 2015 und 2030 und 95 Millionen Einwohner im 20304

STAumlDTE WERDEN DICHTER(jedoch primaumlr ihre Agglomerationen)

59 Millionen resp 73 der Menschen in der Schweiz leben in Agglomerationen 84 der Bevoumllkerung in Gemeinden mit

staumldtischem Charakter auf 41 der Landesflaumlche1

2-3 ist die houmlchste Ausnuumltzungsziffer von Zuumlrich das Verhaumlltnis der Nutzflaumlche

der Gebaumlude zum Grundstuumlck 4-5 ist die Kernziffer fuumlr die Dichte im historischen

Zentrum Roms das wegen seiner urbanen Atmosphaumlre geschaumltzt wird3

75 DER SCHWEIZ IST SIEDLUNGSFLAumlCHE

359 Landwirtschaftsflaumlche313 Waldflaumlche

253 unproduktive Flaumlchen (Gletscher Fels usw)5

URBANER RAUM Weltweit leben 54 der Menschen im

urbanen Siedlungsraum6 Der urbane Raum (Staumldte) belegt jedoch lediglich 2-3 der

Flaumlche der Welt7

+16 54

5 httpswwwareadmincharedehomeraumentwicklung-und-raumplanunggrundlagen-und-datenfakten-und-zahlenraeumliche-bevoelkerungsverteilunghtml

6 httpsdataworldbankorgindicatorSPURBTOTLINZS7 httpbrandondonnellycompost146850094613the-back-

end-of-our-cities

FLAumlCHE DER BAUZONE2

weitere Bauzonen 1

Verkehrszonen innerhalb der Bauzonen 2

Tourismus- und Freizeitzonen 1

Arbeitszonen 14

Wohnzonen 46

eingeschraumlnkte Bauzonen 3

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen 11

Zentrumszonen 11

Mischzonen 11

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 7

8 Kessler Patrick Hochreutener Thomas und Windel Jens On-line- und Versandhandelsmarkt Schweiz 2016 Praumlsentation fuumlr Medienkonferenz am 132017 (anlaumlsslich Veroumlffentlichung der Resultate der Gesamtmarkterhebung fuumlr Online- und Versand-handel des VSV GfK und der Post) S13

9 EbdS1510 Wuest amp Partner 201811 GfK Markt Monitor 2017 S8312 httpwwwmobilitaetbschgesamtverkehrverkehrskennzah-

lenparkplatzkatasterhtml

Wertmaumlssige Anteile des Online-Versandhandels am Schweizer Detailhandel8

16 17 18 19

113 123 137153

16

101

Food Non-Food

2012 2013 2014 2015 2016

in

NUTZUNGSANSPRUumlCHEBis zum Jahr 2020 moumlchte Basel durch

Parkplaumltze frei gewordene Flaumlchen um 10 (gguuml 2000) zugunsten von Spielraumlumen und

anderen Nutzungsanspruumlchen senken15

VERAumlNDERTE MOBILITAumlTSKONZEPTE (Beispiel Stadt Basel)

302rsquo478m2 Flaumlche Autoparkplaumltze (-16)19rsquo862m2 Flaumlche Veloparkplaumltze12

307rsquo351m2 Flaumlche Autoparkplaumltze 18rsquo373m2 Flaumlche Veloparkplaumltze

2015

2017

AUTONOME FAHRZEUGE SPAREN BIS ZU 20 FLAumlCHE

Experten schaumltzen dass mit autonomen Fahrzeugen bis zu 20 Flaumlche eingespart

werden kann13 Jedoch nur wenn die bishe-rigen Nutzer oumlffentlicher Transportmittel

nicht auf Automobile umsteigen14

+10

13 httpswwwvoxcomanew-economy-futurecars-cities-tech-nologies

14 httpswwwmapcorgfarechoices15 Regierungsrat des Kantons Stadt Basel laquoRatschlag und Be-

richt Kantonale Volksinitiative Ja zu Parkraum auf privatem Grund und laquoGegenvorschlag fuumlr eine Anpassung des Bau- und Planungsgesetzes betreffend Abstellplaumltze fuumlr Fahrzeugeraquo Re-gierungsratsbeschluss vom 10 Mai 2011 Basel

VOM BOOM DER LADENFLAumlCHEN699 Quadratmeter Flaumlche umfasste ein La-den im Schnitt im Jahr 2017 1980 lag dieser Wert noch bei 172 Quadratmetern Gemaumlss

GfK geht dieser Trend jedoch wieder in Richtung kleinere Ladenformate11

699 M2

DER HANDEL VERSCHIEBT SICH Waumlhrend der Non-Food Konsum im

stationaumlren Handel sinkt waumlchst er im Online- und Versandhandel9

02

-145

03

-045

055

-115

035

-115

05

-25

05

-19

2011 2012 2013 2014 2015 2016

0

Non-Food Online

Non-Food Stationaumlr

in

FLAumlCHENBOOM Im Flaumlchenboom der letzten 20 Jahre

(Kernstaumldte 1995-2015) hat sich der Druck des Onlinehandels noch nicht bemerkbar

gemacht Gesamtschweizerisch haben die Handelsflaumlchen um 28 zugenommen

(Zuumlrich +36 Luzern +15)10

FUTURE PUBLIC SPACE8

Warum es den oumlffentlichen Raum nicht gibt

laquoEine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig

sie ist vielleicht gar keine OumlffentlichkeitraquoJUumlRGEN HABERMAS PHILOSOPH

Umstrittene DefinitionWas ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt Eine ab-schliessend richtige Definition gibt es nicht Zu vielfaumlltig sind die Vorstellungen vom oumlffentlichen Raum zu unterschiedlich die Anspruumlche Klar scheint jedoch dass sich der oumlffentliche Raum in erster Linie durch Zugaumlnglichkeit kennzeichnet laquoDer oumlffentliche Raum kann verstanden werden als ein allgemein zugaumlnglicher Bereich in dem Menschen ohne Beschraumlnkungen ein- und ausge-hen Die Menschen bewegen sich in diesem Be-reich frei Zufaumlllig oder geplant begegnen wir uns hier Der oumlffentliche Raum ist offen und wird be-grenzt von dessen Gegensatz dem nicht allgemein zugaumlnglichen Bereich Daher verlangt der oumlffentli-che Raum um als solcher wahrgenommen zu werden auch ein Gegenstuumlck das Privateraquo16 Auch Juumlrgen Habermas stellt das Zugangskriterium in den Vordergrund laquoDie buumlrgerliche Oumlffentlichkeit steht und faumlllt mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs Eine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig sie ist vielleicht gar keine Oumlffentlichkeitraquo17 Treibt man dieses Kriterium der Zugaumlnglichkeit noch etwas weiter und uumlbersetzt es sprachlich in die Gegenwart so ist der oumlffentli-che Raum rund um die Uhr zugaumlnglich nicht uumlberwacht ndash und man kann sich dort laumlnger als ein paar Minuten aufhalten ohne weggewiesen zu werden Folgt man der Definition der Zugaumlnglich-keit so kann man leicht den Schluss ziehen dass der oumlffentliche Raum bedroht ist Der Zugang wird immer mehr vordefiniert es gibt immer we-niger nicht uumlberwachte oder unbewachte Raumlume ndash und an vielen Orten herrscht Konsumzwang

Fazit Es gibt nicht nur keine abschliessend richti-ge Definition des oumlffentlichen Raums ndash auch unser Verstaumlndnis des oumlffentlichen Raums ist nicht kon-stant

Diskussionen uumlber den oumlffentlichen Raum werden in Europa besonders heftig gefuumlhrt Das ist nicht weiter erstaunlich weil der oumlffentliche Raum in diesem Kulturkreis an den Mythos der griechi-schen Polis anknuumlpft in der sich auf der Agora Menschen frei versammelten und in politischen Austausch traten Aber das ist eine idealisierte Vorstellung Im Griechenland der Antike waren ndash genau wie in der europaumlischen Stadt der Moder-ne ndash stets auch grosse Gruppen von der Oumlffent-lichkeit der Raumlume ausgeschlossen18

Der oumlffentliche Raum moderner Praumlgung ent-stand im 19 Jahrhundert als in Staumldten oumlffentli-che Parks und Plaumltze angelegt wurden wie zum Beispiel der Hyde Park in London oder der Cen-tral Park in New York19

16 Guido Brendgens Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simu-lierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (Dezember 2005) S 1088ndash1097

17 Juumlrgen Habermas Strukturwandel der Oumlffentlichkeit 1990 S 156

18 Jan Wehrheim Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

19 Carsten Benke (2004) Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht In Die alte Stadt 31 Jahrgang

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20 Hans Paul Bahrt Umwelterfahrung Muumlnchen 1974 S 35

Ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt wichtig

Das allgemeine Wehklagen uumlber den Verlust des oumlffentlichen Raums beantwortet nicht die Frage warum dieser uumlberhaupt wichtig ist Welche strukturellen Vorteile hat der oumlffentliche Raum gegenuumlber dem privaten Generell laumlsst sich sagen dass durch die geforderte Verdichtung in den Staumldten der oumlffentliche Raum fuumlr die Allgemein-heit wichtiger wird Er dient als Kompensations-raum fuumlr Aktivitaumlten die im engeren privaten Raum nicht ausgefuumlhrt werden koumlnnen Gleich-zeitig druumlckt sich darin auch die Lebensqualitaumlt der Bewohner aus ndash zum Beispiel durch Freizeit-aktivitaumlten die im privaten Raum nur einge-schraumlnkt moumlglich sind Der oumlffentliche Raum laumlsst sich auf verschiedene Arten nutzen ndash beispielswei-se als Erholungsraum als Konsumraum als Ver-kehrsraum oder als Kommunikationsraum Diese Multifunktionalitaumlt ist fuumlr den oumlffentlichen Raum bestimmend laquoStrassen und Plaumltze die typischer-weise von Angehoumlrigen ganz verschiedener Bevoumll-kerungsschichten zu verschiedenen Zwecken gut verteilt uumlber den Tag und den Abend aufgesucht werden zeigen genau das was wir oumlffentliches Le-ben auf der untersten anschaulichsten lokalen Ebene nennen naumlmlich das Rendezvous der Ge-sellschaft mit sich selbst20 Der oumlffentliche Raum ist also ein Ort an dem sich unterschiedliche Menschen begegnen koumlnnen um miteinander zu interagieren und wodurch laquodas Neueraquo entstehen und auch werden kann Er ist ebenso Ort politi-scher Manifestationen sowie des offenen Diskur-ses Viele dieser politischen Manifestationen spielen sich auf zentralen Plaumltzen ab wie zB dem Tahrir-Platz in Kairo waumlhrend des Arabischen Fruumlhlings Der Maidan-Platz in Kiew ist sogar zum Namensgeber ndash Euromaidan ndash der Buumlrger-proteste in der Ukraine geworden die zwischen

dem 21 November 2013 und dem 26 Februar 2014 in der Ukraine stattgefunden habenVerstaumlrkt durch die digitalen Medien und sozia-len Netzwerke verbreiten sich die Anliegen heute rasend schnell Das prominenteste Beispiel dafuumlr ist die Occupy-Bewegung die nicht nur in New York City zum Ausdruck kam sondern sich welt-weit in Staumldten verbreitete

OCCUPYWALLSTREET laquoAre you ready for a Tahrir moment On Sept 17 flood into lower Manhattan

set up tents kitchens peaceful barricades and occupy Wall Streetraquo

ADBUSTERS-WEBSITE AM 13 JULI 2011

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 11

21 Jan Wernheim22 Martina Loumlw Raumsoziologie 200023 Christian Schmid Raum und Regulation Henri Lefebvre und

der Regulationsansatz In Ulrich Brand und Werner Raza (Hrsg) Fit fuumlr den Postfordismus Theoretisch-politische Per-spektiven des Regulationsansatzes Muumlnster Westfaumllisches Dampfboot 2003 S 224

Oumlffentlicher Raum wird ausgehandelt

laquoDie Strasse die der Urbanismus geometrisch festlegt wird durch die Gehenden in einen Raum verwandeltraquo

MICHEL DE CERTEAU SOZIOLO GE HISTORIKER UND KULTURPHILOSOPH

An den oumlffentlichen Raum werden die unterschied-lichsten Anforderungen gestellt Die Nutzungsinte-ressen variieren je nach Milieuzugehoumlrigkeit und reichen von kulturellen Angeboten uumlber Gruumln- und Erholungsflaumlchen bis hin zur Luftreinhaltung Die Qualitaumlt des oumlffentlichen Raums laumlsst sich daher nur bedingt an quantitativen Kriterien wie Luft-qualitaumlt Verkehrsaufkommen Laumlrmbelastung oder Kriminalitaumlt messen Die Nutzung des oumlffentlichen Raums unterliegt einer konstanten Verhandlung mit dauerhafter Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Interessensgruppen Phaumlnomene wie bei-spielsweise das Public Viewing von Sport- und Kul-turveranstaltungen haben sich erst in den vergangenen Jahren entwickelt und stellen ganz neue Nutzungsvarianten fuumlr den oumlffentlichen Raum dar Auch das Smartphone-Game laquoPokeacutemon Goraquo bei dem die Nutzer auf der Jagd nach virtuellen Monstern Plaumltze bevoumllkerten und die entlegensten Orte aufsuchten veraumlndert die Nutzung des oumlffent-lichen Raums und kann als eine Art Neuentde-ckung des Stadtraums bezeichnet werden

Der oumlffentliche Raum wird zuweilen als ein laquophy-sischer Raumraquo betrachtet der von Stadtplanern und Architekten spezifisch laquoals Behaumllter fuumlr Ge-sellschaft und bestimmbares soziales Handelnraquo21 geschaffen wird Raum existiert indessen nicht per se sondern entsteht durch Handlung Wahr-nehmung und Vorstellung der einzelnen Nutzer Raum ist somit nicht ein laquoBehaumlltnisraquo in dem das Leben unberuumlhrt von ihm stattfindet sondern

vielmehr ein gesellschaftliches Produkt das aus den vielschichtigen Beziehungen zwischen den Nutzern und der gebauten Umwelt entsteht Raumlu-me werden auch uumlber die Atmosphaumlre definiert Beispiele dafuumlr sind etwa die sakrale Aura einer Kirche die erholsame Stimmung eines Parks oder das edle Ambiente eines Restaurants22 Was wir erfahren ist somit kein physischer Raum der sich statisch verhaumllt wie ein Modell sondern ein Raum der sich staumlndig veraumlndert den wir jeden Moment neu wahrnehmen ndash eingefaumlrbt durch unsere Erin-nerung und Vorstellung Ein Raum laumlsst sich nur dann wahrnehmen wenn er zuvor gedanklich konzipiert worden ist Somit entstehen Konstruk-tionen und Konzeptionen des oumlffentlichen Raums die sich auf gesellschaftliche Konventionen stuumlt-zen mit der Produktion von Wissen verbunden und mit Machtstrukturen verknuumlpft sind Beim gedanklich konzipierten Raum handelt es sich um eine Darstellung die den Raum abbildet und defi-niert Diese Darstellung entsteht auf der Ebene des Diskurses der Sprache als solcher und um-fasst im engsten Sinne verbalisierte Formen z B Beschreibungen oder Definitionen aber auch Karten und Plaumlne sowie Informationen durch Bil-der und Zeichen Im weiteren Sinne umfasst die Repraumlsentation des Raums auch gesellschaftliche Regeln und eine Ethik23 Aus der gedanklichen Konstruktion von Staumldten erwachsen stets auch neue Idealbilder und Wunschvorstellungen

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Die Stadt als idealisierte Projektionsflaumlche

Der oumlffentliche Raum dient als Projektionsflaumlche fuumlr Ideen Bilder und Wuumlnsche ndash aber auch fuumlr Utopien Er ist ein Moumlglichkeitsraum in dem sich mit Idealen etwa mit bestimmten Wohnformen (zB Co-Housing) experimentieren laumlsst Diese Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt der Staumldte wo es stets auch um prak-tische Nutzungsperspektiven geht

Die Stadt als Ort des offenen Diskurses und der freien Zusammenkunft wird nicht selten verklaumlrt und romantisiert In Grossbritannien werden die roten gusseisernen Telefonzellen ndash ein Lieblings-gegenstand der Populaumlrkultur und laumlngst Teil des urbanen Inventars ndash neuen Nutzungen zuge-fuumlhrt24 Die Telefonzelle hat im Zeitalter des Smartphones zwar ausgedient wird aber zumin-dest in der aumlusseren Form weiter in Betrieb gehal-ten Damit bedient sie eine Sehnsucht nach jener Zeit als Telefonleitungen die Verbindungsrelais fuumlr das gesamte Empire waren

Die Stadt bleibt ein Sehnsuchtsort Gleichzeitig ist ndash gewissermassen antithetisch ndash aber auch eine Entromantisierung der Stadt festzustellen Staumldte werden assoziiert mit Dreck Muumlll Laumlrm Smog und anderen Emissionen Diese Faktoren gehoumlren zur Stadt wie Haumluser und Bewohner werden aber

durch Idealisierung und Verklaumlrung ausgeblen-det Es gibt Muumlllhauptstaumldte (Neapel) Laumlrm-hauptstaumldte (Mannheim Kairo) Stauhauptstaumldte (Jakarta) und Feinstaubhauptstaumldte (Stuttgart) Solche wenig schmeichelhaften Zuschreibungen die in zahlreichen Rankings auf eine quantifizie-rende Grundlage gestellt werden kratzen am Image der Staumldte In der Schweiz gilt Genf als Stauhauptstadt Bern wird in den Medien zuwei-len als Diebstahlhochburg apostrophiert und Zuuml-rich gilt ndash mit einem 3 Rang im europaweiten Ranking ndash gemeinhin als Kokainhauptstadt der Schweiz Die Quantifizierung des Sozialen25 er-streckt sich auch auf Staumldte die ja vor allem auch ein soziales System konstituieren Beginnt die Stadt als Erfolgsmodell bruumlchig zu werden26

Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt

der Staumldte wo es stets auch um praktische Nutzungs-

perspektiven geht

24 Die Betreiberfirma BT hat das Programm laquoAdopt a Kioskraquo lan-ciert bei dem ausrangierte Telefonzellen zum symbolischen Preis von einem Pfund erworben werden koumlnnen 3500 Ge-meinden haben nach Konzernangaben davon bereits Gebrauch gemacht In Schottland wurde eine Telefonzelle in eine Mini-Bibliothek umfunktioniert in London wurde eine andere zum Kiosk

25 Stefen Mau (2017) Das metrische Wir Uumlber die Quantifizie-rung des Sozialen

26 Richard Florida (2017) The New Urban Crisis

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 13Wofuumlr Flaumlche im Verhaumlltnis pro Einwohner verwendet wird

Quellen Bundesamt fuumlr Statistik Eidg Volkszaumlhlungen 1970 1980 1990 und 2000 (harmonisierte Daten) Bundesamt fuumlr Statistik Statistik des jaumlhrlichen Bevoumllkerungsstandes (ESPOP) 1995 2005 Bundesamt fuumlr Statistik Statistik der Bevoumllkerung und der Haushalte (STATPOP) 2010-2016 Definition der staumlndigen

Wohnbevoumllkerung und des Wohnsitzbegriffs gemaumlss STATPOP Wuest amp Partner 2018 Planungsbuumlro Jud 2017

Bruttogeschossflaumlche pro Einwohner im 2015

Die Verkehrsflaumlche bezieht sich auf die Agglomeration im Jahr 2014

KernstadtAgglomeration

20151970

Staumlndige Wohnbevoumllkerung

St Gallen

80K 144K 76K 166K

Winterthur

92K 107K108K 138K

Luzern

82K 173K81K 226K

Bern

160K 357K132K 411K

Basel

209K 480K170K 541K

Zuumlrich

416K 966K

397K 1334K

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Sonderposition SchweizDie Schweiz befindet sich im Spannungsfeld die-ser Entwicklungen in einer Sonderposition Sie ist klein beinahe uumlberschaubar und steht auf einem stabilen politischen sozialen und oumlkonomischen Fundament Dank einem breiten Mittelstand und gut bezahlten Mittelschichtjobs ist die Gefahr ei-ner Einkommenspolarisierung ndash zumindest ge-genwaumlrtig ndash deutlich geringer als in anderen Laumlndern oder Regionen

Wegen des starken Wachstums im Silicon Valley hat San Francisco mittlerweile einen houmlheren Gi-ni-Index als Brasilien Schweizer Staumldte erfahren nicht denselben Wachstums- und Verdichtungs-druck wie andere Staumldte in Europa sie bewegen sich praktisch nicht Und das wird sich ndash sowohl im Hinblick auf die Infrastruktur als auch auf das Verhalten einer aumllter werdenden Bevoumllkerung ndash auch nicht so rasch aumlndern Entgegen dem globa-len Trend ist die staumlndige Wohnbevoumllkerung in Staumldten wie Basel Bern oder Zuumlrich in den ver-gangenen Jahrzehnten nur leicht gestiegen In Zuuml-rich wuchs die Wohnbevoumllkerung von 363 000 im Jahr 2000 auf 397 000 Einwohner im Jahr 2015 was einer Veraumlnderung von 142 Prozent ent-spricht In Basel stieg die Einwohnerzahl im glei-chen Zeitraum um lediglich 37 Prozent von 167 000 auf 170 000 Dies veranschaulicht dass die Schweizer Staumldte im Verglichen mit den neuen schnell wachsenden Megacitys ein anderes Ver-haumlltnis zu Wachstum und Dichte haben und da-mit auch andere Herausforderungen

Die neue Vernetzung der StaumldtelaquoThe supply of everything can meet demand for

anything anything or anyone can get nearly anywhereraquoPAR AG KHANNA POLITIKWISSENSCHAFTLER

UND PUBLIZIST

Durch den globalen Handel entsteht eine in der Geschichte noch nie da gewesene Konnektivitaumlt der Staumldte Diese starke Vernetzung fuumlhrt zu einer neuen Geografie der sogenannten laquoKonnektogra-fieraquo in welcher Grenzen Herkunft und staatliche Regulative immer weniger wichtig werden Der paradigmatische Ort fuumlr diese neue Landkarte ist Dubai 90 Prozent der Bevoumllkerung kommt aus dem Ausland die Steuern sind niedrig die Expor-te hoch laquoThe supply of everything can meet de-mand for anything anything or anyone can get nearly anywhereraquo27 Radikal verkuumlrzt Alles und alle koumlnnen uumlberallhin gehen Die laquoKonnektogra-fieraquo kann auch auf die Schweiz heruntergebrochen werden Als Nichtmitglied der EU spielt das Land im internationalen System zwar eine Sonderrolle die Schweizer Staumldte sind aber dennoch in ein glo-bales Geflecht eingewoben Die Digitalisierung macht auch vor dem kleinsten Dorf nicht halt Das Internet eroumlffnet einerseits neue Wettbe-werbsmoumlglichkeiten ndash so wurde beispielsweise die virtuelle Waumlhrung Ethereum in Zug program-miert ndash andererseits entstehen neue Verwundbar-keiten etwa durch Hackerangriffe auf smarte Staumldte

Aus raumplanerischer Sicht ist die Schweiz ein einziges urbanes System ndash zumindest zwischen dem Bodensee und Genf die Unterschiede zwi-schen Stadt und Land sind obsolet Aus gesell-

27 Parag Khanna (2016) Connectography Mapping the Global Network Revolution

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 15

schaftlicher Sicht jedoch sind diese Kategorien noch nicht uumlberwunden im Gegenteil Zu starr sind die unterschiedlichen Einstellungen Werte und Lebensstile der staumldtischen und der laumlndli-chen Bevoumllkerung Dennoch ist klar dass oumlffentli-che Raumlume keine Grenzen kennen Die Schweiz ist ein einziges urbanes System inmitten eines einzi-gen urbanen Systems namens Welt In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne ndash etwa bei der Standortwahl fuumlr neue Forschungs- und Entwicklungszentren Im Ge-baumlude der ehemaligen Zuumlrcher Sihlpost hat Goog-le einen neuen Hub eroumlffnet Bis 2021 sollen in der Limmatstadt weitere 2000 Google-Mitarbeiter be-schaumlftigt werden28 ndash neben den 2000 laquoZooglernraquo aus 75 Nationen die schon heute auf dem Huumlrli-mann-Areal arbeiten Das beweist dass die Mitar-beiter des Unternehmens als laquoAnywheresraquo eine flexible transportable Identitaumlt besitzen

Anders als die Landwirtschaft oder die verarbei-tende Industrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen fuumlr Aumlcker und Fabriken sondern vor allem gut ausgebildete mobile Men-schen und hochgeruumlstete Laboratorien Im Ge-gensatz zur ersten industriellen Revolution wo die Fabriken mit ihren rauchenden Kaminen am Stadtrand hochgezogen wurden kehren die Tech-nologiefirmen in die Zentren zuruumlck Amazon hat sich an seinem Hauptstandort Seattle mit zahlrei-chen Ausbauten ndash darunter die neue Firmenzent-

28 httpswwwnzzchzuerichgoogle-in-zuerich-innovationen-made-in-zurich-ld140285

29 httpswwwtheatlanticcomtechnologyarchive201709the-great-thing-about-apple-christening-their-stores-town-squares539667

rale laquoThe Spheresraquo mit drei gewaumlchshausaumlhnlichen Glaskuppeln ndash zu einer Stadt in der Stadt verdich-tet Und Apple nennt seine ikonischen Apple Stores kuumlnftig laquoTown Squareraquo (Marktplatz) und unterstreicht damit den urbanen Charakter seiner Laumlden29 Gleichzeitig findet eine Ruumlckkehr zur Company Town statt wie man sie aus der An-fangszeit der Industrialisierung kennt Der Schuh-lieferant Zappos liess mitten in Las Vegas fuumlr 350 Millionen Dollar ein eigenes Staumldtchen mit einem Unterhaltungskomplex und einem Hotel bauen Facebook enthuumlllte juumlngst Plaumlne fuumlr den Bau des neuen Willow Campus In dieser hippen hoch technisierten Idylle pendeln die Mitarbeiter zwi-schen veganen Cafeacutes und Co-Working-Spaces ndash und kontrollieren einander im Rahmen einer Art Nachbarschaftshilfe gegenseitig Aumlhnliche Sied-lungen liess einst der deutsche Industrielle Alfred Krupp in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Fa-briken bauen

In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz

mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne

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DATENSTAU

DATENHIGHWAY

Smart City500GB

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17

Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

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Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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80

100

hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

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Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21

der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

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die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

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sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

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Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Sehr wahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

FUTURE PUBLIC SPACE36

Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 37

Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

0

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40

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80

100

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

FUTURE PUBLIC SPACE38

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 39

laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 47

GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

FUTURE PUBLIC SPACE48

Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

FUTURE PUBLIC SPACE50

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 7: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 5

Die oumlffentlichen Raumlume in den Staumldten stellen einen zentralen Faktor fuumlr die Lebensqualitaumlt dar Wer beruflich mit dem oumlffentlichen Raum zu tun hat ist immer wieder mit einer grossen Dynamik und haumlufig unerwarte-ten Entwicklungen konfrontiert sei dies im Nachtleben im Tourismus im Verkehr im Detailhandel im Freizeitverhalten in Kunst und Kultur Die Staumldte muumlssen diese dynamischen Entwicklungen aufnehmen Wer die Zeitraumlume der politischen Ablaumlufe und der Planungsprozesse kennt weiss dass dies nicht immer einfach ist Da liegt der Wunsch in die Zu-kunft blicken zu koumlnnen nahe Nun ist das mit der Zukunft so eine Sache laquoWir stellen uns eben die Zukunft wie einen in einen leeren Raum proji-zierten Reflex der Gegenwart vor waumlhrend sie oft das bereits ganz nahe Ergebnis von Ursachen ist die uns zum groumlszligten Teil entgehenraquo erkannte schon Marcel Proust

Die vorliegende Studie versucht diese Herausforderung greifbar zu ma-chen indem sie erkennbare Entwicklungen in Form von fuumlnf Hypothesen aufzeigt Dass sich dabei durchaus auch widerspruumlchliche Aussagen erge-ben liegt in der Natur der Dinge Die Zukunftsforschung zeigt Trends und Gegentrends auf Nicht immer ist eindeutig welcher sich durchsetzt

Ziel von GDI und ZORA ist es die Verantwortlichen in den Staumldten fuumlr die Herausforderungen die sich aus den aktuellen Entwicklungen erge-ben zu sensibilisieren Getreu dem Grundsatz laquoZukunft passiert nicht wir gestalten sieraquo muumlssen sich die Staumldte daruumlber klar werden ob und wie sie Entwicklungen mitsteuern wollen Die Studie beleuchtet wichtige Handlungsfelder beispielsweise moumlgliche Anspruumlche an die Nutzbarkeit oumlffentlicher Raumlume die Veraumlnderung des Verstaumlndnisses von Oumlffentlich-keit die Verschiebungen im Stadtgefuumlge oder das Spannungsfeld zwi-schen Freiheitswunsch und Sicherheitsbeduumlrfnissen Auch auf die zukuumlnftige Bedeutung unterschiedlicher Akteure geht sie ein

Wir wuumlnschen uns dass diese Studie die Diskussion unter den Akteurin-nen und Akteuren in den Staumldten anregt und dazu fuumlhrt den oumlffentlichen Raum und die wichtigen Zukunftsthemen weit oben auf die Agenda zu setzen

Christoph Baumlttig Vorsitzender laquoZentrum Oumlffentlicher Raumraquo ZORA

Vorwort

FUTURE PUBLIC SPACE6

1 httpswwwbfsadminchbfsdehomestatistikenkataloge-datenbankenmedienmitteilungenassetdetail38618html

2 Bundesamt fuumlr Raumentwicklung Bauzonenstatistik Schweiz 2017

3 httpsnzzasnzzchkulturvittorio-magnago-lampugnaniwie-kann-man-verhindern-dass-die-schweiz-verschandelt-wird-wir-sollten-uns-schoenheit-etwas-kosten-lassen--ld1357554-reduced=true

4 Bundesamt fuumlr Raumentwicklung Bauzonenstatistik Schweiz 2017

Zur Vermessung von Schweizer Staumldten

BEVOumlLKERUNGSWACHSTUM16 Bevoumllkerungswachstum

zwischen 2015 und 2030 und 95 Millionen Einwohner im 20304

STAumlDTE WERDEN DICHTER(jedoch primaumlr ihre Agglomerationen)

59 Millionen resp 73 der Menschen in der Schweiz leben in Agglomerationen 84 der Bevoumllkerung in Gemeinden mit

staumldtischem Charakter auf 41 der Landesflaumlche1

2-3 ist die houmlchste Ausnuumltzungsziffer von Zuumlrich das Verhaumlltnis der Nutzflaumlche

der Gebaumlude zum Grundstuumlck 4-5 ist die Kernziffer fuumlr die Dichte im historischen

Zentrum Roms das wegen seiner urbanen Atmosphaumlre geschaumltzt wird3

75 DER SCHWEIZ IST SIEDLUNGSFLAumlCHE

359 Landwirtschaftsflaumlche313 Waldflaumlche

253 unproduktive Flaumlchen (Gletscher Fels usw)5

URBANER RAUM Weltweit leben 54 der Menschen im

urbanen Siedlungsraum6 Der urbane Raum (Staumldte) belegt jedoch lediglich 2-3 der

Flaumlche der Welt7

+16 54

5 httpswwwareadmincharedehomeraumentwicklung-und-raumplanunggrundlagen-und-datenfakten-und-zahlenraeumliche-bevoelkerungsverteilunghtml

6 httpsdataworldbankorgindicatorSPURBTOTLINZS7 httpbrandondonnellycompost146850094613the-back-

end-of-our-cities

FLAumlCHE DER BAUZONE2

weitere Bauzonen 1

Verkehrszonen innerhalb der Bauzonen 2

Tourismus- und Freizeitzonen 1

Arbeitszonen 14

Wohnzonen 46

eingeschraumlnkte Bauzonen 3

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen 11

Zentrumszonen 11

Mischzonen 11

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 7

8 Kessler Patrick Hochreutener Thomas und Windel Jens On-line- und Versandhandelsmarkt Schweiz 2016 Praumlsentation fuumlr Medienkonferenz am 132017 (anlaumlsslich Veroumlffentlichung der Resultate der Gesamtmarkterhebung fuumlr Online- und Versand-handel des VSV GfK und der Post) S13

9 EbdS1510 Wuest amp Partner 201811 GfK Markt Monitor 2017 S8312 httpwwwmobilitaetbschgesamtverkehrverkehrskennzah-

lenparkplatzkatasterhtml

Wertmaumlssige Anteile des Online-Versandhandels am Schweizer Detailhandel8

16 17 18 19

113 123 137153

16

101

Food Non-Food

2012 2013 2014 2015 2016

in

NUTZUNGSANSPRUumlCHEBis zum Jahr 2020 moumlchte Basel durch

Parkplaumltze frei gewordene Flaumlchen um 10 (gguuml 2000) zugunsten von Spielraumlumen und

anderen Nutzungsanspruumlchen senken15

VERAumlNDERTE MOBILITAumlTSKONZEPTE (Beispiel Stadt Basel)

302rsquo478m2 Flaumlche Autoparkplaumltze (-16)19rsquo862m2 Flaumlche Veloparkplaumltze12

307rsquo351m2 Flaumlche Autoparkplaumltze 18rsquo373m2 Flaumlche Veloparkplaumltze

2015

2017

AUTONOME FAHRZEUGE SPAREN BIS ZU 20 FLAumlCHE

Experten schaumltzen dass mit autonomen Fahrzeugen bis zu 20 Flaumlche eingespart

werden kann13 Jedoch nur wenn die bishe-rigen Nutzer oumlffentlicher Transportmittel

nicht auf Automobile umsteigen14

+10

13 httpswwwvoxcomanew-economy-futurecars-cities-tech-nologies

14 httpswwwmapcorgfarechoices15 Regierungsrat des Kantons Stadt Basel laquoRatschlag und Be-

richt Kantonale Volksinitiative Ja zu Parkraum auf privatem Grund und laquoGegenvorschlag fuumlr eine Anpassung des Bau- und Planungsgesetzes betreffend Abstellplaumltze fuumlr Fahrzeugeraquo Re-gierungsratsbeschluss vom 10 Mai 2011 Basel

VOM BOOM DER LADENFLAumlCHEN699 Quadratmeter Flaumlche umfasste ein La-den im Schnitt im Jahr 2017 1980 lag dieser Wert noch bei 172 Quadratmetern Gemaumlss

GfK geht dieser Trend jedoch wieder in Richtung kleinere Ladenformate11

699 M2

DER HANDEL VERSCHIEBT SICH Waumlhrend der Non-Food Konsum im

stationaumlren Handel sinkt waumlchst er im Online- und Versandhandel9

02

-145

03

-045

055

-115

035

-115

05

-25

05

-19

2011 2012 2013 2014 2015 2016

0

Non-Food Online

Non-Food Stationaumlr

in

FLAumlCHENBOOM Im Flaumlchenboom der letzten 20 Jahre

(Kernstaumldte 1995-2015) hat sich der Druck des Onlinehandels noch nicht bemerkbar

gemacht Gesamtschweizerisch haben die Handelsflaumlchen um 28 zugenommen

(Zuumlrich +36 Luzern +15)10

FUTURE PUBLIC SPACE8

Warum es den oumlffentlichen Raum nicht gibt

laquoEine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig

sie ist vielleicht gar keine OumlffentlichkeitraquoJUumlRGEN HABERMAS PHILOSOPH

Umstrittene DefinitionWas ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt Eine ab-schliessend richtige Definition gibt es nicht Zu vielfaumlltig sind die Vorstellungen vom oumlffentlichen Raum zu unterschiedlich die Anspruumlche Klar scheint jedoch dass sich der oumlffentliche Raum in erster Linie durch Zugaumlnglichkeit kennzeichnet laquoDer oumlffentliche Raum kann verstanden werden als ein allgemein zugaumlnglicher Bereich in dem Menschen ohne Beschraumlnkungen ein- und ausge-hen Die Menschen bewegen sich in diesem Be-reich frei Zufaumlllig oder geplant begegnen wir uns hier Der oumlffentliche Raum ist offen und wird be-grenzt von dessen Gegensatz dem nicht allgemein zugaumlnglichen Bereich Daher verlangt der oumlffentli-che Raum um als solcher wahrgenommen zu werden auch ein Gegenstuumlck das Privateraquo16 Auch Juumlrgen Habermas stellt das Zugangskriterium in den Vordergrund laquoDie buumlrgerliche Oumlffentlichkeit steht und faumlllt mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs Eine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig sie ist vielleicht gar keine Oumlffentlichkeitraquo17 Treibt man dieses Kriterium der Zugaumlnglichkeit noch etwas weiter und uumlbersetzt es sprachlich in die Gegenwart so ist der oumlffentli-che Raum rund um die Uhr zugaumlnglich nicht uumlberwacht ndash und man kann sich dort laumlnger als ein paar Minuten aufhalten ohne weggewiesen zu werden Folgt man der Definition der Zugaumlnglich-keit so kann man leicht den Schluss ziehen dass der oumlffentliche Raum bedroht ist Der Zugang wird immer mehr vordefiniert es gibt immer we-niger nicht uumlberwachte oder unbewachte Raumlume ndash und an vielen Orten herrscht Konsumzwang

Fazit Es gibt nicht nur keine abschliessend richti-ge Definition des oumlffentlichen Raums ndash auch unser Verstaumlndnis des oumlffentlichen Raums ist nicht kon-stant

Diskussionen uumlber den oumlffentlichen Raum werden in Europa besonders heftig gefuumlhrt Das ist nicht weiter erstaunlich weil der oumlffentliche Raum in diesem Kulturkreis an den Mythos der griechi-schen Polis anknuumlpft in der sich auf der Agora Menschen frei versammelten und in politischen Austausch traten Aber das ist eine idealisierte Vorstellung Im Griechenland der Antike waren ndash genau wie in der europaumlischen Stadt der Moder-ne ndash stets auch grosse Gruppen von der Oumlffent-lichkeit der Raumlume ausgeschlossen18

Der oumlffentliche Raum moderner Praumlgung ent-stand im 19 Jahrhundert als in Staumldten oumlffentli-che Parks und Plaumltze angelegt wurden wie zum Beispiel der Hyde Park in London oder der Cen-tral Park in New York19

16 Guido Brendgens Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simu-lierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (Dezember 2005) S 1088ndash1097

17 Juumlrgen Habermas Strukturwandel der Oumlffentlichkeit 1990 S 156

18 Jan Wehrheim Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

19 Carsten Benke (2004) Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht In Die alte Stadt 31 Jahrgang

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 9

FUTURE PUBLIC SPACE10

20 Hans Paul Bahrt Umwelterfahrung Muumlnchen 1974 S 35

Ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt wichtig

Das allgemeine Wehklagen uumlber den Verlust des oumlffentlichen Raums beantwortet nicht die Frage warum dieser uumlberhaupt wichtig ist Welche strukturellen Vorteile hat der oumlffentliche Raum gegenuumlber dem privaten Generell laumlsst sich sagen dass durch die geforderte Verdichtung in den Staumldten der oumlffentliche Raum fuumlr die Allgemein-heit wichtiger wird Er dient als Kompensations-raum fuumlr Aktivitaumlten die im engeren privaten Raum nicht ausgefuumlhrt werden koumlnnen Gleich-zeitig druumlckt sich darin auch die Lebensqualitaumlt der Bewohner aus ndash zum Beispiel durch Freizeit-aktivitaumlten die im privaten Raum nur einge-schraumlnkt moumlglich sind Der oumlffentliche Raum laumlsst sich auf verschiedene Arten nutzen ndash beispielswei-se als Erholungsraum als Konsumraum als Ver-kehrsraum oder als Kommunikationsraum Diese Multifunktionalitaumlt ist fuumlr den oumlffentlichen Raum bestimmend laquoStrassen und Plaumltze die typischer-weise von Angehoumlrigen ganz verschiedener Bevoumll-kerungsschichten zu verschiedenen Zwecken gut verteilt uumlber den Tag und den Abend aufgesucht werden zeigen genau das was wir oumlffentliches Le-ben auf der untersten anschaulichsten lokalen Ebene nennen naumlmlich das Rendezvous der Ge-sellschaft mit sich selbst20 Der oumlffentliche Raum ist also ein Ort an dem sich unterschiedliche Menschen begegnen koumlnnen um miteinander zu interagieren und wodurch laquodas Neueraquo entstehen und auch werden kann Er ist ebenso Ort politi-scher Manifestationen sowie des offenen Diskur-ses Viele dieser politischen Manifestationen spielen sich auf zentralen Plaumltzen ab wie zB dem Tahrir-Platz in Kairo waumlhrend des Arabischen Fruumlhlings Der Maidan-Platz in Kiew ist sogar zum Namensgeber ndash Euromaidan ndash der Buumlrger-proteste in der Ukraine geworden die zwischen

dem 21 November 2013 und dem 26 Februar 2014 in der Ukraine stattgefunden habenVerstaumlrkt durch die digitalen Medien und sozia-len Netzwerke verbreiten sich die Anliegen heute rasend schnell Das prominenteste Beispiel dafuumlr ist die Occupy-Bewegung die nicht nur in New York City zum Ausdruck kam sondern sich welt-weit in Staumldten verbreitete

OCCUPYWALLSTREET laquoAre you ready for a Tahrir moment On Sept 17 flood into lower Manhattan

set up tents kitchens peaceful barricades and occupy Wall Streetraquo

ADBUSTERS-WEBSITE AM 13 JULI 2011

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 11

21 Jan Wernheim22 Martina Loumlw Raumsoziologie 200023 Christian Schmid Raum und Regulation Henri Lefebvre und

der Regulationsansatz In Ulrich Brand und Werner Raza (Hrsg) Fit fuumlr den Postfordismus Theoretisch-politische Per-spektiven des Regulationsansatzes Muumlnster Westfaumllisches Dampfboot 2003 S 224

Oumlffentlicher Raum wird ausgehandelt

laquoDie Strasse die der Urbanismus geometrisch festlegt wird durch die Gehenden in einen Raum verwandeltraquo

MICHEL DE CERTEAU SOZIOLO GE HISTORIKER UND KULTURPHILOSOPH

An den oumlffentlichen Raum werden die unterschied-lichsten Anforderungen gestellt Die Nutzungsinte-ressen variieren je nach Milieuzugehoumlrigkeit und reichen von kulturellen Angeboten uumlber Gruumln- und Erholungsflaumlchen bis hin zur Luftreinhaltung Die Qualitaumlt des oumlffentlichen Raums laumlsst sich daher nur bedingt an quantitativen Kriterien wie Luft-qualitaumlt Verkehrsaufkommen Laumlrmbelastung oder Kriminalitaumlt messen Die Nutzung des oumlffentlichen Raums unterliegt einer konstanten Verhandlung mit dauerhafter Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Interessensgruppen Phaumlnomene wie bei-spielsweise das Public Viewing von Sport- und Kul-turveranstaltungen haben sich erst in den vergangenen Jahren entwickelt und stellen ganz neue Nutzungsvarianten fuumlr den oumlffentlichen Raum dar Auch das Smartphone-Game laquoPokeacutemon Goraquo bei dem die Nutzer auf der Jagd nach virtuellen Monstern Plaumltze bevoumllkerten und die entlegensten Orte aufsuchten veraumlndert die Nutzung des oumlffent-lichen Raums und kann als eine Art Neuentde-ckung des Stadtraums bezeichnet werden

Der oumlffentliche Raum wird zuweilen als ein laquophy-sischer Raumraquo betrachtet der von Stadtplanern und Architekten spezifisch laquoals Behaumllter fuumlr Ge-sellschaft und bestimmbares soziales Handelnraquo21 geschaffen wird Raum existiert indessen nicht per se sondern entsteht durch Handlung Wahr-nehmung und Vorstellung der einzelnen Nutzer Raum ist somit nicht ein laquoBehaumlltnisraquo in dem das Leben unberuumlhrt von ihm stattfindet sondern

vielmehr ein gesellschaftliches Produkt das aus den vielschichtigen Beziehungen zwischen den Nutzern und der gebauten Umwelt entsteht Raumlu-me werden auch uumlber die Atmosphaumlre definiert Beispiele dafuumlr sind etwa die sakrale Aura einer Kirche die erholsame Stimmung eines Parks oder das edle Ambiente eines Restaurants22 Was wir erfahren ist somit kein physischer Raum der sich statisch verhaumllt wie ein Modell sondern ein Raum der sich staumlndig veraumlndert den wir jeden Moment neu wahrnehmen ndash eingefaumlrbt durch unsere Erin-nerung und Vorstellung Ein Raum laumlsst sich nur dann wahrnehmen wenn er zuvor gedanklich konzipiert worden ist Somit entstehen Konstruk-tionen und Konzeptionen des oumlffentlichen Raums die sich auf gesellschaftliche Konventionen stuumlt-zen mit der Produktion von Wissen verbunden und mit Machtstrukturen verknuumlpft sind Beim gedanklich konzipierten Raum handelt es sich um eine Darstellung die den Raum abbildet und defi-niert Diese Darstellung entsteht auf der Ebene des Diskurses der Sprache als solcher und um-fasst im engsten Sinne verbalisierte Formen z B Beschreibungen oder Definitionen aber auch Karten und Plaumlne sowie Informationen durch Bil-der und Zeichen Im weiteren Sinne umfasst die Repraumlsentation des Raums auch gesellschaftliche Regeln und eine Ethik23 Aus der gedanklichen Konstruktion von Staumldten erwachsen stets auch neue Idealbilder und Wunschvorstellungen

FUTURE PUBLIC SPACE12

Die Stadt als idealisierte Projektionsflaumlche

Der oumlffentliche Raum dient als Projektionsflaumlche fuumlr Ideen Bilder und Wuumlnsche ndash aber auch fuumlr Utopien Er ist ein Moumlglichkeitsraum in dem sich mit Idealen etwa mit bestimmten Wohnformen (zB Co-Housing) experimentieren laumlsst Diese Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt der Staumldte wo es stets auch um prak-tische Nutzungsperspektiven geht

Die Stadt als Ort des offenen Diskurses und der freien Zusammenkunft wird nicht selten verklaumlrt und romantisiert In Grossbritannien werden die roten gusseisernen Telefonzellen ndash ein Lieblings-gegenstand der Populaumlrkultur und laumlngst Teil des urbanen Inventars ndash neuen Nutzungen zuge-fuumlhrt24 Die Telefonzelle hat im Zeitalter des Smartphones zwar ausgedient wird aber zumin-dest in der aumlusseren Form weiter in Betrieb gehal-ten Damit bedient sie eine Sehnsucht nach jener Zeit als Telefonleitungen die Verbindungsrelais fuumlr das gesamte Empire waren

Die Stadt bleibt ein Sehnsuchtsort Gleichzeitig ist ndash gewissermassen antithetisch ndash aber auch eine Entromantisierung der Stadt festzustellen Staumldte werden assoziiert mit Dreck Muumlll Laumlrm Smog und anderen Emissionen Diese Faktoren gehoumlren zur Stadt wie Haumluser und Bewohner werden aber

durch Idealisierung und Verklaumlrung ausgeblen-det Es gibt Muumlllhauptstaumldte (Neapel) Laumlrm-hauptstaumldte (Mannheim Kairo) Stauhauptstaumldte (Jakarta) und Feinstaubhauptstaumldte (Stuttgart) Solche wenig schmeichelhaften Zuschreibungen die in zahlreichen Rankings auf eine quantifizie-rende Grundlage gestellt werden kratzen am Image der Staumldte In der Schweiz gilt Genf als Stauhauptstadt Bern wird in den Medien zuwei-len als Diebstahlhochburg apostrophiert und Zuuml-rich gilt ndash mit einem 3 Rang im europaweiten Ranking ndash gemeinhin als Kokainhauptstadt der Schweiz Die Quantifizierung des Sozialen25 er-streckt sich auch auf Staumldte die ja vor allem auch ein soziales System konstituieren Beginnt die Stadt als Erfolgsmodell bruumlchig zu werden26

Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt

der Staumldte wo es stets auch um praktische Nutzungs-

perspektiven geht

24 Die Betreiberfirma BT hat das Programm laquoAdopt a Kioskraquo lan-ciert bei dem ausrangierte Telefonzellen zum symbolischen Preis von einem Pfund erworben werden koumlnnen 3500 Ge-meinden haben nach Konzernangaben davon bereits Gebrauch gemacht In Schottland wurde eine Telefonzelle in eine Mini-Bibliothek umfunktioniert in London wurde eine andere zum Kiosk

25 Stefen Mau (2017) Das metrische Wir Uumlber die Quantifizie-rung des Sozialen

26 Richard Florida (2017) The New Urban Crisis

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 13Wofuumlr Flaumlche im Verhaumlltnis pro Einwohner verwendet wird

Quellen Bundesamt fuumlr Statistik Eidg Volkszaumlhlungen 1970 1980 1990 und 2000 (harmonisierte Daten) Bundesamt fuumlr Statistik Statistik des jaumlhrlichen Bevoumllkerungsstandes (ESPOP) 1995 2005 Bundesamt fuumlr Statistik Statistik der Bevoumllkerung und der Haushalte (STATPOP) 2010-2016 Definition der staumlndigen

Wohnbevoumllkerung und des Wohnsitzbegriffs gemaumlss STATPOP Wuest amp Partner 2018 Planungsbuumlro Jud 2017

Bruttogeschossflaumlche pro Einwohner im 2015

Die Verkehrsflaumlche bezieht sich auf die Agglomeration im Jahr 2014

KernstadtAgglomeration

20151970

Staumlndige Wohnbevoumllkerung

St Gallen

80K 144K 76K 166K

Winterthur

92K 107K108K 138K

Luzern

82K 173K81K 226K

Bern

160K 357K132K 411K

Basel

209K 480K170K 541K

Zuumlrich

416K 966K

397K 1334K

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Sonderposition SchweizDie Schweiz befindet sich im Spannungsfeld die-ser Entwicklungen in einer Sonderposition Sie ist klein beinahe uumlberschaubar und steht auf einem stabilen politischen sozialen und oumlkonomischen Fundament Dank einem breiten Mittelstand und gut bezahlten Mittelschichtjobs ist die Gefahr ei-ner Einkommenspolarisierung ndash zumindest ge-genwaumlrtig ndash deutlich geringer als in anderen Laumlndern oder Regionen

Wegen des starken Wachstums im Silicon Valley hat San Francisco mittlerweile einen houmlheren Gi-ni-Index als Brasilien Schweizer Staumldte erfahren nicht denselben Wachstums- und Verdichtungs-druck wie andere Staumldte in Europa sie bewegen sich praktisch nicht Und das wird sich ndash sowohl im Hinblick auf die Infrastruktur als auch auf das Verhalten einer aumllter werdenden Bevoumllkerung ndash auch nicht so rasch aumlndern Entgegen dem globa-len Trend ist die staumlndige Wohnbevoumllkerung in Staumldten wie Basel Bern oder Zuumlrich in den ver-gangenen Jahrzehnten nur leicht gestiegen In Zuuml-rich wuchs die Wohnbevoumllkerung von 363 000 im Jahr 2000 auf 397 000 Einwohner im Jahr 2015 was einer Veraumlnderung von 142 Prozent ent-spricht In Basel stieg die Einwohnerzahl im glei-chen Zeitraum um lediglich 37 Prozent von 167 000 auf 170 000 Dies veranschaulicht dass die Schweizer Staumldte im Verglichen mit den neuen schnell wachsenden Megacitys ein anderes Ver-haumlltnis zu Wachstum und Dichte haben und da-mit auch andere Herausforderungen

Die neue Vernetzung der StaumldtelaquoThe supply of everything can meet demand for

anything anything or anyone can get nearly anywhereraquoPAR AG KHANNA POLITIKWISSENSCHAFTLER

UND PUBLIZIST

Durch den globalen Handel entsteht eine in der Geschichte noch nie da gewesene Konnektivitaumlt der Staumldte Diese starke Vernetzung fuumlhrt zu einer neuen Geografie der sogenannten laquoKonnektogra-fieraquo in welcher Grenzen Herkunft und staatliche Regulative immer weniger wichtig werden Der paradigmatische Ort fuumlr diese neue Landkarte ist Dubai 90 Prozent der Bevoumllkerung kommt aus dem Ausland die Steuern sind niedrig die Expor-te hoch laquoThe supply of everything can meet de-mand for anything anything or anyone can get nearly anywhereraquo27 Radikal verkuumlrzt Alles und alle koumlnnen uumlberallhin gehen Die laquoKonnektogra-fieraquo kann auch auf die Schweiz heruntergebrochen werden Als Nichtmitglied der EU spielt das Land im internationalen System zwar eine Sonderrolle die Schweizer Staumldte sind aber dennoch in ein glo-bales Geflecht eingewoben Die Digitalisierung macht auch vor dem kleinsten Dorf nicht halt Das Internet eroumlffnet einerseits neue Wettbe-werbsmoumlglichkeiten ndash so wurde beispielsweise die virtuelle Waumlhrung Ethereum in Zug program-miert ndash andererseits entstehen neue Verwundbar-keiten etwa durch Hackerangriffe auf smarte Staumldte

Aus raumplanerischer Sicht ist die Schweiz ein einziges urbanes System ndash zumindest zwischen dem Bodensee und Genf die Unterschiede zwi-schen Stadt und Land sind obsolet Aus gesell-

27 Parag Khanna (2016) Connectography Mapping the Global Network Revolution

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 15

schaftlicher Sicht jedoch sind diese Kategorien noch nicht uumlberwunden im Gegenteil Zu starr sind die unterschiedlichen Einstellungen Werte und Lebensstile der staumldtischen und der laumlndli-chen Bevoumllkerung Dennoch ist klar dass oumlffentli-che Raumlume keine Grenzen kennen Die Schweiz ist ein einziges urbanes System inmitten eines einzi-gen urbanen Systems namens Welt In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne ndash etwa bei der Standortwahl fuumlr neue Forschungs- und Entwicklungszentren Im Ge-baumlude der ehemaligen Zuumlrcher Sihlpost hat Goog-le einen neuen Hub eroumlffnet Bis 2021 sollen in der Limmatstadt weitere 2000 Google-Mitarbeiter be-schaumlftigt werden28 ndash neben den 2000 laquoZooglernraquo aus 75 Nationen die schon heute auf dem Huumlrli-mann-Areal arbeiten Das beweist dass die Mitar-beiter des Unternehmens als laquoAnywheresraquo eine flexible transportable Identitaumlt besitzen

Anders als die Landwirtschaft oder die verarbei-tende Industrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen fuumlr Aumlcker und Fabriken sondern vor allem gut ausgebildete mobile Men-schen und hochgeruumlstete Laboratorien Im Ge-gensatz zur ersten industriellen Revolution wo die Fabriken mit ihren rauchenden Kaminen am Stadtrand hochgezogen wurden kehren die Tech-nologiefirmen in die Zentren zuruumlck Amazon hat sich an seinem Hauptstandort Seattle mit zahlrei-chen Ausbauten ndash darunter die neue Firmenzent-

28 httpswwwnzzchzuerichgoogle-in-zuerich-innovationen-made-in-zurich-ld140285

29 httpswwwtheatlanticcomtechnologyarchive201709the-great-thing-about-apple-christening-their-stores-town-squares539667

rale laquoThe Spheresraquo mit drei gewaumlchshausaumlhnlichen Glaskuppeln ndash zu einer Stadt in der Stadt verdich-tet Und Apple nennt seine ikonischen Apple Stores kuumlnftig laquoTown Squareraquo (Marktplatz) und unterstreicht damit den urbanen Charakter seiner Laumlden29 Gleichzeitig findet eine Ruumlckkehr zur Company Town statt wie man sie aus der An-fangszeit der Industrialisierung kennt Der Schuh-lieferant Zappos liess mitten in Las Vegas fuumlr 350 Millionen Dollar ein eigenes Staumldtchen mit einem Unterhaltungskomplex und einem Hotel bauen Facebook enthuumlllte juumlngst Plaumlne fuumlr den Bau des neuen Willow Campus In dieser hippen hoch technisierten Idylle pendeln die Mitarbeiter zwi-schen veganen Cafeacutes und Co-Working-Spaces ndash und kontrollieren einander im Rahmen einer Art Nachbarschaftshilfe gegenseitig Aumlhnliche Sied-lungen liess einst der deutsche Industrielle Alfred Krupp in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Fa-briken bauen

In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz

mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne

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DATENSTAU

DATENHIGHWAY

Smart City500GB

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17

Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

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Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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80

100

hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

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Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21

der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23

die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

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Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

Sehr unwahrscheinlich

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Sehr wahrscheinlich

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Sehr wahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

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Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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100

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

FUTURE PUBLIC SPACE38

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 39

laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

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durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

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Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 8: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

FUTURE PUBLIC SPACE6

1 httpswwwbfsadminchbfsdehomestatistikenkataloge-datenbankenmedienmitteilungenassetdetail38618html

2 Bundesamt fuumlr Raumentwicklung Bauzonenstatistik Schweiz 2017

3 httpsnzzasnzzchkulturvittorio-magnago-lampugnaniwie-kann-man-verhindern-dass-die-schweiz-verschandelt-wird-wir-sollten-uns-schoenheit-etwas-kosten-lassen--ld1357554-reduced=true

4 Bundesamt fuumlr Raumentwicklung Bauzonenstatistik Schweiz 2017

Zur Vermessung von Schweizer Staumldten

BEVOumlLKERUNGSWACHSTUM16 Bevoumllkerungswachstum

zwischen 2015 und 2030 und 95 Millionen Einwohner im 20304

STAumlDTE WERDEN DICHTER(jedoch primaumlr ihre Agglomerationen)

59 Millionen resp 73 der Menschen in der Schweiz leben in Agglomerationen 84 der Bevoumllkerung in Gemeinden mit

staumldtischem Charakter auf 41 der Landesflaumlche1

2-3 ist die houmlchste Ausnuumltzungsziffer von Zuumlrich das Verhaumlltnis der Nutzflaumlche

der Gebaumlude zum Grundstuumlck 4-5 ist die Kernziffer fuumlr die Dichte im historischen

Zentrum Roms das wegen seiner urbanen Atmosphaumlre geschaumltzt wird3

75 DER SCHWEIZ IST SIEDLUNGSFLAumlCHE

359 Landwirtschaftsflaumlche313 Waldflaumlche

253 unproduktive Flaumlchen (Gletscher Fels usw)5

URBANER RAUM Weltweit leben 54 der Menschen im

urbanen Siedlungsraum6 Der urbane Raum (Staumldte) belegt jedoch lediglich 2-3 der

Flaumlche der Welt7

+16 54

5 httpswwwareadmincharedehomeraumentwicklung-und-raumplanunggrundlagen-und-datenfakten-und-zahlenraeumliche-bevoelkerungsverteilunghtml

6 httpsdataworldbankorgindicatorSPURBTOTLINZS7 httpbrandondonnellycompost146850094613the-back-

end-of-our-cities

FLAumlCHE DER BAUZONE2

weitere Bauzonen 1

Verkehrszonen innerhalb der Bauzonen 2

Tourismus- und Freizeitzonen 1

Arbeitszonen 14

Wohnzonen 46

eingeschraumlnkte Bauzonen 3

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen 11

Zentrumszonen 11

Mischzonen 11

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 7

8 Kessler Patrick Hochreutener Thomas und Windel Jens On-line- und Versandhandelsmarkt Schweiz 2016 Praumlsentation fuumlr Medienkonferenz am 132017 (anlaumlsslich Veroumlffentlichung der Resultate der Gesamtmarkterhebung fuumlr Online- und Versand-handel des VSV GfK und der Post) S13

9 EbdS1510 Wuest amp Partner 201811 GfK Markt Monitor 2017 S8312 httpwwwmobilitaetbschgesamtverkehrverkehrskennzah-

lenparkplatzkatasterhtml

Wertmaumlssige Anteile des Online-Versandhandels am Schweizer Detailhandel8

16 17 18 19

113 123 137153

16

101

Food Non-Food

2012 2013 2014 2015 2016

in

NUTZUNGSANSPRUumlCHEBis zum Jahr 2020 moumlchte Basel durch

Parkplaumltze frei gewordene Flaumlchen um 10 (gguuml 2000) zugunsten von Spielraumlumen und

anderen Nutzungsanspruumlchen senken15

VERAumlNDERTE MOBILITAumlTSKONZEPTE (Beispiel Stadt Basel)

302rsquo478m2 Flaumlche Autoparkplaumltze (-16)19rsquo862m2 Flaumlche Veloparkplaumltze12

307rsquo351m2 Flaumlche Autoparkplaumltze 18rsquo373m2 Flaumlche Veloparkplaumltze

2015

2017

AUTONOME FAHRZEUGE SPAREN BIS ZU 20 FLAumlCHE

Experten schaumltzen dass mit autonomen Fahrzeugen bis zu 20 Flaumlche eingespart

werden kann13 Jedoch nur wenn die bishe-rigen Nutzer oumlffentlicher Transportmittel

nicht auf Automobile umsteigen14

+10

13 httpswwwvoxcomanew-economy-futurecars-cities-tech-nologies

14 httpswwwmapcorgfarechoices15 Regierungsrat des Kantons Stadt Basel laquoRatschlag und Be-

richt Kantonale Volksinitiative Ja zu Parkraum auf privatem Grund und laquoGegenvorschlag fuumlr eine Anpassung des Bau- und Planungsgesetzes betreffend Abstellplaumltze fuumlr Fahrzeugeraquo Re-gierungsratsbeschluss vom 10 Mai 2011 Basel

VOM BOOM DER LADENFLAumlCHEN699 Quadratmeter Flaumlche umfasste ein La-den im Schnitt im Jahr 2017 1980 lag dieser Wert noch bei 172 Quadratmetern Gemaumlss

GfK geht dieser Trend jedoch wieder in Richtung kleinere Ladenformate11

699 M2

DER HANDEL VERSCHIEBT SICH Waumlhrend der Non-Food Konsum im

stationaumlren Handel sinkt waumlchst er im Online- und Versandhandel9

02

-145

03

-045

055

-115

035

-115

05

-25

05

-19

2011 2012 2013 2014 2015 2016

0

Non-Food Online

Non-Food Stationaumlr

in

FLAumlCHENBOOM Im Flaumlchenboom der letzten 20 Jahre

(Kernstaumldte 1995-2015) hat sich der Druck des Onlinehandels noch nicht bemerkbar

gemacht Gesamtschweizerisch haben die Handelsflaumlchen um 28 zugenommen

(Zuumlrich +36 Luzern +15)10

FUTURE PUBLIC SPACE8

Warum es den oumlffentlichen Raum nicht gibt

laquoEine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig

sie ist vielleicht gar keine OumlffentlichkeitraquoJUumlRGEN HABERMAS PHILOSOPH

Umstrittene DefinitionWas ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt Eine ab-schliessend richtige Definition gibt es nicht Zu vielfaumlltig sind die Vorstellungen vom oumlffentlichen Raum zu unterschiedlich die Anspruumlche Klar scheint jedoch dass sich der oumlffentliche Raum in erster Linie durch Zugaumlnglichkeit kennzeichnet laquoDer oumlffentliche Raum kann verstanden werden als ein allgemein zugaumlnglicher Bereich in dem Menschen ohne Beschraumlnkungen ein- und ausge-hen Die Menschen bewegen sich in diesem Be-reich frei Zufaumlllig oder geplant begegnen wir uns hier Der oumlffentliche Raum ist offen und wird be-grenzt von dessen Gegensatz dem nicht allgemein zugaumlnglichen Bereich Daher verlangt der oumlffentli-che Raum um als solcher wahrgenommen zu werden auch ein Gegenstuumlck das Privateraquo16 Auch Juumlrgen Habermas stellt das Zugangskriterium in den Vordergrund laquoDie buumlrgerliche Oumlffentlichkeit steht und faumlllt mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs Eine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig sie ist vielleicht gar keine Oumlffentlichkeitraquo17 Treibt man dieses Kriterium der Zugaumlnglichkeit noch etwas weiter und uumlbersetzt es sprachlich in die Gegenwart so ist der oumlffentli-che Raum rund um die Uhr zugaumlnglich nicht uumlberwacht ndash und man kann sich dort laumlnger als ein paar Minuten aufhalten ohne weggewiesen zu werden Folgt man der Definition der Zugaumlnglich-keit so kann man leicht den Schluss ziehen dass der oumlffentliche Raum bedroht ist Der Zugang wird immer mehr vordefiniert es gibt immer we-niger nicht uumlberwachte oder unbewachte Raumlume ndash und an vielen Orten herrscht Konsumzwang

Fazit Es gibt nicht nur keine abschliessend richti-ge Definition des oumlffentlichen Raums ndash auch unser Verstaumlndnis des oumlffentlichen Raums ist nicht kon-stant

Diskussionen uumlber den oumlffentlichen Raum werden in Europa besonders heftig gefuumlhrt Das ist nicht weiter erstaunlich weil der oumlffentliche Raum in diesem Kulturkreis an den Mythos der griechi-schen Polis anknuumlpft in der sich auf der Agora Menschen frei versammelten und in politischen Austausch traten Aber das ist eine idealisierte Vorstellung Im Griechenland der Antike waren ndash genau wie in der europaumlischen Stadt der Moder-ne ndash stets auch grosse Gruppen von der Oumlffent-lichkeit der Raumlume ausgeschlossen18

Der oumlffentliche Raum moderner Praumlgung ent-stand im 19 Jahrhundert als in Staumldten oumlffentli-che Parks und Plaumltze angelegt wurden wie zum Beispiel der Hyde Park in London oder der Cen-tral Park in New York19

16 Guido Brendgens Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simu-lierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (Dezember 2005) S 1088ndash1097

17 Juumlrgen Habermas Strukturwandel der Oumlffentlichkeit 1990 S 156

18 Jan Wehrheim Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

19 Carsten Benke (2004) Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht In Die alte Stadt 31 Jahrgang

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 9

FUTURE PUBLIC SPACE10

20 Hans Paul Bahrt Umwelterfahrung Muumlnchen 1974 S 35

Ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt wichtig

Das allgemeine Wehklagen uumlber den Verlust des oumlffentlichen Raums beantwortet nicht die Frage warum dieser uumlberhaupt wichtig ist Welche strukturellen Vorteile hat der oumlffentliche Raum gegenuumlber dem privaten Generell laumlsst sich sagen dass durch die geforderte Verdichtung in den Staumldten der oumlffentliche Raum fuumlr die Allgemein-heit wichtiger wird Er dient als Kompensations-raum fuumlr Aktivitaumlten die im engeren privaten Raum nicht ausgefuumlhrt werden koumlnnen Gleich-zeitig druumlckt sich darin auch die Lebensqualitaumlt der Bewohner aus ndash zum Beispiel durch Freizeit-aktivitaumlten die im privaten Raum nur einge-schraumlnkt moumlglich sind Der oumlffentliche Raum laumlsst sich auf verschiedene Arten nutzen ndash beispielswei-se als Erholungsraum als Konsumraum als Ver-kehrsraum oder als Kommunikationsraum Diese Multifunktionalitaumlt ist fuumlr den oumlffentlichen Raum bestimmend laquoStrassen und Plaumltze die typischer-weise von Angehoumlrigen ganz verschiedener Bevoumll-kerungsschichten zu verschiedenen Zwecken gut verteilt uumlber den Tag und den Abend aufgesucht werden zeigen genau das was wir oumlffentliches Le-ben auf der untersten anschaulichsten lokalen Ebene nennen naumlmlich das Rendezvous der Ge-sellschaft mit sich selbst20 Der oumlffentliche Raum ist also ein Ort an dem sich unterschiedliche Menschen begegnen koumlnnen um miteinander zu interagieren und wodurch laquodas Neueraquo entstehen und auch werden kann Er ist ebenso Ort politi-scher Manifestationen sowie des offenen Diskur-ses Viele dieser politischen Manifestationen spielen sich auf zentralen Plaumltzen ab wie zB dem Tahrir-Platz in Kairo waumlhrend des Arabischen Fruumlhlings Der Maidan-Platz in Kiew ist sogar zum Namensgeber ndash Euromaidan ndash der Buumlrger-proteste in der Ukraine geworden die zwischen

dem 21 November 2013 und dem 26 Februar 2014 in der Ukraine stattgefunden habenVerstaumlrkt durch die digitalen Medien und sozia-len Netzwerke verbreiten sich die Anliegen heute rasend schnell Das prominenteste Beispiel dafuumlr ist die Occupy-Bewegung die nicht nur in New York City zum Ausdruck kam sondern sich welt-weit in Staumldten verbreitete

OCCUPYWALLSTREET laquoAre you ready for a Tahrir moment On Sept 17 flood into lower Manhattan

set up tents kitchens peaceful barricades and occupy Wall Streetraquo

ADBUSTERS-WEBSITE AM 13 JULI 2011

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 11

21 Jan Wernheim22 Martina Loumlw Raumsoziologie 200023 Christian Schmid Raum und Regulation Henri Lefebvre und

der Regulationsansatz In Ulrich Brand und Werner Raza (Hrsg) Fit fuumlr den Postfordismus Theoretisch-politische Per-spektiven des Regulationsansatzes Muumlnster Westfaumllisches Dampfboot 2003 S 224

Oumlffentlicher Raum wird ausgehandelt

laquoDie Strasse die der Urbanismus geometrisch festlegt wird durch die Gehenden in einen Raum verwandeltraquo

MICHEL DE CERTEAU SOZIOLO GE HISTORIKER UND KULTURPHILOSOPH

An den oumlffentlichen Raum werden die unterschied-lichsten Anforderungen gestellt Die Nutzungsinte-ressen variieren je nach Milieuzugehoumlrigkeit und reichen von kulturellen Angeboten uumlber Gruumln- und Erholungsflaumlchen bis hin zur Luftreinhaltung Die Qualitaumlt des oumlffentlichen Raums laumlsst sich daher nur bedingt an quantitativen Kriterien wie Luft-qualitaumlt Verkehrsaufkommen Laumlrmbelastung oder Kriminalitaumlt messen Die Nutzung des oumlffentlichen Raums unterliegt einer konstanten Verhandlung mit dauerhafter Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Interessensgruppen Phaumlnomene wie bei-spielsweise das Public Viewing von Sport- und Kul-turveranstaltungen haben sich erst in den vergangenen Jahren entwickelt und stellen ganz neue Nutzungsvarianten fuumlr den oumlffentlichen Raum dar Auch das Smartphone-Game laquoPokeacutemon Goraquo bei dem die Nutzer auf der Jagd nach virtuellen Monstern Plaumltze bevoumllkerten und die entlegensten Orte aufsuchten veraumlndert die Nutzung des oumlffent-lichen Raums und kann als eine Art Neuentde-ckung des Stadtraums bezeichnet werden

Der oumlffentliche Raum wird zuweilen als ein laquophy-sischer Raumraquo betrachtet der von Stadtplanern und Architekten spezifisch laquoals Behaumllter fuumlr Ge-sellschaft und bestimmbares soziales Handelnraquo21 geschaffen wird Raum existiert indessen nicht per se sondern entsteht durch Handlung Wahr-nehmung und Vorstellung der einzelnen Nutzer Raum ist somit nicht ein laquoBehaumlltnisraquo in dem das Leben unberuumlhrt von ihm stattfindet sondern

vielmehr ein gesellschaftliches Produkt das aus den vielschichtigen Beziehungen zwischen den Nutzern und der gebauten Umwelt entsteht Raumlu-me werden auch uumlber die Atmosphaumlre definiert Beispiele dafuumlr sind etwa die sakrale Aura einer Kirche die erholsame Stimmung eines Parks oder das edle Ambiente eines Restaurants22 Was wir erfahren ist somit kein physischer Raum der sich statisch verhaumllt wie ein Modell sondern ein Raum der sich staumlndig veraumlndert den wir jeden Moment neu wahrnehmen ndash eingefaumlrbt durch unsere Erin-nerung und Vorstellung Ein Raum laumlsst sich nur dann wahrnehmen wenn er zuvor gedanklich konzipiert worden ist Somit entstehen Konstruk-tionen und Konzeptionen des oumlffentlichen Raums die sich auf gesellschaftliche Konventionen stuumlt-zen mit der Produktion von Wissen verbunden und mit Machtstrukturen verknuumlpft sind Beim gedanklich konzipierten Raum handelt es sich um eine Darstellung die den Raum abbildet und defi-niert Diese Darstellung entsteht auf der Ebene des Diskurses der Sprache als solcher und um-fasst im engsten Sinne verbalisierte Formen z B Beschreibungen oder Definitionen aber auch Karten und Plaumlne sowie Informationen durch Bil-der und Zeichen Im weiteren Sinne umfasst die Repraumlsentation des Raums auch gesellschaftliche Regeln und eine Ethik23 Aus der gedanklichen Konstruktion von Staumldten erwachsen stets auch neue Idealbilder und Wunschvorstellungen

FUTURE PUBLIC SPACE12

Die Stadt als idealisierte Projektionsflaumlche

Der oumlffentliche Raum dient als Projektionsflaumlche fuumlr Ideen Bilder und Wuumlnsche ndash aber auch fuumlr Utopien Er ist ein Moumlglichkeitsraum in dem sich mit Idealen etwa mit bestimmten Wohnformen (zB Co-Housing) experimentieren laumlsst Diese Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt der Staumldte wo es stets auch um prak-tische Nutzungsperspektiven geht

Die Stadt als Ort des offenen Diskurses und der freien Zusammenkunft wird nicht selten verklaumlrt und romantisiert In Grossbritannien werden die roten gusseisernen Telefonzellen ndash ein Lieblings-gegenstand der Populaumlrkultur und laumlngst Teil des urbanen Inventars ndash neuen Nutzungen zuge-fuumlhrt24 Die Telefonzelle hat im Zeitalter des Smartphones zwar ausgedient wird aber zumin-dest in der aumlusseren Form weiter in Betrieb gehal-ten Damit bedient sie eine Sehnsucht nach jener Zeit als Telefonleitungen die Verbindungsrelais fuumlr das gesamte Empire waren

Die Stadt bleibt ein Sehnsuchtsort Gleichzeitig ist ndash gewissermassen antithetisch ndash aber auch eine Entromantisierung der Stadt festzustellen Staumldte werden assoziiert mit Dreck Muumlll Laumlrm Smog und anderen Emissionen Diese Faktoren gehoumlren zur Stadt wie Haumluser und Bewohner werden aber

durch Idealisierung und Verklaumlrung ausgeblen-det Es gibt Muumlllhauptstaumldte (Neapel) Laumlrm-hauptstaumldte (Mannheim Kairo) Stauhauptstaumldte (Jakarta) und Feinstaubhauptstaumldte (Stuttgart) Solche wenig schmeichelhaften Zuschreibungen die in zahlreichen Rankings auf eine quantifizie-rende Grundlage gestellt werden kratzen am Image der Staumldte In der Schweiz gilt Genf als Stauhauptstadt Bern wird in den Medien zuwei-len als Diebstahlhochburg apostrophiert und Zuuml-rich gilt ndash mit einem 3 Rang im europaweiten Ranking ndash gemeinhin als Kokainhauptstadt der Schweiz Die Quantifizierung des Sozialen25 er-streckt sich auch auf Staumldte die ja vor allem auch ein soziales System konstituieren Beginnt die Stadt als Erfolgsmodell bruumlchig zu werden26

Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt

der Staumldte wo es stets auch um praktische Nutzungs-

perspektiven geht

24 Die Betreiberfirma BT hat das Programm laquoAdopt a Kioskraquo lan-ciert bei dem ausrangierte Telefonzellen zum symbolischen Preis von einem Pfund erworben werden koumlnnen 3500 Ge-meinden haben nach Konzernangaben davon bereits Gebrauch gemacht In Schottland wurde eine Telefonzelle in eine Mini-Bibliothek umfunktioniert in London wurde eine andere zum Kiosk

25 Stefen Mau (2017) Das metrische Wir Uumlber die Quantifizie-rung des Sozialen

26 Richard Florida (2017) The New Urban Crisis

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 13Wofuumlr Flaumlche im Verhaumlltnis pro Einwohner verwendet wird

Quellen Bundesamt fuumlr Statistik Eidg Volkszaumlhlungen 1970 1980 1990 und 2000 (harmonisierte Daten) Bundesamt fuumlr Statistik Statistik des jaumlhrlichen Bevoumllkerungsstandes (ESPOP) 1995 2005 Bundesamt fuumlr Statistik Statistik der Bevoumllkerung und der Haushalte (STATPOP) 2010-2016 Definition der staumlndigen

Wohnbevoumllkerung und des Wohnsitzbegriffs gemaumlss STATPOP Wuest amp Partner 2018 Planungsbuumlro Jud 2017

Bruttogeschossflaumlche pro Einwohner im 2015

Die Verkehrsflaumlche bezieht sich auf die Agglomeration im Jahr 2014

KernstadtAgglomeration

20151970

Staumlndige Wohnbevoumllkerung

St Gallen

80K 144K 76K 166K

Winterthur

92K 107K108K 138K

Luzern

82K 173K81K 226K

Bern

160K 357K132K 411K

Basel

209K 480K170K 541K

Zuumlrich

416K 966K

397K 1334K

FUTURE PUBLIC SPACE14

Sonderposition SchweizDie Schweiz befindet sich im Spannungsfeld die-ser Entwicklungen in einer Sonderposition Sie ist klein beinahe uumlberschaubar und steht auf einem stabilen politischen sozialen und oumlkonomischen Fundament Dank einem breiten Mittelstand und gut bezahlten Mittelschichtjobs ist die Gefahr ei-ner Einkommenspolarisierung ndash zumindest ge-genwaumlrtig ndash deutlich geringer als in anderen Laumlndern oder Regionen

Wegen des starken Wachstums im Silicon Valley hat San Francisco mittlerweile einen houmlheren Gi-ni-Index als Brasilien Schweizer Staumldte erfahren nicht denselben Wachstums- und Verdichtungs-druck wie andere Staumldte in Europa sie bewegen sich praktisch nicht Und das wird sich ndash sowohl im Hinblick auf die Infrastruktur als auch auf das Verhalten einer aumllter werdenden Bevoumllkerung ndash auch nicht so rasch aumlndern Entgegen dem globa-len Trend ist die staumlndige Wohnbevoumllkerung in Staumldten wie Basel Bern oder Zuumlrich in den ver-gangenen Jahrzehnten nur leicht gestiegen In Zuuml-rich wuchs die Wohnbevoumllkerung von 363 000 im Jahr 2000 auf 397 000 Einwohner im Jahr 2015 was einer Veraumlnderung von 142 Prozent ent-spricht In Basel stieg die Einwohnerzahl im glei-chen Zeitraum um lediglich 37 Prozent von 167 000 auf 170 000 Dies veranschaulicht dass die Schweizer Staumldte im Verglichen mit den neuen schnell wachsenden Megacitys ein anderes Ver-haumlltnis zu Wachstum und Dichte haben und da-mit auch andere Herausforderungen

Die neue Vernetzung der StaumldtelaquoThe supply of everything can meet demand for

anything anything or anyone can get nearly anywhereraquoPAR AG KHANNA POLITIKWISSENSCHAFTLER

UND PUBLIZIST

Durch den globalen Handel entsteht eine in der Geschichte noch nie da gewesene Konnektivitaumlt der Staumldte Diese starke Vernetzung fuumlhrt zu einer neuen Geografie der sogenannten laquoKonnektogra-fieraquo in welcher Grenzen Herkunft und staatliche Regulative immer weniger wichtig werden Der paradigmatische Ort fuumlr diese neue Landkarte ist Dubai 90 Prozent der Bevoumllkerung kommt aus dem Ausland die Steuern sind niedrig die Expor-te hoch laquoThe supply of everything can meet de-mand for anything anything or anyone can get nearly anywhereraquo27 Radikal verkuumlrzt Alles und alle koumlnnen uumlberallhin gehen Die laquoKonnektogra-fieraquo kann auch auf die Schweiz heruntergebrochen werden Als Nichtmitglied der EU spielt das Land im internationalen System zwar eine Sonderrolle die Schweizer Staumldte sind aber dennoch in ein glo-bales Geflecht eingewoben Die Digitalisierung macht auch vor dem kleinsten Dorf nicht halt Das Internet eroumlffnet einerseits neue Wettbe-werbsmoumlglichkeiten ndash so wurde beispielsweise die virtuelle Waumlhrung Ethereum in Zug program-miert ndash andererseits entstehen neue Verwundbar-keiten etwa durch Hackerangriffe auf smarte Staumldte

Aus raumplanerischer Sicht ist die Schweiz ein einziges urbanes System ndash zumindest zwischen dem Bodensee und Genf die Unterschiede zwi-schen Stadt und Land sind obsolet Aus gesell-

27 Parag Khanna (2016) Connectography Mapping the Global Network Revolution

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 15

schaftlicher Sicht jedoch sind diese Kategorien noch nicht uumlberwunden im Gegenteil Zu starr sind die unterschiedlichen Einstellungen Werte und Lebensstile der staumldtischen und der laumlndli-chen Bevoumllkerung Dennoch ist klar dass oumlffentli-che Raumlume keine Grenzen kennen Die Schweiz ist ein einziges urbanes System inmitten eines einzi-gen urbanen Systems namens Welt In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne ndash etwa bei der Standortwahl fuumlr neue Forschungs- und Entwicklungszentren Im Ge-baumlude der ehemaligen Zuumlrcher Sihlpost hat Goog-le einen neuen Hub eroumlffnet Bis 2021 sollen in der Limmatstadt weitere 2000 Google-Mitarbeiter be-schaumlftigt werden28 ndash neben den 2000 laquoZooglernraquo aus 75 Nationen die schon heute auf dem Huumlrli-mann-Areal arbeiten Das beweist dass die Mitar-beiter des Unternehmens als laquoAnywheresraquo eine flexible transportable Identitaumlt besitzen

Anders als die Landwirtschaft oder die verarbei-tende Industrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen fuumlr Aumlcker und Fabriken sondern vor allem gut ausgebildete mobile Men-schen und hochgeruumlstete Laboratorien Im Ge-gensatz zur ersten industriellen Revolution wo die Fabriken mit ihren rauchenden Kaminen am Stadtrand hochgezogen wurden kehren die Tech-nologiefirmen in die Zentren zuruumlck Amazon hat sich an seinem Hauptstandort Seattle mit zahlrei-chen Ausbauten ndash darunter die neue Firmenzent-

28 httpswwwnzzchzuerichgoogle-in-zuerich-innovationen-made-in-zurich-ld140285

29 httpswwwtheatlanticcomtechnologyarchive201709the-great-thing-about-apple-christening-their-stores-town-squares539667

rale laquoThe Spheresraquo mit drei gewaumlchshausaumlhnlichen Glaskuppeln ndash zu einer Stadt in der Stadt verdich-tet Und Apple nennt seine ikonischen Apple Stores kuumlnftig laquoTown Squareraquo (Marktplatz) und unterstreicht damit den urbanen Charakter seiner Laumlden29 Gleichzeitig findet eine Ruumlckkehr zur Company Town statt wie man sie aus der An-fangszeit der Industrialisierung kennt Der Schuh-lieferant Zappos liess mitten in Las Vegas fuumlr 350 Millionen Dollar ein eigenes Staumldtchen mit einem Unterhaltungskomplex und einem Hotel bauen Facebook enthuumlllte juumlngst Plaumlne fuumlr den Bau des neuen Willow Campus In dieser hippen hoch technisierten Idylle pendeln die Mitarbeiter zwi-schen veganen Cafeacutes und Co-Working-Spaces ndash und kontrollieren einander im Rahmen einer Art Nachbarschaftshilfe gegenseitig Aumlhnliche Sied-lungen liess einst der deutsche Industrielle Alfred Krupp in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Fa-briken bauen

In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz

mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne

FUTURE PUBLIC SPACE16

DATENSTAU

DATENHIGHWAY

Smart City500GB

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17

Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

FUTURE PUBLIC SPACE18

Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

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hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

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Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21

der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23

die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 27

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 29

41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 31

Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

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Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

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Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 45

Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

FUTURE PUBLIC SPACE46

Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 47

GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

FUTURE PUBLIC SPACE48

Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

FUTURE PUBLIC SPACE50

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 9: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 7

8 Kessler Patrick Hochreutener Thomas und Windel Jens On-line- und Versandhandelsmarkt Schweiz 2016 Praumlsentation fuumlr Medienkonferenz am 132017 (anlaumlsslich Veroumlffentlichung der Resultate der Gesamtmarkterhebung fuumlr Online- und Versand-handel des VSV GfK und der Post) S13

9 EbdS1510 Wuest amp Partner 201811 GfK Markt Monitor 2017 S8312 httpwwwmobilitaetbschgesamtverkehrverkehrskennzah-

lenparkplatzkatasterhtml

Wertmaumlssige Anteile des Online-Versandhandels am Schweizer Detailhandel8

16 17 18 19

113 123 137153

16

101

Food Non-Food

2012 2013 2014 2015 2016

in

NUTZUNGSANSPRUumlCHEBis zum Jahr 2020 moumlchte Basel durch

Parkplaumltze frei gewordene Flaumlchen um 10 (gguuml 2000) zugunsten von Spielraumlumen und

anderen Nutzungsanspruumlchen senken15

VERAumlNDERTE MOBILITAumlTSKONZEPTE (Beispiel Stadt Basel)

302rsquo478m2 Flaumlche Autoparkplaumltze (-16)19rsquo862m2 Flaumlche Veloparkplaumltze12

307rsquo351m2 Flaumlche Autoparkplaumltze 18rsquo373m2 Flaumlche Veloparkplaumltze

2015

2017

AUTONOME FAHRZEUGE SPAREN BIS ZU 20 FLAumlCHE

Experten schaumltzen dass mit autonomen Fahrzeugen bis zu 20 Flaumlche eingespart

werden kann13 Jedoch nur wenn die bishe-rigen Nutzer oumlffentlicher Transportmittel

nicht auf Automobile umsteigen14

+10

13 httpswwwvoxcomanew-economy-futurecars-cities-tech-nologies

14 httpswwwmapcorgfarechoices15 Regierungsrat des Kantons Stadt Basel laquoRatschlag und Be-

richt Kantonale Volksinitiative Ja zu Parkraum auf privatem Grund und laquoGegenvorschlag fuumlr eine Anpassung des Bau- und Planungsgesetzes betreffend Abstellplaumltze fuumlr Fahrzeugeraquo Re-gierungsratsbeschluss vom 10 Mai 2011 Basel

VOM BOOM DER LADENFLAumlCHEN699 Quadratmeter Flaumlche umfasste ein La-den im Schnitt im Jahr 2017 1980 lag dieser Wert noch bei 172 Quadratmetern Gemaumlss

GfK geht dieser Trend jedoch wieder in Richtung kleinere Ladenformate11

699 M2

DER HANDEL VERSCHIEBT SICH Waumlhrend der Non-Food Konsum im

stationaumlren Handel sinkt waumlchst er im Online- und Versandhandel9

02

-145

03

-045

055

-115

035

-115

05

-25

05

-19

2011 2012 2013 2014 2015 2016

0

Non-Food Online

Non-Food Stationaumlr

in

FLAumlCHENBOOM Im Flaumlchenboom der letzten 20 Jahre

(Kernstaumldte 1995-2015) hat sich der Druck des Onlinehandels noch nicht bemerkbar

gemacht Gesamtschweizerisch haben die Handelsflaumlchen um 28 zugenommen

(Zuumlrich +36 Luzern +15)10

FUTURE PUBLIC SPACE8

Warum es den oumlffentlichen Raum nicht gibt

laquoEine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig

sie ist vielleicht gar keine OumlffentlichkeitraquoJUumlRGEN HABERMAS PHILOSOPH

Umstrittene DefinitionWas ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt Eine ab-schliessend richtige Definition gibt es nicht Zu vielfaumlltig sind die Vorstellungen vom oumlffentlichen Raum zu unterschiedlich die Anspruumlche Klar scheint jedoch dass sich der oumlffentliche Raum in erster Linie durch Zugaumlnglichkeit kennzeichnet laquoDer oumlffentliche Raum kann verstanden werden als ein allgemein zugaumlnglicher Bereich in dem Menschen ohne Beschraumlnkungen ein- und ausge-hen Die Menschen bewegen sich in diesem Be-reich frei Zufaumlllig oder geplant begegnen wir uns hier Der oumlffentliche Raum ist offen und wird be-grenzt von dessen Gegensatz dem nicht allgemein zugaumlnglichen Bereich Daher verlangt der oumlffentli-che Raum um als solcher wahrgenommen zu werden auch ein Gegenstuumlck das Privateraquo16 Auch Juumlrgen Habermas stellt das Zugangskriterium in den Vordergrund laquoDie buumlrgerliche Oumlffentlichkeit steht und faumlllt mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs Eine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig sie ist vielleicht gar keine Oumlffentlichkeitraquo17 Treibt man dieses Kriterium der Zugaumlnglichkeit noch etwas weiter und uumlbersetzt es sprachlich in die Gegenwart so ist der oumlffentli-che Raum rund um die Uhr zugaumlnglich nicht uumlberwacht ndash und man kann sich dort laumlnger als ein paar Minuten aufhalten ohne weggewiesen zu werden Folgt man der Definition der Zugaumlnglich-keit so kann man leicht den Schluss ziehen dass der oumlffentliche Raum bedroht ist Der Zugang wird immer mehr vordefiniert es gibt immer we-niger nicht uumlberwachte oder unbewachte Raumlume ndash und an vielen Orten herrscht Konsumzwang

Fazit Es gibt nicht nur keine abschliessend richti-ge Definition des oumlffentlichen Raums ndash auch unser Verstaumlndnis des oumlffentlichen Raums ist nicht kon-stant

Diskussionen uumlber den oumlffentlichen Raum werden in Europa besonders heftig gefuumlhrt Das ist nicht weiter erstaunlich weil der oumlffentliche Raum in diesem Kulturkreis an den Mythos der griechi-schen Polis anknuumlpft in der sich auf der Agora Menschen frei versammelten und in politischen Austausch traten Aber das ist eine idealisierte Vorstellung Im Griechenland der Antike waren ndash genau wie in der europaumlischen Stadt der Moder-ne ndash stets auch grosse Gruppen von der Oumlffent-lichkeit der Raumlume ausgeschlossen18

Der oumlffentliche Raum moderner Praumlgung ent-stand im 19 Jahrhundert als in Staumldten oumlffentli-che Parks und Plaumltze angelegt wurden wie zum Beispiel der Hyde Park in London oder der Cen-tral Park in New York19

16 Guido Brendgens Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simu-lierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (Dezember 2005) S 1088ndash1097

17 Juumlrgen Habermas Strukturwandel der Oumlffentlichkeit 1990 S 156

18 Jan Wehrheim Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

19 Carsten Benke (2004) Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht In Die alte Stadt 31 Jahrgang

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20 Hans Paul Bahrt Umwelterfahrung Muumlnchen 1974 S 35

Ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt wichtig

Das allgemeine Wehklagen uumlber den Verlust des oumlffentlichen Raums beantwortet nicht die Frage warum dieser uumlberhaupt wichtig ist Welche strukturellen Vorteile hat der oumlffentliche Raum gegenuumlber dem privaten Generell laumlsst sich sagen dass durch die geforderte Verdichtung in den Staumldten der oumlffentliche Raum fuumlr die Allgemein-heit wichtiger wird Er dient als Kompensations-raum fuumlr Aktivitaumlten die im engeren privaten Raum nicht ausgefuumlhrt werden koumlnnen Gleich-zeitig druumlckt sich darin auch die Lebensqualitaumlt der Bewohner aus ndash zum Beispiel durch Freizeit-aktivitaumlten die im privaten Raum nur einge-schraumlnkt moumlglich sind Der oumlffentliche Raum laumlsst sich auf verschiedene Arten nutzen ndash beispielswei-se als Erholungsraum als Konsumraum als Ver-kehrsraum oder als Kommunikationsraum Diese Multifunktionalitaumlt ist fuumlr den oumlffentlichen Raum bestimmend laquoStrassen und Plaumltze die typischer-weise von Angehoumlrigen ganz verschiedener Bevoumll-kerungsschichten zu verschiedenen Zwecken gut verteilt uumlber den Tag und den Abend aufgesucht werden zeigen genau das was wir oumlffentliches Le-ben auf der untersten anschaulichsten lokalen Ebene nennen naumlmlich das Rendezvous der Ge-sellschaft mit sich selbst20 Der oumlffentliche Raum ist also ein Ort an dem sich unterschiedliche Menschen begegnen koumlnnen um miteinander zu interagieren und wodurch laquodas Neueraquo entstehen und auch werden kann Er ist ebenso Ort politi-scher Manifestationen sowie des offenen Diskur-ses Viele dieser politischen Manifestationen spielen sich auf zentralen Plaumltzen ab wie zB dem Tahrir-Platz in Kairo waumlhrend des Arabischen Fruumlhlings Der Maidan-Platz in Kiew ist sogar zum Namensgeber ndash Euromaidan ndash der Buumlrger-proteste in der Ukraine geworden die zwischen

dem 21 November 2013 und dem 26 Februar 2014 in der Ukraine stattgefunden habenVerstaumlrkt durch die digitalen Medien und sozia-len Netzwerke verbreiten sich die Anliegen heute rasend schnell Das prominenteste Beispiel dafuumlr ist die Occupy-Bewegung die nicht nur in New York City zum Ausdruck kam sondern sich welt-weit in Staumldten verbreitete

OCCUPYWALLSTREET laquoAre you ready for a Tahrir moment On Sept 17 flood into lower Manhattan

set up tents kitchens peaceful barricades and occupy Wall Streetraquo

ADBUSTERS-WEBSITE AM 13 JULI 2011

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 11

21 Jan Wernheim22 Martina Loumlw Raumsoziologie 200023 Christian Schmid Raum und Regulation Henri Lefebvre und

der Regulationsansatz In Ulrich Brand und Werner Raza (Hrsg) Fit fuumlr den Postfordismus Theoretisch-politische Per-spektiven des Regulationsansatzes Muumlnster Westfaumllisches Dampfboot 2003 S 224

Oumlffentlicher Raum wird ausgehandelt

laquoDie Strasse die der Urbanismus geometrisch festlegt wird durch die Gehenden in einen Raum verwandeltraquo

MICHEL DE CERTEAU SOZIOLO GE HISTORIKER UND KULTURPHILOSOPH

An den oumlffentlichen Raum werden die unterschied-lichsten Anforderungen gestellt Die Nutzungsinte-ressen variieren je nach Milieuzugehoumlrigkeit und reichen von kulturellen Angeboten uumlber Gruumln- und Erholungsflaumlchen bis hin zur Luftreinhaltung Die Qualitaumlt des oumlffentlichen Raums laumlsst sich daher nur bedingt an quantitativen Kriterien wie Luft-qualitaumlt Verkehrsaufkommen Laumlrmbelastung oder Kriminalitaumlt messen Die Nutzung des oumlffentlichen Raums unterliegt einer konstanten Verhandlung mit dauerhafter Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Interessensgruppen Phaumlnomene wie bei-spielsweise das Public Viewing von Sport- und Kul-turveranstaltungen haben sich erst in den vergangenen Jahren entwickelt und stellen ganz neue Nutzungsvarianten fuumlr den oumlffentlichen Raum dar Auch das Smartphone-Game laquoPokeacutemon Goraquo bei dem die Nutzer auf der Jagd nach virtuellen Monstern Plaumltze bevoumllkerten und die entlegensten Orte aufsuchten veraumlndert die Nutzung des oumlffent-lichen Raums und kann als eine Art Neuentde-ckung des Stadtraums bezeichnet werden

Der oumlffentliche Raum wird zuweilen als ein laquophy-sischer Raumraquo betrachtet der von Stadtplanern und Architekten spezifisch laquoals Behaumllter fuumlr Ge-sellschaft und bestimmbares soziales Handelnraquo21 geschaffen wird Raum existiert indessen nicht per se sondern entsteht durch Handlung Wahr-nehmung und Vorstellung der einzelnen Nutzer Raum ist somit nicht ein laquoBehaumlltnisraquo in dem das Leben unberuumlhrt von ihm stattfindet sondern

vielmehr ein gesellschaftliches Produkt das aus den vielschichtigen Beziehungen zwischen den Nutzern und der gebauten Umwelt entsteht Raumlu-me werden auch uumlber die Atmosphaumlre definiert Beispiele dafuumlr sind etwa die sakrale Aura einer Kirche die erholsame Stimmung eines Parks oder das edle Ambiente eines Restaurants22 Was wir erfahren ist somit kein physischer Raum der sich statisch verhaumllt wie ein Modell sondern ein Raum der sich staumlndig veraumlndert den wir jeden Moment neu wahrnehmen ndash eingefaumlrbt durch unsere Erin-nerung und Vorstellung Ein Raum laumlsst sich nur dann wahrnehmen wenn er zuvor gedanklich konzipiert worden ist Somit entstehen Konstruk-tionen und Konzeptionen des oumlffentlichen Raums die sich auf gesellschaftliche Konventionen stuumlt-zen mit der Produktion von Wissen verbunden und mit Machtstrukturen verknuumlpft sind Beim gedanklich konzipierten Raum handelt es sich um eine Darstellung die den Raum abbildet und defi-niert Diese Darstellung entsteht auf der Ebene des Diskurses der Sprache als solcher und um-fasst im engsten Sinne verbalisierte Formen z B Beschreibungen oder Definitionen aber auch Karten und Plaumlne sowie Informationen durch Bil-der und Zeichen Im weiteren Sinne umfasst die Repraumlsentation des Raums auch gesellschaftliche Regeln und eine Ethik23 Aus der gedanklichen Konstruktion von Staumldten erwachsen stets auch neue Idealbilder und Wunschvorstellungen

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Die Stadt als idealisierte Projektionsflaumlche

Der oumlffentliche Raum dient als Projektionsflaumlche fuumlr Ideen Bilder und Wuumlnsche ndash aber auch fuumlr Utopien Er ist ein Moumlglichkeitsraum in dem sich mit Idealen etwa mit bestimmten Wohnformen (zB Co-Housing) experimentieren laumlsst Diese Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt der Staumldte wo es stets auch um prak-tische Nutzungsperspektiven geht

Die Stadt als Ort des offenen Diskurses und der freien Zusammenkunft wird nicht selten verklaumlrt und romantisiert In Grossbritannien werden die roten gusseisernen Telefonzellen ndash ein Lieblings-gegenstand der Populaumlrkultur und laumlngst Teil des urbanen Inventars ndash neuen Nutzungen zuge-fuumlhrt24 Die Telefonzelle hat im Zeitalter des Smartphones zwar ausgedient wird aber zumin-dest in der aumlusseren Form weiter in Betrieb gehal-ten Damit bedient sie eine Sehnsucht nach jener Zeit als Telefonleitungen die Verbindungsrelais fuumlr das gesamte Empire waren

Die Stadt bleibt ein Sehnsuchtsort Gleichzeitig ist ndash gewissermassen antithetisch ndash aber auch eine Entromantisierung der Stadt festzustellen Staumldte werden assoziiert mit Dreck Muumlll Laumlrm Smog und anderen Emissionen Diese Faktoren gehoumlren zur Stadt wie Haumluser und Bewohner werden aber

durch Idealisierung und Verklaumlrung ausgeblen-det Es gibt Muumlllhauptstaumldte (Neapel) Laumlrm-hauptstaumldte (Mannheim Kairo) Stauhauptstaumldte (Jakarta) und Feinstaubhauptstaumldte (Stuttgart) Solche wenig schmeichelhaften Zuschreibungen die in zahlreichen Rankings auf eine quantifizie-rende Grundlage gestellt werden kratzen am Image der Staumldte In der Schweiz gilt Genf als Stauhauptstadt Bern wird in den Medien zuwei-len als Diebstahlhochburg apostrophiert und Zuuml-rich gilt ndash mit einem 3 Rang im europaweiten Ranking ndash gemeinhin als Kokainhauptstadt der Schweiz Die Quantifizierung des Sozialen25 er-streckt sich auch auf Staumldte die ja vor allem auch ein soziales System konstituieren Beginnt die Stadt als Erfolgsmodell bruumlchig zu werden26

Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt

der Staumldte wo es stets auch um praktische Nutzungs-

perspektiven geht

24 Die Betreiberfirma BT hat das Programm laquoAdopt a Kioskraquo lan-ciert bei dem ausrangierte Telefonzellen zum symbolischen Preis von einem Pfund erworben werden koumlnnen 3500 Ge-meinden haben nach Konzernangaben davon bereits Gebrauch gemacht In Schottland wurde eine Telefonzelle in eine Mini-Bibliothek umfunktioniert in London wurde eine andere zum Kiosk

25 Stefen Mau (2017) Das metrische Wir Uumlber die Quantifizie-rung des Sozialen

26 Richard Florida (2017) The New Urban Crisis

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 13Wofuumlr Flaumlche im Verhaumlltnis pro Einwohner verwendet wird

Quellen Bundesamt fuumlr Statistik Eidg Volkszaumlhlungen 1970 1980 1990 und 2000 (harmonisierte Daten) Bundesamt fuumlr Statistik Statistik des jaumlhrlichen Bevoumllkerungsstandes (ESPOP) 1995 2005 Bundesamt fuumlr Statistik Statistik der Bevoumllkerung und der Haushalte (STATPOP) 2010-2016 Definition der staumlndigen

Wohnbevoumllkerung und des Wohnsitzbegriffs gemaumlss STATPOP Wuest amp Partner 2018 Planungsbuumlro Jud 2017

Bruttogeschossflaumlche pro Einwohner im 2015

Die Verkehrsflaumlche bezieht sich auf die Agglomeration im Jahr 2014

KernstadtAgglomeration

20151970

Staumlndige Wohnbevoumllkerung

St Gallen

80K 144K 76K 166K

Winterthur

92K 107K108K 138K

Luzern

82K 173K81K 226K

Bern

160K 357K132K 411K

Basel

209K 480K170K 541K

Zuumlrich

416K 966K

397K 1334K

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Sonderposition SchweizDie Schweiz befindet sich im Spannungsfeld die-ser Entwicklungen in einer Sonderposition Sie ist klein beinahe uumlberschaubar und steht auf einem stabilen politischen sozialen und oumlkonomischen Fundament Dank einem breiten Mittelstand und gut bezahlten Mittelschichtjobs ist die Gefahr ei-ner Einkommenspolarisierung ndash zumindest ge-genwaumlrtig ndash deutlich geringer als in anderen Laumlndern oder Regionen

Wegen des starken Wachstums im Silicon Valley hat San Francisco mittlerweile einen houmlheren Gi-ni-Index als Brasilien Schweizer Staumldte erfahren nicht denselben Wachstums- und Verdichtungs-druck wie andere Staumldte in Europa sie bewegen sich praktisch nicht Und das wird sich ndash sowohl im Hinblick auf die Infrastruktur als auch auf das Verhalten einer aumllter werdenden Bevoumllkerung ndash auch nicht so rasch aumlndern Entgegen dem globa-len Trend ist die staumlndige Wohnbevoumllkerung in Staumldten wie Basel Bern oder Zuumlrich in den ver-gangenen Jahrzehnten nur leicht gestiegen In Zuuml-rich wuchs die Wohnbevoumllkerung von 363 000 im Jahr 2000 auf 397 000 Einwohner im Jahr 2015 was einer Veraumlnderung von 142 Prozent ent-spricht In Basel stieg die Einwohnerzahl im glei-chen Zeitraum um lediglich 37 Prozent von 167 000 auf 170 000 Dies veranschaulicht dass die Schweizer Staumldte im Verglichen mit den neuen schnell wachsenden Megacitys ein anderes Ver-haumlltnis zu Wachstum und Dichte haben und da-mit auch andere Herausforderungen

Die neue Vernetzung der StaumldtelaquoThe supply of everything can meet demand for

anything anything or anyone can get nearly anywhereraquoPAR AG KHANNA POLITIKWISSENSCHAFTLER

UND PUBLIZIST

Durch den globalen Handel entsteht eine in der Geschichte noch nie da gewesene Konnektivitaumlt der Staumldte Diese starke Vernetzung fuumlhrt zu einer neuen Geografie der sogenannten laquoKonnektogra-fieraquo in welcher Grenzen Herkunft und staatliche Regulative immer weniger wichtig werden Der paradigmatische Ort fuumlr diese neue Landkarte ist Dubai 90 Prozent der Bevoumllkerung kommt aus dem Ausland die Steuern sind niedrig die Expor-te hoch laquoThe supply of everything can meet de-mand for anything anything or anyone can get nearly anywhereraquo27 Radikal verkuumlrzt Alles und alle koumlnnen uumlberallhin gehen Die laquoKonnektogra-fieraquo kann auch auf die Schweiz heruntergebrochen werden Als Nichtmitglied der EU spielt das Land im internationalen System zwar eine Sonderrolle die Schweizer Staumldte sind aber dennoch in ein glo-bales Geflecht eingewoben Die Digitalisierung macht auch vor dem kleinsten Dorf nicht halt Das Internet eroumlffnet einerseits neue Wettbe-werbsmoumlglichkeiten ndash so wurde beispielsweise die virtuelle Waumlhrung Ethereum in Zug program-miert ndash andererseits entstehen neue Verwundbar-keiten etwa durch Hackerangriffe auf smarte Staumldte

Aus raumplanerischer Sicht ist die Schweiz ein einziges urbanes System ndash zumindest zwischen dem Bodensee und Genf die Unterschiede zwi-schen Stadt und Land sind obsolet Aus gesell-

27 Parag Khanna (2016) Connectography Mapping the Global Network Revolution

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 15

schaftlicher Sicht jedoch sind diese Kategorien noch nicht uumlberwunden im Gegenteil Zu starr sind die unterschiedlichen Einstellungen Werte und Lebensstile der staumldtischen und der laumlndli-chen Bevoumllkerung Dennoch ist klar dass oumlffentli-che Raumlume keine Grenzen kennen Die Schweiz ist ein einziges urbanes System inmitten eines einzi-gen urbanen Systems namens Welt In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne ndash etwa bei der Standortwahl fuumlr neue Forschungs- und Entwicklungszentren Im Ge-baumlude der ehemaligen Zuumlrcher Sihlpost hat Goog-le einen neuen Hub eroumlffnet Bis 2021 sollen in der Limmatstadt weitere 2000 Google-Mitarbeiter be-schaumlftigt werden28 ndash neben den 2000 laquoZooglernraquo aus 75 Nationen die schon heute auf dem Huumlrli-mann-Areal arbeiten Das beweist dass die Mitar-beiter des Unternehmens als laquoAnywheresraquo eine flexible transportable Identitaumlt besitzen

Anders als die Landwirtschaft oder die verarbei-tende Industrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen fuumlr Aumlcker und Fabriken sondern vor allem gut ausgebildete mobile Men-schen und hochgeruumlstete Laboratorien Im Ge-gensatz zur ersten industriellen Revolution wo die Fabriken mit ihren rauchenden Kaminen am Stadtrand hochgezogen wurden kehren die Tech-nologiefirmen in die Zentren zuruumlck Amazon hat sich an seinem Hauptstandort Seattle mit zahlrei-chen Ausbauten ndash darunter die neue Firmenzent-

28 httpswwwnzzchzuerichgoogle-in-zuerich-innovationen-made-in-zurich-ld140285

29 httpswwwtheatlanticcomtechnologyarchive201709the-great-thing-about-apple-christening-their-stores-town-squares539667

rale laquoThe Spheresraquo mit drei gewaumlchshausaumlhnlichen Glaskuppeln ndash zu einer Stadt in der Stadt verdich-tet Und Apple nennt seine ikonischen Apple Stores kuumlnftig laquoTown Squareraquo (Marktplatz) und unterstreicht damit den urbanen Charakter seiner Laumlden29 Gleichzeitig findet eine Ruumlckkehr zur Company Town statt wie man sie aus der An-fangszeit der Industrialisierung kennt Der Schuh-lieferant Zappos liess mitten in Las Vegas fuumlr 350 Millionen Dollar ein eigenes Staumldtchen mit einem Unterhaltungskomplex und einem Hotel bauen Facebook enthuumlllte juumlngst Plaumlne fuumlr den Bau des neuen Willow Campus In dieser hippen hoch technisierten Idylle pendeln die Mitarbeiter zwi-schen veganen Cafeacutes und Co-Working-Spaces ndash und kontrollieren einander im Rahmen einer Art Nachbarschaftshilfe gegenseitig Aumlhnliche Sied-lungen liess einst der deutsche Industrielle Alfred Krupp in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Fa-briken bauen

In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz

mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne

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DATENSTAU

DATENHIGHWAY

Smart City500GB

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17

Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

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Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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80

100

hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

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Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21

der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

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die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

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sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

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Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Sehr wahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

FUTURE PUBLIC SPACE36

Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 37

Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

0

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40

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80

100

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

FUTURE PUBLIC SPACE38

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 39

laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 10: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

FUTURE PUBLIC SPACE8

Warum es den oumlffentlichen Raum nicht gibt

laquoEine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig

sie ist vielleicht gar keine OumlffentlichkeitraquoJUumlRGEN HABERMAS PHILOSOPH

Umstrittene DefinitionWas ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt Eine ab-schliessend richtige Definition gibt es nicht Zu vielfaumlltig sind die Vorstellungen vom oumlffentlichen Raum zu unterschiedlich die Anspruumlche Klar scheint jedoch dass sich der oumlffentliche Raum in erster Linie durch Zugaumlnglichkeit kennzeichnet laquoDer oumlffentliche Raum kann verstanden werden als ein allgemein zugaumlnglicher Bereich in dem Menschen ohne Beschraumlnkungen ein- und ausge-hen Die Menschen bewegen sich in diesem Be-reich frei Zufaumlllig oder geplant begegnen wir uns hier Der oumlffentliche Raum ist offen und wird be-grenzt von dessen Gegensatz dem nicht allgemein zugaumlnglichen Bereich Daher verlangt der oumlffentli-che Raum um als solcher wahrgenommen zu werden auch ein Gegenstuumlck das Privateraquo16 Auch Juumlrgen Habermas stellt das Zugangskriterium in den Vordergrund laquoDie buumlrgerliche Oumlffentlichkeit steht und faumlllt mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs Eine Oumlffentlichkeit von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen waumlren ist nicht etwa nur unvollstaumlndig sie ist vielleicht gar keine Oumlffentlichkeitraquo17 Treibt man dieses Kriterium der Zugaumlnglichkeit noch etwas weiter und uumlbersetzt es sprachlich in die Gegenwart so ist der oumlffentli-che Raum rund um die Uhr zugaumlnglich nicht uumlberwacht ndash und man kann sich dort laumlnger als ein paar Minuten aufhalten ohne weggewiesen zu werden Folgt man der Definition der Zugaumlnglich-keit so kann man leicht den Schluss ziehen dass der oumlffentliche Raum bedroht ist Der Zugang wird immer mehr vordefiniert es gibt immer we-niger nicht uumlberwachte oder unbewachte Raumlume ndash und an vielen Orten herrscht Konsumzwang

Fazit Es gibt nicht nur keine abschliessend richti-ge Definition des oumlffentlichen Raums ndash auch unser Verstaumlndnis des oumlffentlichen Raums ist nicht kon-stant

Diskussionen uumlber den oumlffentlichen Raum werden in Europa besonders heftig gefuumlhrt Das ist nicht weiter erstaunlich weil der oumlffentliche Raum in diesem Kulturkreis an den Mythos der griechi-schen Polis anknuumlpft in der sich auf der Agora Menschen frei versammelten und in politischen Austausch traten Aber das ist eine idealisierte Vorstellung Im Griechenland der Antike waren ndash genau wie in der europaumlischen Stadt der Moder-ne ndash stets auch grosse Gruppen von der Oumlffent-lichkeit der Raumlume ausgeschlossen18

Der oumlffentliche Raum moderner Praumlgung ent-stand im 19 Jahrhundert als in Staumldten oumlffentli-che Parks und Plaumltze angelegt wurden wie zum Beispiel der Hyde Park in London oder der Cen-tral Park in New York19

16 Guido Brendgens Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simu-lierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (Dezember 2005) S 1088ndash1097

17 Juumlrgen Habermas Strukturwandel der Oumlffentlichkeit 1990 S 156

18 Jan Wehrheim Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

19 Carsten Benke (2004) Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht In Die alte Stadt 31 Jahrgang

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20 Hans Paul Bahrt Umwelterfahrung Muumlnchen 1974 S 35

Ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt wichtig

Das allgemeine Wehklagen uumlber den Verlust des oumlffentlichen Raums beantwortet nicht die Frage warum dieser uumlberhaupt wichtig ist Welche strukturellen Vorteile hat der oumlffentliche Raum gegenuumlber dem privaten Generell laumlsst sich sagen dass durch die geforderte Verdichtung in den Staumldten der oumlffentliche Raum fuumlr die Allgemein-heit wichtiger wird Er dient als Kompensations-raum fuumlr Aktivitaumlten die im engeren privaten Raum nicht ausgefuumlhrt werden koumlnnen Gleich-zeitig druumlckt sich darin auch die Lebensqualitaumlt der Bewohner aus ndash zum Beispiel durch Freizeit-aktivitaumlten die im privaten Raum nur einge-schraumlnkt moumlglich sind Der oumlffentliche Raum laumlsst sich auf verschiedene Arten nutzen ndash beispielswei-se als Erholungsraum als Konsumraum als Ver-kehrsraum oder als Kommunikationsraum Diese Multifunktionalitaumlt ist fuumlr den oumlffentlichen Raum bestimmend laquoStrassen und Plaumltze die typischer-weise von Angehoumlrigen ganz verschiedener Bevoumll-kerungsschichten zu verschiedenen Zwecken gut verteilt uumlber den Tag und den Abend aufgesucht werden zeigen genau das was wir oumlffentliches Le-ben auf der untersten anschaulichsten lokalen Ebene nennen naumlmlich das Rendezvous der Ge-sellschaft mit sich selbst20 Der oumlffentliche Raum ist also ein Ort an dem sich unterschiedliche Menschen begegnen koumlnnen um miteinander zu interagieren und wodurch laquodas Neueraquo entstehen und auch werden kann Er ist ebenso Ort politi-scher Manifestationen sowie des offenen Diskur-ses Viele dieser politischen Manifestationen spielen sich auf zentralen Plaumltzen ab wie zB dem Tahrir-Platz in Kairo waumlhrend des Arabischen Fruumlhlings Der Maidan-Platz in Kiew ist sogar zum Namensgeber ndash Euromaidan ndash der Buumlrger-proteste in der Ukraine geworden die zwischen

dem 21 November 2013 und dem 26 Februar 2014 in der Ukraine stattgefunden habenVerstaumlrkt durch die digitalen Medien und sozia-len Netzwerke verbreiten sich die Anliegen heute rasend schnell Das prominenteste Beispiel dafuumlr ist die Occupy-Bewegung die nicht nur in New York City zum Ausdruck kam sondern sich welt-weit in Staumldten verbreitete

OCCUPYWALLSTREET laquoAre you ready for a Tahrir moment On Sept 17 flood into lower Manhattan

set up tents kitchens peaceful barricades and occupy Wall Streetraquo

ADBUSTERS-WEBSITE AM 13 JULI 2011

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 11

21 Jan Wernheim22 Martina Loumlw Raumsoziologie 200023 Christian Schmid Raum und Regulation Henri Lefebvre und

der Regulationsansatz In Ulrich Brand und Werner Raza (Hrsg) Fit fuumlr den Postfordismus Theoretisch-politische Per-spektiven des Regulationsansatzes Muumlnster Westfaumllisches Dampfboot 2003 S 224

Oumlffentlicher Raum wird ausgehandelt

laquoDie Strasse die der Urbanismus geometrisch festlegt wird durch die Gehenden in einen Raum verwandeltraquo

MICHEL DE CERTEAU SOZIOLO GE HISTORIKER UND KULTURPHILOSOPH

An den oumlffentlichen Raum werden die unterschied-lichsten Anforderungen gestellt Die Nutzungsinte-ressen variieren je nach Milieuzugehoumlrigkeit und reichen von kulturellen Angeboten uumlber Gruumln- und Erholungsflaumlchen bis hin zur Luftreinhaltung Die Qualitaumlt des oumlffentlichen Raums laumlsst sich daher nur bedingt an quantitativen Kriterien wie Luft-qualitaumlt Verkehrsaufkommen Laumlrmbelastung oder Kriminalitaumlt messen Die Nutzung des oumlffentlichen Raums unterliegt einer konstanten Verhandlung mit dauerhafter Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Interessensgruppen Phaumlnomene wie bei-spielsweise das Public Viewing von Sport- und Kul-turveranstaltungen haben sich erst in den vergangenen Jahren entwickelt und stellen ganz neue Nutzungsvarianten fuumlr den oumlffentlichen Raum dar Auch das Smartphone-Game laquoPokeacutemon Goraquo bei dem die Nutzer auf der Jagd nach virtuellen Monstern Plaumltze bevoumllkerten und die entlegensten Orte aufsuchten veraumlndert die Nutzung des oumlffent-lichen Raums und kann als eine Art Neuentde-ckung des Stadtraums bezeichnet werden

Der oumlffentliche Raum wird zuweilen als ein laquophy-sischer Raumraquo betrachtet der von Stadtplanern und Architekten spezifisch laquoals Behaumllter fuumlr Ge-sellschaft und bestimmbares soziales Handelnraquo21 geschaffen wird Raum existiert indessen nicht per se sondern entsteht durch Handlung Wahr-nehmung und Vorstellung der einzelnen Nutzer Raum ist somit nicht ein laquoBehaumlltnisraquo in dem das Leben unberuumlhrt von ihm stattfindet sondern

vielmehr ein gesellschaftliches Produkt das aus den vielschichtigen Beziehungen zwischen den Nutzern und der gebauten Umwelt entsteht Raumlu-me werden auch uumlber die Atmosphaumlre definiert Beispiele dafuumlr sind etwa die sakrale Aura einer Kirche die erholsame Stimmung eines Parks oder das edle Ambiente eines Restaurants22 Was wir erfahren ist somit kein physischer Raum der sich statisch verhaumllt wie ein Modell sondern ein Raum der sich staumlndig veraumlndert den wir jeden Moment neu wahrnehmen ndash eingefaumlrbt durch unsere Erin-nerung und Vorstellung Ein Raum laumlsst sich nur dann wahrnehmen wenn er zuvor gedanklich konzipiert worden ist Somit entstehen Konstruk-tionen und Konzeptionen des oumlffentlichen Raums die sich auf gesellschaftliche Konventionen stuumlt-zen mit der Produktion von Wissen verbunden und mit Machtstrukturen verknuumlpft sind Beim gedanklich konzipierten Raum handelt es sich um eine Darstellung die den Raum abbildet und defi-niert Diese Darstellung entsteht auf der Ebene des Diskurses der Sprache als solcher und um-fasst im engsten Sinne verbalisierte Formen z B Beschreibungen oder Definitionen aber auch Karten und Plaumlne sowie Informationen durch Bil-der und Zeichen Im weiteren Sinne umfasst die Repraumlsentation des Raums auch gesellschaftliche Regeln und eine Ethik23 Aus der gedanklichen Konstruktion von Staumldten erwachsen stets auch neue Idealbilder und Wunschvorstellungen

FUTURE PUBLIC SPACE12

Die Stadt als idealisierte Projektionsflaumlche

Der oumlffentliche Raum dient als Projektionsflaumlche fuumlr Ideen Bilder und Wuumlnsche ndash aber auch fuumlr Utopien Er ist ein Moumlglichkeitsraum in dem sich mit Idealen etwa mit bestimmten Wohnformen (zB Co-Housing) experimentieren laumlsst Diese Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt der Staumldte wo es stets auch um prak-tische Nutzungsperspektiven geht

Die Stadt als Ort des offenen Diskurses und der freien Zusammenkunft wird nicht selten verklaumlrt und romantisiert In Grossbritannien werden die roten gusseisernen Telefonzellen ndash ein Lieblings-gegenstand der Populaumlrkultur und laumlngst Teil des urbanen Inventars ndash neuen Nutzungen zuge-fuumlhrt24 Die Telefonzelle hat im Zeitalter des Smartphones zwar ausgedient wird aber zumin-dest in der aumlusseren Form weiter in Betrieb gehal-ten Damit bedient sie eine Sehnsucht nach jener Zeit als Telefonleitungen die Verbindungsrelais fuumlr das gesamte Empire waren

Die Stadt bleibt ein Sehnsuchtsort Gleichzeitig ist ndash gewissermassen antithetisch ndash aber auch eine Entromantisierung der Stadt festzustellen Staumldte werden assoziiert mit Dreck Muumlll Laumlrm Smog und anderen Emissionen Diese Faktoren gehoumlren zur Stadt wie Haumluser und Bewohner werden aber

durch Idealisierung und Verklaumlrung ausgeblen-det Es gibt Muumlllhauptstaumldte (Neapel) Laumlrm-hauptstaumldte (Mannheim Kairo) Stauhauptstaumldte (Jakarta) und Feinstaubhauptstaumldte (Stuttgart) Solche wenig schmeichelhaften Zuschreibungen die in zahlreichen Rankings auf eine quantifizie-rende Grundlage gestellt werden kratzen am Image der Staumldte In der Schweiz gilt Genf als Stauhauptstadt Bern wird in den Medien zuwei-len als Diebstahlhochburg apostrophiert und Zuuml-rich gilt ndash mit einem 3 Rang im europaweiten Ranking ndash gemeinhin als Kokainhauptstadt der Schweiz Die Quantifizierung des Sozialen25 er-streckt sich auch auf Staumldte die ja vor allem auch ein soziales System konstituieren Beginnt die Stadt als Erfolgsmodell bruumlchig zu werden26

Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt

der Staumldte wo es stets auch um praktische Nutzungs-

perspektiven geht

24 Die Betreiberfirma BT hat das Programm laquoAdopt a Kioskraquo lan-ciert bei dem ausrangierte Telefonzellen zum symbolischen Preis von einem Pfund erworben werden koumlnnen 3500 Ge-meinden haben nach Konzernangaben davon bereits Gebrauch gemacht In Schottland wurde eine Telefonzelle in eine Mini-Bibliothek umfunktioniert in London wurde eine andere zum Kiosk

25 Stefen Mau (2017) Das metrische Wir Uumlber die Quantifizie-rung des Sozialen

26 Richard Florida (2017) The New Urban Crisis

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 13Wofuumlr Flaumlche im Verhaumlltnis pro Einwohner verwendet wird

Quellen Bundesamt fuumlr Statistik Eidg Volkszaumlhlungen 1970 1980 1990 und 2000 (harmonisierte Daten) Bundesamt fuumlr Statistik Statistik des jaumlhrlichen Bevoumllkerungsstandes (ESPOP) 1995 2005 Bundesamt fuumlr Statistik Statistik der Bevoumllkerung und der Haushalte (STATPOP) 2010-2016 Definition der staumlndigen

Wohnbevoumllkerung und des Wohnsitzbegriffs gemaumlss STATPOP Wuest amp Partner 2018 Planungsbuumlro Jud 2017

Bruttogeschossflaumlche pro Einwohner im 2015

Die Verkehrsflaumlche bezieht sich auf die Agglomeration im Jahr 2014

KernstadtAgglomeration

20151970

Staumlndige Wohnbevoumllkerung

St Gallen

80K 144K 76K 166K

Winterthur

92K 107K108K 138K

Luzern

82K 173K81K 226K

Bern

160K 357K132K 411K

Basel

209K 480K170K 541K

Zuumlrich

416K 966K

397K 1334K

FUTURE PUBLIC SPACE14

Sonderposition SchweizDie Schweiz befindet sich im Spannungsfeld die-ser Entwicklungen in einer Sonderposition Sie ist klein beinahe uumlberschaubar und steht auf einem stabilen politischen sozialen und oumlkonomischen Fundament Dank einem breiten Mittelstand und gut bezahlten Mittelschichtjobs ist die Gefahr ei-ner Einkommenspolarisierung ndash zumindest ge-genwaumlrtig ndash deutlich geringer als in anderen Laumlndern oder Regionen

Wegen des starken Wachstums im Silicon Valley hat San Francisco mittlerweile einen houmlheren Gi-ni-Index als Brasilien Schweizer Staumldte erfahren nicht denselben Wachstums- und Verdichtungs-druck wie andere Staumldte in Europa sie bewegen sich praktisch nicht Und das wird sich ndash sowohl im Hinblick auf die Infrastruktur als auch auf das Verhalten einer aumllter werdenden Bevoumllkerung ndash auch nicht so rasch aumlndern Entgegen dem globa-len Trend ist die staumlndige Wohnbevoumllkerung in Staumldten wie Basel Bern oder Zuumlrich in den ver-gangenen Jahrzehnten nur leicht gestiegen In Zuuml-rich wuchs die Wohnbevoumllkerung von 363 000 im Jahr 2000 auf 397 000 Einwohner im Jahr 2015 was einer Veraumlnderung von 142 Prozent ent-spricht In Basel stieg die Einwohnerzahl im glei-chen Zeitraum um lediglich 37 Prozent von 167 000 auf 170 000 Dies veranschaulicht dass die Schweizer Staumldte im Verglichen mit den neuen schnell wachsenden Megacitys ein anderes Ver-haumlltnis zu Wachstum und Dichte haben und da-mit auch andere Herausforderungen

Die neue Vernetzung der StaumldtelaquoThe supply of everything can meet demand for

anything anything or anyone can get nearly anywhereraquoPAR AG KHANNA POLITIKWISSENSCHAFTLER

UND PUBLIZIST

Durch den globalen Handel entsteht eine in der Geschichte noch nie da gewesene Konnektivitaumlt der Staumldte Diese starke Vernetzung fuumlhrt zu einer neuen Geografie der sogenannten laquoKonnektogra-fieraquo in welcher Grenzen Herkunft und staatliche Regulative immer weniger wichtig werden Der paradigmatische Ort fuumlr diese neue Landkarte ist Dubai 90 Prozent der Bevoumllkerung kommt aus dem Ausland die Steuern sind niedrig die Expor-te hoch laquoThe supply of everything can meet de-mand for anything anything or anyone can get nearly anywhereraquo27 Radikal verkuumlrzt Alles und alle koumlnnen uumlberallhin gehen Die laquoKonnektogra-fieraquo kann auch auf die Schweiz heruntergebrochen werden Als Nichtmitglied der EU spielt das Land im internationalen System zwar eine Sonderrolle die Schweizer Staumldte sind aber dennoch in ein glo-bales Geflecht eingewoben Die Digitalisierung macht auch vor dem kleinsten Dorf nicht halt Das Internet eroumlffnet einerseits neue Wettbe-werbsmoumlglichkeiten ndash so wurde beispielsweise die virtuelle Waumlhrung Ethereum in Zug program-miert ndash andererseits entstehen neue Verwundbar-keiten etwa durch Hackerangriffe auf smarte Staumldte

Aus raumplanerischer Sicht ist die Schweiz ein einziges urbanes System ndash zumindest zwischen dem Bodensee und Genf die Unterschiede zwi-schen Stadt und Land sind obsolet Aus gesell-

27 Parag Khanna (2016) Connectography Mapping the Global Network Revolution

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 15

schaftlicher Sicht jedoch sind diese Kategorien noch nicht uumlberwunden im Gegenteil Zu starr sind die unterschiedlichen Einstellungen Werte und Lebensstile der staumldtischen und der laumlndli-chen Bevoumllkerung Dennoch ist klar dass oumlffentli-che Raumlume keine Grenzen kennen Die Schweiz ist ein einziges urbanes System inmitten eines einzi-gen urbanen Systems namens Welt In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne ndash etwa bei der Standortwahl fuumlr neue Forschungs- und Entwicklungszentren Im Ge-baumlude der ehemaligen Zuumlrcher Sihlpost hat Goog-le einen neuen Hub eroumlffnet Bis 2021 sollen in der Limmatstadt weitere 2000 Google-Mitarbeiter be-schaumlftigt werden28 ndash neben den 2000 laquoZooglernraquo aus 75 Nationen die schon heute auf dem Huumlrli-mann-Areal arbeiten Das beweist dass die Mitar-beiter des Unternehmens als laquoAnywheresraquo eine flexible transportable Identitaumlt besitzen

Anders als die Landwirtschaft oder die verarbei-tende Industrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen fuumlr Aumlcker und Fabriken sondern vor allem gut ausgebildete mobile Men-schen und hochgeruumlstete Laboratorien Im Ge-gensatz zur ersten industriellen Revolution wo die Fabriken mit ihren rauchenden Kaminen am Stadtrand hochgezogen wurden kehren die Tech-nologiefirmen in die Zentren zuruumlck Amazon hat sich an seinem Hauptstandort Seattle mit zahlrei-chen Ausbauten ndash darunter die neue Firmenzent-

28 httpswwwnzzchzuerichgoogle-in-zuerich-innovationen-made-in-zurich-ld140285

29 httpswwwtheatlanticcomtechnologyarchive201709the-great-thing-about-apple-christening-their-stores-town-squares539667

rale laquoThe Spheresraquo mit drei gewaumlchshausaumlhnlichen Glaskuppeln ndash zu einer Stadt in der Stadt verdich-tet Und Apple nennt seine ikonischen Apple Stores kuumlnftig laquoTown Squareraquo (Marktplatz) und unterstreicht damit den urbanen Charakter seiner Laumlden29 Gleichzeitig findet eine Ruumlckkehr zur Company Town statt wie man sie aus der An-fangszeit der Industrialisierung kennt Der Schuh-lieferant Zappos liess mitten in Las Vegas fuumlr 350 Millionen Dollar ein eigenes Staumldtchen mit einem Unterhaltungskomplex und einem Hotel bauen Facebook enthuumlllte juumlngst Plaumlne fuumlr den Bau des neuen Willow Campus In dieser hippen hoch technisierten Idylle pendeln die Mitarbeiter zwi-schen veganen Cafeacutes und Co-Working-Spaces ndash und kontrollieren einander im Rahmen einer Art Nachbarschaftshilfe gegenseitig Aumlhnliche Sied-lungen liess einst der deutsche Industrielle Alfred Krupp in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Fa-briken bauen

In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz

mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne

FUTURE PUBLIC SPACE16

DATENSTAU

DATENHIGHWAY

Smart City500GB

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17

Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

FUTURE PUBLIC SPACE18

Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

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hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

FUTURE PUBLIC SPACE20

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21

der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23

die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

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Sehr wahrscheinlich

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 27

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 29

41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

FUTURE PUBLIC SPACE30

laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 31

Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

FUTURE PUBLIC SPACE32

Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

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Weiss nicht

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

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Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

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durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

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Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 11: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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20 Hans Paul Bahrt Umwelterfahrung Muumlnchen 1974 S 35

Ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt wichtig

Das allgemeine Wehklagen uumlber den Verlust des oumlffentlichen Raums beantwortet nicht die Frage warum dieser uumlberhaupt wichtig ist Welche strukturellen Vorteile hat der oumlffentliche Raum gegenuumlber dem privaten Generell laumlsst sich sagen dass durch die geforderte Verdichtung in den Staumldten der oumlffentliche Raum fuumlr die Allgemein-heit wichtiger wird Er dient als Kompensations-raum fuumlr Aktivitaumlten die im engeren privaten Raum nicht ausgefuumlhrt werden koumlnnen Gleich-zeitig druumlckt sich darin auch die Lebensqualitaumlt der Bewohner aus ndash zum Beispiel durch Freizeit-aktivitaumlten die im privaten Raum nur einge-schraumlnkt moumlglich sind Der oumlffentliche Raum laumlsst sich auf verschiedene Arten nutzen ndash beispielswei-se als Erholungsraum als Konsumraum als Ver-kehrsraum oder als Kommunikationsraum Diese Multifunktionalitaumlt ist fuumlr den oumlffentlichen Raum bestimmend laquoStrassen und Plaumltze die typischer-weise von Angehoumlrigen ganz verschiedener Bevoumll-kerungsschichten zu verschiedenen Zwecken gut verteilt uumlber den Tag und den Abend aufgesucht werden zeigen genau das was wir oumlffentliches Le-ben auf der untersten anschaulichsten lokalen Ebene nennen naumlmlich das Rendezvous der Ge-sellschaft mit sich selbst20 Der oumlffentliche Raum ist also ein Ort an dem sich unterschiedliche Menschen begegnen koumlnnen um miteinander zu interagieren und wodurch laquodas Neueraquo entstehen und auch werden kann Er ist ebenso Ort politi-scher Manifestationen sowie des offenen Diskur-ses Viele dieser politischen Manifestationen spielen sich auf zentralen Plaumltzen ab wie zB dem Tahrir-Platz in Kairo waumlhrend des Arabischen Fruumlhlings Der Maidan-Platz in Kiew ist sogar zum Namensgeber ndash Euromaidan ndash der Buumlrger-proteste in der Ukraine geworden die zwischen

dem 21 November 2013 und dem 26 Februar 2014 in der Ukraine stattgefunden habenVerstaumlrkt durch die digitalen Medien und sozia-len Netzwerke verbreiten sich die Anliegen heute rasend schnell Das prominenteste Beispiel dafuumlr ist die Occupy-Bewegung die nicht nur in New York City zum Ausdruck kam sondern sich welt-weit in Staumldten verbreitete

OCCUPYWALLSTREET laquoAre you ready for a Tahrir moment On Sept 17 flood into lower Manhattan

set up tents kitchens peaceful barricades and occupy Wall Streetraquo

ADBUSTERS-WEBSITE AM 13 JULI 2011

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21 Jan Wernheim22 Martina Loumlw Raumsoziologie 200023 Christian Schmid Raum und Regulation Henri Lefebvre und

der Regulationsansatz In Ulrich Brand und Werner Raza (Hrsg) Fit fuumlr den Postfordismus Theoretisch-politische Per-spektiven des Regulationsansatzes Muumlnster Westfaumllisches Dampfboot 2003 S 224

Oumlffentlicher Raum wird ausgehandelt

laquoDie Strasse die der Urbanismus geometrisch festlegt wird durch die Gehenden in einen Raum verwandeltraquo

MICHEL DE CERTEAU SOZIOLO GE HISTORIKER UND KULTURPHILOSOPH

An den oumlffentlichen Raum werden die unterschied-lichsten Anforderungen gestellt Die Nutzungsinte-ressen variieren je nach Milieuzugehoumlrigkeit und reichen von kulturellen Angeboten uumlber Gruumln- und Erholungsflaumlchen bis hin zur Luftreinhaltung Die Qualitaumlt des oumlffentlichen Raums laumlsst sich daher nur bedingt an quantitativen Kriterien wie Luft-qualitaumlt Verkehrsaufkommen Laumlrmbelastung oder Kriminalitaumlt messen Die Nutzung des oumlffentlichen Raums unterliegt einer konstanten Verhandlung mit dauerhafter Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Interessensgruppen Phaumlnomene wie bei-spielsweise das Public Viewing von Sport- und Kul-turveranstaltungen haben sich erst in den vergangenen Jahren entwickelt und stellen ganz neue Nutzungsvarianten fuumlr den oumlffentlichen Raum dar Auch das Smartphone-Game laquoPokeacutemon Goraquo bei dem die Nutzer auf der Jagd nach virtuellen Monstern Plaumltze bevoumllkerten und die entlegensten Orte aufsuchten veraumlndert die Nutzung des oumlffent-lichen Raums und kann als eine Art Neuentde-ckung des Stadtraums bezeichnet werden

Der oumlffentliche Raum wird zuweilen als ein laquophy-sischer Raumraquo betrachtet der von Stadtplanern und Architekten spezifisch laquoals Behaumllter fuumlr Ge-sellschaft und bestimmbares soziales Handelnraquo21 geschaffen wird Raum existiert indessen nicht per se sondern entsteht durch Handlung Wahr-nehmung und Vorstellung der einzelnen Nutzer Raum ist somit nicht ein laquoBehaumlltnisraquo in dem das Leben unberuumlhrt von ihm stattfindet sondern

vielmehr ein gesellschaftliches Produkt das aus den vielschichtigen Beziehungen zwischen den Nutzern und der gebauten Umwelt entsteht Raumlu-me werden auch uumlber die Atmosphaumlre definiert Beispiele dafuumlr sind etwa die sakrale Aura einer Kirche die erholsame Stimmung eines Parks oder das edle Ambiente eines Restaurants22 Was wir erfahren ist somit kein physischer Raum der sich statisch verhaumllt wie ein Modell sondern ein Raum der sich staumlndig veraumlndert den wir jeden Moment neu wahrnehmen ndash eingefaumlrbt durch unsere Erin-nerung und Vorstellung Ein Raum laumlsst sich nur dann wahrnehmen wenn er zuvor gedanklich konzipiert worden ist Somit entstehen Konstruk-tionen und Konzeptionen des oumlffentlichen Raums die sich auf gesellschaftliche Konventionen stuumlt-zen mit der Produktion von Wissen verbunden und mit Machtstrukturen verknuumlpft sind Beim gedanklich konzipierten Raum handelt es sich um eine Darstellung die den Raum abbildet und defi-niert Diese Darstellung entsteht auf der Ebene des Diskurses der Sprache als solcher und um-fasst im engsten Sinne verbalisierte Formen z B Beschreibungen oder Definitionen aber auch Karten und Plaumlne sowie Informationen durch Bil-der und Zeichen Im weiteren Sinne umfasst die Repraumlsentation des Raums auch gesellschaftliche Regeln und eine Ethik23 Aus der gedanklichen Konstruktion von Staumldten erwachsen stets auch neue Idealbilder und Wunschvorstellungen

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Die Stadt als idealisierte Projektionsflaumlche

Der oumlffentliche Raum dient als Projektionsflaumlche fuumlr Ideen Bilder und Wuumlnsche ndash aber auch fuumlr Utopien Er ist ein Moumlglichkeitsraum in dem sich mit Idealen etwa mit bestimmten Wohnformen (zB Co-Housing) experimentieren laumlsst Diese Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt der Staumldte wo es stets auch um prak-tische Nutzungsperspektiven geht

Die Stadt als Ort des offenen Diskurses und der freien Zusammenkunft wird nicht selten verklaumlrt und romantisiert In Grossbritannien werden die roten gusseisernen Telefonzellen ndash ein Lieblings-gegenstand der Populaumlrkultur und laumlngst Teil des urbanen Inventars ndash neuen Nutzungen zuge-fuumlhrt24 Die Telefonzelle hat im Zeitalter des Smartphones zwar ausgedient wird aber zumin-dest in der aumlusseren Form weiter in Betrieb gehal-ten Damit bedient sie eine Sehnsucht nach jener Zeit als Telefonleitungen die Verbindungsrelais fuumlr das gesamte Empire waren

Die Stadt bleibt ein Sehnsuchtsort Gleichzeitig ist ndash gewissermassen antithetisch ndash aber auch eine Entromantisierung der Stadt festzustellen Staumldte werden assoziiert mit Dreck Muumlll Laumlrm Smog und anderen Emissionen Diese Faktoren gehoumlren zur Stadt wie Haumluser und Bewohner werden aber

durch Idealisierung und Verklaumlrung ausgeblen-det Es gibt Muumlllhauptstaumldte (Neapel) Laumlrm-hauptstaumldte (Mannheim Kairo) Stauhauptstaumldte (Jakarta) und Feinstaubhauptstaumldte (Stuttgart) Solche wenig schmeichelhaften Zuschreibungen die in zahlreichen Rankings auf eine quantifizie-rende Grundlage gestellt werden kratzen am Image der Staumldte In der Schweiz gilt Genf als Stauhauptstadt Bern wird in den Medien zuwei-len als Diebstahlhochburg apostrophiert und Zuuml-rich gilt ndash mit einem 3 Rang im europaweiten Ranking ndash gemeinhin als Kokainhauptstadt der Schweiz Die Quantifizierung des Sozialen25 er-streckt sich auch auf Staumldte die ja vor allem auch ein soziales System konstituieren Beginnt die Stadt als Erfolgsmodell bruumlchig zu werden26

Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt

der Staumldte wo es stets auch um praktische Nutzungs-

perspektiven geht

24 Die Betreiberfirma BT hat das Programm laquoAdopt a Kioskraquo lan-ciert bei dem ausrangierte Telefonzellen zum symbolischen Preis von einem Pfund erworben werden koumlnnen 3500 Ge-meinden haben nach Konzernangaben davon bereits Gebrauch gemacht In Schottland wurde eine Telefonzelle in eine Mini-Bibliothek umfunktioniert in London wurde eine andere zum Kiosk

25 Stefen Mau (2017) Das metrische Wir Uumlber die Quantifizie-rung des Sozialen

26 Richard Florida (2017) The New Urban Crisis

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 13Wofuumlr Flaumlche im Verhaumlltnis pro Einwohner verwendet wird

Quellen Bundesamt fuumlr Statistik Eidg Volkszaumlhlungen 1970 1980 1990 und 2000 (harmonisierte Daten) Bundesamt fuumlr Statistik Statistik des jaumlhrlichen Bevoumllkerungsstandes (ESPOP) 1995 2005 Bundesamt fuumlr Statistik Statistik der Bevoumllkerung und der Haushalte (STATPOP) 2010-2016 Definition der staumlndigen

Wohnbevoumllkerung und des Wohnsitzbegriffs gemaumlss STATPOP Wuest amp Partner 2018 Planungsbuumlro Jud 2017

Bruttogeschossflaumlche pro Einwohner im 2015

Die Verkehrsflaumlche bezieht sich auf die Agglomeration im Jahr 2014

KernstadtAgglomeration

20151970

Staumlndige Wohnbevoumllkerung

St Gallen

80K 144K 76K 166K

Winterthur

92K 107K108K 138K

Luzern

82K 173K81K 226K

Bern

160K 357K132K 411K

Basel

209K 480K170K 541K

Zuumlrich

416K 966K

397K 1334K

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Sonderposition SchweizDie Schweiz befindet sich im Spannungsfeld die-ser Entwicklungen in einer Sonderposition Sie ist klein beinahe uumlberschaubar und steht auf einem stabilen politischen sozialen und oumlkonomischen Fundament Dank einem breiten Mittelstand und gut bezahlten Mittelschichtjobs ist die Gefahr ei-ner Einkommenspolarisierung ndash zumindest ge-genwaumlrtig ndash deutlich geringer als in anderen Laumlndern oder Regionen

Wegen des starken Wachstums im Silicon Valley hat San Francisco mittlerweile einen houmlheren Gi-ni-Index als Brasilien Schweizer Staumldte erfahren nicht denselben Wachstums- und Verdichtungs-druck wie andere Staumldte in Europa sie bewegen sich praktisch nicht Und das wird sich ndash sowohl im Hinblick auf die Infrastruktur als auch auf das Verhalten einer aumllter werdenden Bevoumllkerung ndash auch nicht so rasch aumlndern Entgegen dem globa-len Trend ist die staumlndige Wohnbevoumllkerung in Staumldten wie Basel Bern oder Zuumlrich in den ver-gangenen Jahrzehnten nur leicht gestiegen In Zuuml-rich wuchs die Wohnbevoumllkerung von 363 000 im Jahr 2000 auf 397 000 Einwohner im Jahr 2015 was einer Veraumlnderung von 142 Prozent ent-spricht In Basel stieg die Einwohnerzahl im glei-chen Zeitraum um lediglich 37 Prozent von 167 000 auf 170 000 Dies veranschaulicht dass die Schweizer Staumldte im Verglichen mit den neuen schnell wachsenden Megacitys ein anderes Ver-haumlltnis zu Wachstum und Dichte haben und da-mit auch andere Herausforderungen

Die neue Vernetzung der StaumldtelaquoThe supply of everything can meet demand for

anything anything or anyone can get nearly anywhereraquoPAR AG KHANNA POLITIKWISSENSCHAFTLER

UND PUBLIZIST

Durch den globalen Handel entsteht eine in der Geschichte noch nie da gewesene Konnektivitaumlt der Staumldte Diese starke Vernetzung fuumlhrt zu einer neuen Geografie der sogenannten laquoKonnektogra-fieraquo in welcher Grenzen Herkunft und staatliche Regulative immer weniger wichtig werden Der paradigmatische Ort fuumlr diese neue Landkarte ist Dubai 90 Prozent der Bevoumllkerung kommt aus dem Ausland die Steuern sind niedrig die Expor-te hoch laquoThe supply of everything can meet de-mand for anything anything or anyone can get nearly anywhereraquo27 Radikal verkuumlrzt Alles und alle koumlnnen uumlberallhin gehen Die laquoKonnektogra-fieraquo kann auch auf die Schweiz heruntergebrochen werden Als Nichtmitglied der EU spielt das Land im internationalen System zwar eine Sonderrolle die Schweizer Staumldte sind aber dennoch in ein glo-bales Geflecht eingewoben Die Digitalisierung macht auch vor dem kleinsten Dorf nicht halt Das Internet eroumlffnet einerseits neue Wettbe-werbsmoumlglichkeiten ndash so wurde beispielsweise die virtuelle Waumlhrung Ethereum in Zug program-miert ndash andererseits entstehen neue Verwundbar-keiten etwa durch Hackerangriffe auf smarte Staumldte

Aus raumplanerischer Sicht ist die Schweiz ein einziges urbanes System ndash zumindest zwischen dem Bodensee und Genf die Unterschiede zwi-schen Stadt und Land sind obsolet Aus gesell-

27 Parag Khanna (2016) Connectography Mapping the Global Network Revolution

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 15

schaftlicher Sicht jedoch sind diese Kategorien noch nicht uumlberwunden im Gegenteil Zu starr sind die unterschiedlichen Einstellungen Werte und Lebensstile der staumldtischen und der laumlndli-chen Bevoumllkerung Dennoch ist klar dass oumlffentli-che Raumlume keine Grenzen kennen Die Schweiz ist ein einziges urbanes System inmitten eines einzi-gen urbanen Systems namens Welt In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne ndash etwa bei der Standortwahl fuumlr neue Forschungs- und Entwicklungszentren Im Ge-baumlude der ehemaligen Zuumlrcher Sihlpost hat Goog-le einen neuen Hub eroumlffnet Bis 2021 sollen in der Limmatstadt weitere 2000 Google-Mitarbeiter be-schaumlftigt werden28 ndash neben den 2000 laquoZooglernraquo aus 75 Nationen die schon heute auf dem Huumlrli-mann-Areal arbeiten Das beweist dass die Mitar-beiter des Unternehmens als laquoAnywheresraquo eine flexible transportable Identitaumlt besitzen

Anders als die Landwirtschaft oder die verarbei-tende Industrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen fuumlr Aumlcker und Fabriken sondern vor allem gut ausgebildete mobile Men-schen und hochgeruumlstete Laboratorien Im Ge-gensatz zur ersten industriellen Revolution wo die Fabriken mit ihren rauchenden Kaminen am Stadtrand hochgezogen wurden kehren die Tech-nologiefirmen in die Zentren zuruumlck Amazon hat sich an seinem Hauptstandort Seattle mit zahlrei-chen Ausbauten ndash darunter die neue Firmenzent-

28 httpswwwnzzchzuerichgoogle-in-zuerich-innovationen-made-in-zurich-ld140285

29 httpswwwtheatlanticcomtechnologyarchive201709the-great-thing-about-apple-christening-their-stores-town-squares539667

rale laquoThe Spheresraquo mit drei gewaumlchshausaumlhnlichen Glaskuppeln ndash zu einer Stadt in der Stadt verdich-tet Und Apple nennt seine ikonischen Apple Stores kuumlnftig laquoTown Squareraquo (Marktplatz) und unterstreicht damit den urbanen Charakter seiner Laumlden29 Gleichzeitig findet eine Ruumlckkehr zur Company Town statt wie man sie aus der An-fangszeit der Industrialisierung kennt Der Schuh-lieferant Zappos liess mitten in Las Vegas fuumlr 350 Millionen Dollar ein eigenes Staumldtchen mit einem Unterhaltungskomplex und einem Hotel bauen Facebook enthuumlllte juumlngst Plaumlne fuumlr den Bau des neuen Willow Campus In dieser hippen hoch technisierten Idylle pendeln die Mitarbeiter zwi-schen veganen Cafeacutes und Co-Working-Spaces ndash und kontrollieren einander im Rahmen einer Art Nachbarschaftshilfe gegenseitig Aumlhnliche Sied-lungen liess einst der deutsche Industrielle Alfred Krupp in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Fa-briken bauen

In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz

mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne

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DATENSTAU

DATENHIGHWAY

Smart City500GB

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17

Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

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Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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80

100

hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

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Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21

der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23

die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 27

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 29

41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

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Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 33

strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

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Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 37

Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

FUTURE PUBLIC SPACE38

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 39

laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

FUTURE PUBLIC SPACE46

Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

FUTURE PUBLIC SPACE50

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 12: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

FUTURE PUBLIC SPACE10

20 Hans Paul Bahrt Umwelterfahrung Muumlnchen 1974 S 35

Ist der oumlffentliche Raum uumlberhaupt wichtig

Das allgemeine Wehklagen uumlber den Verlust des oumlffentlichen Raums beantwortet nicht die Frage warum dieser uumlberhaupt wichtig ist Welche strukturellen Vorteile hat der oumlffentliche Raum gegenuumlber dem privaten Generell laumlsst sich sagen dass durch die geforderte Verdichtung in den Staumldten der oumlffentliche Raum fuumlr die Allgemein-heit wichtiger wird Er dient als Kompensations-raum fuumlr Aktivitaumlten die im engeren privaten Raum nicht ausgefuumlhrt werden koumlnnen Gleich-zeitig druumlckt sich darin auch die Lebensqualitaumlt der Bewohner aus ndash zum Beispiel durch Freizeit-aktivitaumlten die im privaten Raum nur einge-schraumlnkt moumlglich sind Der oumlffentliche Raum laumlsst sich auf verschiedene Arten nutzen ndash beispielswei-se als Erholungsraum als Konsumraum als Ver-kehrsraum oder als Kommunikationsraum Diese Multifunktionalitaumlt ist fuumlr den oumlffentlichen Raum bestimmend laquoStrassen und Plaumltze die typischer-weise von Angehoumlrigen ganz verschiedener Bevoumll-kerungsschichten zu verschiedenen Zwecken gut verteilt uumlber den Tag und den Abend aufgesucht werden zeigen genau das was wir oumlffentliches Le-ben auf der untersten anschaulichsten lokalen Ebene nennen naumlmlich das Rendezvous der Ge-sellschaft mit sich selbst20 Der oumlffentliche Raum ist also ein Ort an dem sich unterschiedliche Menschen begegnen koumlnnen um miteinander zu interagieren und wodurch laquodas Neueraquo entstehen und auch werden kann Er ist ebenso Ort politi-scher Manifestationen sowie des offenen Diskur-ses Viele dieser politischen Manifestationen spielen sich auf zentralen Plaumltzen ab wie zB dem Tahrir-Platz in Kairo waumlhrend des Arabischen Fruumlhlings Der Maidan-Platz in Kiew ist sogar zum Namensgeber ndash Euromaidan ndash der Buumlrger-proteste in der Ukraine geworden die zwischen

dem 21 November 2013 und dem 26 Februar 2014 in der Ukraine stattgefunden habenVerstaumlrkt durch die digitalen Medien und sozia-len Netzwerke verbreiten sich die Anliegen heute rasend schnell Das prominenteste Beispiel dafuumlr ist die Occupy-Bewegung die nicht nur in New York City zum Ausdruck kam sondern sich welt-weit in Staumldten verbreitete

OCCUPYWALLSTREET laquoAre you ready for a Tahrir moment On Sept 17 flood into lower Manhattan

set up tents kitchens peaceful barricades and occupy Wall Streetraquo

ADBUSTERS-WEBSITE AM 13 JULI 2011

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 11

21 Jan Wernheim22 Martina Loumlw Raumsoziologie 200023 Christian Schmid Raum und Regulation Henri Lefebvre und

der Regulationsansatz In Ulrich Brand und Werner Raza (Hrsg) Fit fuumlr den Postfordismus Theoretisch-politische Per-spektiven des Regulationsansatzes Muumlnster Westfaumllisches Dampfboot 2003 S 224

Oumlffentlicher Raum wird ausgehandelt

laquoDie Strasse die der Urbanismus geometrisch festlegt wird durch die Gehenden in einen Raum verwandeltraquo

MICHEL DE CERTEAU SOZIOLO GE HISTORIKER UND KULTURPHILOSOPH

An den oumlffentlichen Raum werden die unterschied-lichsten Anforderungen gestellt Die Nutzungsinte-ressen variieren je nach Milieuzugehoumlrigkeit und reichen von kulturellen Angeboten uumlber Gruumln- und Erholungsflaumlchen bis hin zur Luftreinhaltung Die Qualitaumlt des oumlffentlichen Raums laumlsst sich daher nur bedingt an quantitativen Kriterien wie Luft-qualitaumlt Verkehrsaufkommen Laumlrmbelastung oder Kriminalitaumlt messen Die Nutzung des oumlffentlichen Raums unterliegt einer konstanten Verhandlung mit dauerhafter Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Interessensgruppen Phaumlnomene wie bei-spielsweise das Public Viewing von Sport- und Kul-turveranstaltungen haben sich erst in den vergangenen Jahren entwickelt und stellen ganz neue Nutzungsvarianten fuumlr den oumlffentlichen Raum dar Auch das Smartphone-Game laquoPokeacutemon Goraquo bei dem die Nutzer auf der Jagd nach virtuellen Monstern Plaumltze bevoumllkerten und die entlegensten Orte aufsuchten veraumlndert die Nutzung des oumlffent-lichen Raums und kann als eine Art Neuentde-ckung des Stadtraums bezeichnet werden

Der oumlffentliche Raum wird zuweilen als ein laquophy-sischer Raumraquo betrachtet der von Stadtplanern und Architekten spezifisch laquoals Behaumllter fuumlr Ge-sellschaft und bestimmbares soziales Handelnraquo21 geschaffen wird Raum existiert indessen nicht per se sondern entsteht durch Handlung Wahr-nehmung und Vorstellung der einzelnen Nutzer Raum ist somit nicht ein laquoBehaumlltnisraquo in dem das Leben unberuumlhrt von ihm stattfindet sondern

vielmehr ein gesellschaftliches Produkt das aus den vielschichtigen Beziehungen zwischen den Nutzern und der gebauten Umwelt entsteht Raumlu-me werden auch uumlber die Atmosphaumlre definiert Beispiele dafuumlr sind etwa die sakrale Aura einer Kirche die erholsame Stimmung eines Parks oder das edle Ambiente eines Restaurants22 Was wir erfahren ist somit kein physischer Raum der sich statisch verhaumllt wie ein Modell sondern ein Raum der sich staumlndig veraumlndert den wir jeden Moment neu wahrnehmen ndash eingefaumlrbt durch unsere Erin-nerung und Vorstellung Ein Raum laumlsst sich nur dann wahrnehmen wenn er zuvor gedanklich konzipiert worden ist Somit entstehen Konstruk-tionen und Konzeptionen des oumlffentlichen Raums die sich auf gesellschaftliche Konventionen stuumlt-zen mit der Produktion von Wissen verbunden und mit Machtstrukturen verknuumlpft sind Beim gedanklich konzipierten Raum handelt es sich um eine Darstellung die den Raum abbildet und defi-niert Diese Darstellung entsteht auf der Ebene des Diskurses der Sprache als solcher und um-fasst im engsten Sinne verbalisierte Formen z B Beschreibungen oder Definitionen aber auch Karten und Plaumlne sowie Informationen durch Bil-der und Zeichen Im weiteren Sinne umfasst die Repraumlsentation des Raums auch gesellschaftliche Regeln und eine Ethik23 Aus der gedanklichen Konstruktion von Staumldten erwachsen stets auch neue Idealbilder und Wunschvorstellungen

FUTURE PUBLIC SPACE12

Die Stadt als idealisierte Projektionsflaumlche

Der oumlffentliche Raum dient als Projektionsflaumlche fuumlr Ideen Bilder und Wuumlnsche ndash aber auch fuumlr Utopien Er ist ein Moumlglichkeitsraum in dem sich mit Idealen etwa mit bestimmten Wohnformen (zB Co-Housing) experimentieren laumlsst Diese Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt der Staumldte wo es stets auch um prak-tische Nutzungsperspektiven geht

Die Stadt als Ort des offenen Diskurses und der freien Zusammenkunft wird nicht selten verklaumlrt und romantisiert In Grossbritannien werden die roten gusseisernen Telefonzellen ndash ein Lieblings-gegenstand der Populaumlrkultur und laumlngst Teil des urbanen Inventars ndash neuen Nutzungen zuge-fuumlhrt24 Die Telefonzelle hat im Zeitalter des Smartphones zwar ausgedient wird aber zumin-dest in der aumlusseren Form weiter in Betrieb gehal-ten Damit bedient sie eine Sehnsucht nach jener Zeit als Telefonleitungen die Verbindungsrelais fuumlr das gesamte Empire waren

Die Stadt bleibt ein Sehnsuchtsort Gleichzeitig ist ndash gewissermassen antithetisch ndash aber auch eine Entromantisierung der Stadt festzustellen Staumldte werden assoziiert mit Dreck Muumlll Laumlrm Smog und anderen Emissionen Diese Faktoren gehoumlren zur Stadt wie Haumluser und Bewohner werden aber

durch Idealisierung und Verklaumlrung ausgeblen-det Es gibt Muumlllhauptstaumldte (Neapel) Laumlrm-hauptstaumldte (Mannheim Kairo) Stauhauptstaumldte (Jakarta) und Feinstaubhauptstaumldte (Stuttgart) Solche wenig schmeichelhaften Zuschreibungen die in zahlreichen Rankings auf eine quantifizie-rende Grundlage gestellt werden kratzen am Image der Staumldte In der Schweiz gilt Genf als Stauhauptstadt Bern wird in den Medien zuwei-len als Diebstahlhochburg apostrophiert und Zuuml-rich gilt ndash mit einem 3 Rang im europaweiten Ranking ndash gemeinhin als Kokainhauptstadt der Schweiz Die Quantifizierung des Sozialen25 er-streckt sich auch auf Staumldte die ja vor allem auch ein soziales System konstituieren Beginnt die Stadt als Erfolgsmodell bruumlchig zu werden26

Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt

der Staumldte wo es stets auch um praktische Nutzungs-

perspektiven geht

24 Die Betreiberfirma BT hat das Programm laquoAdopt a Kioskraquo lan-ciert bei dem ausrangierte Telefonzellen zum symbolischen Preis von einem Pfund erworben werden koumlnnen 3500 Ge-meinden haben nach Konzernangaben davon bereits Gebrauch gemacht In Schottland wurde eine Telefonzelle in eine Mini-Bibliothek umfunktioniert in London wurde eine andere zum Kiosk

25 Stefen Mau (2017) Das metrische Wir Uumlber die Quantifizie-rung des Sozialen

26 Richard Florida (2017) The New Urban Crisis

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 13Wofuumlr Flaumlche im Verhaumlltnis pro Einwohner verwendet wird

Quellen Bundesamt fuumlr Statistik Eidg Volkszaumlhlungen 1970 1980 1990 und 2000 (harmonisierte Daten) Bundesamt fuumlr Statistik Statistik des jaumlhrlichen Bevoumllkerungsstandes (ESPOP) 1995 2005 Bundesamt fuumlr Statistik Statistik der Bevoumllkerung und der Haushalte (STATPOP) 2010-2016 Definition der staumlndigen

Wohnbevoumllkerung und des Wohnsitzbegriffs gemaumlss STATPOP Wuest amp Partner 2018 Planungsbuumlro Jud 2017

Bruttogeschossflaumlche pro Einwohner im 2015

Die Verkehrsflaumlche bezieht sich auf die Agglomeration im Jahr 2014

KernstadtAgglomeration

20151970

Staumlndige Wohnbevoumllkerung

St Gallen

80K 144K 76K 166K

Winterthur

92K 107K108K 138K

Luzern

82K 173K81K 226K

Bern

160K 357K132K 411K

Basel

209K 480K170K 541K

Zuumlrich

416K 966K

397K 1334K

FUTURE PUBLIC SPACE14

Sonderposition SchweizDie Schweiz befindet sich im Spannungsfeld die-ser Entwicklungen in einer Sonderposition Sie ist klein beinahe uumlberschaubar und steht auf einem stabilen politischen sozialen und oumlkonomischen Fundament Dank einem breiten Mittelstand und gut bezahlten Mittelschichtjobs ist die Gefahr ei-ner Einkommenspolarisierung ndash zumindest ge-genwaumlrtig ndash deutlich geringer als in anderen Laumlndern oder Regionen

Wegen des starken Wachstums im Silicon Valley hat San Francisco mittlerweile einen houmlheren Gi-ni-Index als Brasilien Schweizer Staumldte erfahren nicht denselben Wachstums- und Verdichtungs-druck wie andere Staumldte in Europa sie bewegen sich praktisch nicht Und das wird sich ndash sowohl im Hinblick auf die Infrastruktur als auch auf das Verhalten einer aumllter werdenden Bevoumllkerung ndash auch nicht so rasch aumlndern Entgegen dem globa-len Trend ist die staumlndige Wohnbevoumllkerung in Staumldten wie Basel Bern oder Zuumlrich in den ver-gangenen Jahrzehnten nur leicht gestiegen In Zuuml-rich wuchs die Wohnbevoumllkerung von 363 000 im Jahr 2000 auf 397 000 Einwohner im Jahr 2015 was einer Veraumlnderung von 142 Prozent ent-spricht In Basel stieg die Einwohnerzahl im glei-chen Zeitraum um lediglich 37 Prozent von 167 000 auf 170 000 Dies veranschaulicht dass die Schweizer Staumldte im Verglichen mit den neuen schnell wachsenden Megacitys ein anderes Ver-haumlltnis zu Wachstum und Dichte haben und da-mit auch andere Herausforderungen

Die neue Vernetzung der StaumldtelaquoThe supply of everything can meet demand for

anything anything or anyone can get nearly anywhereraquoPAR AG KHANNA POLITIKWISSENSCHAFTLER

UND PUBLIZIST

Durch den globalen Handel entsteht eine in der Geschichte noch nie da gewesene Konnektivitaumlt der Staumldte Diese starke Vernetzung fuumlhrt zu einer neuen Geografie der sogenannten laquoKonnektogra-fieraquo in welcher Grenzen Herkunft und staatliche Regulative immer weniger wichtig werden Der paradigmatische Ort fuumlr diese neue Landkarte ist Dubai 90 Prozent der Bevoumllkerung kommt aus dem Ausland die Steuern sind niedrig die Expor-te hoch laquoThe supply of everything can meet de-mand for anything anything or anyone can get nearly anywhereraquo27 Radikal verkuumlrzt Alles und alle koumlnnen uumlberallhin gehen Die laquoKonnektogra-fieraquo kann auch auf die Schweiz heruntergebrochen werden Als Nichtmitglied der EU spielt das Land im internationalen System zwar eine Sonderrolle die Schweizer Staumldte sind aber dennoch in ein glo-bales Geflecht eingewoben Die Digitalisierung macht auch vor dem kleinsten Dorf nicht halt Das Internet eroumlffnet einerseits neue Wettbe-werbsmoumlglichkeiten ndash so wurde beispielsweise die virtuelle Waumlhrung Ethereum in Zug program-miert ndash andererseits entstehen neue Verwundbar-keiten etwa durch Hackerangriffe auf smarte Staumldte

Aus raumplanerischer Sicht ist die Schweiz ein einziges urbanes System ndash zumindest zwischen dem Bodensee und Genf die Unterschiede zwi-schen Stadt und Land sind obsolet Aus gesell-

27 Parag Khanna (2016) Connectography Mapping the Global Network Revolution

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 15

schaftlicher Sicht jedoch sind diese Kategorien noch nicht uumlberwunden im Gegenteil Zu starr sind die unterschiedlichen Einstellungen Werte und Lebensstile der staumldtischen und der laumlndli-chen Bevoumllkerung Dennoch ist klar dass oumlffentli-che Raumlume keine Grenzen kennen Die Schweiz ist ein einziges urbanes System inmitten eines einzi-gen urbanen Systems namens Welt In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne ndash etwa bei der Standortwahl fuumlr neue Forschungs- und Entwicklungszentren Im Ge-baumlude der ehemaligen Zuumlrcher Sihlpost hat Goog-le einen neuen Hub eroumlffnet Bis 2021 sollen in der Limmatstadt weitere 2000 Google-Mitarbeiter be-schaumlftigt werden28 ndash neben den 2000 laquoZooglernraquo aus 75 Nationen die schon heute auf dem Huumlrli-mann-Areal arbeiten Das beweist dass die Mitar-beiter des Unternehmens als laquoAnywheresraquo eine flexible transportable Identitaumlt besitzen

Anders als die Landwirtschaft oder die verarbei-tende Industrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen fuumlr Aumlcker und Fabriken sondern vor allem gut ausgebildete mobile Men-schen und hochgeruumlstete Laboratorien Im Ge-gensatz zur ersten industriellen Revolution wo die Fabriken mit ihren rauchenden Kaminen am Stadtrand hochgezogen wurden kehren die Tech-nologiefirmen in die Zentren zuruumlck Amazon hat sich an seinem Hauptstandort Seattle mit zahlrei-chen Ausbauten ndash darunter die neue Firmenzent-

28 httpswwwnzzchzuerichgoogle-in-zuerich-innovationen-made-in-zurich-ld140285

29 httpswwwtheatlanticcomtechnologyarchive201709the-great-thing-about-apple-christening-their-stores-town-squares539667

rale laquoThe Spheresraquo mit drei gewaumlchshausaumlhnlichen Glaskuppeln ndash zu einer Stadt in der Stadt verdich-tet Und Apple nennt seine ikonischen Apple Stores kuumlnftig laquoTown Squareraquo (Marktplatz) und unterstreicht damit den urbanen Charakter seiner Laumlden29 Gleichzeitig findet eine Ruumlckkehr zur Company Town statt wie man sie aus der An-fangszeit der Industrialisierung kennt Der Schuh-lieferant Zappos liess mitten in Las Vegas fuumlr 350 Millionen Dollar ein eigenes Staumldtchen mit einem Unterhaltungskomplex und einem Hotel bauen Facebook enthuumlllte juumlngst Plaumlne fuumlr den Bau des neuen Willow Campus In dieser hippen hoch technisierten Idylle pendeln die Mitarbeiter zwi-schen veganen Cafeacutes und Co-Working-Spaces ndash und kontrollieren einander im Rahmen einer Art Nachbarschaftshilfe gegenseitig Aumlhnliche Sied-lungen liess einst der deutsche Industrielle Alfred Krupp in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Fa-briken bauen

In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz

mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne

FUTURE PUBLIC SPACE16

DATENSTAU

DATENHIGHWAY

Smart City500GB

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17

Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

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Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

0

20

40

60

80

100

hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

FUTURE PUBLIC SPACE20

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

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der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23

die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

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Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 37

Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

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Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

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durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

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Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 45

Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

FUTURE PUBLIC SPACE46

Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 47

GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

FUTURE PUBLIC SPACE48

Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 13: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 11

21 Jan Wernheim22 Martina Loumlw Raumsoziologie 200023 Christian Schmid Raum und Regulation Henri Lefebvre und

der Regulationsansatz In Ulrich Brand und Werner Raza (Hrsg) Fit fuumlr den Postfordismus Theoretisch-politische Per-spektiven des Regulationsansatzes Muumlnster Westfaumllisches Dampfboot 2003 S 224

Oumlffentlicher Raum wird ausgehandelt

laquoDie Strasse die der Urbanismus geometrisch festlegt wird durch die Gehenden in einen Raum verwandeltraquo

MICHEL DE CERTEAU SOZIOLO GE HISTORIKER UND KULTURPHILOSOPH

An den oumlffentlichen Raum werden die unterschied-lichsten Anforderungen gestellt Die Nutzungsinte-ressen variieren je nach Milieuzugehoumlrigkeit und reichen von kulturellen Angeboten uumlber Gruumln- und Erholungsflaumlchen bis hin zur Luftreinhaltung Die Qualitaumlt des oumlffentlichen Raums laumlsst sich daher nur bedingt an quantitativen Kriterien wie Luft-qualitaumlt Verkehrsaufkommen Laumlrmbelastung oder Kriminalitaumlt messen Die Nutzung des oumlffentlichen Raums unterliegt einer konstanten Verhandlung mit dauerhafter Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Interessensgruppen Phaumlnomene wie bei-spielsweise das Public Viewing von Sport- und Kul-turveranstaltungen haben sich erst in den vergangenen Jahren entwickelt und stellen ganz neue Nutzungsvarianten fuumlr den oumlffentlichen Raum dar Auch das Smartphone-Game laquoPokeacutemon Goraquo bei dem die Nutzer auf der Jagd nach virtuellen Monstern Plaumltze bevoumllkerten und die entlegensten Orte aufsuchten veraumlndert die Nutzung des oumlffent-lichen Raums und kann als eine Art Neuentde-ckung des Stadtraums bezeichnet werden

Der oumlffentliche Raum wird zuweilen als ein laquophy-sischer Raumraquo betrachtet der von Stadtplanern und Architekten spezifisch laquoals Behaumllter fuumlr Ge-sellschaft und bestimmbares soziales Handelnraquo21 geschaffen wird Raum existiert indessen nicht per se sondern entsteht durch Handlung Wahr-nehmung und Vorstellung der einzelnen Nutzer Raum ist somit nicht ein laquoBehaumlltnisraquo in dem das Leben unberuumlhrt von ihm stattfindet sondern

vielmehr ein gesellschaftliches Produkt das aus den vielschichtigen Beziehungen zwischen den Nutzern und der gebauten Umwelt entsteht Raumlu-me werden auch uumlber die Atmosphaumlre definiert Beispiele dafuumlr sind etwa die sakrale Aura einer Kirche die erholsame Stimmung eines Parks oder das edle Ambiente eines Restaurants22 Was wir erfahren ist somit kein physischer Raum der sich statisch verhaumllt wie ein Modell sondern ein Raum der sich staumlndig veraumlndert den wir jeden Moment neu wahrnehmen ndash eingefaumlrbt durch unsere Erin-nerung und Vorstellung Ein Raum laumlsst sich nur dann wahrnehmen wenn er zuvor gedanklich konzipiert worden ist Somit entstehen Konstruk-tionen und Konzeptionen des oumlffentlichen Raums die sich auf gesellschaftliche Konventionen stuumlt-zen mit der Produktion von Wissen verbunden und mit Machtstrukturen verknuumlpft sind Beim gedanklich konzipierten Raum handelt es sich um eine Darstellung die den Raum abbildet und defi-niert Diese Darstellung entsteht auf der Ebene des Diskurses der Sprache als solcher und um-fasst im engsten Sinne verbalisierte Formen z B Beschreibungen oder Definitionen aber auch Karten und Plaumlne sowie Informationen durch Bil-der und Zeichen Im weiteren Sinne umfasst die Repraumlsentation des Raums auch gesellschaftliche Regeln und eine Ethik23 Aus der gedanklichen Konstruktion von Staumldten erwachsen stets auch neue Idealbilder und Wunschvorstellungen

FUTURE PUBLIC SPACE12

Die Stadt als idealisierte Projektionsflaumlche

Der oumlffentliche Raum dient als Projektionsflaumlche fuumlr Ideen Bilder und Wuumlnsche ndash aber auch fuumlr Utopien Er ist ein Moumlglichkeitsraum in dem sich mit Idealen etwa mit bestimmten Wohnformen (zB Co-Housing) experimentieren laumlsst Diese Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt der Staumldte wo es stets auch um prak-tische Nutzungsperspektiven geht

Die Stadt als Ort des offenen Diskurses und der freien Zusammenkunft wird nicht selten verklaumlrt und romantisiert In Grossbritannien werden die roten gusseisernen Telefonzellen ndash ein Lieblings-gegenstand der Populaumlrkultur und laumlngst Teil des urbanen Inventars ndash neuen Nutzungen zuge-fuumlhrt24 Die Telefonzelle hat im Zeitalter des Smartphones zwar ausgedient wird aber zumin-dest in der aumlusseren Form weiter in Betrieb gehal-ten Damit bedient sie eine Sehnsucht nach jener Zeit als Telefonleitungen die Verbindungsrelais fuumlr das gesamte Empire waren

Die Stadt bleibt ein Sehnsuchtsort Gleichzeitig ist ndash gewissermassen antithetisch ndash aber auch eine Entromantisierung der Stadt festzustellen Staumldte werden assoziiert mit Dreck Muumlll Laumlrm Smog und anderen Emissionen Diese Faktoren gehoumlren zur Stadt wie Haumluser und Bewohner werden aber

durch Idealisierung und Verklaumlrung ausgeblen-det Es gibt Muumlllhauptstaumldte (Neapel) Laumlrm-hauptstaumldte (Mannheim Kairo) Stauhauptstaumldte (Jakarta) und Feinstaubhauptstaumldte (Stuttgart) Solche wenig schmeichelhaften Zuschreibungen die in zahlreichen Rankings auf eine quantifizie-rende Grundlage gestellt werden kratzen am Image der Staumldte In der Schweiz gilt Genf als Stauhauptstadt Bern wird in den Medien zuwei-len als Diebstahlhochburg apostrophiert und Zuuml-rich gilt ndash mit einem 3 Rang im europaweiten Ranking ndash gemeinhin als Kokainhauptstadt der Schweiz Die Quantifizierung des Sozialen25 er-streckt sich auch auf Staumldte die ja vor allem auch ein soziales System konstituieren Beginnt die Stadt als Erfolgsmodell bruumlchig zu werden26

Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt

der Staumldte wo es stets auch um praktische Nutzungs-

perspektiven geht

24 Die Betreiberfirma BT hat das Programm laquoAdopt a Kioskraquo lan-ciert bei dem ausrangierte Telefonzellen zum symbolischen Preis von einem Pfund erworben werden koumlnnen 3500 Ge-meinden haben nach Konzernangaben davon bereits Gebrauch gemacht In Schottland wurde eine Telefonzelle in eine Mini-Bibliothek umfunktioniert in London wurde eine andere zum Kiosk

25 Stefen Mau (2017) Das metrische Wir Uumlber die Quantifizie-rung des Sozialen

26 Richard Florida (2017) The New Urban Crisis

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 13Wofuumlr Flaumlche im Verhaumlltnis pro Einwohner verwendet wird

Quellen Bundesamt fuumlr Statistik Eidg Volkszaumlhlungen 1970 1980 1990 und 2000 (harmonisierte Daten) Bundesamt fuumlr Statistik Statistik des jaumlhrlichen Bevoumllkerungsstandes (ESPOP) 1995 2005 Bundesamt fuumlr Statistik Statistik der Bevoumllkerung und der Haushalte (STATPOP) 2010-2016 Definition der staumlndigen

Wohnbevoumllkerung und des Wohnsitzbegriffs gemaumlss STATPOP Wuest amp Partner 2018 Planungsbuumlro Jud 2017

Bruttogeschossflaumlche pro Einwohner im 2015

Die Verkehrsflaumlche bezieht sich auf die Agglomeration im Jahr 2014

KernstadtAgglomeration

20151970

Staumlndige Wohnbevoumllkerung

St Gallen

80K 144K 76K 166K

Winterthur

92K 107K108K 138K

Luzern

82K 173K81K 226K

Bern

160K 357K132K 411K

Basel

209K 480K170K 541K

Zuumlrich

416K 966K

397K 1334K

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Sonderposition SchweizDie Schweiz befindet sich im Spannungsfeld die-ser Entwicklungen in einer Sonderposition Sie ist klein beinahe uumlberschaubar und steht auf einem stabilen politischen sozialen und oumlkonomischen Fundament Dank einem breiten Mittelstand und gut bezahlten Mittelschichtjobs ist die Gefahr ei-ner Einkommenspolarisierung ndash zumindest ge-genwaumlrtig ndash deutlich geringer als in anderen Laumlndern oder Regionen

Wegen des starken Wachstums im Silicon Valley hat San Francisco mittlerweile einen houmlheren Gi-ni-Index als Brasilien Schweizer Staumldte erfahren nicht denselben Wachstums- und Verdichtungs-druck wie andere Staumldte in Europa sie bewegen sich praktisch nicht Und das wird sich ndash sowohl im Hinblick auf die Infrastruktur als auch auf das Verhalten einer aumllter werdenden Bevoumllkerung ndash auch nicht so rasch aumlndern Entgegen dem globa-len Trend ist die staumlndige Wohnbevoumllkerung in Staumldten wie Basel Bern oder Zuumlrich in den ver-gangenen Jahrzehnten nur leicht gestiegen In Zuuml-rich wuchs die Wohnbevoumllkerung von 363 000 im Jahr 2000 auf 397 000 Einwohner im Jahr 2015 was einer Veraumlnderung von 142 Prozent ent-spricht In Basel stieg die Einwohnerzahl im glei-chen Zeitraum um lediglich 37 Prozent von 167 000 auf 170 000 Dies veranschaulicht dass die Schweizer Staumldte im Verglichen mit den neuen schnell wachsenden Megacitys ein anderes Ver-haumlltnis zu Wachstum und Dichte haben und da-mit auch andere Herausforderungen

Die neue Vernetzung der StaumldtelaquoThe supply of everything can meet demand for

anything anything or anyone can get nearly anywhereraquoPAR AG KHANNA POLITIKWISSENSCHAFTLER

UND PUBLIZIST

Durch den globalen Handel entsteht eine in der Geschichte noch nie da gewesene Konnektivitaumlt der Staumldte Diese starke Vernetzung fuumlhrt zu einer neuen Geografie der sogenannten laquoKonnektogra-fieraquo in welcher Grenzen Herkunft und staatliche Regulative immer weniger wichtig werden Der paradigmatische Ort fuumlr diese neue Landkarte ist Dubai 90 Prozent der Bevoumllkerung kommt aus dem Ausland die Steuern sind niedrig die Expor-te hoch laquoThe supply of everything can meet de-mand for anything anything or anyone can get nearly anywhereraquo27 Radikal verkuumlrzt Alles und alle koumlnnen uumlberallhin gehen Die laquoKonnektogra-fieraquo kann auch auf die Schweiz heruntergebrochen werden Als Nichtmitglied der EU spielt das Land im internationalen System zwar eine Sonderrolle die Schweizer Staumldte sind aber dennoch in ein glo-bales Geflecht eingewoben Die Digitalisierung macht auch vor dem kleinsten Dorf nicht halt Das Internet eroumlffnet einerseits neue Wettbe-werbsmoumlglichkeiten ndash so wurde beispielsweise die virtuelle Waumlhrung Ethereum in Zug program-miert ndash andererseits entstehen neue Verwundbar-keiten etwa durch Hackerangriffe auf smarte Staumldte

Aus raumplanerischer Sicht ist die Schweiz ein einziges urbanes System ndash zumindest zwischen dem Bodensee und Genf die Unterschiede zwi-schen Stadt und Land sind obsolet Aus gesell-

27 Parag Khanna (2016) Connectography Mapping the Global Network Revolution

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schaftlicher Sicht jedoch sind diese Kategorien noch nicht uumlberwunden im Gegenteil Zu starr sind die unterschiedlichen Einstellungen Werte und Lebensstile der staumldtischen und der laumlndli-chen Bevoumllkerung Dennoch ist klar dass oumlffentli-che Raumlume keine Grenzen kennen Die Schweiz ist ein einziges urbanes System inmitten eines einzi-gen urbanen Systems namens Welt In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne ndash etwa bei der Standortwahl fuumlr neue Forschungs- und Entwicklungszentren Im Ge-baumlude der ehemaligen Zuumlrcher Sihlpost hat Goog-le einen neuen Hub eroumlffnet Bis 2021 sollen in der Limmatstadt weitere 2000 Google-Mitarbeiter be-schaumlftigt werden28 ndash neben den 2000 laquoZooglernraquo aus 75 Nationen die schon heute auf dem Huumlrli-mann-Areal arbeiten Das beweist dass die Mitar-beiter des Unternehmens als laquoAnywheresraquo eine flexible transportable Identitaumlt besitzen

Anders als die Landwirtschaft oder die verarbei-tende Industrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen fuumlr Aumlcker und Fabriken sondern vor allem gut ausgebildete mobile Men-schen und hochgeruumlstete Laboratorien Im Ge-gensatz zur ersten industriellen Revolution wo die Fabriken mit ihren rauchenden Kaminen am Stadtrand hochgezogen wurden kehren die Tech-nologiefirmen in die Zentren zuruumlck Amazon hat sich an seinem Hauptstandort Seattle mit zahlrei-chen Ausbauten ndash darunter die neue Firmenzent-

28 httpswwwnzzchzuerichgoogle-in-zuerich-innovationen-made-in-zurich-ld140285

29 httpswwwtheatlanticcomtechnologyarchive201709the-great-thing-about-apple-christening-their-stores-town-squares539667

rale laquoThe Spheresraquo mit drei gewaumlchshausaumlhnlichen Glaskuppeln ndash zu einer Stadt in der Stadt verdich-tet Und Apple nennt seine ikonischen Apple Stores kuumlnftig laquoTown Squareraquo (Marktplatz) und unterstreicht damit den urbanen Charakter seiner Laumlden29 Gleichzeitig findet eine Ruumlckkehr zur Company Town statt wie man sie aus der An-fangszeit der Industrialisierung kennt Der Schuh-lieferant Zappos liess mitten in Las Vegas fuumlr 350 Millionen Dollar ein eigenes Staumldtchen mit einem Unterhaltungskomplex und einem Hotel bauen Facebook enthuumlllte juumlngst Plaumlne fuumlr den Bau des neuen Willow Campus In dieser hippen hoch technisierten Idylle pendeln die Mitarbeiter zwi-schen veganen Cafeacutes und Co-Working-Spaces ndash und kontrollieren einander im Rahmen einer Art Nachbarschaftshilfe gegenseitig Aumlhnliche Sied-lungen liess einst der deutsche Industrielle Alfred Krupp in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Fa-briken bauen

In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz

mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne

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DATENSTAU

DATENHIGHWAY

Smart City500GB

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Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

FUTURE PUBLIC SPACE18

Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

FUTURE PUBLIC SPACE20

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21

der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23

die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 31

Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

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Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

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durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 14: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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Die Stadt als idealisierte Projektionsflaumlche

Der oumlffentliche Raum dient als Projektionsflaumlche fuumlr Ideen Bilder und Wuumlnsche ndash aber auch fuumlr Utopien Er ist ein Moumlglichkeitsraum in dem sich mit Idealen etwa mit bestimmten Wohnformen (zB Co-Housing) experimentieren laumlsst Diese Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt der Staumldte wo es stets auch um prak-tische Nutzungsperspektiven geht

Die Stadt als Ort des offenen Diskurses und der freien Zusammenkunft wird nicht selten verklaumlrt und romantisiert In Grossbritannien werden die roten gusseisernen Telefonzellen ndash ein Lieblings-gegenstand der Populaumlrkultur und laumlngst Teil des urbanen Inventars ndash neuen Nutzungen zuge-fuumlhrt24 Die Telefonzelle hat im Zeitalter des Smartphones zwar ausgedient wird aber zumin-dest in der aumlusseren Form weiter in Betrieb gehal-ten Damit bedient sie eine Sehnsucht nach jener Zeit als Telefonleitungen die Verbindungsrelais fuumlr das gesamte Empire waren

Die Stadt bleibt ein Sehnsuchtsort Gleichzeitig ist ndash gewissermassen antithetisch ndash aber auch eine Entromantisierung der Stadt festzustellen Staumldte werden assoziiert mit Dreck Muumlll Laumlrm Smog und anderen Emissionen Diese Faktoren gehoumlren zur Stadt wie Haumluser und Bewohner werden aber

durch Idealisierung und Verklaumlrung ausgeblen-det Es gibt Muumlllhauptstaumldte (Neapel) Laumlrm-hauptstaumldte (Mannheim Kairo) Stauhauptstaumldte (Jakarta) und Feinstaubhauptstaumldte (Stuttgart) Solche wenig schmeichelhaften Zuschreibungen die in zahlreichen Rankings auf eine quantifizie-rende Grundlage gestellt werden kratzen am Image der Staumldte In der Schweiz gilt Genf als Stauhauptstadt Bern wird in den Medien zuwei-len als Diebstahlhochburg apostrophiert und Zuuml-rich gilt ndash mit einem 3 Rang im europaweiten Ranking ndash gemeinhin als Kokainhauptstadt der Schweiz Die Quantifizierung des Sozialen25 er-streckt sich auch auf Staumldte die ja vor allem auch ein soziales System konstituieren Beginnt die Stadt als Erfolgsmodell bruumlchig zu werden26

Idealbilder stehen in einem Spannungsverhaumlltnis zur Realitaumlt

der Staumldte wo es stets auch um praktische Nutzungs-

perspektiven geht

24 Die Betreiberfirma BT hat das Programm laquoAdopt a Kioskraquo lan-ciert bei dem ausrangierte Telefonzellen zum symbolischen Preis von einem Pfund erworben werden koumlnnen 3500 Ge-meinden haben nach Konzernangaben davon bereits Gebrauch gemacht In Schottland wurde eine Telefonzelle in eine Mini-Bibliothek umfunktioniert in London wurde eine andere zum Kiosk

25 Stefen Mau (2017) Das metrische Wir Uumlber die Quantifizie-rung des Sozialen

26 Richard Florida (2017) The New Urban Crisis

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 13Wofuumlr Flaumlche im Verhaumlltnis pro Einwohner verwendet wird

Quellen Bundesamt fuumlr Statistik Eidg Volkszaumlhlungen 1970 1980 1990 und 2000 (harmonisierte Daten) Bundesamt fuumlr Statistik Statistik des jaumlhrlichen Bevoumllkerungsstandes (ESPOP) 1995 2005 Bundesamt fuumlr Statistik Statistik der Bevoumllkerung und der Haushalte (STATPOP) 2010-2016 Definition der staumlndigen

Wohnbevoumllkerung und des Wohnsitzbegriffs gemaumlss STATPOP Wuest amp Partner 2018 Planungsbuumlro Jud 2017

Bruttogeschossflaumlche pro Einwohner im 2015

Die Verkehrsflaumlche bezieht sich auf die Agglomeration im Jahr 2014

KernstadtAgglomeration

20151970

Staumlndige Wohnbevoumllkerung

St Gallen

80K 144K 76K 166K

Winterthur

92K 107K108K 138K

Luzern

82K 173K81K 226K

Bern

160K 357K132K 411K

Basel

209K 480K170K 541K

Zuumlrich

416K 966K

397K 1334K

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Sonderposition SchweizDie Schweiz befindet sich im Spannungsfeld die-ser Entwicklungen in einer Sonderposition Sie ist klein beinahe uumlberschaubar und steht auf einem stabilen politischen sozialen und oumlkonomischen Fundament Dank einem breiten Mittelstand und gut bezahlten Mittelschichtjobs ist die Gefahr ei-ner Einkommenspolarisierung ndash zumindest ge-genwaumlrtig ndash deutlich geringer als in anderen Laumlndern oder Regionen

Wegen des starken Wachstums im Silicon Valley hat San Francisco mittlerweile einen houmlheren Gi-ni-Index als Brasilien Schweizer Staumldte erfahren nicht denselben Wachstums- und Verdichtungs-druck wie andere Staumldte in Europa sie bewegen sich praktisch nicht Und das wird sich ndash sowohl im Hinblick auf die Infrastruktur als auch auf das Verhalten einer aumllter werdenden Bevoumllkerung ndash auch nicht so rasch aumlndern Entgegen dem globa-len Trend ist die staumlndige Wohnbevoumllkerung in Staumldten wie Basel Bern oder Zuumlrich in den ver-gangenen Jahrzehnten nur leicht gestiegen In Zuuml-rich wuchs die Wohnbevoumllkerung von 363 000 im Jahr 2000 auf 397 000 Einwohner im Jahr 2015 was einer Veraumlnderung von 142 Prozent ent-spricht In Basel stieg die Einwohnerzahl im glei-chen Zeitraum um lediglich 37 Prozent von 167 000 auf 170 000 Dies veranschaulicht dass die Schweizer Staumldte im Verglichen mit den neuen schnell wachsenden Megacitys ein anderes Ver-haumlltnis zu Wachstum und Dichte haben und da-mit auch andere Herausforderungen

Die neue Vernetzung der StaumldtelaquoThe supply of everything can meet demand for

anything anything or anyone can get nearly anywhereraquoPAR AG KHANNA POLITIKWISSENSCHAFTLER

UND PUBLIZIST

Durch den globalen Handel entsteht eine in der Geschichte noch nie da gewesene Konnektivitaumlt der Staumldte Diese starke Vernetzung fuumlhrt zu einer neuen Geografie der sogenannten laquoKonnektogra-fieraquo in welcher Grenzen Herkunft und staatliche Regulative immer weniger wichtig werden Der paradigmatische Ort fuumlr diese neue Landkarte ist Dubai 90 Prozent der Bevoumllkerung kommt aus dem Ausland die Steuern sind niedrig die Expor-te hoch laquoThe supply of everything can meet de-mand for anything anything or anyone can get nearly anywhereraquo27 Radikal verkuumlrzt Alles und alle koumlnnen uumlberallhin gehen Die laquoKonnektogra-fieraquo kann auch auf die Schweiz heruntergebrochen werden Als Nichtmitglied der EU spielt das Land im internationalen System zwar eine Sonderrolle die Schweizer Staumldte sind aber dennoch in ein glo-bales Geflecht eingewoben Die Digitalisierung macht auch vor dem kleinsten Dorf nicht halt Das Internet eroumlffnet einerseits neue Wettbe-werbsmoumlglichkeiten ndash so wurde beispielsweise die virtuelle Waumlhrung Ethereum in Zug program-miert ndash andererseits entstehen neue Verwundbar-keiten etwa durch Hackerangriffe auf smarte Staumldte

Aus raumplanerischer Sicht ist die Schweiz ein einziges urbanes System ndash zumindest zwischen dem Bodensee und Genf die Unterschiede zwi-schen Stadt und Land sind obsolet Aus gesell-

27 Parag Khanna (2016) Connectography Mapping the Global Network Revolution

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schaftlicher Sicht jedoch sind diese Kategorien noch nicht uumlberwunden im Gegenteil Zu starr sind die unterschiedlichen Einstellungen Werte und Lebensstile der staumldtischen und der laumlndli-chen Bevoumllkerung Dennoch ist klar dass oumlffentli-che Raumlume keine Grenzen kennen Die Schweiz ist ein einziges urbanes System inmitten eines einzi-gen urbanen Systems namens Welt In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne ndash etwa bei der Standortwahl fuumlr neue Forschungs- und Entwicklungszentren Im Ge-baumlude der ehemaligen Zuumlrcher Sihlpost hat Goog-le einen neuen Hub eroumlffnet Bis 2021 sollen in der Limmatstadt weitere 2000 Google-Mitarbeiter be-schaumlftigt werden28 ndash neben den 2000 laquoZooglernraquo aus 75 Nationen die schon heute auf dem Huumlrli-mann-Areal arbeiten Das beweist dass die Mitar-beiter des Unternehmens als laquoAnywheresraquo eine flexible transportable Identitaumlt besitzen

Anders als die Landwirtschaft oder die verarbei-tende Industrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen fuumlr Aumlcker und Fabriken sondern vor allem gut ausgebildete mobile Men-schen und hochgeruumlstete Laboratorien Im Ge-gensatz zur ersten industriellen Revolution wo die Fabriken mit ihren rauchenden Kaminen am Stadtrand hochgezogen wurden kehren die Tech-nologiefirmen in die Zentren zuruumlck Amazon hat sich an seinem Hauptstandort Seattle mit zahlrei-chen Ausbauten ndash darunter die neue Firmenzent-

28 httpswwwnzzchzuerichgoogle-in-zuerich-innovationen-made-in-zurich-ld140285

29 httpswwwtheatlanticcomtechnologyarchive201709the-great-thing-about-apple-christening-their-stores-town-squares539667

rale laquoThe Spheresraquo mit drei gewaumlchshausaumlhnlichen Glaskuppeln ndash zu einer Stadt in der Stadt verdich-tet Und Apple nennt seine ikonischen Apple Stores kuumlnftig laquoTown Squareraquo (Marktplatz) und unterstreicht damit den urbanen Charakter seiner Laumlden29 Gleichzeitig findet eine Ruumlckkehr zur Company Town statt wie man sie aus der An-fangszeit der Industrialisierung kennt Der Schuh-lieferant Zappos liess mitten in Las Vegas fuumlr 350 Millionen Dollar ein eigenes Staumldtchen mit einem Unterhaltungskomplex und einem Hotel bauen Facebook enthuumlllte juumlngst Plaumlne fuumlr den Bau des neuen Willow Campus In dieser hippen hoch technisierten Idylle pendeln die Mitarbeiter zwi-schen veganen Cafeacutes und Co-Working-Spaces ndash und kontrollieren einander im Rahmen einer Art Nachbarschaftshilfe gegenseitig Aumlhnliche Sied-lungen liess einst der deutsche Industrielle Alfred Krupp in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Fa-briken bauen

In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz

mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne

FUTURE PUBLIC SPACE16

DATENSTAU

DATENHIGHWAY

Smart City500GB

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17

Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

FUTURE PUBLIC SPACE18

Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

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hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

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Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21

der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23

die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 27

FUTURE PUBLIC SPACE28

Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

FUTURE PUBLIC SPACE30

laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 31

Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

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Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

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Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

FUTURE PUBLIC SPACE50

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 15: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 13Wofuumlr Flaumlche im Verhaumlltnis pro Einwohner verwendet wird

Quellen Bundesamt fuumlr Statistik Eidg Volkszaumlhlungen 1970 1980 1990 und 2000 (harmonisierte Daten) Bundesamt fuumlr Statistik Statistik des jaumlhrlichen Bevoumllkerungsstandes (ESPOP) 1995 2005 Bundesamt fuumlr Statistik Statistik der Bevoumllkerung und der Haushalte (STATPOP) 2010-2016 Definition der staumlndigen

Wohnbevoumllkerung und des Wohnsitzbegriffs gemaumlss STATPOP Wuest amp Partner 2018 Planungsbuumlro Jud 2017

Bruttogeschossflaumlche pro Einwohner im 2015

Die Verkehrsflaumlche bezieht sich auf die Agglomeration im Jahr 2014

KernstadtAgglomeration

20151970

Staumlndige Wohnbevoumllkerung

St Gallen

80K 144K 76K 166K

Winterthur

92K 107K108K 138K

Luzern

82K 173K81K 226K

Bern

160K 357K132K 411K

Basel

209K 480K170K 541K

Zuumlrich

416K 966K

397K 1334K

FUTURE PUBLIC SPACE14

Sonderposition SchweizDie Schweiz befindet sich im Spannungsfeld die-ser Entwicklungen in einer Sonderposition Sie ist klein beinahe uumlberschaubar und steht auf einem stabilen politischen sozialen und oumlkonomischen Fundament Dank einem breiten Mittelstand und gut bezahlten Mittelschichtjobs ist die Gefahr ei-ner Einkommenspolarisierung ndash zumindest ge-genwaumlrtig ndash deutlich geringer als in anderen Laumlndern oder Regionen

Wegen des starken Wachstums im Silicon Valley hat San Francisco mittlerweile einen houmlheren Gi-ni-Index als Brasilien Schweizer Staumldte erfahren nicht denselben Wachstums- und Verdichtungs-druck wie andere Staumldte in Europa sie bewegen sich praktisch nicht Und das wird sich ndash sowohl im Hinblick auf die Infrastruktur als auch auf das Verhalten einer aumllter werdenden Bevoumllkerung ndash auch nicht so rasch aumlndern Entgegen dem globa-len Trend ist die staumlndige Wohnbevoumllkerung in Staumldten wie Basel Bern oder Zuumlrich in den ver-gangenen Jahrzehnten nur leicht gestiegen In Zuuml-rich wuchs die Wohnbevoumllkerung von 363 000 im Jahr 2000 auf 397 000 Einwohner im Jahr 2015 was einer Veraumlnderung von 142 Prozent ent-spricht In Basel stieg die Einwohnerzahl im glei-chen Zeitraum um lediglich 37 Prozent von 167 000 auf 170 000 Dies veranschaulicht dass die Schweizer Staumldte im Verglichen mit den neuen schnell wachsenden Megacitys ein anderes Ver-haumlltnis zu Wachstum und Dichte haben und da-mit auch andere Herausforderungen

Die neue Vernetzung der StaumldtelaquoThe supply of everything can meet demand for

anything anything or anyone can get nearly anywhereraquoPAR AG KHANNA POLITIKWISSENSCHAFTLER

UND PUBLIZIST

Durch den globalen Handel entsteht eine in der Geschichte noch nie da gewesene Konnektivitaumlt der Staumldte Diese starke Vernetzung fuumlhrt zu einer neuen Geografie der sogenannten laquoKonnektogra-fieraquo in welcher Grenzen Herkunft und staatliche Regulative immer weniger wichtig werden Der paradigmatische Ort fuumlr diese neue Landkarte ist Dubai 90 Prozent der Bevoumllkerung kommt aus dem Ausland die Steuern sind niedrig die Expor-te hoch laquoThe supply of everything can meet de-mand for anything anything or anyone can get nearly anywhereraquo27 Radikal verkuumlrzt Alles und alle koumlnnen uumlberallhin gehen Die laquoKonnektogra-fieraquo kann auch auf die Schweiz heruntergebrochen werden Als Nichtmitglied der EU spielt das Land im internationalen System zwar eine Sonderrolle die Schweizer Staumldte sind aber dennoch in ein glo-bales Geflecht eingewoben Die Digitalisierung macht auch vor dem kleinsten Dorf nicht halt Das Internet eroumlffnet einerseits neue Wettbe-werbsmoumlglichkeiten ndash so wurde beispielsweise die virtuelle Waumlhrung Ethereum in Zug program-miert ndash andererseits entstehen neue Verwundbar-keiten etwa durch Hackerangriffe auf smarte Staumldte

Aus raumplanerischer Sicht ist die Schweiz ein einziges urbanes System ndash zumindest zwischen dem Bodensee und Genf die Unterschiede zwi-schen Stadt und Land sind obsolet Aus gesell-

27 Parag Khanna (2016) Connectography Mapping the Global Network Revolution

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 15

schaftlicher Sicht jedoch sind diese Kategorien noch nicht uumlberwunden im Gegenteil Zu starr sind die unterschiedlichen Einstellungen Werte und Lebensstile der staumldtischen und der laumlndli-chen Bevoumllkerung Dennoch ist klar dass oumlffentli-che Raumlume keine Grenzen kennen Die Schweiz ist ein einziges urbanes System inmitten eines einzi-gen urbanen Systems namens Welt In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne ndash etwa bei der Standortwahl fuumlr neue Forschungs- und Entwicklungszentren Im Ge-baumlude der ehemaligen Zuumlrcher Sihlpost hat Goog-le einen neuen Hub eroumlffnet Bis 2021 sollen in der Limmatstadt weitere 2000 Google-Mitarbeiter be-schaumlftigt werden28 ndash neben den 2000 laquoZooglernraquo aus 75 Nationen die schon heute auf dem Huumlrli-mann-Areal arbeiten Das beweist dass die Mitar-beiter des Unternehmens als laquoAnywheresraquo eine flexible transportable Identitaumlt besitzen

Anders als die Landwirtschaft oder die verarbei-tende Industrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen fuumlr Aumlcker und Fabriken sondern vor allem gut ausgebildete mobile Men-schen und hochgeruumlstete Laboratorien Im Ge-gensatz zur ersten industriellen Revolution wo die Fabriken mit ihren rauchenden Kaminen am Stadtrand hochgezogen wurden kehren die Tech-nologiefirmen in die Zentren zuruumlck Amazon hat sich an seinem Hauptstandort Seattle mit zahlrei-chen Ausbauten ndash darunter die neue Firmenzent-

28 httpswwwnzzchzuerichgoogle-in-zuerich-innovationen-made-in-zurich-ld140285

29 httpswwwtheatlanticcomtechnologyarchive201709the-great-thing-about-apple-christening-their-stores-town-squares539667

rale laquoThe Spheresraquo mit drei gewaumlchshausaumlhnlichen Glaskuppeln ndash zu einer Stadt in der Stadt verdich-tet Und Apple nennt seine ikonischen Apple Stores kuumlnftig laquoTown Squareraquo (Marktplatz) und unterstreicht damit den urbanen Charakter seiner Laumlden29 Gleichzeitig findet eine Ruumlckkehr zur Company Town statt wie man sie aus der An-fangszeit der Industrialisierung kennt Der Schuh-lieferant Zappos liess mitten in Las Vegas fuumlr 350 Millionen Dollar ein eigenes Staumldtchen mit einem Unterhaltungskomplex und einem Hotel bauen Facebook enthuumlllte juumlngst Plaumlne fuumlr den Bau des neuen Willow Campus In dieser hippen hoch technisierten Idylle pendeln die Mitarbeiter zwi-schen veganen Cafeacutes und Co-Working-Spaces ndash und kontrollieren einander im Rahmen einer Art Nachbarschaftshilfe gegenseitig Aumlhnliche Sied-lungen liess einst der deutsche Industrielle Alfred Krupp in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Fa-briken bauen

In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz

mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne

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DATENSTAU

DATENHIGHWAY

Smart City500GB

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17

Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

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Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

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Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21

der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23

die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

FUTURE PUBLIC SPACE26

40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 27

FUTURE PUBLIC SPACE28

Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 29

41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

FUTURE PUBLIC SPACE30

laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 31

Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 33

strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

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Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 16: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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Sonderposition SchweizDie Schweiz befindet sich im Spannungsfeld die-ser Entwicklungen in einer Sonderposition Sie ist klein beinahe uumlberschaubar und steht auf einem stabilen politischen sozialen und oumlkonomischen Fundament Dank einem breiten Mittelstand und gut bezahlten Mittelschichtjobs ist die Gefahr ei-ner Einkommenspolarisierung ndash zumindest ge-genwaumlrtig ndash deutlich geringer als in anderen Laumlndern oder Regionen

Wegen des starken Wachstums im Silicon Valley hat San Francisco mittlerweile einen houmlheren Gi-ni-Index als Brasilien Schweizer Staumldte erfahren nicht denselben Wachstums- und Verdichtungs-druck wie andere Staumldte in Europa sie bewegen sich praktisch nicht Und das wird sich ndash sowohl im Hinblick auf die Infrastruktur als auch auf das Verhalten einer aumllter werdenden Bevoumllkerung ndash auch nicht so rasch aumlndern Entgegen dem globa-len Trend ist die staumlndige Wohnbevoumllkerung in Staumldten wie Basel Bern oder Zuumlrich in den ver-gangenen Jahrzehnten nur leicht gestiegen In Zuuml-rich wuchs die Wohnbevoumllkerung von 363 000 im Jahr 2000 auf 397 000 Einwohner im Jahr 2015 was einer Veraumlnderung von 142 Prozent ent-spricht In Basel stieg die Einwohnerzahl im glei-chen Zeitraum um lediglich 37 Prozent von 167 000 auf 170 000 Dies veranschaulicht dass die Schweizer Staumldte im Verglichen mit den neuen schnell wachsenden Megacitys ein anderes Ver-haumlltnis zu Wachstum und Dichte haben und da-mit auch andere Herausforderungen

Die neue Vernetzung der StaumldtelaquoThe supply of everything can meet demand for

anything anything or anyone can get nearly anywhereraquoPAR AG KHANNA POLITIKWISSENSCHAFTLER

UND PUBLIZIST

Durch den globalen Handel entsteht eine in der Geschichte noch nie da gewesene Konnektivitaumlt der Staumldte Diese starke Vernetzung fuumlhrt zu einer neuen Geografie der sogenannten laquoKonnektogra-fieraquo in welcher Grenzen Herkunft und staatliche Regulative immer weniger wichtig werden Der paradigmatische Ort fuumlr diese neue Landkarte ist Dubai 90 Prozent der Bevoumllkerung kommt aus dem Ausland die Steuern sind niedrig die Expor-te hoch laquoThe supply of everything can meet de-mand for anything anything or anyone can get nearly anywhereraquo27 Radikal verkuumlrzt Alles und alle koumlnnen uumlberallhin gehen Die laquoKonnektogra-fieraquo kann auch auf die Schweiz heruntergebrochen werden Als Nichtmitglied der EU spielt das Land im internationalen System zwar eine Sonderrolle die Schweizer Staumldte sind aber dennoch in ein glo-bales Geflecht eingewoben Die Digitalisierung macht auch vor dem kleinsten Dorf nicht halt Das Internet eroumlffnet einerseits neue Wettbe-werbsmoumlglichkeiten ndash so wurde beispielsweise die virtuelle Waumlhrung Ethereum in Zug program-miert ndash andererseits entstehen neue Verwundbar-keiten etwa durch Hackerangriffe auf smarte Staumldte

Aus raumplanerischer Sicht ist die Schweiz ein einziges urbanes System ndash zumindest zwischen dem Bodensee und Genf die Unterschiede zwi-schen Stadt und Land sind obsolet Aus gesell-

27 Parag Khanna (2016) Connectography Mapping the Global Network Revolution

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 15

schaftlicher Sicht jedoch sind diese Kategorien noch nicht uumlberwunden im Gegenteil Zu starr sind die unterschiedlichen Einstellungen Werte und Lebensstile der staumldtischen und der laumlndli-chen Bevoumllkerung Dennoch ist klar dass oumlffentli-che Raumlume keine Grenzen kennen Die Schweiz ist ein einziges urbanes System inmitten eines einzi-gen urbanen Systems namens Welt In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne ndash etwa bei der Standortwahl fuumlr neue Forschungs- und Entwicklungszentren Im Ge-baumlude der ehemaligen Zuumlrcher Sihlpost hat Goog-le einen neuen Hub eroumlffnet Bis 2021 sollen in der Limmatstadt weitere 2000 Google-Mitarbeiter be-schaumlftigt werden28 ndash neben den 2000 laquoZooglernraquo aus 75 Nationen die schon heute auf dem Huumlrli-mann-Areal arbeiten Das beweist dass die Mitar-beiter des Unternehmens als laquoAnywheresraquo eine flexible transportable Identitaumlt besitzen

Anders als die Landwirtschaft oder die verarbei-tende Industrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen fuumlr Aumlcker und Fabriken sondern vor allem gut ausgebildete mobile Men-schen und hochgeruumlstete Laboratorien Im Ge-gensatz zur ersten industriellen Revolution wo die Fabriken mit ihren rauchenden Kaminen am Stadtrand hochgezogen wurden kehren die Tech-nologiefirmen in die Zentren zuruumlck Amazon hat sich an seinem Hauptstandort Seattle mit zahlrei-chen Ausbauten ndash darunter die neue Firmenzent-

28 httpswwwnzzchzuerichgoogle-in-zuerich-innovationen-made-in-zurich-ld140285

29 httpswwwtheatlanticcomtechnologyarchive201709the-great-thing-about-apple-christening-their-stores-town-squares539667

rale laquoThe Spheresraquo mit drei gewaumlchshausaumlhnlichen Glaskuppeln ndash zu einer Stadt in der Stadt verdich-tet Und Apple nennt seine ikonischen Apple Stores kuumlnftig laquoTown Squareraquo (Marktplatz) und unterstreicht damit den urbanen Charakter seiner Laumlden29 Gleichzeitig findet eine Ruumlckkehr zur Company Town statt wie man sie aus der An-fangszeit der Industrialisierung kennt Der Schuh-lieferant Zappos liess mitten in Las Vegas fuumlr 350 Millionen Dollar ein eigenes Staumldtchen mit einem Unterhaltungskomplex und einem Hotel bauen Facebook enthuumlllte juumlngst Plaumlne fuumlr den Bau des neuen Willow Campus In dieser hippen hoch technisierten Idylle pendeln die Mitarbeiter zwi-schen veganen Cafeacutes und Co-Working-Spaces ndash und kontrollieren einander im Rahmen einer Art Nachbarschaftshilfe gegenseitig Aumlhnliche Sied-lungen liess einst der deutsche Industrielle Alfred Krupp in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Fa-briken bauen

In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz

mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne

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DATENSTAU

DATENHIGHWAY

Smart City500GB

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17

Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

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Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

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Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21

der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23

die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

FUTURE PUBLIC SPACE26

40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 27

FUTURE PUBLIC SPACE28

Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 29

41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

FUTURE PUBLIC SPACE30

laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 31

Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 33

strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

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Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 17: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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schaftlicher Sicht jedoch sind diese Kategorien noch nicht uumlberwunden im Gegenteil Zu starr sind die unterschiedlichen Einstellungen Werte und Lebensstile der staumldtischen und der laumlndli-chen Bevoumllkerung Dennoch ist klar dass oumlffentli-che Raumlume keine Grenzen kennen Die Schweiz ist ein einziges urbanes System inmitten eines einzi-gen urbanen Systems namens Welt In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne ndash etwa bei der Standortwahl fuumlr neue Forschungs- und Entwicklungszentren Im Ge-baumlude der ehemaligen Zuumlrcher Sihlpost hat Goog-le einen neuen Hub eroumlffnet Bis 2021 sollen in der Limmatstadt weitere 2000 Google-Mitarbeiter be-schaumlftigt werden28 ndash neben den 2000 laquoZooglernraquo aus 75 Nationen die schon heute auf dem Huumlrli-mann-Areal arbeiten Das beweist dass die Mitar-beiter des Unternehmens als laquoAnywheresraquo eine flexible transportable Identitaumlt besitzen

Anders als die Landwirtschaft oder die verarbei-tende Industrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen fuumlr Aumlcker und Fabriken sondern vor allem gut ausgebildete mobile Men-schen und hochgeruumlstete Laboratorien Im Ge-gensatz zur ersten industriellen Revolution wo die Fabriken mit ihren rauchenden Kaminen am Stadtrand hochgezogen wurden kehren die Tech-nologiefirmen in die Zentren zuruumlck Amazon hat sich an seinem Hauptstandort Seattle mit zahlrei-chen Ausbauten ndash darunter die neue Firmenzent-

28 httpswwwnzzchzuerichgoogle-in-zuerich-innovationen-made-in-zurich-ld140285

29 httpswwwtheatlanticcomtechnologyarchive201709the-great-thing-about-apple-christening-their-stores-town-squares539667

rale laquoThe Spheresraquo mit drei gewaumlchshausaumlhnlichen Glaskuppeln ndash zu einer Stadt in der Stadt verdich-tet Und Apple nennt seine ikonischen Apple Stores kuumlnftig laquoTown Squareraquo (Marktplatz) und unterstreicht damit den urbanen Charakter seiner Laumlden29 Gleichzeitig findet eine Ruumlckkehr zur Company Town statt wie man sie aus der An-fangszeit der Industrialisierung kennt Der Schuh-lieferant Zappos liess mitten in Las Vegas fuumlr 350 Millionen Dollar ein eigenes Staumldtchen mit einem Unterhaltungskomplex und einem Hotel bauen Facebook enthuumlllte juumlngst Plaumlne fuumlr den Bau des neuen Willow Campus In dieser hippen hoch technisierten Idylle pendeln die Mitarbeiter zwi-schen veganen Cafeacutes und Co-Working-Spaces ndash und kontrollieren einander im Rahmen einer Art Nachbarschaftshilfe gegenseitig Aumlhnliche Sied-lungen liess einst der deutsche Industrielle Alfred Krupp in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Fa-briken bauen

In diesem hochkompetitiven System konkurriert die Schweiz

mit anderen Staumldten um die Gunst internationaler Konzerne

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DATENSTAU

DATENHIGHWAY

Smart City500GB

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17

Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

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Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

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hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

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Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21

der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23

die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

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FUTURE PUBLIC SPACE28

Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 29

41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

FUTURE PUBLIC SPACE30

laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 31

Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

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Weiss nicht

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

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Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 18: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

FUTURE PUBLIC SPACE16

DATENSTAU

DATENHIGHWAY

Smart City500GB

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Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

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Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

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hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

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Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21

der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23

die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 31

Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

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Weiss nicht

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

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Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

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durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

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Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 19: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17

Strukturwandel beeinflusst die Nutzung und Verfuumlgbarkeit des

oumlffentlichen RaumsTHESE 1

Das Schrumpfen von Handelsflaumlchen und neue Mobilitaumltskonzepte fuumlhren zur Verlagerung von Flaumlchen

Neue Verfuumlgbarkeiten und Umnutzungen werden ausgehandelt

KLICK-OumlKONOMIE

laquoShopping is arguably the last remaining form of public activity Through a battery of increasingly predatory forms shopping has infiltrated colo-nized and even replaced almost every aspect of urban life Town centers suburbs streets and now airports train stations museums hospitals schools the Internet and the military are shaped by the mechanisms and spaces of shopping The voracity by which shopping pursues the public has in effect made it one of the principal ndash if only ndash modes by which we experience the city Perhaps the beginning of the 21st century will be remem-bered as the point where the urban could no lon-ger be understood without shoppingraquo30

Doch das Konsumverhalten hat sich in den ver-gangenen Jahren dramatisch veraumlndert Stoumlberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergefuumlhrten Haushaltswarenge-schaumlft nach Toumlpfen so wird heute immer haumlufiger im Internet bestellt Vorreiterin des Online-Han-dels ist die Plattform Amazon die von Jeff Bezos (laquoDer Allesverkaumluferraquo) laumlngst zu einem giganti-schen Warenlager ausstaffiert worden ist Der Kauf der gewuumlnschten Ware ist heute nur noch einen Mausklick entfernt Der Dash-Button ein kleines Plastikteil mit dem man bestimmte Wa-ren bei Amazon ohne Umweg uumlber einen Browser

oder eine App bestellen kann hat die Klick-Oumlko-nomie weiter perfektioniert Amazon laquoisstraquo die Welt Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon ndash Ten-denz steigend Auch in der Schweiz wird der On-line-Handel immer populaumlrer Das hat Auswirkungen auf den oumlffentlichen Raum der heute mitunter stark vom Handel gepraumlgt ist

Verwaiste Einkaufszentren mit demolierten Fens-tern und Fassaden finden sich in den USA inzwi-schen uumlberall In den kommenden Jahren wird vermutlich ein Viertel der rund 1300 verbliebenen Shopping Malls schliessen Der Niedergang des Einkaufszentrums hat verschiedene Implikatio-nen Mit der Schliessung der Konsumtempel faumlllt auch die soziale Funktion dieser Strukturen weg Insbesondere in den Vororten waren die Malls traditionell immer auch ein vitaler Versamm-lungsort Gleichzeitig koumlnnte oumlffentlicher Raum zuruumlckgewonnen werden indem Einkaufszentren zu Kirchen oder Schulen umfunktioniert werden ndash was heute schon geschieht

Als Folge des Strukturwandels zieht sich der Han-del mit seiner physischen Praumlsenz immer mehr aus den Innenstaumldten zuruumlck Der laquoAmazon-Ef-fektraquo hat in den USA zu zahlreichen Filialschlie-ssungen von Detailhandelsketten wie Macyrsquos JC Penney lululemon athletica Urban Outfitters oder American Eagle gefuumlhrt Der Bekleidungs-hersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store fuumlr Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen Kein Wunder berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der laquoGreat Retail Apocalypseraquo

30 Rem Koolhaas (2001) Project on the City II The Harvard Gui-de to Shoppingraquo

Fuumlnf Thesen zur Zukunft des oumlffentlichen Raums

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Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

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Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

0

20

40

60

80

100

hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

FUTURE PUBLIC SPACE20

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

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der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23

die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

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Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

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Weiss nicht

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 37

Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

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Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

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durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 20: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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Klar Amazon ist nicht allein verantwortlich fuumlr den Niedergang des Detailhandels dessen laquoSiechtumraquo schon lange vor dem Online-Shop-ping begann Der Klick-Konsum hinterlaumlsst moumlglicher weise weniger sichtbare Architektur in den Staumldten dafuumlr umso mehr in der Peripherie Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeu-tung gewinnen Je verdichteter wir in den urba-nen Zentren leben desto mehr wird die Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als Backend dient

Die Strukturen in den USA wo der Konsum waumlh-rend Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhaumlltnisse in der Schweiz uumlbertra-gen Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen Auch wenn sich die Tendenz im Flaumlchenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht hat ndash gesamtschweizerisch haben die Han-delsflaumlchen zwischen 1995 und 2015 um 2831 zu-genommen ndash der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Ruumlcklaumlufigen Umsaumltzen spuumlrbar Dem-gegenuumlber haben die Umsaumltze im Non-Food-Be-reich des Online-Handels in den letzten fuumlnf Jahren jaumlhrlich im zweistelligen Bereich zugenommen

Dass der Ruumlckgang des Handels in traditionellen Verkaufsgeschaumlften den Staumldten zu schaffen macht zeigt eine neue Initiative in Zuumlrich Die Studie laquoStadt der Zukunft ndash Handel im Wandelraquo skizziert in einem weiten Spektrum verschiedene Szenarien fuumlr die Stadt ndash von einer Renaissance des Tante-Emma-Ladens bis hin zur vollautoma-tisierten Logistik-Stadt32

Der Handel hat die umliegende Nutzung des oumlf-fentlichen Raums waumlhrend langer Zeit massgeb-

lich beeinflusst Der Marktplatz war das klassische Zentrum der (mittelalterlichen) Stadt Dieser Ort wo Haumlndler ihre Waren feilboten und Anbieter auf Kunden trafen steht bis heute fuumlr die Offenheit und Vielfalt des urbanen Systems Kaufleute und Handwerker gaben Quartieren ihr spezifisches Gepraumlge Noch heute kuumlnden Strassennamen (bei-spielsweise die Brauerstrasse oder die Baumlckerstra-sse in Zuumlrich) vom historischen Erbe Jane Jacobs schrieb in ihrem Klassiker laquoTod und Leben grosser amerikanischer Staumldteraquo dass die Ostkuumlstenmetro-pole Baltimore die einer europaumlischen Stadt recht nahe kommt Handel als Treffpunkt fuumlr die Be-wohner brauche laquoum dem Mangel an oumlffentli-chem Leben und der Monotonie des Wohnviertels zu begegnenraquo Die mit Haumlndlern gefuumlllte Strasse ist gewissermassen ein Korrektiv fuumlr den monoto-nen Alltag in den Mietwohnungen Das Konzept einer verkehrsberuhigten bzw verkehrsbefreiten Einkaufsmeile ist indessen noch nicht alt Die erste Fussgaumlngerzone Europas die Lijnbaan in Rotter-dam wurde 1953 eroumlffnet Im gleichen Jahr erfolg-te die Einweihung der Treppenstrasse in Kassel die mit 578 Stufen bewusst so angelegt wurde dass sich das Schritttempo verlangsamt und die Pas-santen Zeit zum Verweilen und zum Betrachten der Schaufenster haben Der Konsumanreiz ist ge-wissermassen durch die Architektur vorgegeben Die Fussgaumlnger sollen stehen bleiben und shoppen Das italienische Design-Kollektiv Archizoom As-sociati entwarf 1969 mit der No-Stop-City das

31 Wuumlest amp Partner 201832 Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Stadt Zuumlrich Stadtent-

wicklung 2017

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Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

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Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

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der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

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die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

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Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

Sehr unwahrscheinlich

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Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

FUTURE PUBLIC SPACE36

Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 37

Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

0

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80

100

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

FUTURE PUBLIC SPACE38

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 39

laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

FUTURE PUBLIC SPACE46

Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

FUTURE PUBLIC SPACE48

Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 21: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Konzept einer hyperregulierten Gemeinde Hier wird jedes Detail ndash von der Temperatur bis zum Licht ndash genau wie in einem Supermarkt konstant kontrolliert

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funk-tion Weil die physische Verkaufsflaumlche an Rele-vanz verliert ist eine andere Nutzung des oumlffentlichen Raums gefordert Gemaumlss einer aktu-ellen Befragung erachten es mehr als 60 Prozent der Experten fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass die Innenstadt der Zukunft nur noch Aus-stellungs- und Erlebnisflaumlche ist ndash nicht aber Ein-kaufsflaumlche Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht er wird sich aber dramatisch veraumlndern und von der Logistik und der Lagerbe-wirtschaftung entkoppeln Carlo Ratti Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab geht davon aus dass wir beim Shopping eine Hybridi-sierung von physischem und virtuellem Raum er-leben werden Gemaumlss seiner Prognose werden

wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier Seife oder Milch zu kaufen Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen Ratti meint es reiche nicht aus dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel ndash und der entsprechenden Algorithmen ndash das naumlchste Pro-dukt empfiehlt Fuumlr ein einzigartiges Einkaufser-lebnis brauche es vielmehr Serendipitaumlt also das zufaumlllige Aufspuumlren bestimmter Gegenstaumlnde das Flanieren das Sich-treiben-Lassen und das Stouml-bern ndash etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitaumltengeschaumlft

Der Detailhaumlndler Redevco hat 2015 in Bordeaux eine alte Druckerei der Regionalzeitung laquoSud Ou-estraquo in eine Einkaufspassage verwandelt Die Pro-menade Saint-Catherine beherbergt unter anderem Shops von Lego Esprit und CampA und erinnert mit ihren baumbestandenen Plaumltzen stark an eine klassische Einkaufsmeile Der einzi-ge Unterschied besteht darin dass der Raum pri-vat ist und die zentrale Plaza als Showroom dient Das Prinzip der Shopping Mall wird also gewis-

Quelle GDI 2017

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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hellip die Innenstadt der Zukunft nur

noch Ausstellungs- und Erlebnisflaumlche nicht aber Einkaufs-

flaumlche ist

hellip sich in der Innenstadt weniger Menschen aufhalten und dadurch der Auf-

wand fuumlr Massnahmen zur Belebung steigt

hellip es in Zukunft in den Innenstaumldten mehr oumlffentlichen Raum

gibt

Die physische Verkaufsflaumlche verliert an Relevanz Fuumlr den oumlffentlichen Raum bedeutet dies dasshellip

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Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

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der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

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die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 27

FUTURE PUBLIC SPACE28

Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 29

41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

FUTURE PUBLIC SPACE30

laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 31

Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

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Weiss nicht

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

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Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 22: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

FUTURE PUBLIC SPACE20

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

sermassen nach aussen gekehrt Ein klassischer Fall dieses laquoPretend Publicraquo bei dem ein privater Anbieter Oumlffentlichkeit simuliert ist auch das Do-rotheen-Quartier in Stuttgart eine Ausgliederung des Kaufhauses Breuninger

Durch eine Verschiebung von einer passiven Kon-sumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Er-lebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung Schnellrestaurants wie Doumlnerlaumlden Pizzaketten oder Starbucks-Fili-alen schiessen in den Innenstaumldten wie Pilze aus dem Boden Es gibt immer mehr Moumlglichkeiten zur Interaktion und Essen ndash auch bei der Fast-food-Kette ndash wird wieder als durch und durch so-ziale Aktivitaumlt wahrgenommen Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstaumldten aus was die Nut-zung des umliegenden oumlffentlichen Raums neu definiert Erlebnis und Genuss stehen mit zuneh-mendem Alter an houmlherer Stelle als materieller Konsum Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten33

Gestiegene Mobilitaumlt und die Bereitschaft zu pen-deln fuumlhren dazu dass wir uns immer mehr laquoon the goraquo verpflegen ndash vor allem im oumlffentlichen Raum Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszu-wachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des oumlffentlichen Raums fuumlhren Schliesslich sind herkoumlmmliche Fussgaumlngerzonen in denen tagsuumlber Tausende von Menschen flanie-ren nach Ladenschluss oft wie ausgestorben

Es gab in der Vergangenheit immer wieder erfolg-reiche und weniger erfolgreiche Versuche den oumlf-fentlichen Raum aufzuwerten So wurde in Bruumlssel der Boulevard Anspach zeitweise in eine Fussgaumln-gerzone umgewandelt Wo sich einst Autos stauten konnten Fussgaumlnger zwischen Tischtennistischen und Boules-Bahnen flanieren Leider entwickelte sich die neue Fussgaumlngerzone rasch zu einem Treff-punkt fuumlr Kleinkriminelle Nach heftiger Kritik

Nutzung des oumlffentlicher Raums

Stellen Sie sich vor der Platzbedarf beispielsweise fuumlr den Verkehr in der Stadt nimmt ab Wozu wuumlrde der frei werdende Platz in Zukunft umgenutzt Zu mehrhellip

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33 Der naumlchste Luxus GDI 2014

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der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23

die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

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Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 33

strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

FUTURE PUBLIC SPACE34

Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

FUTURE PUBLIC SPACE36

Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 37

Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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GDI Gottlieb Duttweiler Institute 39

laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 23: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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der Anwohner wegen gewaltsamer Uumlbergriffe und Umsatzeinbussen im Detailhandel entschied sich die Stadtverwaltung fuumlr eine Hybridloumlsung Nun teilen sich Autofahrer und Fussgaumlnger den oumlffentli-chen Raum auf dem Boulevard Anspach Das Bei-spiel zeigt dass eine Begehbarmachung auch zu einer innerstaumldtischen Ghettoisierung fuumlhren kann Die zeitliche Nutzung ist ein zentraler As-pekt des oumlffentlichen Raums Die Benutzung und somit die Frage nach dem damit einhergehenden Potential fuumlr Interaktion differiert zu unterschied-lichen Tages- und Jahreszeiten Dies spricht gegen zu einseitige Nutzungskonzepte und fuumlr eine Durchmischung von Nutzungen die die Interakti-on uumlber den Tag verteilt

MEHR RAUM DURCH NEUE MOBILITAumlTSKONZEPTE

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel ge-winnen an Bedeutung und veraumlndern den Platz-anspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrraumlder als Autos Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge ndash verbunden mit dem Konzept des Sharing ndash duumlrfte den heute durch den Verkehr be-setzten oumlffentlichen Raum deutlich veraumlndern Mit dem autonomen Fahren ist die staumldtebauliche Hoffnung verbunden dass in den Innenstaumldten grosse Flaumlchen frei werden Wie gigantisch dieses Potenzial ist zeigt das Beispiel von Houston In der texanischen Grossstadt ndash sie soll als Extrem-beispiel dienen ndash sind 30 Prozent der Stadtflaumlche

von bis zu zwoumllfstoumlckigen Parkhaumlusern besetzt Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinander-gekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt um Pendler an ihre Arbeitsplaumltze zu brin-gen oder von dort abzuholen so werden Millionen von Hektaren Parkraum uumlberfluumlssig Roboter-fahrzeuge koumlnnen sich einfach wieder in den Ver-kehr einfaumldeln und auf den naumlchsten Passagier warten ndash oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren wo es mehr Platz gibt So koumlnnte oumlffentli-cher Raum zuruumlckgewonnen aber auch neuer Wohn- Gewerbe- und Buumlroraum sowie mehr Platz fuumlr Fussgaumlnger geschaffen werden Entspre-chende Nutzungskonzepte bestehen bereits Das amerikanische Architekturbuumlro Gensler hat einen Entwurf praumlsentiert wie sich eine Parkstruktur in einen Buumlrokomplex umfunktionieren laumlsst

Entscheidend wird die Frage sein ob sich das Sha-ring-Modell wirklich durchsetzt Natuumlrlich weiss jeder informierte Mensch wie uneffektiv die Nut-zung eines Automobils ist Es wird in der Regel waumlhrend 23 Stunden pro Tag nicht verwendet und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen Autobahnen Parkplaumltze) ist irrational hoch Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip das den liberalen Gedanken gepraumlgt hat Wollen die Menschen wirklich auf ihren Be-sitz verzichten Gleichzeitig muss man auch be-denken dass mit autonomen Fahrzeugen ploumltzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen koumlnnen ndash auch Hochbetagte Kinder und all jene Men-

Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben desto mehr wird die

Stadt zu einem laquomatrixartigenraquo Frontend ndash waumlhrend das Land als

Backend dient

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

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die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

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sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

0

20

40

60

80

100

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 29

41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

FUTURE PUBLIC SPACE30

laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 31

Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

FUTURE PUBLIC SPACE32

Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

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Weiss nicht

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

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Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

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durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

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Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 24: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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schen die bisher keinen Fuumlhrerschein machen konnten oder wollten Vielleicht haben wir dann ploumltzlich ein voumlllig neues Platzproblem34

Oumlffentlich vs privat ndash verwischte Grenzen und neue Spielraumlume

THESE 2

Die Polaritaumlten von laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo loumlsen sich auf Waumlhrend die Grenzen immer mehr verwischen

gibt es neue Spielraumlume Als Folge davon entsteht eine privatisierte personalisierte und individualisierte

Oumlffentlichkeit

PRIVATISIERUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Der Berliner Architekturkritiker Guido Brend-gens der als Referent fuumlr Bauen Wohnen Stadt-entwicklung und Umwelt fuumlr die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sass stellte die These auf dass sich der oumlffentliche Raum schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo in einen laquoVerwertungs-raumraquo verwandle35 Als Beispiel nennt Brendgens das neue Berliner Stadtzentrum um den Potsda-mer Platz laquoeinen privatwirtschaftlich betriebenen Stadtraumraquo der den Namen der Investoren traumlgt Quartier Daimler Chrysler und Sony City Der klassische oumlffentliche Aktionsraum werde zuneh-mend abgeloumlst durch das Einkaufszentrum das als Ausgleich zu den Routinen des Alltags ein Ort des Zeitvertreibs der sozialen Kontakte und der berechenbaren Kontinuitaumlt sei Eine Weiterent-wicklung der Shopping Mall sei das Urban Enter-tainment Center wie der 1996 in New York eroumlffnete Flagship-Store Niketown wo Unterhal-tungszonen als Plaumltze Promenaden und Maumlrkte choreographiert werden und die Ware Turnschuh zum Kunstwerk aumlsthetisiert wird In diesem pseu-dooumlffentlichen Privatraum werde Oumlffentlichkeit nur noch simuliert und die Wahrnehmung werde

getaumluscht Das Zugaumlnglichkeitskriterium von oumlf-fentlichem und privatem Raum wuumlrde auch an-dernorts verwischt Der Granary Square in London der mit seinen Fontaumlnen und begruumlnten Flaumlchen einer Plaza nachempfunden ist und Besu-cher mit kostenlosem WLAN lockt sei ebenfalls kein oumlffentlicher sondern ein privatisierter scheinoumlffentlicher Raum Daran erinnert wuumlrden die Besucher an jedem Eingang wo ein Schild zur Ruumlcksicht mahnt laquoPlease enjoy this private estate consideratelyraquo

Auf der anderen Seite so Brendgens erlebten Bahnhoumlfe die lange ein Schmuddel-Image hatten und als Tummelplatz fuumlr Kleinkriminelle galten ein staumldtebauliches Revival Noch nie seit Erfin-dung der Eisenbahn sei so viel Geld in Bahnhoumlfe investiert worden Bahnhoumlfe sind allen Menschen zugaumlnglich die Billetts sind erschwinglich und man kann ohne Probleme auf einen Zug aufsprin-gen In S-Bahnen begegnen sich Menschen unter-schiedlichster Herkunft der Bettler trifft auf den Banker der laquoSomewhereraquo auf den laquoAnywhereraquo Der Architekt Aaron Betsky der Leiter des Cin-cinnati Art Museum war und 2008 die Architek-turbiennale in Venedig kuratierte schreibt in einem Beitrag fuumlr das Online-Magazin laquoDezeenraquo das Zeitalter der Flughaumlfen sei vorbei ndash Bahnhoumlfe seien der neue Ort der Vernetzung Im Gegensatz zu Flughaumlfen koumlnnten Bahnstationen zu Ver-sammlungspunkten und laquoKatalysatoren fuumlr die urbane Transformationraquo werden Bahnhoumlfe seien im Gegensatz zu Flughaumlfen noch keine abgeriegel-ten Systeme sondern durchlaumlssige Membranen

34 David Bosshart in httpforbesatmobiles-morgen35 Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit

in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 (De-zember 2005) S 1088-1097

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die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

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Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

Sehr unwahrscheinlich

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Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

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Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

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Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

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die jeden Tag Millionen Pendler anspuumllten und mit dem freien Fluss von Personen und Waren den Wesenskern des Urbanen konstituierten

Da Flughaumlfen heute nichts anderes sind als Shop-ping Malls mit angedockten Terminals erstaunt auch die Vision von Michael OrsquoLeary nicht son-derlich Der CEO des Billigfliegers Ryanair will Fliegen zu einem Konsumerlebnis machen Genau wie in einem Einkaufszentrum soll man keinen Eintritt bezahlen muumlssen Einnahmen werden ausschliesslich uumlber den Verkauf von Waren gene-riert36 Billigfluumlge in Europa sind schon heute oft guumlnstiger als ein OumlV-Ticket von Bern nach Zuumlrich Fuumlr 20 Franken kann man in viele Metropolen fliegen und mit seinen Freunden ein Party-Wo-chenende verbringen Die Billig-Airline Euro-wings bewirbt ihr Streckennetz mit dem Slogan laquoDie weite Welt fuumlr schmales Geldraquo waumlhrend Ea-syjet hart an der Grenze zur politischen Korrekt-heit plakatiert laquoInlaumlnder raus Europaweit fliegen ab Berlinraquo Sinkende Transportkosten erhoumlhen die Mobilitaumlt was vielerorts bereits zu Nutzungs-konflikten fuumlhrt In Barcelona Florenz oder Ve-nedig regt sich seit geraumer Zeit Widerstand gegen den Massentourismus Muumlll Laumlrm und stei-gende Mieten machen den Anwohnern zu schaf-fen Die Vermietung von Privatwohnungen auf Internetplattformen wie Airbnb hat die Segmen-tierung des (oumlffentlichen) Raums in diesen Staumldten weiter verstaumlrkt Als Reaktion auf die Uumlberlastung der Stadt durch die zahlreichen Touristen ziehen

Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Zentrum der Stadt Zudem werden Zulassungsbeschraumln-kungen fuumlr Touristen diskutiert was die Stadt zum Museum macht fuumlr dieses es anzustehen gilt und Eintritt bezahlt werden muss37

Bei der ndash vor allem im angelsaumlchsischen Raum lei-denschaftlich gefuumlhrten ndash Diskussion um die Pri-vatisierung des oumlffentlichen Raums geht oft vergessen dass nicht nur das laquoOumlffentlicheraquo neu definiert wird sondern auch das laquoPrivateraquo Zu er-waumlhnen waumlren in diesem Zusammenhang der Trend zu eingezaumlunten und bewachten Wohn-quartieren (Gated Communities) oder zu Ein-kaufs- und Unterhaltungskomplexen in denen Privatpolizisten Privatgesetze und private Haus-ordnungen das oumlffentliche Leben regulieren ndash sehr zum Missfallen von Sprayern Bettlern Strassen-musikanten und Hundehaltern38

36 laquoIch habe die Vision dass in den naumlchsten fuumlnf bis zehn Jahren die Fluumlge bei Ryanair umsonst sindraquo httpswwwtheguardiancombusiness2016nov22ryanair-flights-free-michael-olea-ry-airports

37 httpwwwsueddeutschedereisevenedig-f luch-und-se-gen-12493003

38 httpswwwweltdekulturarticle108474387Rettet-die-Pri-vatsphaere-vor-dem-oeffentlichen-Raumhtml

Immer mehr ehemals private Aktivitaumlten werden in den

oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen

Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

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sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

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Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

FUTURE PUBLIC SPACE36

Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 37

Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

0

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80

100

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

FUTURE PUBLIC SPACE38

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 39

laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

FUTURE PUBLIC SPACE46

Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 26: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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39 httpswwwyoutubecomwatchv=YJg02ivYzSs

Der in London lebende Kuumlnstler Christopher Ku-lendran Thomas schuf 2016 fuumlr die Berlin Bienna-le ein postkapitalistisches und postnationalistisches Wohnmodell das stilbildend fuumlr die Zukunft sein koumlnnte laquoNew Eelamraquo wie die Installation heisst ist eine Erlebnissuite die verschiedene disparate Wohnmodule und Interieurs versammelt Ziel ist es ein flexibles Abo-Modell fuumlr Wohnungen zu schaffen das auf gemeinschaftlichem Eigentum gruumlndet ndash eine Art Netflix fuumlrs Wohnen Anstelle der Monatsmiete soll ein Flat-Rate-Modell (Glo-bal Roaming) dem Nutzer unbegrenzten Zugriff auf vernetzte Apartments geben Die eigenen vier Waumlnde gibt es nicht mehr Die Wohnung wird zu einer Plattform die man ndash wie das Smartphone ndash mit personalisierten Inhalten bespielt (Buumlcher Filme und Musik in digitaler Form)

PERSONALISIERTE OumlFFENTLICHKEIT

Diese Privatisierung von einst oumlffentlichem Raum durch Unternehmen und Marken ist nicht der einzige Grund warum sich die Grenzen zwischen laquooumlffentlichraquo und laquoprivatraquo verwischen Digitale Entwicklungen rund um Dienste wie Virtual Rea-lity oder Augmented Reality koumlnnen dazu beitra-gen dass der oumlffentliche Raum kuumlnftig verstaumlrkt personalisiert wahrgenommen wird Der oumlffentli-che Raum wird durch den digitalen Raum nicht ersetzt sondern ergaumlnzt und erweitert Dies hat sich auch in der Expertenbefragung gezeigt So schreibt ein Teilnehmer laquoDer Mensch als biologi-sches Wesen kann seine sozialen und physischen Beduumlrfnisse nur sehr bedingt in der virtuellen Welt kompensieren Essentielle Erlebnisse ndash ein Sonnenbad auf der Parkbank ein Schwatz im Stadtcafeacute das Bad im See Einkaufen auf dem Markt Joggen im Stadtpark etc ndash sind m E vir-tuell nicht kompensierbarraquo Die zunehmende Do-minanz der laquoFilter Bubbleraquo koumlnne das Beduumlrfnis nach Begegnungen und Erlebnissen sogar noch bewusster machen und verstaumlrken Ein weiterer

Experte wirft ein dass der virtuelle Raum den oumlf-fentlichen Raum nicht ersetzen sondern nur er-weitern koumlnne Dies allein schon deshalb weil das physikalische Erlebnis ndash Bewegung Luft das hap-tische Erlebnis Dinge anzufassen ndash konstitutiv fuumlr die Definition des oumlffentlichen Raums sei Vir-tueller Raum sei daher kein Ersatz fuumlr den oumlffent-lichen Raum In dieser Aussage steckt die implizite Annahme dass der virtuelle Raum zwangslaumlufig privat sein wird Es gibt jedoch Be-ruumlhrungspunkte die den oumlffentlichen Raum schon heute mit dem virtuellen verschraumlnken und diesen anreichern

Google hat auf seiner Entwicklerkonferenz IO den neuen Dienst laquoLensraquo vorgestellt Dabei han-delt es sich um eine visuelle Suchmaschine die Objekte im Suchfeld nicht nur besser erkennt sondern dem Nutzer auch dazu passende Hand-lungen vorschlaumlgt Wer seine Kamera vor eine Blume haumllt erhaumllt nicht nur Art und Gattung an-gezeigt sondern kann sich auch gleich zum naumlchstgelegenen Floristen lotsen lassen Wer ein Foto von einem Konzertplakat macht kann mit dem Google-Assistenten gleich die gewuumlnschten Tickets buchen Und wer die Handykamera in Si-ena auf die Piazza del Campo haumllt wird in einer kuumlnstlich angereicherten Realitaumlt die Speisekarten der umliegenden Restaurants sehen Der Video-Kuumlnstler Keiichi Matsuda hat in seinem Kurzfilm laquoHyperrealityraquo39 in Extremform inszeniert wie eine solche laquoMixed Realityraquo im oumlffentlichen Raum aussehen kann Obwohl solche Szenarien in naher Zukunft wohl nicht Realitaumlt werden lassen sich daraus Entwicklungstendenzen ableiten Durch die Digitalisierung werden virtuelle und physi-

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sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

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In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

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Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 33

strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

FUTURE PUBLIC SPACE34

Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

FUTURE PUBLIC SPACE36

Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 37

Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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GDI Gottlieb Duttweiler Institute 39

laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

FUTURE PUBLIC SPACE46

Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 47

GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

FUTURE PUBLIC SPACE48

Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

FUTURE PUBLIC SPACE50

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 27: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

sche Raumlume kuumlnftig wie Schichten uumlbereinander-liegen Auch deshalb muss die Trennung zwischen oumlffentlichem und privatem Raum neu definiert werden Durch die Digitalisierung entsteht eine Art personalisierte Oumlffentlichkeit Weil Zugaumlnge unsichtbar reguliert werden koumlnnen wir uns ver-meintlich laquofreierraquo durch die Stadt bewegen Ana-log der Freilandtierhaltung werden wir zu laquoFreilandmenschenraquo Google Maps lotst uns auf dem Weg zu einer Sehenswuumlrdigkeit an einer Starbucks-Filiale vorbei weil die mit dem Kar-tendienst verbundene Suchmaschine aus unseren Anfragen unsere Praumlferenzen destilliert und die-se mit dem aktuellen Ort synchronisiert Die glei-che Applikation nutzt unsere psychologischen Schwaumlchen aus und fuumlhrt uns in ein Gebiet mit hoher Restaurant- und Bardichte Projiziert nun Google Maps einen neuen halboumlffentlichen bzw halbprivaten Raum Kreiert die Applikation ei-nen Digital Layer uumlber dem physischen urbanen Raum Und damit einen virtuellen Raum der ganz anders definiert ist weil er Geschaumlfte viel staumlrker akzentuiert Das laumlsst sich zurzeit ebenso

wenig beantworten wie die Frage ob man als Nutzer uumlberhaupt noch selbst navigiert ndash oder ob man schon navigiert wird

Vielleicht muss der Antagonismus bzw das Kon-tinuum oumlffentlichprivat kuumlnftig um die Kategori-en laquoanalograquo und laquodigitalraquo erweitert werden Im Internet gibt es ndash analog zur Shopping Mall ndash be-reits zahlreiche privatisierte laquoOumlffentlichkeitenraquo wie Facebook oder Twitter wo das Hausrecht vor das Grundrecht gestellt wird Kuumlnftig werden wir es mit hybriden Erscheinungsformen und vielge-staltiger Nutzung des oumlffentlichen Raums zu tun haben die diesbezuumlglichen Konzepte und Katego-rien werden zunehmend fluide

Abbildung Auszug aus der Expertenbefragung Quelle GDI 2017

(Ir)relevanz physischer Raumlume

0

20

40

60

80

100

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume als materielle Orte irrelevant sein weil sich die Menschen in der virtuellen Welt

begegnen

In Zukunft werden oumlffentliche Raumlume mit digitalen Ruhezonen ausgestattet sein wo man bewusst offline

sein kann

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

FUTURE PUBLIC SPACE26

40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

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FUTURE PUBLIC SPACE28

Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

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Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

FUTURE PUBLIC SPACE32

Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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100

hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

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Sehr wahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

FUTURE PUBLIC SPACE36

Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 37

Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

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Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

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durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 45

Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 47

GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 28: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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40 Zukunftsinstitut Die Zukunft des Wohnens

INDIVIDUALISIERTER OumlFFENTLICHER RAUM

laquoEs wird immer mehr mobil ausfuumlhrt Das kann auch zu Hause sein Man braucht einfach weniger Platz dafuumlrraquo

D OUGL AS C OUPL AND SCHRIFT STELLER UND BILDENDER KUumlNSTLER

Die klassische raumlumliche Trennung der Funktio-nen Wohnen Freizeit Arbeit und Verkehr ndash eine zentrale Forderung von Le Corbusier die zur funktionalen Stadtgliederung fuumlhrte ndash wird zu-nehmend unschaumlrfer Auch die Separation von Wohnen Einkaufen und Verkehr die bei Stadt-planern in der Nachkriegszeit houmlchste Prioritaumlt hatte loumlst sich allmaumlhlich auf Verkehrsknoten-punkte wie Bahnhoumlfe sind laumlngst zu Shopping Malls geworden Konsumtempel sind in Wohn-tuumlrme integriert und autonome Fahrzeuge wer-den wohl schon bald zum neuen Wohnzimmer in dem man personalisierte Unterhaltung geniesst Oumlffentliche Plaumltze sind mit Sitz- und Liegegele-genheiten ausgestattet als waumlren es Wohnzimmer Industriebrachen werden zu Co-Working-Spaces umfunktioniert und Arbeitsstaumltten sind schon heute oft mit Bibliotheken Fitnesscentern und Unterhaltungsmoumlglichkeiten aller Art ausgestat-tet Immer mehr Verhaltensweisen und Normen aus dem privaten Kontext werden auf den oumlffentli-chen Raum uumlbertragen Man isst in Einkaufspassa-gen fuumlhrt private Telefongespraumlche in Zugabteilen oder kleidet sich so als waumlre die Fussgaumlngerzone die eigene Terrasse Das ist eine direkte Folge der Tatsache dass immer weniger Aktivitaumlten in den eigenen vier Waumlnden stattfinden

Aumlndert sich das private Wohnen so aumlndern sich die Anspruumlche an den oumlffentlichen Raum Als Fol-ge der Individualisierung und der Singularisie-rung des Wohnens machen Einpersonenhaushalte heute bereits rund ein Drittel aller Haushaltsfor-men aus Gleichzeitig werden immer weniger Be-duumlrfnisse zu Hause gestillt In vielen Metropolen

muumlssen aus Platzmangel Mikroapartments er-richtet werden die wie Schuhkartons aufeinan-dergestapelt und mit platzsparenden Moumlbeln und funktionalen Einrichtungsgegenstaumlnden ausge-stattet sind Gemaumlss diesem Trend zum Microli-ving leben wir kuumlnftig laquonicht mehr in vollstaumlndig ausgestatteten Wohnungen sondern beschraumlnken den privaten Wohnraum nur auf das persoumlnlich Wichtigste und die taumlglich notwendigen Wohn-funktionenraquo40 Immer mehr ehemals private Akti-vitaumlten werden somit in den oumlffentlichen Raum verlagert was zu einer Koevolution zwischen Stadt Haus und Wohnung fuumlhrt Man kann den oumlffentlichen Raum nicht laumlnger ohne eine privati-sierte personalisierte und individualisierte Di-mension definieren

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 27

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

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Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

Sehr unwahrscheinlich

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Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Sehr wahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

FUTURE PUBLIC SPACE36

Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 37

Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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GDI Gottlieb Duttweiler Institute 39

laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 29: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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FUTURE PUBLIC SPACE28

Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

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Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

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Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

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Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

FUTURE PUBLIC SPACE36

Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 37

Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

FUTURE PUBLIC SPACE38

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 39

laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 30: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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Die Dynamik der Peripherie schafft Raum fuumlr Experimente

THESE 3

Agglomerationen werden dynamischer als die Kernstaumld-te da sie mehr Raum fuumlr Experimente und Innovatio-nen bieten Der oumlffentliche Raum der Kernstaumldte wird

immer mehr zum Repraumlsentationsraum

DURCHOumlKONOMISIERUNG DER INNENSTADT

Das Wohnen in der Stadt wird angesichts steigen-der Mietpreise fuumlr junge Menschen und Familien zunehmend unbezahlbar Gruppen die an das Angebot der Stadt gewoumlhnt sind aber dennoch abwandern muumlssen (Creative Class) werden die Raumlume der Agglomerationen besetzen und neu gestalten Damit geht auch ein Abfluss von Krea-tivkraumlften einher Innovationspotenzial und urba-ne Qualitaumlten verschieben sich mehr und mehr in die Agglomerationen Kernstaumldte geraten in eine Lock-in-Situation

Als Folge der Abwanderung ist es bereits zu einem Wandel der sozialraumlumlichen Typisierung gekom-men Waren Agglomerationen 1990 noch stark buumlrgerlich-traditionell orientiert so zeichneten sich diese Gemeinden zehn Jahre spaumlter bereits durch eine starke Individualisierung aus Die so-ziooumlkonomische Verschiebung in Stadtquartieren und Aussengemeinden duumlrfte sich seither noch deutlich akzentuiert haben In der Agglomeration hat auf der Lebensstilachse eine komplette Ver-schiebung stattgefunden Zu konstatieren ist eine Bewegung zu einem statushohen und individuali-sierten Lifestyle

Es ist zu beobachten wie die Staumldte in der westlichen Welt linker gruumlner ungleicher und gentrifizierter werden Statt dass man Fortschritt erwarten koumlnnte

bringt das in der Praxis eine wachsende Regulie-rungsdichte und Ruumlckwaumlrtsstabilisierung Jeder Er-ker aus der Vergangenheit wird geschuumltzt alte Baumbestaumlnde duumlrfen nicht geschlagen werden Lurche muumlssen geschuumltzt werden Fuumlchse sollen sich im urbanen Raum ausbreiten duumlrfen und oumlkologisch optimierbare Gebaumlude nicht veraumlndert werden

Da der Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentati-onsraum mit hohen Regulationsschranken wird fuumlhrt dies zu einer Verschiebung der Innovation in die Agglomeration wo die Regulationen in der Regel tiefer sind Diese Gemeinden wachsen und werden gleichzeitig interessanter weil das urbane Lebensgefuumlhl dorthin uumlbertragen wird ndash ein cha-otisches Nebeneinander von Gebaumluden Kulturen Altem und Neuem Die Peripherie die weniger herausgeputzt und mit Marketing uumlberzogen ist bietet mehr Gestaltungsraum fuumlr Spontaneitaumlt als die uumlberregulierten Staumldte mit streng formellen Nutzungskonzepten

Der hohe Mobilitaumltsgrad und die Vermischung bzw Angleichung der Lebensstile zwischen Staumld-tern und Agglomerationsbewohnern fuumlhren da-zu dass Lebensformen an verschiedenen Orten konvergieren Insbesondere die Mobilitaumlt hat zur Folge dass das Zugehoumlrigkeitsgefuumlhl zur Wohn-gemeinde bei Agglomerationsbewohnern heute kaum eine Rolle spielt und sich die Interessen im-mer mehr in Richtung Stadt verlagern

laquoWir haben festgestellt dass sich die Bewohner im neu bebauten Bern-Bruumlnnen eher mit der Kernstadt identifi-

zieren als sich im Quartier zu integrierenraquoBARBAR A STET TLER DIPL ARCHITEKTIN EPFL SIA

GESELLSCHAFT UND PL ANUNG SCHWEIZERISCHER INGENIEUR- UND ARCHITEKTENVEREIN SIA KONTOUR 01

Die weltenbuumlrgerlichen laquoAnywheresraquo mit ihrer transportablen Identitaumlt sind im Gegensatz zu den

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41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

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Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

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Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

FUTURE PUBLIC SPACE38

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 39

laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

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Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

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durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

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Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 31: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 29

41 David Goodhart (2017) The Road to Somewhere The Populist Revolt and the Future of Politics London

an ihr lokales Umfeld gebundenen laquoSomewheresraquo uumlberall zu Hause41 Die zunehmende Mobilitaumlt und die damit einhergehende Durchmischung etablierter soziokultureller Strukturen koumlnnten den Unterschied zwischen Staumldtern und Agglo-merationsbewohnern langfristig aufheben

Nicht nur uumlber die Lebensstile sondern auch in der Gestaltung der Raumlume wird sich die Grenze zwischen Stadt und umliegenden Agglomeratio-nen immer mehr aufheben Die Verschiebung des Innovationspotenzials eroumlffnet neuen Raum fuumlr innovatives Bauen und Gestalten Im Gegensatz zu fruumlher werden Agglomerationen kuumlnftig deshalb wohl nicht mehr am Reissbrett entworfen

URBANISIERUNG UND RURALISIERUNG

Eine Verschiebung der Dynamik ist aber auf bei-den Seiten festzustellen Waumlhrend die Agglome-rationen laquourbanerraquo werden erhaumllt die Stadt einen

zunehmend laumlndlicheren Charakter Massge-bend dafuumlr sind verschiedene Faktoren ndash bei-spielsweise das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten aber auch der Wunsch nach Mobilitaumlt und neuen Le-bensstilen in den Agglomerationen Agglomera-tionsraumlume werden zunehmend mit urbanen Qualitaumlten besetzt und zeichnen sich durch Zu-gaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt Interaktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus In der Peri-pherie werden Stadien Kinos und Einkaufszent-ren errichtet um den Beduumlrfnissen der neuen Bewohner gerecht zu werden

Oumlffentliche Nutzungszonen Stadt Bern

Quelle httpsmapbernchstadtplangrundplan=stadtplan_farbigampkoor=26002791199771ampzoom=2amphl=0amplayer=Nutzungszone

Zonen fuumlr oumlffentliche Nutzungen

FUTURE PUBLIC SPACE30

laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 31

Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

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Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

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Sehr wahrscheinlich

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

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Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

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Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 32: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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laquoJe synthetischer die Stadtzentren wirken desto staumlrker wird in den neuen Milieus der Grossstadt offenbar der Wunsch nach einer Aumlsthetik des Laumlndlich-Authentischenraquo42 In der Stadt werde nicht mehr das laquoModerne Anonyme Kalte Offe-neraquo gesucht sondern das Idyll das draussen in der Vorstadt und auf dem Land bedroht oder bereits zerstoumlrt ist Diese Sehnsucht manifestiert sich un-ter anderem in rustikalen Restaurants die so ein-gerichtet sind als befaumlnde man sich irgendwo in einem Dorf in der Toskana oder im Tirol mit holzgetaumlfeltem Interieur karierten Tischdecken und terrakottafarbenen Waumlnden Bedienungen in Holzfaumlllerhemden servieren Deftiges und oumlkolo-gisch Nachhaltiges das Ambiente wirkt rural und rustikal Wildblumen Kraumluternischen und Ur-ban-Gardening-Beete vermitteln nicht nur op-tisch eine neue laquoLaumlndlichkeitraquo Fruumlher verliess man die Stadt um draussen das zu haben was es drinnen nicht gab Heute will man Stadt und Land an einem Ort haben

Diese Sehnsucht nach laquoLaumlndlichkeitraquo kommt nicht nur in den Innenraumlumen zum Ausdruck In der Stadt Bern sollen 2018 fuumlr 300000 Franken 15 neue Begegnungszonen realisiert werden Auf 111 Quartierstrassen gilt in der Hauptstadt mittler-weile Tempo 20 und Vortritt fuumlr Kinder und Ve-lofahrer In keiner anderen Schweizer Stadt gibt es so viele Begegnungszonen43 Die Schweizer Staumldter begruumlssen diese Politik und waumlhlen im-mer mehr das Programm der Rot-Gruumlnen Regie-rungen ihrer Staumldte Die laquoRural-Bohegravemeraquo strebt ein bioregionalistisches Ideal an Jede Gebietsein-heit versorgt sich autark Autos sind verschwun-den die Industrieproduktion ist oumlkologisch nachhaltig Marihuana legal die Ehen monogam - ausser im Urlaub44 Das doumlrfliches Idyll wird mit der Infrastruktur und dem Angebot einer Stadt verbunden

Auch Google transportiert mit seinem neuen Hauptquartier in Zuumlrich die laumlndliche Idylle in die Stadt indem das Unternehmen Raumlumlichkeiten mit Alpmotiven Seilbahngondeln und schweren Moumlbeln bis an den Rand des Kitschs ausstaffiert45 Jeder Raum ist wie ein naturalistischer Themen-park ausgestaltet Birken fungieren als Raumtren-ner Iglus als Ruumlckzugsorte Abstrakt formuliert Das Urbane wird rural Die laquoZooglerraquo sollen co-dieren und nebenbei den Puck spielen lautet das Motto Das Arbeitsumfeld verschwimmt in einem Natur- und Freizeitpark

Wie im 19 Jahrhundert wird die Stadt wieder zu einem Ort der Repraumlsentation der Reichen der Conspicuous Consumption der Prestigebauten von Stararchitekten und klinischen Denkmal-schuumltzern Beispiele dafuumlr sind Wien Paris Lon-don Berlin im Ansatz auch Zuumlrich ndash sowie die vielen laquoMarketingstaumldteraquo wie Dubai oder Singa-pur Man wohnt nicht mehr im Zentrum sondern stellt die Innenstadt zur Schau Die Erwartungs-haltung ist Convenience und Freizeit und nicht selten wird die Innenstadt zu einer Art Freilicht-museum

Bewohner in den Agglomerationen wollen und brauchen das gleiche Serviceangebot wie die Be-wohner der Stadt und koumlnnen deshalb als Treiber verstanden werden Ihre Beduumlrfnisse an den Raum tragen dazu bei dass sich der Agglomerati-onsraum dem Stadtraum angleicht

42 Niklas Maak laquoWohnkomplex Warum wir andere Haumluser brau-chenraquo

43 httpsmbernerzeitungcharticles5aa2044eab5c376a0c00000144 Ernest Callenbach (1975) Ecotopia 45 httpswwwe-architectcoukswitzerlandgoogle-offices-zurich

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Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 37

Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

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Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

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durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 33: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 31

Das Spannungsfeld Freiheit vs Sicherheit wird entscheidend

THESE 4

Eine neue unsichtbare und dezentrale digitale Infra-struktur breitet sich uumlber den oumlffentlichen Raum aus Als Folge davon wird das Spannungsfeld Freiheit vs

Sicherheit noch entscheidender

DIE STADT ALS STREAM

laquoDie Uumlberwachung ist so unmerklich in unseren digita-len Alltag eingebettet dass wir die Mittel als Konsum-artikel wahrnehmen und sie uns nur dort erscheinen

dass der Prozess der Uumlberwachung der Normierung der Steuerung entweder nicht auffaumlllt oder die dahinterste-

henden Herrschaftsverhaumlltnisse egal werdenraquo NILS ZUR AWSKI SOZIOLO GE

Wie schaffen wir es eine hohe Sicherheit und Be-quemlichkeit zu haben ohne Freiheitseinbussen in Kauf zu nehmen In der Schweiz werden im oumlf-fentlichen Raum immer mehr Uumlberwachungska-meras installiert ndash wenn auch in kleinerem Massstab als im internationalen Vergleich In Zuuml-rich gehoumlrt die Videoaufzeichnung an Bushalte-stellen in Trams rund um Schulhaumluser vor Polizeistationen in Unterfuumlhrungen und Tiefga-ragen laumlngst zum Alltag Allein die staumldtischen Behoumlrden betreiben mehr als 2000 Uumlberwa-chungskameras Die Zuumlrcher Stadtpolizei hat in einem Pilotversuch Bodycams getestet um ge-walttaumltige Uumlbergriffe praumlventiv zu verhindern und

das Verhalten der Beteiligten zu dokumentieren In Grossbritannien sind heute nach Schaumltzungen zwischen 200000 und 400000 Uumlberwachungska-meras im Einsatz Weil neben der Polizei auch viele Private als Uumlberwacher fungieren muumlsse man statt von Big Brother eher von einer Vielzahl von Little Brothers sprechen In China geht die Uumlberwachung des oumlffentlichen Raums noch einen Schritt weiter Dort werden in zahlreichen Staumldten wie Fuzhou Gesichtserkennungssysteme instal-liert um Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren und Kriminelle zu identifizieren Verkehrssuumlnder werden auf einem Bildschirm unter den Augen al-ler an den Pranger gestellt Das ist schon ganz nah beim Szenario von Gary Shteyngarts dystopi-schem Roman laquoSuper Sad True Love Storyraquo wo Cholesterinspiegel Kreditwuumlrdigkeit und Le-benserwartung der Passanten in den Strassen auf Displays angezeigt werden Analysten von IHS Markit schaumltzen dass heute in China im oumlffentli-chen und privaten Raum 176 Millionen Uumlberwa-chungskameras in Betrieb sind Bis 2020 sollen es 450 Millionen sein ndash dann kommt auf jeden drit-ten Buumlrger eine Kamera

Zunehmend ist es auch der Mensch der sich selbst uumlberwacht bzw uumlberwachen laumlsst Ein stark wachsender Anteil dieser Uumlberwachung ist un-sichtbar und systematisch eingebaut in unsere laquosmartenraquo Lotsen

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwi-schen Kontrollierbarkeit (im Sinne

von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust

von Freiheit) auf der anderen Seite

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Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

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Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 37

Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

FUTURE PUBLIC SPACE38

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 39

laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 45

Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

FUTURE PUBLIC SPACE46

Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

FUTURE PUBLIC SPACE50

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 34: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

FUTURE PUBLIC SPACE32

Die Tendenz eines zunehmend uumlberwachten oumlf-fentlichen Raums zeigt sich auch in der Experten-befragung 95 Prozent der Befragten halten es fuumlr eher oder sehr wahrscheinlich dass der oumlffentli-che Raum durch gesellschaftliche Veraumlnderungen staumlrker uumlberwacht und reguliert wird Eine Total-uumlberwachung des oumlffentlichen Raums infolge der Digitalisierung und Beschleunigung halten uumlber drei Viertel (77 Prozent) der Befragten fuumlr ein eher wahrscheinliches oder sehr wahrscheinliches Szenario nur ein Fuumlnftel erachtet dies fuumlr eher unwahrscheinlich

Die in Grossbritannien bereits uumlbliche Videouumlber-wachung durch Private fuumlhrt dazu dass Privat-personen und Unternehmen Kontrolle uumlber den oumlffentlichen Raum ausuumlben ndash und sich die Pole Freiheit vs Sicherheit bzw oumlffentlich vs privat verschraumlnken Die Frage ist ob ein uumlberwachter oder totaluumlberwachter oumlffentlicher Raum noch oumlf-fentlich sein kann Vielleicht traut man sich ja moumlglicherweise nicht mehr an einer Demonstra-tion teilzunehmen weil man Angst hat auf Ka-

meras erkannt zu werden Uumlberwachung wirkt sich in jedem Fall auf das Verhalten der Buumlrger aus Man verhaumllt sich anders wenn man weiss dass man uumlberwacht wird

Der Geograf Simone Tulumello spricht von laquoFear-scapesraquo von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht Einerseits erhoumlhe die Praumlsenz von technologischer Uumlberwachung die Wahrneh-mung von Unsicherheit Videokameras suggerie-ren dass Gefahr besteht Auf der anderen Seite fuumlhlen sich Buumlrger unsicher wenn keine Kameras vorhanden sind Gemaumlss dieser Logik muumlssen im-mer mehr Videokameras installiert werden die aber das Gefuumlhl der Unsicherheit verstaumlrken Es ist ein Teufelskreis

Unter dem Eindruck der Terrorgefahr werden Staumldte zunehmend zu Festungen aufgeruumlstet ndash mit Pollern Absperrgittern und Sicherheitskontrollen wie an Flughaumlfen Angesichts der Terrorgefahr entsteht ein neuer militarisierter Urbanismus Die Konstruktion von Sicherheitszonen um Finanzdi-

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Gesellschaftliche Veraumlnderungen fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raumhellip

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hellipweniger sicher sein wird

hellip staumlrker uumlberwacht und reguliert wird

hellipAustragungsort fuumlr Konflikte sein wird

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Sehr wahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

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Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

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Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 45

Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 35: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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strikte oder Diplomatenviertel importiert die Techniken die man etwa in der Gruumlnen Zone von Bagdad anwendet Diese Sicht verkennt jedoch dass Staumldte im Mittelalter als Festungen errichtet wurden ndash man denke an Schutzwaumllle oder Stadt-mauern ndash und dass der militaumlrische Charakter ge-wissermassen in die Struktur jeder historischen Stadt eingewoben ist46

DIE CODIERTE STADT

laquoCode is Lawraquo L AWRENCE LESSIG PROFESSOR FUumlR RECHT SWISSEN-

SCHAFTEN AN DER HARVARD L AW SCHO OL

Mit der Technologisierung der Staumldte findet eine Verschiebung von analoger zu digitaler Infra-struktur von sichtbar zu unsichtbar statt Die Stadt Chicago hat etwa im Rahmen des Projekts laquoArray of Thingsraquo an 50 Laternenpfaumlhlen Sensoren angebracht die in Echtzeit Luftqualitaumlt Laumlrm und die Vibration vorbeifahrender Lastwagen messen Als laquoFitness-Tracker fuumlr die Stadtraquo soll das System proaktiv erkennen wo sich der Verkehr staut oder

wann Verkehrsuumlberlastungen auftreten koumlnnen Registrieren die Luftmessungsgeraumlte erhoumlhte Fein-staubwerte oder verstaumlrkten Pollenflug kann das Netzwerk einen Warnhinweis auf die Asthma-App schicken und den Passanten alternative Routen mit geringerer Belastung vorschlagen

Das Smart-City-Konzept ist nur einer von vielen Ansaumltzen ein komplexes System zu steuern und effizienter zu machen In Boston koumlnnen Daten-analysten die laquoPerformanceraquo der Stadt in Echtzeit ablesen Das City Score gibt unter anderem Auf-schluss daruumlber wie viele Schlagloumlcher es gibt wie die Ampelschaltung funktioniert oder wie viele Besucher sich gerade in den Bibliotheken der Stadt befinden Sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien kann berechnet werden

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Beschleunigung und Digitalisierung fuumlhren dazu dass der oumlffentliche Raum total uumlberwacht wird

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46 Stephen Graham (2010) Cities Under Siege The New Military Urbanism

Sehr unwahrscheinlich

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Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

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Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

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Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

FUTURE PUBLIC SPACE38

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 39

laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

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Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

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durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

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Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 36: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

FUTURE PUBLIC SPACE34

Durch Features wie Facebook Live erscheint das Stadtgeschehen auch mehr und mehr als Stream Nutzer filmen mit ihren Handykameras Freizeit-aktivitaumlten oder Sportereignisse und erzeugen so einen multiplen Fluss des Geschehens Die Stadt als Stream wird Realitaumlt

Ein computerisiertes urbanes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite In dystopischer Expertensicht laumlsst sich eine total uumlberwachte und kontrollierte Gesellschaft skizzieren Der urbane Raum wird zu einem durchcodierten Raum in dem vom Abfallma-nagement bis zur Fluktuation in den Einkaufs-meilen alles programmiert ist Die Besucherstroumlme werden durch Algorithmen ndash etwa durch Echtzeit-Empfehlungen auf Google Maps oder Tripadvisor ndash gesteuert und kanalisiert Privatsphaumlre und An-onymitaumlt waumlren in diesem Szenario verloren Doch so weit kommt es vorlaumlufig nicht Robuste demokratische und rechtsstaatliche Prozesse ver-hindern eine Totaluumlberwachung und Kontrolle des oumlffentlichen Raums

DER CODIERTE MENSCH

Der Buumlrger wird ndash durch digitale Geraumlte wie Smartphones Fitnesstracker und Datenbrillen ndash dennoch zunehmend Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeugen in-telligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konsti-tuiert

Der US-Kulturwissenschaftler Randolph Lewis hat in seinem neuen Buch laquoUnder Surveillance Being Watched in Modern Americaraquo eine interes-sante Theorie entwickelt In Anlehnung an Ben-thams Uumlberwachungs-laquoPanopticonraquo spricht er von einem laquoFunopticonraquo ndash also einer Uumlberwa-chung die Spass macht Lewis fuumlhrt das Funopti-

con als Konzept fuumlr die zunehmend laquospielerische Uumlberwachungskulturraquo im 21 Jahrhundert ein laquoSelbst wenn sich Uumlberwachung auf eine Art und Weise in unsere Koumlrper schleicht die viele Leute als demuumltigend und ausbeuterisch empfinden tut sie gleichsam etwas anderes Sie operiert in einer Weise die sich nicht immer unterdruumlckend und schwer anfuumlhlt sondern wie Freude Bequemlich-keit Wahlfreiheit und Gemeinschaftraquo47

Als Teil der Smart City nimmt der Mensch in die-ser Debatte eine aktive Rolle ein Die Sphaumlren Mensch Beton und Technik vermischen und ver-binden sich Weil wir uns dieses Netz einverleiben und Teil davon sind nehmen wir es teilweise gar nicht mehr als fremd wahr Die kuumlnstliche Umge-bungsintelligenz wird zu einer neuen Natur die man als natuumlrlich empfindet Zur Geo- und Bio-sphaumlre kommt als weitere Umgebungsschicht nun die Technosphaumlre hinzu Die soziale Interaktion ist zunehmend durch die globale Kommunikation gepraumlgt waumlhrend die gebaute Umwelt in den Hin-tergrund ruumlckt Damit wird die Smart City zu mehr als nur der nachhaltigen Stadtentwicklung unter Anwendung digitaler Instrumente

laquoWith safety and security as selling points the city has become vastly less adventurous and more predictableraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

47 httpwwwsueddeutschedekulturueberwachung-wenn-ue-berwachung-spass-macht-13776269

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

FUTURE PUBLIC SPACE36

Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 37

Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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GDI Gottlieb Duttweiler Institute 39

laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 45

Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

FUTURE PUBLIC SPACE46

Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 47

GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

FUTURE PUBLIC SPACE48

Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

FUTURE PUBLIC SPACE50

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 37: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen

dominierenTHESE 5

Neue Akteure aus der digitalen Welt werden lokale Regulationen dominieren und veraumlndern Es kommt zu einem Rollenwechsel Die Verwaltung wandelt sich vom

Regulator zum Moderator

OumlFFENTLICHER RAUM UND CYBERSPACE

Durch die Digitalisierung loumlsen sich Orte und All-tagsstrukturen auf Wenn man sich in Boston in einer Starbucks-Filiale uumlber das Google-WLAN einloggt und seine Facebook-Nachrichten abruft ist man wohl eher Mitglied der laquoglobalen Com-munityraquo48 und nicht unbedingt Besucher oder Buumlrger Bostons Identitaumlten werden fluide klassi-sche Ortsdefinitionen verschmelzen

Immer mehr Dienstleistungen und damit auch Nutzungszwecke werden digital verfuumlgbar und er-setzen das physische Angebot Die Arztsprechstun-de wird durch mobile medizinische Konsultationen per Smartphone ergaumlnzt die Buumlrgersprechstunde wird durch einen Bot erledigt Buumlcher und DVDs muumlssen nicht mehr in der Bibliothek ausgeliehen werden sondern koumlnnen via Open Access als Digi-talversion uumlber das Netz konsumiert werden Der Cyberspace ist eine gigantische Metropolis die raumlumlich aumlhnlich strukturiert ist wie eine Stadt Die

klassische Infrastruktur umfasst Strassen und Au-tobahnen (Internetleitungen) Verkehr (Traffic) und Gebaumlude (Websites) die man ansteuern kann Dunkle Gassen (Dark Web) gibt es ebenso wie Ga-ted Communities (Geofencing)

Durch die Digitalisierung legt sich eine neue Schicht uumlber den realen Raum Dieser Layer kann sowohl physisch vorhanden sein (etwa durch Bo-denampeln fuumlr Smartphone-Nutzer) als auch vir-tuell existieren (beispielsweise in Form von WLAN-Hotspots oder Augmented-Reality-Ob-jekten) Der Hype um die Spiele-App laquoPokeacutemon Goraquo bot Unternehmen die Moumlglichkeiten durch das Einrichten von laquoPokeacutestopsraquo Kaufanreize im realitaumltserweiterten digitalen Raum zu platzieren So verschenkte der Mineraloumllkonzern Exxon Mo-bil Gutscheine an Spieler die ihre Pokeacutemon an den Tankstellen des Unternehmens einfingen

Der Zugang zu digitalen Leistungen sind in der Regel von globalen Konzernen bestimmt die ihre eigenen Nutzungsregeln aufstellen Diese These wird auch durch die Expertenbefragung gestuumltzt Eine Mehrheit von 64 Prozent der Befragten sind der Uumlberzeugung dass Data- und Technologieko-nzerne (globale Unternehmen wie Amazon Google oder Alibaba aber auch Game-Anbieter

48 Mark Zuckerberg Vorstandsvorsitzender Facebook Inc

Die Top-down-Regulierung hat aus-gedient Standardisierte Handlun-

gen werden in smarten Staumldten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo

User an Loumlsungen mitwirken

FUTURE PUBLIC SPACE36

Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 37

Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

FUTURE PUBLIC SPACE38

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 39

laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 38: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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Virtual-Reality-Provider usw) bei der Gestaltung lokaler Regulationen an Wichtigkeit gewinnen werden Bereits heute wird in der laquosimulierten Oumlf-fentlichkeitraquo von Facebook das Hausrecht des Un-ternehmens vor das Grundrecht gestellt Und schon bald wird sich die Frage stellen ob man die Dienstleistungen in einer Google City auch ohne Gmail-Konto in Anspruch nehmen kann

NEUE ROLLEN NEUE AUFGABEN

Die veraumlnderten Nutzungsbedingungen im digi-talisierten urbanen Raum fuumlhren zu einem veraumln-derten Selbstverstaumlndnis der Bewohner Der Buumlrger versteht sich immer mehr als User Die Usability einer Stadt wird als Qualitaumlts- und Guumlte-kriterium zunehmend wichtiger

Die Top-down-Regulierung ndash das klassische Charakteristikum eines Verwaltungsakts ndash hat ausgedient Standardisierte Handlungen wie et-wa die Ampelschaltung werden in smarten Staumld-ten automatisch vollzogen Die Stadt wird zu einem urbanen Labor wo User an Loumlsungen mit-wirken

Eine erste Open-Platform auf der Buumlrger in Echt-zeit Informationen aus verschiedenen Netzwerken einholen und Applikationen entwickeln koumlnnen wurde mit laquoLIVE Singaporeraquo bereitgestellt Die Stadt wird neu als dynamisches System definiert das nicht laquotop downraquo sondern laquobottom-upraquo orga-nisiert ist Buumlrger vernetzen sich durch das Peer-to-Peer-Sharing von Sensordaten und entwickeln gemeinsam neue Loumlsungen So existiert beispiels-weise eine App die Pendlern in Echtzeit den schnellsten Weg an den Arbeitsplatz oder nach Hause vorschlaumlgt laquoLIVE Singaporeraquo schliesst die Ruumlckkopplungsschleife zwischen den Leuten die sich in der Stadt bewegen und den Echtzeit-Da-ten die in verschiedenen Netzwerken gesammelt werden49

Machtverschiebung Von der Hierarchie zum Oumlkosystem

Verwaltung Regulation Moderator

HierarchieOumlkosystem

Tech Konzerne Operator Kreator Bewohner Buumlrger User

Quelle GDI 2017

49 httpsenseablemitedulivesingapore

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

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Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 47

GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 39: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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Die laquosmarte Idealstadtraquo wird von Carlo Ratti und Anthony Townsend klar definiert Hier wird das informationelle Gebaumlude von den Buumlrgern als Au-toren durch Hinzufuumlgen neuer und Editieren alter Facetten neu gestaltet ndash genau wie auf Wikipedia Als Informationsrepositorien wuumlrden sich solch offene Systeme laufend fortentwickeln Allerdings duumlrfe das Crowdsourcing oumlffentlicher Aufgaben nicht so weit gehen dass sich die Stadtverwaltung ihrer Pflichten entledigt

In diesem Oumlkosystem uumlbernimmt die Stadtverwal-tung die Rolle des Moderators bzw des Enablers der Technologie oder virtuellen bzw physischen Raum zur Verfuumlgung stellt50 Oumlffentliche oder pri-vate kommunale Betriebe die Dienstleistungen anbieten sind Provider Und der Buumlrger der diese Dienste nutzt ist der User Fuumlr dem oumlffentlichen Raum bedeutet dies dass dessen Verwendung in einer staumlndigen Interaktion zwischen Nutzern Verwaltung kommerziellen Anbietern und Tech-nologieprovidern ausgehandelt wird Der oumlffentli-che Raum optimiert sich dadurch sozusagen permanent selbst

Abbildung Auszug aus Expertenbefragung Quelle GDI 2017

Denken Sie dass in Bezug auf die Planung des oumlffentlichen Raumshellip

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hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker nach kommerziellen als nach kulturellen

Anspruumlchen entschie-den wird

hellip sich die Rollen ver-mischen werden und die Stadt in Zukunft

nicht mehr Planerin sondern Moderation

sein wird

hellipdie Stadtplanung in Zukunft noch staumlrker von Big Data und den Interessen globaler

Tech-Konzerne abhaumln-gig sein wird

50 Veeckman Carina Maria Van Der Graaf Adriana (2015) The City as Living Laboratory Empowering Citizens with the Cita-del Toolkit

Sehr unwahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Sehr wahrscheinlich

Weiss nicht

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 40: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

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Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

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Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

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Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

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Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

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Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 41: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

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laquoDie Architektur der Stadt ist eine unglaublich langsame Kunstraquo

REM KO OLHAAS ARCHITEKT

In dieser Studie haben wir auf verschiedene Stadtutopien Bezug genommen Ihnen ist ge-mein dass sie im Zeitpunkt ihrer Entstehung wie auch heute im Licht aktueller urbaner Her-ausforderungen konzipiert worden sind Oft waren diese lokal- und kulturspezifisch und top-down - also von Experten konzipiert Auch wenn die Stadtutopien in den seltensten Faumlllen umgesetzt worden sind so praumlgen sie bis heute staumldtebauliche Praktiken In der folgenden Uumlbersicht ordnen wir die Konzepte nach ihrer konzeptionellen Naumlhe zu Politik und Gesell-schaft Technologie oder Wirtschaft Zentral bei diesem Ansatz ist dass fuumlr eine hohe Praktika-bilitaumlt ndash zumindest im Kontext der Schweiz - ei-ne Balance zwischen diesen drei Polen gegeben sein muss

Mit Stadtutopien soll die konkrete Vorstellung ei-nes staumldtischen Raums in einer moumlglichen Zu-kunft beschrieben werden Es handelt sich um moumlgliche Konzepte unterschiedlicher technologi-scher gesellschaftlicher politischer und oumlkonomi-scher Entwicklungen und Trends

WISSENSSTADT

In einer dynamischen vernetzten Wissensge-sellschaft spielt das Wissenskapital ndash neben klas-sischen Standortfaktoren wie Arbeit Boden und Kapital ndash eine zunehmend wichtige Rolle In der Wissensstadt kann sich dieses Wissenskapital auf engstem Raum entwickeln Im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur verarbeitenden In-dustrie benoumltigt die Wissensproduktion keine grossen Flaumlchen sondern vor allem gut ausgebil-dete mobile Menschen und hochgeruumlstete La-boratorien

NO-SHOP-CITY

Das laquoEraquo im Begriff laquoE-Stadtraquo steht fuumlr die fort-schreitende Verlagerung von analogen hin zu di-gitalen Objekten und Aktivitaumlten (E-Commerce E-Residency E-Bikes und neu sogar E-Zigaretten) Dieser primaumlr in Sektoren wie Handel und Ver-kehr evidente Strukturwandel wird eine neue Nutzung des oumlffentlichen Raums ermoumlglichen

SIMULATIONSSTADT

Die Oumlffentlichkeit ist privatisiert personalisiert und individualisiert In diesem schein-oumlffentli-chen Privatraum wird Oumlffentlichkeit nur noch si-muliert die Wahrnehmung wird getaumluscht Der Raum verwandelt sich schleichend von einem laquoOrt der Allgemeinheitraquo zu einem laquoVerwertungsraumraquo

REPRAumlSENTATIONSSTADT

In der Repraumlsentationsstadt wird der zentrumsna-he Stadtraum immer mehr zum Repraumlsentations-raum mit hohen Regulationsschranken und streng formellen Nutzungskonzepten

ANYWHERE CITY

Eine Stadt in erster Linie fuumlr die Anywheres ndash An-haumlnger eines nicht ortsgebundenen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Goodhart mit ihrer transportab-len Identitaumlt in die Kategorie des Weltenbuumlrgers fal-len In einer Anywhere City ist der Gap zwischen Anywheres und Somewheres gross

RURALISIERTE STADT

Waumlhrend die Agglomerationen urbaner werden erhaumllt die Stadt einen zunehmend laumlndlicheren Charakter Dazu tragen verschiedene Faktoren bei ndash zum Beispiel das Verlangen nach Ruhe Ruumlckzug und grosser Wohnflaumlche in den Staumldten sowie Mobilitaumlt und neue Lebensstile in den Agglome-rationen Dies fuumlhrt zur Besetzung der Agglome-rationsraumlume mit urbanen Qualitaumlten die sich

Die Stadtutopien und ihre Konsequenzen auf den oumlffentlichen

Raum

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 45

Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

FUTURE PUBLIC SPACE46

Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 47

GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

FUTURE PUBLIC SPACE50

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 42: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

FUTURE PUBLIC SPACE40

Strukturwandel

Beeinflussung Ge-brauch amp Verfuumlgbarkeit

Privatoumlffentlich

Verwischung Grenzen neue Spielraumlume

Dynamik d Peripherie

Raum fuumlr Experimente

Freiheit vs Sicherheit

Spannungsfelder

Digitale Player

Neue Akteure be-einflussen lokale Regulationen

Stadt heute Mehr ungenutzte Flaumlche in den In-nenstaumldten Online-shopping verdraumlngt Handel aus den Innenstaumldten Neue Mobilitaumlskonzep-te veraumlndern den Raum

Unterscheidung zwischen Privat- und oumlffentlichen Raumlumen ist fuumlr den Nutzer ist immer weniger relevant Personalisierte Oumlffentlichkeit versus oumlffentliche Privat-heit

Innenstadt wird zum Repraumlsentati-onsraum kreativer Abfluss in die Peri-pherie und Agglo-merationen Dort wiederum entstehen neue Dynamiken und kreative Hubs

Analoge und digi-tale Uumlberwachung nimmt zu Der Nutzer verschmilzt immer mehr zu einem neuen smar-ten Oumlkosystem

Digitale Player sind zu Navigatoren ge-worden (zB Google Maps) Algorithmus definieren zuneh-mend die individu-elle Wahrnehmung der Stadt

Wissens-stadt

Leerstehender Raum wird fuumlr die Produktion von Wissen verwendet Datencenter brau-chen mehr Platz

Keinen Unterschied zwischen privat und oumlffentlich Open Data

Die Wissen-Com-munities kreieren ihre neuen ndash zum Teil auch abge-grenzten ndash Hubs

Zugang zum Wissen bestimmt uumlber die Sicherheit und Frei-heit einer Stadt

Digitale Player und lokale Stadtver-waltungen handeln Hand in Hand Das Verbindungsglied bilden hauptsaumlch-lich die Universitauml-ten und Wissens-hubs

No-Shop-City

Das digital verlager-te Konsumverhalten erfordert mehr Raum zur Daten-verarbeitung und Bewaumlltigung der Logistik

Das Sharing-Konzept beeinflusst auch die Vorstel-lung von privat und oumlffentlich Es wird durchlaumlssiger

Die Kernstadt als Konsumzentrum verliert seine Be-deutung Logistik praumlgt die Peripherie

Die Bequemlichkeit des Online-Kon-sum-Streams uumlber-wiegt gguuml und wird mehr als Freiheit den als Uumlberwa-chung empfunden

Digitale Player do-minieren die Versor-gung des Konsums Entsprechend spie-len sie auch eine groumlssere Rolle in der Anforderungs-definition an den Raum (zB Logistik Dateninfrastruktur)

Simulati-onsstadt

Physischer Raum wird sekundaumlr Alltagsgeschehen spielt sich im digita-len Raum ab

Unterscheidung von oumlffentlich und privat erhaumllt eine neue Dimension in Bezug auf den digitalen Raum

Perspektivenwech-sel von Infrastruktur zum Mensch Der Kern ist immer der Standort des Users Peripherie ist alles ausserhalb der eigenen Kerninter-essen

Es dreht sich alles um die Sicherheit von Daten und die Bewahrung der eigenen individuali-sierten Vorstellung

Digitale Player sind Kreatoren und Re-gulatoren zugleich

Repraumlsenta-tions-stadt

Innenstadt wird zum Freilichtmuseum und Erlebnisraum Alltagsgeschehen Wohnraum Erho-lungsraum spielen sich in der Periphe-rie ab

Unterschied zwi-schen privat und oumlffentlich akzentu-iert sich

Wohnraum und Arbeitsplaumltze wer-den immer mehr in die Peripherie verschoben Mieten steigen Regulation und Verdichtung verstaumlrkt sich in der Peripherie

Innenstaumldte werden abgeriegelt und es wird ein Eintritts-preis verlangt (ZB auch durch Road-pricing)

Es herrscht ein Konflikt um die Deutungshoheit zwischen der physi-schen Repraumlsentati-on und der digitalen Interpretation der Stadt

Die Auspraumlgung der fuumlnf Trends in den Stadtutopien

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 45

Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

FUTURE PUBLIC SPACE46

Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 47

GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

FUTURE PUBLIC SPACE48

Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

FUTURE PUBLIC SPACE50

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 43: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

Anywhere City

Die Staumldte werden nach dem Konzept des laquoPlug and Playraquogestaltet um eine Kompatibilitaumlt fuumlr die Anywheres sicherzustellen

Der Unterschied zwischen Privat und Oumlffentlich spielt keine Rolle

Anywheres wollen primaumlr eine gute (internationale) Anbindung an In-frastruktur und Information Wenige Hubs mit Anbindung an die int Mobilitaumlt Der Rest ist Peri-pherie

Konfliktpotenzial zwischen Anywhe-res und Somewhere akzentuiert sich

Die digitalen Player definieren in den Hubs die Anfor-derungen an die oumlffentliche Infra-struktur Sie bilden das Interface zu den Anywheres

Ruralisierte Stadt

Agglomerationen werden zu neuen Dienstleistungszen-tren des taumlglichen Konsums

Waumlhrend die In-nenstadt stark pri-vatisiert ist finden sich die oumlffentlichen Raumlume in der Peri-pherie

Peripherie und Ag-glomerationen sind pulsierende Orte (Mobilitaumlt Kultur Arbeitsplaumltze) waumlh-rend Innenstaumldte Wohnquartiere sind

Konflikte zwischen Leben (Bewohner) und Erleben (Besu-cher) spitzten sich zu

Wunsch nach Effi-zient und einfacher Versorgung wird mit digitalen Angeboten weiter optimiert

Ecotopia Strukturwandel insb in Bezug auf die Mobilitaumlt ver-staumlrkt sich Keine Individualmobilitaumlt mehr Versorgungs-logistik optimiert

Sharing-Konzepte stehen im Vorder-grund Die gemein-schaftliche Nutzung von Raum nimmt zu

Kernstadt und laquoLandraquo Peripherie gleichen sich an

Die Stadt wird laquovermessenraquo und selbstregulierend Verhalten Nutzer als Teil des Systems) das nicht mit Nach-haltigkeit vereinbar ist wird sanktio-niert

In ihrem laquoBackendraquo ist die Stadt hochdi-gitalisiert und ver-messen Proprietaumlre Systeme der Stadt muumlssen mit Sys-temen der Nutzer kompatibel sein

Smart City Infrastruktur ist hochvernetzt und selbstregulierend Nutzer sind Teil der Systems

Alles ist im Grunde oumlffentlich mutet aber privat an resp zumindest individu-alisiert

Was angebunden und vernetzt ist gehoumlrt zur Stadt Was abgehaumlngt ist ist Peripherie Kom-patibilitaumlt definiert die neuen Stadt-grenzen

Die Stadt ist ein selbstregulierendes System mit praumlven-tiven Lenkungs-massnahmen

Soziale Netzwer-ke und digitale Plattformen sind entscheidende Ko-operationspartner (Datenowner) fuumlr die Stadtverwaltung

Cyborg City Physischer Raum und digitaler Raum sind eins Sie verschmelzen zu einer integrierten Wahrnehmung des Umfelds Die Stadt als Versorgungs-stream

Unterscheidung ist nicht relevant

Peripherie resp Wildnis ist dort wo die Versorgung mit dem Datenstream aufhoumlrt In der Peri-pherie lebt man als Aussteiger

Codierte Stadt und codierter Mensch Der Mensch steuert die Stadt und die Stadt den Men-schen

Digitale Player sind die Stadtverwaltung

Moderato-ren Stadt

Bewohner sind Kon-sumenten (User) Stadt als Dienstleis-tung

Oumlffentliche Raumlume werden nach Anfor-derungen der User gestaltet

Dienstleistungsori-entierung Do wo die Leistung gut ist dort halten sich die User auf

Sicherheitsbeduumlrf-nis bleibt eine zen-trale Anforderung Wir aber je nach Bedarf auch an pri-vate ausgelagert

Kooperation zwi-schen Stadtverwal-tung und digitalen Playern

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 45

Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

FUTURE PUBLIC SPACE46

Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 47

GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

FUTURE PUBLIC SPACE48

Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

FUTURE PUBLIC SPACE50

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 44: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

FUTURE PUBLIC SPACE42

durch Zugaumlnglichkeit Zentralitaumlt Diversitaumlt In-teraktion Adaptierbarkeit und Aneignung aus-zeichnen

ECOTOPIA

Die Rural-Bohegraveme (Niklas Maak) haumlngt einem bioregionalistischen Ideal an wie es Ernest Cal-lenbach in seinem Buch laquoEcotopiaraquo aus dem Jahr 1975 beschreibt Jede Gebietseinheit versorgt sich autark Autos sind verschwunden die Industrie-produktion ist oumlkologisch nachhaltig

SMART CITY

Der Begriff Smart City wird verwendet um tech-nologiebasierte Veraumlnderungen und Innovationen in urbanen Raumlumen zusammenzufassen Im Zen-trum steht dabei die Idee Staumldte effizienter tech-nologisch fortschrittlicher gruumlner und sozial inklusiver zu gestalten Ein computerisiertes ur-banes System schafft einen Abtausch zwischen Kontrollierbarkeit (im Sinne von Effizienz) auf der einen und Kontrolle der Buumlrger (mit Verlust von Freiheit) auf der anderen Seite

CYBORG CITY

Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urbanen Kosmos definiert der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird Der Buumlrger wird durch digitale Apparaturen wie Smartphones Fitness-tracker und Datenbrillen Teil eines Netzwerks einer Cyborg City die sich aus Roboterfahrzeu-gen intelligenten Gebaumluden und Cloud-Inhalten konstituiert

MODERATORENSTADT

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools koumlnnen hierfuumlr effizient genutzt werden um in Zukunft die Rolle des Moderators spielen zu koumlnnen Damit werden auch die Bewohner nicht nur zu Usern sondern zu verantwortungsbewussten Usern und Multi-plikatoren

Mapping der Stadtkonzepte

POLITIK UND GESELLSCHAFT

TECHNOLOGIE WIRTSCHAFT

Quelle GDI 2018 auf Grundlage eines Expertenworkshops

Cyborg City

Simulationsstadt

Smart City

No-Shop-City

Rural City

Ecotopia

Wissensstadt

Anywhere City

Repraumlsentationsstadt

Moderatoren Stadt

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 45

Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

FUTURE PUBLIC SPACE46

Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 47

GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

FUTURE PUBLIC SPACE48

Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

FUTURE PUBLIC SPACE50

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 45: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43

Diskussion und Fazit

Wir erleben eine laquoRenaissance des Staumldtischenraquo welche die Wiederentdeckung der spezifischen staumldtischen Qualitaumlten (Diversitaumlt Interaktion Zentralitaumlt usw) beschreibt ndash aber auch den Willen der Menschen wieder vermehrt daran zu partizi-pieren Diese Renaissance manifestiert sich vor al-lem im oumlffentlichen Raum Bei der Diskussion daruumlber muumlssen wir indessen feststellen dass es keine ideale allgemeinverbindliche Definition fuumlr den oumlffentlichen Raum gibt Das liegt hauptsaumlchlich an den unterschiedlichen Daten die als statistische Grundlage verwendet werden Und genau das macht es auch schwierig quantitativ zu bestimmen ob der oumlffentliche Raum zu- oder abgenommen hat Dabei ist es fuumlr die Stadt entscheidend in welchem Verhaumlltnis oumlffentlicher und gebauter Raum zuein-anderstehen ndash also die gelebte und die gebaute Ur-banitaumlt Die Quantitaumlt ist daher ein wichtiger Faktor Entscheidend ist aber nicht nur die Quanti-taumlt sondern viel mehr dessen Qualitaumlt Aus der Per-spektive des Buumlrgers und Nutzers druumlckt sich das im laquourbanen Feelingraquo aus Dieses manifestiert sich darin wie urbane Raumlume genutzt werden wie sich Menschen in diesen bewegen und entfalten koumlnnen Diese Qualitaumlt muumlsste in den Staumldten dynamisch abgefragt und gemessen werden

STRUKTURWANDEL ALS CHANCE ZUR AUSHANDLUNG DES OumlFFENTLICHEN RAUMS

Durch den Strukturwandel in Handel und Mobi-litaumlt entsteht die Moumlglichkeit sich freiwerdende Raumlume neu anzueignen Allerdings scheint es den Schweizer Staumldten nicht sehr zu liegen souveraumln mit leeren Flaumlchen umzugehen Sie neigen viel-mehr dazu jeder Flaumlche eine langfristige Nut-zungsplanung aufzuerlegen Gibt es auf diese Fragestellungen bereits lange vorausgeplante Ant-worten so kann der Druck auf die Staumldte moumlgli-cherweise etwas reduziert werden Freiraumlume koumlnnen bewusst zur neuen Experimentierflaumlche

werden durch das Zulassen von neuen kreativen Konzepten laumlsst sich die Zukunftsfaumlhigkeit von Staumldten steigern

Freiwerdende beziehungsweise neu zu definieren-de Flaumlchen bieten die Chance zur Neuprogram-mierung Dieser Raum laumlsst sich kuumlnftig fuumlr Aktivitaumlten wie Erlebnis Essen aber auch fuumlr Ge-werbe und Industrie oder als Wohnraum nutzen Die Aufloumlsung bisheriger laquoMonokulturenraquo in ho-mogenen Nachbarschaften kann durchaus zu Konflikten und damit auch zu neuen Aushand-lungsprozessen fuumlhren Aber wenn man eine dy-namische lebendige Stadt moumlchte so darf man nicht nur Harmonie einplanen Zunaumlchst stellt sich natuumlrlich stets die zentrale identitaumltsstiftende Frage Welche Stadt moumlchte man sein Ein Versuch die laquoZukunftsidentitaumltraquo der eigenen Stadt diskutie-ren ist dessen Positionierung im laquoMapping der Stadtutopienraquo Diese Map kann fuumlr die Verwal-tung und Bevoumllkerung als Anregung zu einem partizipativen Entwicklungsprozess dienen

WAS OumlFFENTLICHER RAUM IST HAumlNGT PRIMAumlR VOM NUTZER AB

Natuumlrlich wird sich kuumlnftig nicht nur unser Ver-staumlndnis vom oumlffentlichen Raum veraumlndern Ge-nau so stark wie die Verwischung von oumlffentlich und privat den oumlffentlichen Raum tangiert be-trifft sie auch den privaten Raum Kann man in einer digitalen Welt noch so etwas wie Privatheit haben Ist der oumlffentliche Raum gar ein viel weni-ger bedrohtes Gut als der private Raum Gibt es noch Orte wohin man sich von der Welt zuruumlck-ziehen kann51 Diese Fragen fuumlhren wohl zu noch mehr Konflikten und Verhandlungen

51 Sich einen Ort zu schaffen laquoan den wir uns von der Welt zu-ruumlckziehen koumlnnenraquo (Hannah Arendt)

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

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Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

FUTURE PUBLIC SPACE46

Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 47

GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

FUTURE PUBLIC SPACE48

Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

FUTURE PUBLIC SPACE50

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

Page 46: FUTURE PUBLIC SPACE - staedteverband.ch · Ziel von GDI und ZORA ist es, die Verantwortlichen in den Städten für die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen Entwicklungen

FUTURE PUBLIC SPACE44

Die Frage ist wie die Staumldte darauf reagieren Noch mehr Regeln und Gebote Oder mehr Moumlglichkei-ten zur individuellen Aneignung und Aushand-lung Moumlglicherweise muumlssen Stadtverwaltungen den neuen Nutzungsbeduumlrfnissen Rechnung tra-gen indem sie polyvalente und keine monofunkti-onalen Strukturen kreieren

Die Frage ob ein Raum oumlffentlich oder privat ist haumlngt auch von der Rezeption bzw der Nutzer-perspektive ab Wenn jemand ein privates Ein-kaufszentrum fuumlr einen oumlffentlichen Raum haumllt kann dieser nach dem Thomas-Theorem52 auch oumlffentlich sein Geht man davon aus dass sich Raumlume nur wahrnehmen lassen wenn sie zuvor gedanklich konzipiert worden und mithin soziale Konstruktionen sind so erschoumlpft sich die Frage laquoprivat oder oumlffentlichraquo auch nicht in einer legalis-tischen Definition Mit anderen Worten Was oumlf-fentlich und was privat ist haumlngt in letzter Konsequenz auch vom Betrachter ab Durch die immer staumlrkere Ausdifferenzierung unserer Ge-sellschaft ist klar dass die Konflikte um die Nut-zung und Definition des oumlffentlichen Raums zunehmen werden Normen werden neu ausge-handelt und koumlnnen auch nicht mehr nur durch die Verwaltung verordnet werden Im jetzigen Zeitpunkt scheint es wichtiger die passenden Plattformen zur Aushandlung zu finden und an-zubieten als schnelle Loumlsungen fuumlr undefinierte oumlffentliche Raumlume zu suchen

Ansaumltze dazu bieten die heutigen Moumlglichkeiten von Open Data Sie fuumlhren zu einer neuen Buumlrger-beteiligung Stadtkonzepte und Nutzungen koumlnnen durch laquoCitizen Scientistsraquo in einem Gamification-Ansatz simuliert und damit auch neu ausgehandelt werden Die dafuumlr grundlegende Idee der laquoAllmen-deraquo formulierte bereits die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreistraumlgerin Elinor Ostrom und stellte fest dass das Gemeingut nicht eine Ressource son-

dern ein Prozess ist - eine Reihe von sozialen Bezie-hungen durch die eine Gruppe von Menschen die Verantwortung teilen

DAS INNOVATIONSPOTENZIAL LIEGT IN DER PERIPHERIE

Da das kreative Umfeld in Richtung Agglomerati-on abwandert verlieren die Staumldte ihre Funktion als Testfeld fuumlr Innovationen Mehr Freiraumlume in den peripheren Gegenden fuumlhren zu einer neuen Aufbruchsstimmung und zu mehr Raum fuumlr Ex-perimente

Auch in laquogebautenraquo Innenstaumldten gilt es zu uumlber-legen wo bewusst Freiraumlume ndash gar Brachen ndash ris-kiert und zur Verfuumlgung gestellt werden koumlnnen die eine intuitivere Aneignung ermoumlglichen Eine zu dominante und zu detaillierte Nutzungspla-nung des oumlffentlichen Raums hemmt dessen An-eignung Die Stadtverwaltungen foumlrdern dadurch auch die User-Haltung ihrer Buumlrger Die Stadt wird zunehmend als Dienstleistung betrachtet ohne dass der Buumlrger einen Beitrag dazu leistet Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen geplanter Ordnung und kreativem Chaos

MEHR KONTROLLE DURCH SOFT SURVEILLANCE

Das Versprechen nach Messbarkeit Kontrolle und Planbarkeit wird dank neuer technischer Moumlg-lichkeiten zunehmend realisierbar Obwohl noch nicht ganz klar ist welche Loumlsungen einer Prakti-kabilitaumlt zugefuumlhrt werden koumlnnen werden alle Lebensbereiche betroffen sein Durchsetzen wird sich das was sich oumlkonomisch lohnt oder auf einer ideellen Ebene eine bessere Welt verspricht

52 laquoWenn die Menschen Situationen als wirklich definieren sind sie in ihren Konsequenzen wirklichraquo

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 45

Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

FUTURE PUBLIC SPACE46

Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 47

GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

FUTURE PUBLIC SPACE48

Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

FUTURE PUBLIC SPACE50

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

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GDI Gottlieb Duttweiler Institute 45

Sicherheit wird zu einer Selbstverstaumlndlichkeit Sie soll nicht sichtbar sein und wird es in Zukunft auch nicht mehr sein Bereits heute merken wir oft nicht dass wir uumlberwacht werden ndash oder uumlber-wacht werden koumlnnten Vielfach ist auch das per-soumlnliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Sicherheit und zum Datenschutz zu gering oder uumlberhaupt nicht vorhanden

Die klassische Uumlberwachung im Sinne eines Pan-optikums nach Bentham wo ein zentraler Aufse-her alle Zellen der Gefaumlngnisinsassen beobachtet wandelt sich zu einer laquoSoft Surveillanceraquo53 Diese findet ganz nebenbei im Alltag statt (Einkauf mit Kreditkarte Online-Bestellung Autofahren) und wird oft gar nicht bemerkt

Der Abtausch laquomehr Sicherheit bei eingeschraumlnk-ter Privatsphaumlreraquo wird vom Individuum meist nicht wahrgenommen weil es keinerlei sichtbaren Kontrollmechanismen gibt Die Tatsache dass sich Sicherheit technologisch erhoumlhen laumlsst waumlh-rend der Verlust der Privatsphaumlre ein kulturelles Phaumlnomen ist wird uns langfristig beschaumlftigenDie Digitalisierung erlaubt eine bislang ungeahn-te Bequemlichkeit ndash das Abenteuer laquoStadt ohne Risikoraquo Die Sicherheit wird in allen Raumlumen viel besser werden Gleichzeitig sind die Stadtverwal-tungen gefordert ihre Verantwortung wahrzu-nehmen und das Mitspracherecht der Buumlrger zu beruumlcksichtigen

laquoWithout consistent citizen consultation and serious penalties for misuse of data their apparatus of omniveil-

lance could easily do more harm than goodraquoREM KO OLHAAS

DIE STADTVERWALTUNGEN NEHMEN DIE ROLLE DES MODERATORS EIN

Die Staumldte sehen sich mit immer individuelleren und dynamischeren Nutzungsanforderungen konfrontiert Neue digitale Tools lassen sich nut-zen um kuumlnftig die Rolle eines kompetenten Mo-derators zu definieren Die Bewohner einer Stadt sind nicht laumlnger nur Konsumenten sondern ver-antwortungsbewusste User und Multiplikatoren Dank konsequentem Bottom-Up-Management entsteht kein Gefuumlhl der Bevormundung und die Stadt kann in der Planung sogar entlastet werden Das staumlrkere Zusammenwachsen von gebauter Umwelt und dem Menschen durch die Digitalisie-rung sowie Open-Source-Modelle fuumlhrt zu einer Verschiebung von der Stadtplanung durch einzel-ne Experten und Star-Architekten hin zu einer partizipativen demokratischeren Entwicklung von Staumldten

Fuumlr das Stadtmarketing koumlnnten sich neue Her-ausforderungen ergeben Die User folgen zwar nicht zwingend der Positionierung und der Unique Selling Proposition (USP) des Stadtmar-ketings ndash aber es entwickelt sich so uumlber die Zeit eine authentische Positionierung von innen Was bei vielen globalen Marken funktioniert laumlsst sich auch bei der Stadtentwicklung anwenden

Staumldte werden zu Marken die mit anderen Metro-polen in einem internationalen Wettbewerb ste-hen und um Kundschaft buhlen Dieser Kampf erschoumlpft sich nicht im Standortwettbewerb son-dern geht weit daruumlber hinaus Das Branding das sich etwa bei Olympiabewerbungen zeigt zielt auch darauf ab eine Markenloyalitaumlt zwischen Staumldten und ihren Usern aufzubauen

53 Gary T Marx Professor Emeritus of Sociology MIT

FUTURE PUBLIC SPACE46

Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 47

GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

FUTURE PUBLIC SPACE50

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

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FUTURE PUBLIC SPACE46

Generell erfordert diese Art von Marketing in der Verwaltung neue Kompetenzen und ein neues Mindset das sich an Start-ups orientiert Die Or-ganisation von Stadtverwaltungen muss deshalb neu angedacht werden Sie muss Kooperationen eingehen und eine Art und Weise finden mit den digitalen Playern und ihren Instrumenten zu ko-operieren Dabei nehmen die Staumldte kuumlnftig eine Rolle des Moderators und Enablers ein Sie ver-mitteln und stellen Plattformen zur kooperativen Loumlsungsfindung zur Verfuumlgung

Die Aufloumlsung klarer Nutzersegmente und die Po-larisierung in temporaumlre Interessengruppen wird durch soziale Medien erleichtert Gemeinsame spontan-chaotische Planung des Zeitvertreibs bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung wird zur neuen Normalitaumlt Das setzt auch eine hohe Flexi-bilitaumlt in der Nutzbarkeit von oumlffentlichen Raumlu-men voraus Zudem brauchen die Nutzer des oumlffentlichen Raums neben der symbolischen Of-fenheit auch eine tatsaumlchliche Zugaumlnglichkeit zum oumlffentlichen Raum Nur so wird sich dieser von der Mehrheit ndash und nicht nur von Aktivisten ndash an-geeignet

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 47

GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

FUTURE PUBLIC SPACE48

Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

FUTURE PUBLIC SPACE50

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

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GlossarAgglomeration Eine aus mehreren verflochtenen Gemeinden bestehende Konzentration von Sied-lungen die sich durch eine hohe Siedlungsdichte auszeichnet und um einen Agglomerationskern gruppiert In der Regel stellt der Agglomerations-kern eine Stadt oder zumindest einen Raum mit staumldtischem Charakter dar Zu den Agglomerati-onsraumlumen (Verdichtungs- Ballungsgebiete) wer-den sowohl die Guumlrtelgemeinden als auch die Agglomerationskerne gezaumlhlt Augmented Reality (AR) Computergestuumltzte Uumlberlagerung menschlicher Sinneswahrnehmun-gen in Echtzeit Mit AR etwa bei der Spiele-App Pokeacutemon Go legt sich eine digitale Schicht uumlber den physischen Raum mit der die Realitaumlt um vi-suelle akustische oder auch haptische Reize er-weitert wird

Anywheres Anhaumlnger eines nicht ortsgebunde-nen haumlufig urbanen sozialliberalen Milieus die nach der Definition des Publizisten David Good-hart mit ihrer transportablen Identitaumlt in die Ka-tegorie des Weltenbuumlrgers fallen

Areas of interest Mit dem Feature weist Google in seinem Kartendienst Maps in orangen Kreisen Punkte in Staumldten aus in denen es laquoviele Aktivitauml-ten und Dinge zu tunraquo gibt Diese Gebiete die eine hohe Restaurant- oder Kneipendichte markieren werden durch einen algorithmischen Prozess be-stimmt

Bots sind Computerprogramme automatisierte Skripte die mit minimal 15 Zeilen Code auskom-men und bestimmte Programmierbefehle ausfuumlh-ren etwa die Reproduktion eines Tweets oder Generierung kleiner Textbausteine

Coded Space Vorstellung eines Raums der vom Programmcode strukturiert ist ndash von der Ampel-schaltung bis zur Zentralheizung ndash strukturiert ist

Connectography Der von Parag Khanna in sei-nem Buch gepraumlgte Begriff meint dass die aus dem internationalen Handel resultierende Verwo-benheit die Landkarte uumlberschrieben wird und durch den Bedeutungsverlust von Grenzen neue Machverhaumlltnisse entstehen

Cyborg City Staumldtebauliches Konzept das nach der Idee des Architekten Carlo Ratti einen urba-nen Kosmos meint der von durch Technologie erweiterten Menschen bevoumllkert wird

Filter Bubble bezeichnet das von Eli Pariser be-schriebene Phaumlnomen wonach sich Nutzer auf Webseiten oder in sozialen Netzwerken durch Personalisierung und algorithmische Steuerungs-prozesse in homogenen Informationsspektren so-genannten Filterblasen aufhalten in denen sie nur noch unter ihresgleichen interagieren

Gini-Index Statistisches Mass zur Darstellung von Ungleichverteilungen

Microliving Konzept mit dem das zentrales moumlbliertes Wohnen in kleinen Einheiten be-schrieben wird

Nudging bezeichnet einen Ansatz in der Verhal-tenspsychologie Nutzer unter Ausnutzung psy-chologischer Schwaumlchen einen Schubs in die laquorichtigeraquo Richtung zu geben und zu lenken

Somewheres Im Gegensatz zu den anywheres die uumlberall zu Hause sein koumlnnen sind die weni-ger gebildeten sozialkonservativen somewheres raumlumlich verwurzelt ndash meist auf dem Land oder einer kleineren Stadt

Anhang

FUTURE PUBLIC SPACE48

Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

FUTURE PUBLIC SPACE50

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

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Peripherie Staumldtische Randgebiete die im Urba-nismus-Diskurs meist mit raumlumlicher Segregation und marginalisierten Bevoumllkerung in Verbindung gebracht werden Im Gegensatz zum Zentrum ist in der Peripherie der Zugang zu staumldtischen Guumltern (Verkehr Arbeit Bildung) meist eingeschraumlnkter

Pretended Public Oumlffentlicher Raum der durch bestimmte Bauweisen ndash etwa Liegewiesen oder Plaumltze ndash vorgibt oumlffentlich zu sein in Wirklichkeit aber privat ist

Privatheit (von lat lat privatus laquoabgesondert beraubt getrenntraquo) ist ein ideengeschichtlich rela-tiv junges Konzept und wurde erstmals im 17 Jahrhundert als ein staatsfreier Raum im Sinne eines status negativus definiert Durch die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft wurde Privatheit mehr als ein Selbstverwirklichungsrecht verstan-den Eine bekannte Definition von Louis D Brandeis lautet laquo[Privacy is] The right to be left aloneraquo Was unter Privatheit als Antipode zur Oumlf-fentlichkeit genau verstanden wird und ob es sich um eine soziale Konstruktion handelt ist Gegen-stand diverser Streitigkeiten

Tribalisierung (Stammesbildung) Die Bildung von Gemeinschaften auf der Grundlage gemein-samer kultureller Wurzeln Merkmale politischen oder religioumlsen Interessen oder auch Praumlferenzen wie zb Freizeit-Aktivitaumlten Die Aufspaltung in Interessengemeinschaften erfolgt gezielt oder zu-fallsbedingt und hat den Zerfall eines fruumlheren Gemeinschaftssystems zur Folge

Unique Selling Proposition (Alleinstellungs-merkmal) Als Alleinstellungsmerkmal wird im Marketing und in der Verkaufspsychologie dasje-nige Leistungsmerkmal bezeichnet durch das sich ein Angebot deutlich vom Wettbewerb ab-hebt Synonym ist veritabler Kundenvorteil

Usability beschreibt die Benutzerfreundlichkeit resp Benutzertauglichkeit Dabei geht es um die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualitaumlt bei der In-teraktion mit einem System Eine einfache zu-gaumlngliche passende und intuitive Benutzung wird als hohe Usability wahrgenommen

Zentralitaumlt Grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanitaumlt Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benoumltigen und besuchen desto zentraler ist dieser Ort Zentralitaumlt kann auch ei-nen logistischen funktionalen oder symbolischen Charakter haben

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

FUTURE PUBLIC SPACE50

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

copy GDI 2018

HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

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Methodisches VorgehenDie vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu-figen Verfahren Die einzelnen Schritte werden im Folgenden erlaumlutert

1) Desk Research Um die zukuumlnftigen Heraus-forderungen und Handlungsfelder fuumlr die Gestal-tung des oumlffentlichen Raums der Schweizer Staumldte in den richtigen Kontext zu setzen wurde zu-naumlchst die historische und aktuelle Situation der oumlffentlichen Raumlume anhand von Fachliteratur aufgearbeitet Aktuelle Studien dienten zudem als Grundlage um moumlgliche Trendfelder zu identifi-zieren die mit den vom GDI identifizierten Me-gatrends in Kontext gesetzt wurden

2) Interviews Im Gespraumlch mit den Experten von ZORA wurden moumlgliche gesellschaftliche politische und technologische Treiber fuumlr zukuumlnf-tige Veraumlnderungen identifiziert

3) Workshop 1 In einem halbtaumlgiger Workshop sind vom GDI identifizierte Trends diskutiert er-gaumlnzt und verdichtet worden Basierend darauf wurden die Hauptthesen uumlber die Entwicklung der Zukunft des oumlffentlichen Raums von Schwei-zer Staumldten abgeleitet

4) Delphi-Befragung Basierend auf den identifi-zierten Hauptthesen und Megatrends wurden vom GDI zwanzig Thesen uumlber die zukuumlnftige Entwick-lung der oumlffentlichen Raumlume in Schweizer Staumldten erarbeitet Mit einer Delphi-Befragung wurden diese Thesen von Experten aus Wissenschaft Wirt-schaft Verwaltung und Politik auf ihre Eintretens-wahrscheinlichkeit und Erwuumlnschtheit beurteilt

5) Workshop 2 Anfang April fand in Zusam-menarbeit mit der ETH Zuumlrich ein ganztaumlgiger Workshop statt an dem zunaumlchst die sich aus der Delphi-Befragung herauskristallisierten Fo-kusthemen und Treiber analysiert wurden Ba-sierend darauf wurden moumlgliche Handlungsfelder und Implikationen fuumlr die verschiedenen betei-ligten Akteure abgeleitet und auf ihre Dringlich-keit uumlberpruumlft

6) Ausgehend von den im Workshop als am wichtigsten beurteilten Fokusthemen wurden Moumlglichkeitsraumlume uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung der oumlffentlichen Raumlume der Staumldte und damit auch Handlungsimplikationen fuumlr invol-vierte Akteure aufgezeigt

7) Workshop 3 Im dritten Workshop wurden die Staumldtekonzepte mit den Expertinnen und Experten von ZORA diskutiert

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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HerausgeberGDI Gottlieb Duttweiler InstituteLanghaldenstrasse 21CH-8803 Ruumlschlikon ZuumlrichTelefon +41 44 724 61 11infogdichwwwgdich

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Bahrdt Hans Paul Umwelterfahrung Muumlnchen 1974Benke Carsten Geschichte des oumlffentlichen Raums Ein Tagungsbericht in Die alte Stadt 12004 S 63ndash66 Brendgens Guido Vom Verlust des oumlffentlichen Raums Simulierte Oumlffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus UTOPIE kreativ H 182 De-zember 2005 S 1088-1097de Certeau Michel Kunst des Handelns Berlin 1988Florida Richard The Rise of The Creative Class New York 2002 Florida Richard The New Urban Crisis New York 2017Habermas Juumlrgen Strukturwandel der Oumlffent-lichkeit Frankfurt am Main 1990Heye Corinna und Leuthold Heiri Segregation und Umzuumlge in der Stadt und Agglomeration Zuuml-rich 1990ndash2000 Zuumlrich 2004Khanna Parag Connectography Mapping the Global Network Revolution New York 2016Loumlw Martina Raumsoziologie Frankfurt am Main 2000Maak Niklas Wohnkomplex Warum wir andere Haumluser brauchen Muumlnchen 2014Schmid Christian Raum und Regulation Henri Lefebvre und der Regulationsansatz in Brand Ulrich und Raza Werner (Hrsg) Fit fuumlr den Post-fordismus Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes Muumlnster 2003Stadt Zuumlrich Stadtentwicklung Stadt der Zukunft ndash Handel im Wandel Zuumlrich 2017 Wehrheim Jan Die Oumlffentlichkeit der Raumlume und der Stadt Indikatoren und weiterfuumlhrende Uumlberlegungen Forum Stadt 22011

Interviewpartnerinnen und Teil-nehmerinnen der Workshops

Gabriela Barman Kraumlmer Chefin Stadtplanung Umwelt SolothurnBaumlttig Christoph Leiter Stab Direktion Umwelt Verkehr und Sicherheit Luzern Bischof Philippe Direktor Pro HelvetiaBoumlhm Mathias Geschaumlftsfuumlhrer Pro Innerstadt Basel Bosshart David CEO GDI Breit Stefan Researcher GDI DrsquoElia Alessandro Director Strategic Development Senior Executive Advisor GDI Egli Alain Head Communications GDI Fluumlgge Boris Stadtgruumln Winterthur FreiraumentwicklungFrei Dominik Leiter Ressort Gebietsentwicklung und oumlffentlicher Raum LuzernFrick Karin Head Think Tank GDI Hofmann Niklaus Leiter Allmendverwaltung Tiefbauamt Kanton Basel-Stadt Kaiser Regula Beauftragte fuumlr Stadtentwicklung und Stadtmarketing Zug Kissling Thomas Wissenschaftlicher Assistent In-stitut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich Kwiatkowski Marta Senior Researcher amp Deputy Head Think Tank GDI Lobe Adrian Freier Journalist Marolf Geacuterald Hinderling Volkart Parish Jacqueline Leiterin Fachbereich Stadtraum Tiefbauamt Zuumlrich Steiner Tom Geschaumlftsfuumlhrer ZORAThalmann Leonie Researcher GDI Vogt Guumlnther Landschaftsarchitekt und Profes-sor am Institut fuumlr Landschaftsarchitektur ETH Zuumlrich

Workshopteilnehmerinnen Interviewpartnerin und Work-shopteilnehmerin Interviewpartnerin

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