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4 194963 604507 20 Alle Kinofilme vom 27.9. und 4.10. Alle Filme im Fernsehen Mia Hansen-Løve Terence Davies Walter Salles Film & Literatur aus Neuseeland DAS FILMMAGAZIN www.film-dienst.de · 65. Jahrgang · 27. September 2012 · 4,50 Euro · 20/2012

FILM-DIENST 20_2012

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Die neue Ausgabe unseres Filmmagazins

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Alle Kinofilme vom 27.9. und 4.10. Alle Filme im Fernsehen Mia Hansen-Løve Terence Davies Walter Salles Film & Literatur aus Neuseeland

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I N H A L T 2 0 / 2 0 1 2

ALLE NEUEN KINOFILME VOM 27.9. UND 4.10.2012

4 magazin porträt 6 Dem Leben abgeschaut Zu den Filmen von Mia Hansen-Løve Von Esther Buss ausland 9 Homegrown Literaturverfilmungen aus Neuseeland Von Ulrike Mattern geschichte 12 Das Flehen der Welt Filme lesen mit Michelangelo Antonioni Von Roland Mörchen geschichte 14 „Ich blicke auf Perlen“ Margot Leonard-Schnell, Grande Dame der deutschen Filmsynchronisation Von Nils Daniel Peiler veranstaltung 16 Kids und Kauwboys Kinderfilmfestival LUCAS Von Holger Twele interview 17 Hunger auf Leben Walter Salles zu „On the Road“ Von Margret Köhler

46 3 Zimmer/Küche/Bad 40 Abraham Lincoln Vampirjäger 26 Australien in 100 Tagen 27 Bombay Beach 34 Cockneys vs. Zombies 35 D@bbe – Vom Teufel besessen 38 Evidence 36 Der Fluss war einst ein Mensch 40 Italy, Love It or Leave it 42 Kuma (kino schweiz) 28 Let My People Go! 30 Madagascar 3: Flucht durch Europa 45 Messner 43 On the Road – Unterwegs 37 Paris – Manhattan 34 Resident Evil: Retribution 28 Robin Hood – Ghosts of Sherwood 44 Schönheit 41 Sound of Heimat 33 Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 32 Un amour de jeunesse 39 The Exchange 38 The Deep Blue Sea 30 Wie beim ersten Mal

aus hollywood 18 Ein großer Unbekannter Der Regisseur Terence Davies und sein Film „The Deep Blue Sea“ Von Franz Everschor festival 20 To the Wonders Das Filmfestival Venedig: Der Wettbewerb Von Felicitas Kleiner interview 23 Kein Glaube, keine Werte Gespräch mit Kim Ki-duk zu „Pietà“ Von Margret Köhler festival 24 Zwischen und Hölle Venedig: Entdeckungen aus den Nebenreihen Von Margret Köhler

26 neu im kino

29 kinotipp

42 kino schweiz

46 impressum

47 neu auf dvd

48 literatur

Literaturverfilmungen aus Neuseeland: „Heavenly Creatures“

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PORTRÄT

„Un amour de jeunesse“

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Dem Leben abgeschaut ZU DEN FILMEN VON MIA HANSEN-LØVE

Den einen herausragenden Moment

in den Filmen von Mia Hansen-Løve

zu benennen, eine Szene, einen Dia-

log, einen Blick oder eine Geste, die

sich aus der Erzählung herauslösen ließe, ist

nahezu unmöglich. Es gibt viele solcher Mo-

mente, die auf ihre Art besonders sind, schön

und berührend oder einfach nur verblüffend

auf den Punkt gebracht: Wenn z.B. in „Der

Vater meiner Kinder“ (2010) Sylvia ihren

Ehemann, einen überbeschäftigten Filmpro-

duzenten mit enormer innerer Anspannung,

in den Gassen einer italienischen Stadt sucht

und ihn mit dem Handy in der Hand findet

– eine scheinbare Nebensächlichkeit, die

doch das ganze Drama beinhaltet. Oder

wenn im selben Film ihre Tochter Clémence,

sich plötzlich erwachsen fühlend, einen Kaf-

fee zu bestellen versucht und überfordert auf

heiße Schokolade umschwenkt. Oder wenn

Victor in „Tout est pardonné“ (2007) die Be-

schaulichkeit eines Familienausflugs verlässt,

um auf der Toilette einer Kneipe Drogen zu

nehmen, später zurückkommt, aber irgend-

wie nicht mehr in die Gemeinschaft hinein-

gelassen wird. Oder wenn Camille in „Un

amour de jeunesse“ (2011, Kritik in dieser

Ausgabe) an einem Tag am Strand in ein Le-

ben zurückfindet, das sich nicht mehr defizi-

tär anfühlt.

Es ließen sich viele Szenen aufzählen, und

doch könnte man keine über die anderen

stellen und ihr dadurch mehr Wichtigkeit

und Bedeutung zumessen. Die Filme von

Mia Hansen-Løve zeichnen sich gerade da-

durch aus, dass eben nichts herausragt aus

der Erzählung, dass sich nichts vordergründig

bemerkbar macht als Kunst und Virtuosität.

Es finden sich deshalb keine Schlüssel-

momente – alles steht gleichberechtigt ne-

beneinander, folgt fließend dem Vorherigen.

Es gibt unterschiedliche Stimmungen, emo-

tionale Temperaturen und Rhythmen, aber ei-

ne Beerdigungs- oder Trennungsszene ist

nicht bedeutsamer als eine Szene, in der ein

Vater vom Spiel seiner Kinder berührt wird.

Hansen-Løves Filme wirken nie gebaut, ihre

Form ergibt sich aus dem Zusammenspiel

von Figuren, Gesichtern, Blicken, Stimmun-

gen und feinen Beobachtun gen. Dabei fallen

die Ränder der Erzählung und ihr Zentrum

in eins.

Vom Verlust der Zeit

Neben einem Kurzfilm drehte die Autodi dak -

tin Mia Hansen-Løve bislang drei Spielfilme;

ein vierter, „Eden“ – ein Zweiteiler über die

französische House-Szene – ist in Vorberei -

tung. Für eine Regisseurin, die 1981 geboren

wurde, erscheint das beachtlich, ebenso wie

die Auswahl ihrer Themen, die sich mit Aus-

nahme von „Un amour de jeunesse“ ausge -

sprochen „erwach sen“ ausnehmen. Dabei

lässt sich ihr Weg zur Regisseurin kaum als

sonderlich turbulent bezeichnen. Als Tochter

zweier Philosophie-Lehrer besuchte sie nie ei-

ne Filmschule, kann aber aber auf eine kur-

ze, folgenreiche Vergangenheit als Schau-

spielerin zurückblicken. Mit 18 spielte sie in

Olivier Assayas’ „Ende August, Anfang Sep-

tember“ (1998), zwei Jahre später folgte eine

Rolle in „Les destinées sentimentales“

(2000), ebenfalls von Assayas (mit dem sie

inzwischen verheiratet ist). Für kurze Zeit

schrieb sie Kritiken für die „Cahiers du Ciné-

ma“, wie Assayas und viele Persönlichkeiten

des Autorenkinos zuvor. Ihr erster Kurzfilm

„Après mûre réflexion“ (2004) fand die Auf-

merksamkeit des charismatischen Filmpro-

duzenten Humbert Balsan, der u.a. Claire

Denis’ „L’Intrus“ produzierte – eine Sym-

bolfigur des unabhängigen französischen Ki-

nos. Hansen-Løve arbeitete mit ihm ein Jahr

lang an ihrem Debüt, bevor er sich im Febru-

ar 2005 das Leben nahm. „Der Vater meiner

Kinder“ ist eine Hommage an ihn.

Mia Hansen-Løves Filme erzählen von Ver-

lust, vom Verstreichen der Zeit, von Über-

gängen und dem Weitermachen unter ver-

änderten Bedingungen. Im Grunde sind es

hochmelancholische Themen, die aber nicht

in eine melodramatische Form eingepasst

werden, sondern in intime Alltagserzählun -

gen einfließen, so selbstverständlich und un-

prätentiös, dass sie aus dem Leben selbst zu

kommen scheinen. Eine künstlerische Hand-

schrift, ein Stil ist auf den ersten Blick kaum

auszumachen, dabei sind Hansen-Løves Filme

alles andere als formlos. Sie sind sogar ausge -

sprochen genau, was Erzählung, Rhythmus

und Montage betrifft, nur dass sie ihre Mittel

eben nicht ausstellen, sondern organisch mit

den Figuren und ihrer Welt verweben. Keine

augenfällige Präsenz hat etwa die Kamera,

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PORTRÄT

die den Figuren und ihren Bewegungen be-

ständig folgt, ohne einen autonomen, kom-

mentierenden oder explizit beobachtenden

Standpunkt einzunehmen. So sind es gerade

die Abwesenheit einer offensichtlichen Form

und das Sich-Zurücknehmen alles Stilistischen

zugunsten der Figuren, was den Stil aus-

macht – einen Stil, der klar, schmucklos, oh-

ne Posen und Affektiertheiten ist.

Wenig forciert erscheint auch die Erzählwei -

se. Selbst wenn die Erzählung den Plot nicht

vorantreibt, ist sie immer ökonomisch, weder

ausufernd noch künstlich verknappt. Werden

in „Tout est pardonné“ mehrfach Texttafeln

verwendet, um größere Zeitsprünge anzudeu -

ten, verstreichen in „Un amour de jeunesse“

acht Jahre ohne Markierungen; wie im „Vor-

beigehen“ nimmt die Kamera Hinweise in

den Blick – mal ein Kalenderblatt, mal ein

Datum auf einer Schultafel oder einen Tage -

buch eintrag. Vor allem ist es der fließende

Rhythmus der Jahreszeiten und Ortswechsel

(ein eher unfotogenes Paris, die Landschaft

der Ardèche, kurze Stationen in Dessau, Ber-

lin, an der dänischen Küste), die spürbar ma-

chen, was Zeit ausmacht. Mit entschiedener

Ablehnung hat Hansen-Løve einmal die Er-

zähltechnik der Rückblende kommentiert:

Diese habe mehr mit dem Kino zu tun als

mit der Wahrheit. Überhaupt sind Wahrheit

und Wirklichkeit Begriffe, die sie gerne und

häufig verwendet, um ihre Vorstellung von

Kino sprachlich zu fassen, wobei sie zu ei-

nem filmischen Realismus, der seine ver-

meintliche Authentizität als erkennbares Mit-

tel ausstellt, auf Distanz geht. Ihr Kino orien-

tiert sich eher an den Meistern der einfa -

chen, aber genauen Erzählung, an Regisseu -

ren wie Eric Rohmer und Maurice Pialat, de-

ren Einfluss sichtbar, aber unaufdringlich prä-

sent ist. An innerfilmischen Bezügen ist die

Regisseurin ohnehin nicht interessiert: Ihre

Filme sind dem Leben, nicht dem Kino abge-

schaut. So ist Emotionalität bei ihr kein in-

szenatorisches Mittel. Ihre Filme sind gefühl-

voll, weil ihre Figuren Gefühle haben – auf

diese Art von Tautologie stößt man immer

wieder, wenn man ihre Filme betrachtet.

Die Welt dieser Kinder

„Tout est pardonné“ ist eine Geschichte über

das Erwachsenwerden und die Liebe, über

Drogen, das Pendeln zwischen verschiedenen

Bedürfnissen und Städten (Paris und Wien).

„Morgens schreibe ich, am Nachmittag gehe

ich spazieren, nachts nehme ich Drogen“, be-

schreibt Victor seine Vorstellung von Alltag,

die sich mit seiner Beziehung immer schwe-

rer vereinbaren lässt; wohl aber mit seiner

Rolle als Vater einer kleinen Tochter, Pamela.

Die Liebe zerbricht und mit ihr die Familie.

Im zweiten Teil des Films versucht die Toch-

ter, mittlerweile im Teenager-Alter, Kontakt

zu ihrem Vater aufzunehmen. Sie stellt Fra-

gen über die Vergangenheit, doch viel mehr

geht es darum, ein gegenwärtiges Verhältnis

zueinander zu finden. Mit der zweiteiligen

Struktur arbeitete Hansen-Løve auch bei „Der

Vater meiner Kinder“: Der Tod des Filmpro-

duzenten ist eine harte Zäsur, und doch er-

zählt der Film viel über Kontinuität – über

das, was weitergegeben wird, was weiterlebt.

In der letzten Szene besucht Sylvia mit ihren

drei Töchtern ein letztes Mal das Büro des

Verstorbenen. Die Kinder kramen in den Sa-

chen, stecken Visitenkarten, eine alte Filmrol-

le ein. Sylvia sagt: „Seine Seele wird in sei-

nen Filmen weiterleben“, die Kinder verbes-

sern: „Nicht nur durch seine Filme, sondern

auch durch uns.“ Die doppelte Bedeutung

der buchstäblichen wie symbolischen Vater -

schaft wird schon im Titel angedeutet. Was

sich bereits im Debüt als ein autonomer Be-

reich abzeichnete und in „Der Vater meiner

Kinder“ noch raumgreifender in die Erzäh -

lung einfließt, ist die Welt der Kinder, ihrer

Spiele und ihrer Sprache. Diese hat etwas

Unmittelbares und Entwaffnendes.

„Der Vater meiner Kinder“ steht in der Mitte

einer losen Trilogie. Tatsächlich wirkt „Un

amour de jeunesse“ eher wie der Anfang die-

ser Reihe – nicht weil er künstlerisch unfer-

tiger wäre, sondern weil Mia Hansen-Løve

darin von den Erschütterungen und Nachwir -

kungen einer ersten Liebe erzählt, einer

Erfah rung, die nach ihren Angaben einen

unmit tel baren autobiografischen Hintergrund

hat. Die Ausschließlichkeit, mit der die

15-jährige Camille sich ihrer ersten Liebe Sul-

livan verschreibt, und die Hartnäckigkeit, mit

der sich diese Liebe festsetzt, machen aus

„Un amour de jeunesse“ alles andere als eine

universelle Entwicklungsgeschichte, wie sie

das Coming-of-Age-Drama gerne erzählt. „Je-

der Tag ist ein Tag ohne ihn“, schreibt Ca-

mille noch drei Jahre nach der Trennung in

ihr Tage buch; aber auch: „Ich habe eine Be-

rufung.“ Wieder ans Leben gebunden sieht

sie sich durch ihre Begeisterung für Räume

und Architekturen; an diesem Punkt schließt

sich der Kreis zum Filmproduzenten in „Der

Vater meiner Kinder“. Mitunter merkt man

dem Film die persönliche Verstricktheit ins

Thema an; der selbstverständliche Tonfall ge-

lingt Mia Hansen-Løve nicht ganz so über-

zeugend wie im vorherigen Film. „Un amour

de jeunesse“ wirkt „geschriebener“, auch

buchstäblich, wenn mit Sullivans Briefen eine

ausformulierte, quasi-„literarische“ Ebene Ein-

gang in die Erzählung bekommt, und damit

eine Spur von Prätention. Wie in „Der Vater

meiner Kinder“ geht es um das Verstreichen

von Zeit, das Zusammenspiel von Umbruch

und Konstanz. Auf letzteres verweist Mia

Hansen-Løve schon durch die Wahl ihrer

16-jährigen Hauptdarstellerin Lola Créton, die

sich im Lauf des Films, einer erzähl ten Zeit

von acht Jahren, so gut wie nicht verändert.

Wenn Camille nach vielen Jahren der Tren-

nung und trotz neuer Liebe und beruflicher

Identität wieder an ihre Beziehung zu Sulli-

van anknüpft, ist das ein irritierender Augen-

blick. Alles ist anders. Und: Alles ist wie zu-

vor. Esther Buss

„Un amour de jeunesse“, „Tout est pardonné“, „Der Vater meiner Kinder“ (v.o.)

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SEHENSWERT

D I E K R I T I K E N

DISKUSSIONSWERT

3 Zimmer/Küche/Bad 46 Der Fluss war einst ein Mensch 37 Madagascar 3: Flucht durch Europa 30 The Exchange 39

Italy, Love It or Leave It 40 On the Road – Unterwegs 43 Sound of Heimat 41 The Deep Blue Sea 38 Un amour de jeunesse 32

41 278

Australien in 100 Tagen

D ass es in Australien pittoreske Land-

schaften zu bestaunen gibt, hat man

durchaus schon mal gelesen oder ge-

hört. Und auch gesehen. An hübsch bebil -

derten Reisereportagen herrscht im Fernse-

hen schließlich kein Mangel. Auch im Kino

boomen aufwändig produzierte Naturdoku-

mentationen seit Jahren. Vor diesem Hinter-

grund hat „Australien in 100 Tagen“ wenig

Neues über den fünften Konti nent zu bieten.

Von Perth im Südwesten aus fährt das Regie-

Duo im Geländewagen 100 Tage lang im

Uhrzeigersinn die Küstenlinie ab. Der Trip

geht über Darwin im Norden, Cairns, Sydney

und Melbourne im Osten bis nach Adelaide.

Zur kompletten Umrundung des Kontinents

fehlen lediglich einige tausend Kilometer an

der Südküste. Was problemlos zu verschmer -

zen ist. Zumal die Filmemacher zwischen-

durch (per Flugzeug) noch Abstecher nach

Alice Springs im Landesinneren und nach

Tasmanien machen. Das Problem ist viel-

mehr, dass sie während ihres Trips kaum et-

was suchen, geschweige denn entdecken, das

abseits dessen liegt, was man als Normal-

sterblicher über Down Under weiß. Dass die

Road-Trains immens lange LKW-Vehikel sind,

es im australischen Sommer arg heiß ist und

der Kontinent allerlei seltene Tiere behei-

matet, sind wenig überraschende Informatio-

nen. Wenn die Filmemacher nicht im Auto

auf staubigen Pisten unterwegs sind, sieht

man sie auf Kurzwanderungen in die Umge-

bung, wo sie unter Wasserfällen ein Bad neh-

men oder mit Schildkröten an der Küste

planschen. Bisweilen mieten sie sich dazu ei-

nen Ranger als Fremdenführer, meist aber

nehmen sie einfach an touristischen Ausflugs-

programmen wie Whale-Watching teil. Natür-

lich darf auch ein Trip zum Ayers Rock oder

ans Great Barrier Reef nicht fehlt. Wenn die

Autoren unterwegs Australier (vorzugsweise

deutsche Auswande rer) befragen, gehen die

Gespräche kaum über jene beiläufigen State-

ments hinaus, die Fernsehreporter unterwegs

gerne einholen.

Optisch hat der Film viel eindrucksvolle Na-

tur zu bieten, deren technische Inszenierung

jedoch weit von jenen Standards entfernt ist,

wie man sie von National-Geographic-Produk -

tionen kennt. Der umfangreiche Off-Kom -

men tar beschreibt zumeist recht uninspiriert,

was ohnehin zu sehen ist, fällt aber zwi-

schendurch unvermittelt in aufgesetzte Lo-

ckerheit. „Australien in 100 Tagen“ ist kein

Dokumentarfilm, sondern ein verfilmter Rei-

seführer mit Insidertipps, der allenfalls jene

ansprechen dürfte, die sich mit Reiseplänen

nach Down Under tragen oder Urlaubserin -

nerungen auffrischen möchten. Da passt es

ins Bild, dass sich die Filmemacher im Ab-

spann bei einem Reiseveranstalter sowie der

australischen Tourismusbehörde bedanken.

Eine Kinoleinwand braucht dieser Film de-

finitiv nicht. Reinhard Lüke

KINOSTART 4.10.2012

Australien in 100 Tagen Deutschland 2012 Produktion comfilm.de Produzenten Silke Schranz, Christian Wüstenberg Regie und Buch Silke Schranz, Christian Wüstenberg Kamera, Schnitt Silke Schranz, Christian Wüstenberg Länge 105 Min. FSK o.A.; f Verleih comfilm.de

Reise-Feature über Australien, bei dem die Fil-memacher den Kontinent umrunden und ihre Eindrücke festhalten. Der Dokumentarfilm ori-entiert sich an den bekannten Sehenswürdig-keiten und Naturschauspielen, ohne Neues über das Land zu vermitteln. Auch die Off-Kommentare und Interviews bieten wenig, das über den Informationswert gängiger Rei-seführer hinausgeht. – Ab 10.

„Madagascar 3: Flucht durch Europa“

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41 284

Un amour de jeunesse

Un amour de jeunesse Un amour de jeunesse Frankreich/Deutschland 2011 Produktion Les Films Pelléas/Razor Film/arte France Ciné ma/Rhône-Alpes Cinéma/Jouror Prod. Produzenten Philippe Martin, David Thion, Gerhard Meix ner, Roman Paul Regie und Buch Mia Hansen-Løve Kamera Stéphane Fontaine Schnitt Marion Monnier Darsteller Lola Créton (Camille), Sebastian Urzendow- sky (Sullivan), Magne Håvard Brekke (Lorenz), Valérie Bonneton (Camilles Mutter), Serge Renko (Camilles Vater), Özay Fecht (Sullivans Mutter), Max Ricat (Sullivans Bruder), Louis Dunbar (Freund) Länge 110 Min. Verleih Peripher (O.m.d.U.)

Über einen Zeitraum von acht Jahren verfolgt der Film die Liebesbeziehung einer jungen Frau zu einem kaum älteren Mann. Selbst als sie mit einem Architekturlehrer zusammen lebt, kann sie nicht von der brüchigen, unbe-ständigen Liaison lassen. In ihrem dritten Spielfilm verarbeitet die Regisseurin Mia Han-sen-Løve eigene Erfahrungen. Ein konzen-triert inszeniertes Liebesdrama, das zwischen Hommage an die Jugendliebe und einer Ge-schichte des Erwachsenwerdens changiert, dabei allerdings an etwas zu viel Pathos, Be-mühtheit sowie den wenig temperamentvol-len Darstellern leidet. – Ab 14.

C amille und ihr Freund Sul -

li van kommen aus einem

Kino. Während er den

Film, den beiden gerade gesehen

haben, als öde und langweilig,

als eben typisch „französisch“

charakterisiert, verteidigt Camille

ihn als sensibel und tiefgründig.

Es gehört einiges an Selbstbe -

wusstsein, ja sogar eine Portion

Unerschrockenheit dazu, eine

solche Szene in einem Film zu

platzieren, der selbst gar nicht

„französischer“ sein könnte. Als

Zuschauer ist man herausgefor -

dert, sich auf eine der beiden

Seite zu schlagen: Folgt man

eher der Hauptfigur, einer hin-

gebungsvoll, schmerzlich Lieben-

den gegen alle Vernunft, und fin-

det den Film auf zeitlose Weise

romantisch und ehrlich? Oder

doch lieber dem vagabundieren-

den, quecksilbrigen Sullivan, dem

Freiheit über alles geht und der

sich auch durch Liebe nicht bin-

den lässt? Kann das bei ihm

überhaupt „wahre“ Liebe sein?

Solche Fragen reichen direkt ins

Zentrum von „Un amour de jeu-

nesse“ hinein: Welche Vorstellun -

gen hat man von einer Liebesbe -

ziehung? Und was passiert, wenn

unterschiedliche Vorstellungen in

Beziehungen diametral aufeinan -

der stoßen?

Unwillkürlich denkt man man

beim Namen Camille an eine an-

dere verschmähte Liebende des

französischen Kinos: an die von

Brigitte Bardot verkörperte Frau

eines Drehbuchautors in Godards

„Die Verachtung“ (fd 13 279).

Auch in „Un amour jeunesse“

sieht sich die 15-Jährige einem

(allerdings erst 19-jährigen) Ge-

liebten gegenüber, der sich nicht

KINOSTART 27.9.2012

für sie entscheiden kann. Ihn

zieht es bei aller körperlichen

Hingabe egoistisch ins ferne Süd-

amerika. Altklug, verspielt melo-

dramatisch-pathetisch und irgend-

wie gestelzt wirken die Dialoge

der Selbstvergewisserung zwi-

schen Camille und Sullivan ange-

sichts des nahenden Abschieds.

Ob das genau kalkuliert der Figu-

renzeichnung geschuldet ist oder

doch eher das persönliche Natu -

rell der Regisseurin spiegelt, ist

schwer zu entscheiden. Mia

Hansen-Løve ist nur einige Jahre

älter als ihr kanadischer Regie-

Kol lege Xavier Dolan, der eben-

falls die Lebens- und Liebesum -

stän de junger Menschen be-

schreibt; und doch könnte der

Blick auf diese Geschichten

kaum unterschiedlicher sein. Der

größte Unterschied ist die Abwe -

senheit jedweden Humors und

distanzierender Ironie bei Han-

sen-Løve. Natürlich ist das per se

kein Kriterium, jeder Filmema-

cher, jede Filmemacherin hat das

Recht auf die eigene Perspektive.

Doch im Fall von „Un amour de

jeunesse“ produziert diese Ernst-

haftigkeit des Blicks auf ihrerseits

schon hochgradig stilisierte Figu-

ren eine Bedeutungsschwere, die

eine an sich leichte, von Emotio-

nen und tastenden Versuchen

handelnde Geschichte immer

wieder zu erdrücken droht. Jede

Figur scheint ihre Überzeugun -

gen wie in einem Bauchladen

vor sich auszubreiten, in den un-

terschiedlichsten Situationen.

Eine gewisse Luftigkeit, ja Leich-

tigkeit kommt trotzdem dadurch

in den Film, dass Hansen-Løve

sehr elliptisch unter Aussparung

vieler Jahre erzählt. Vom Februar

1999 und der Abreise Sullivans

nach Südamerika im September

desselben Jahres springt er ein

Jahr weiter. Camille hat von Sul-

livan einen ehrlichen, aber

verletzen den Brief erhalten. Bei-

läufig erfährt man, dass sie einen

Selbstmordversuch unternimmt.

Im Jahr 2003 trägt Camille dann

ostentativ kurze Haare. Sie ar-

beitet als Hostess, ihr Gang wirkt

betont selbstbewusst, aber auch

so, als hätte die Regie der

Schauspiele rin Lola Créton genau

diesen Gang abverlangt – und

keinen anderen. Camille beginnt

ein Architekturstudium und lernt

den norwegischen Architekten

und Dozenten Lorenz kennen,

der bald von ihrer „Reife“ ange-

tan ist. Die Haare werden wieder

lang. Lorenz wird ihr Mentor –

und später ihr Liebhaber und Va-

ter eines Kindes, das sie aber

während der Schwangerschaft

verliert. 2007 begegnet ihr plötz-

lich Sullivan auf dem Fahrrad. Es

ist, als sei nie etwas zwischen ih-

nen gewesen. Die acht Jahre seit

Beginn der Filmhandlung sieht

man den Figuren und ihrem Ver-

halten nicht an. Obwohl Sullivan

so unstet wie einst ist und meist

wie zufällig in die Handlung hi-

nein schneit, landen beide im

Bett. Er: „Wie konnten wir nur

so lange getrennt sein?“. Sie:

„Du hattest mich verlassen.“ Ca-

mille muss eine Wahl treffen und

eine Grenze zwischen Jugend

und Erwachsensein ziehen. Dass

sie dazu in der Lage ist, deutet

der Film an, wenn er sie auf ei-

ner Baustelle als zupa ckende,

energische Architektin vorstellt.

Doch wirkt dies ebenso bemüht

wie ausge stellt. „Un amour de

jeunesse“ atmet den romanti-

schen Geist, dem man vieles ver-

zeiht, der zu Unbedingtheit und

Eigensinnigkeit drängt. Doch es

hätte dem Film geholfen, wenn

Mia Hansen-Løve etwas weniger

Wert auf die Anmutung von

„Wahrhaftigkeit“ gelegt und da-

für etwas mehr Distanz zwischen

sich und die Filmgeschichte ge-

bracht hätte. Schließlich hat sie

selbst betont, dass viele per-

sönliche Erfahrungen in dem

Film stecken, nur dass in ihrer

eigenen Geschichte Olivier Assay-

as die Rolle des erfahrenen Lehr-

meisters übernahm. Wie man ei-

ne solche Distanz unter Schmer-

zen und Lachen gewinnt, könnte

ihr bestimmt Xavier Dolan erzäh -

len. Jörg Marsilius