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Aus tiefster Not schrei ich zu Dir (1,3,4) Lied der Gemeinde Aus tiefster Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen. Dein gnädig’ Ohren kehr zu mir und meiner Bitt’ sie öffne; denn so du willst das sehen an, was Sünd’ und Unrecht ist getan, wer kann, Herr, von dir bleiben? Darum auf Gott will hoffen ich, auf mein Verdienst nicht bauen; auf ihn mein Herz soll lassen sich und seiner Güte trauen, die mir zusagt sein wertes Wort; das ist mein Trost und treuer Hort, des will ich allzeit harren. Und ob es währt bis in die Nacht und wieder an den Morgen, doch soll mein Herz an Gottes Macht verzweifeln nicht noch sorgen. So tu Israel rechter Art, der aus dem Geist erzeuget ward, und seines Gotts erharre. Offenbarung 21: „Die neue Welt Gottes“ Ja, von nun an wird Gott selbst als ihr Herr in ihrer Mitte leben.“ „Er wird alle ihre Tränen trocknen, und der Tod wird keine Macht mehr haben. Leid, Angst und Schmerzen wird es nie wieder geben; denn was einmal war, ist für immer vorbei.“ Der auf dem Thron saß, sagte: „Siehe, alles werde ich jetzt neu schaffen!“ Und mich forderte er auf: „Schreibe auf, was ich dir sage, alles ist zuverlässig und wahr.“ Dann sah ich eine neue Welt: den neu- en Himmel und die neue Erde. Denn der vorige Himmel und die vorige Erde waren vergangen, und auch das Meer war nicht mehr da. Ich sah, wie die Stadt Gottes, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel he- rabkam: festlich geschmückt wie eine Braut an ihrem Hochzeitstag. Eine gewaltige Stimme hörte ich vom Thron her rufen: „Hier wird Gott mitten un- ter den Menschen sein! Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein. Ich rufe zu Gott, ich schreie Psalmgebet aus Psalm 77 / Im Wechsel zwischen Vorbeter und Gemeinde Die Wolken gossen ihr Wasser aus, das Gewölk ließ die Stimme dröhnen, auch deine Pfeile flogen dahin. Dröhnend rollte dein Donner, Blitze erhellten den Erdkreis, die Erde bebte und wankte. Durch das Meer ging dein Weg, dein Pfad durch gewaltige Wasser, doch niemand sah deine Spuren. Du führest dein Volk wie eine Herde durch die Hand von Mose und Aaron. Ehr’ sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen. Ich denke an die Taten des Herrn, ich will denken an deine früheren Wunder. Ich erwäge all deine Werke und will nachsinnen über deine Taten. Gott, dein Weg ist heilig. Wo ist ein Gott, so groß wie unser Gott? Du allein bist der Gott, der Wunder tut, du hast deine Macht den Völkern kundgetan. Du hast mit starkem Arm dein Volk erlöst, die Kinder Jakobs und Josefs. Die Wasser sahen dich, Gott, die Wasser sahen dich beten und bebten. Die Tiefen des Meeres tobten. Ich rufe zu Gott, ich schreie, ich rufe zu Gott, bis er mich hört. Am Tag meiner Not suche ich den Herrn; unablässig erhebe ich nachts meine Hände, meine Seele lässt sich nicht trösten. Denke ich an Gott, muss ich seufzen; sinne ich nach, dann will mein Geist verzagen. Du lässt mich nicht mehr schlafen; ich bin voll Unruhe und kann nicht reden. Ich sinne nach über die Tage von einst, ich will denken an längst vergangene Jahre. Mein Herz grübelt bei Nacht, ich sinne nach, es forscht mein Geist. Wird der Herr mich denn auf ewig verstoßen und mir niemals mehr gnädig sein? Hat seine Huld für immer ein Ende, ist seine Verheißung aufgehoben für alle Zeiten? Hat Gott seine Gnade vergessen, im Zorn sein Erbarmen verschlossen? Da sagte ich mir: „Das ist mein Schmerz, dass die Rechte des Höchs- ten so anders handelt.“ EXTRA: Der Tag der Trauer: Dokumentation Der katholische Bischof Gebhard Fürst und der evangelische Landesbischof Frank Otfried July. Bild: dpa unsere Rachegedanken, all’ unser Tun und Lassen, all’ unser Misslungenes und Verfehltes, unsere Voreiligkeiten und Träg- heiten. „Er wird alle Tränen von ihren Augen ab- wischen. . .“ Der Riss der vergangenen Tage bleibt, die Trauer, der Schmerz. Viele werden lange, lange, sogar lebenslang daran tragen. Viele, schlimme Bilder stehen vor dem inneren Auge. Unsere Hoffnung, unser Glaube, un- sere Bitte ist, dass diese schrecklichen Bil- der nicht das letzte Wort haben. Die Todes- bilder dieser Welt, die wir so oft sehen müs- sen und die sich jetzt unter uns ereignet ha- ben, haben nicht die letzte Macht. Warum können wir, warum dürfen, ja müssen wir das sagen? Das Wort aus der Offenbarung des Johan- nes malt uns andere Bilder vor Augen, wagt eine Verheißung an uns. Wohl wissend um eine Welt des Todes und menschlicher Schuld, wohl wissend um unser Leben und Sterben, wohl wissend, dass manche Men- schen den Zuspruch und die Bilder des gött- lichen Erbarmens und seiner neuen Wirk- lichkeit nicht zu jedem Zeitpunkt hören und verstehen können. Wohl wissend ergreift das biblische Wort die Initiative und spricht in unsere Sprach- und Trostlosigkeit. Es öffnet einen Spalt, um in den Raum allen bleibenden Lebens und aller erfüllten Hoffnung zu sehen. Mit dem Bild der ewigen Stadt Gottes vor Au- gen, so wie sie die Offenbarung des Johan- nes uns zeigt, mit der Verheißung, dass der am Kreuz gestorbene Jesus Christus alles neu machen wird, mit der Zusage Gottes mitten in der Todeswirklichkeit dieser Welt: So werden wir vielleicht fähig durch die Todesbilder und Tränen dieser Welt hindurch, Bilder des Lebens und der Hoff- nung neu aufleuchten zu lassen. Damit Schülerinnen und Schüler mit ih- ren Lehrerinnen und Lehrern, Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern eines Tages wieder über Bilder des Lebens und der Hoffnung sprechen können. Wir haben in dieser Gesellschaft miteinander Verant- wortung, welche Bilder öffentlich werden und prägen, welchen Bilder unsere Kinder und Jugendlichen begegnen und welche Er- fahrungen. Wir haben miteinander die Verantwor- tung, welche Verhaltensweisen unter uns Platz ergreifen. Kehrt um, wo falsche Bilder und falsche Verhaltensweisen unter uns sind! Gott schenke uns Bilder des Friedens und neuen Lebens. „Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen. . .“ Amen Predigt im ökumenischen Trauergottes- dienst am 21. März in der Kirche St. Karl Borromäus in Winnenden E r wird alle Tränen von ihren Augen abwischen“ – so haben wir es eben in der Offenbarung des Johannes ge- hört. Liebe Angehörige, liebe Trauerge- meinde in nah und fern, wie viele Tränen sind geflossen seit jenem Mittwoch, dem 11. März, jenem Tag des Todes in Winnenden und Wendlingen. Wie viele Tränen sind ge- flossen und WARUM? In den Himmel ge- schrien worden. Bei Tag und bei Nacht. Wie viele Tränen bei Angehörigen und Freunden, bei Helferinnen und Helfern, Schülern und Lehrerinnen. Wie oft die Bit- te: Lass es nicht wahr sein! Manche hat die Trauer stumm gemacht, die Zeit ist für sie stehen geblieben, hat sie herausfallen las- sen aus all’ dem, was bisher wichtig und be- deutend erschien. Und dann waren plötz- lich auch keine Tränen mehr da - die Augen leer geweint. Andere haben in ihrer Trauer und in ihrer Suche nach Antworten, in ih- rem Fassen-Wollen des Unfassbaren, schon früh nach Gründen gesucht, Ursachen er- forscht, Erklärungen ausgesprochen. Aber auch in dieser Suche tritt uns viel Ratlosig- keit entgegen. Und unser heutiges öffentliches Trauern in Verbindung mit dem schweren persönli- chen Leid der Angehörigen soll ja auch deutlich machen: Es ist eine Schockwelle durch unser Land gegangen. Wir zeigen ge- meinsam unsere Trauer. Wir sehen uns an. Wir sagen den Angehörigen, den Menschen in Winnenden, Wendlingen und in den be- nachbarten Orten: Ihr seid nicht allein. In dieser Tragödie sehen wir aber auch: Wir brauchen Räume des gemeinsamen Trauerns und Tragens, des Austausches, des Sehens und des Mutes über die Gebote Got- tes zum Leben zu sprechen. Es waren und sind Tage, in denen wir nur Bruchstücke einsammeln und vor Gott hinhalten kön- nen. Da stehen die flackernden Kerzen, da stehen die Namen und Bilder derer, deren Lebenslauf jäh zu Ende ging - abgebrochen wurde. All’ die geliebten Menschen, die aus unserer Sicht noch so viele Möglichkeiten gehabt hätten: Wir bringen diese Leben vor Gott. Aber wir schweigen auch den Täter, Tim K. nicht tot. In Wendlingen haben Men- schen an der Stelle, wo er sich selbst tötete, einige, wenige Kerzen aufgestellt. Abge- schieden von den Opfern, wird auch dieses Bruchstück eines Lebens vor Gott gestellt. All das bringen wir in dieser Stunde vor Gott. Die Bruchstücke, alles Ausgesprochene und Unausgesprochene, all’ unsere Trauer, Er wird alle Tränen abwischen Die Predigt des evangelischen Landesbischofs Frank Otfried July im Wortlaut TELEFON 0 71 51 / 566 -275 FAX 0 71 51 / 566 -402 E-MAIL [email protected] ONLINE www.zvw.de Nummer 68 – RMR5 Montag, 23. März 2009 Rems-Murr RUNDSCHAU B 5

EXTRA: Er wird alle Tränen abwischen - zvw.de · der nicht das letzte Wort haben. Die Todes- ... sen und die sich jetzt unter uns ereignet ha-ben, haben nicht die letzte Macht. Warum

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Aus tiefster Not schreiich zu Dir (1,3,4)

Lied der Gemeinde

Aus tiefster Not schrei ich zu dir,Herr Gott, erhör mein Rufen.

Dein gnädig’ Ohren kehr zu mirund meiner Bitt’ sie öffne;

denn so du willst das sehen an,was Sünd’ und Unrecht ist getan,wer kann, Herr, von dir bleiben?Darum auf Gott will hoffen ich,

auf mein Verdienst nicht bauen;auf ihn mein Herz soll lassen sich

und seiner Güte trauen,die mir zusagt sein wertes Wort;

das ist mein Trost und treuer Hort,des will ich allzeit harren.

Und ob es währt bis in die Nachtund wieder an den Morgen,

doch soll mein Herz an Gottes Machtverzweifeln nicht noch sorgen.

So tu Israel rechter Art,der aus dem Geist erzeuget ward,

und seines Gotts erharre.

Offenbarung 21: „Die neue Welt Gottes“Ja, von nun an wird Gott selbst als ihr Herrin ihrer Mitte leben.“

� „Er wird alle ihre Tränen trocknen, undder Tod wird keine Macht mehr haben.Leid, Angst und Schmerzen wird es niewieder geben; denn was einmal war, istfür immer vorbei.“

� Der auf dem Thron saß, sagte: „Siehe,alles werde ich jetzt neu schaffen!“ Undmich forderte er auf: „Schreibe auf, wasich dir sage, alles ist zuverlässig undwahr.“

� Dann sah ich eine neue Welt: den neu-en Himmel und die neue Erde. Denn dervorige Himmel und die vorige Erde warenvergangen, und auch das Meer war nichtmehr da.� Ich sah, wie die Stadt Gottes, das neueJerusalem, von Gott aus dem Himmel he-rabkam: festlich geschmückt wie eineBraut an ihrem Hochzeitstag.� Eine gewaltige Stimme hörte ich vomThron her rufen: „Hier wird Gott mitten un-ter den Menschen sein! Er wird bei ihnenwohnen, und sie werden sein Volk sein.

Ich rufe zu Gott, ich schreiePsalmgebet aus Psalm 77 / Im Wechsel zwischen Vorbeter und Gemeinde

Die Wolken gossen ihr Wasser aus,das Gewölk ließ die Stimme dröhnen,auch deine Pfeile flogen dahin.

Dröhnend rollte dein Donner,Blitze erhellten den Erdkreis,die Erde bebte und wankte.

Durch das Meer ging dein Weg,dein Pfad durch gewaltige Wasser,doch niemand sah deine Spuren.

Du führest dein Volk wie eine Herdedurch die Hand von Mose und Aaron.

Ehr’ sei dem Vater und dem Sohn unddem Heiligen Geist, wie es war imAnfang, jetzt und immerdarund von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Amen.

Ich denke an die Taten des Herrn,ich will denken an deinefrüheren Wunder.

Ich erwäge all deine Werkeund will nachsinnen über deine Taten.

Gott, dein Weg ist heilig.Wo ist ein Gott, so groß wie unser Gott?

Du allein bist der Gott, der Wunder tut,du hast deine Macht denVölkern kundgetan.

Du hast mit starkem Armdein Volk erlöst,die Kinder Jakobs und Josefs.

Die Wasser sahen dich, Gott,die Wasser sahen dich betenund bebten.Die Tiefen des Meeres tobten.

Ich rufe zu Gott, ich schreie,ich rufe zu Gott, bis er mich hört.

Am Tag meiner Not suche ich denHerrn; unablässig erhebeich nachts meine Hände,meine Seele lässt sich nicht trösten.

Denke ich an Gott, muss ich seufzen;sinne ich nach,dann will meinGeist verzagen.

Du lässt mich nicht mehr schlafen;ich bin voll Unruhe undkann nicht reden.

Ich sinne nach über die Tage von einst,ich will denken an längstvergangene Jahre.

Mein Herz grübelt bei Nacht,ich sinne nach, es forscht mein Geist.

Wird der Herr mich denn auf ewigverstoßen und mir niemalsmehr gnädig sein?

Hat seine Huld für immer ein Ende,ist seine Verheißung aufgehobenfür alle Zeiten?

Hat Gott seine Gnade vergessen,im Zorn sein Erbarmen verschlossen?

Da sagte ich mir: „Das ist meinSchmerz, dass die Rechte des Höchs-ten so anders handelt.“

EXTRA: Der Tag der Trauer: Dokumentation

Der katholische Bischof Gebhard Fürst und der evangelische Landesbischof Frank Otfried July. Bild: dpa

unsere Rachegedanken, all’ unser Tun undLassen, all’ unser Misslungenes undVerfehltes, unsere Voreiligkeiten und Träg-heiten.

„Er wird alle Tränen von ihren Augen ab-wischen. . .“

Der Riss der vergangenen Tage bleibt, dieTrauer, der Schmerz. Viele werden lange,lange, sogar lebenslang daran tragen. Viele,schlimme Bilder stehen vor dem innerenAuge. Unsere Hoffnung, unser Glaube, un-sere Bitte ist, dass diese schrecklichen Bil-der nicht das letzte Wort haben. Die Todes-bilder dieser Welt, die wir so oft sehen müs-sen und die sich jetzt unter uns ereignet ha-ben, haben nicht die letzte Macht. Warumkönnen wir, warum dürfen, ja müssen wirdas sagen?

Das Wort aus der Offenbarung des Johan-nes malt uns andere Bilder vor Augen, wagteine Verheißung an uns. Wohl wissend umeine Welt des Todes und menschlicherSchuld, wohl wissend um unser Leben undSterben, wohl wissend, dass manche Men-schen den Zuspruch und die Bilder des gött-lichen Erbarmens und seiner neuen Wirk-lichkeit nicht zu jedem Zeitpunkt hörenund verstehen können.

Wohl wissend ergreift das biblische Wortdie Initiative und spricht in unsere Sprach-und Trostlosigkeit. Es öffnet einen Spalt,um in den Raum allen bleibenden Lebensund aller erfüllten Hoffnung zu sehen. Mitdem Bild der ewigen Stadt Gottes vor Au-gen, so wie sie die Offenbarung des Johan-nes uns zeigt, mit der Verheißung, dass deram Kreuz gestorbene Jesus Christus allesneu machen wird, mit der Zusage Gottesmitten in der Todeswirklichkeit dieserWelt: So werden wir vielleicht fähig durchdie Todesbilder und Tränen dieser Welthindurch, Bilder des Lebens und der Hoff-nung neu aufleuchten zu lassen.

Damit Schülerinnen und Schüler mit ih-ren Lehrerinnen und Lehrern, Kinder undJugendliche mit ihren Eltern eines Tageswieder über Bilder des Lebens und derHoffnung sprechen können. Wir haben indieser Gesellschaft miteinander Verant-wortung, welche Bilder öffentlich werdenund prägen, welchen Bilder unsere Kinderund Jugendlichen begegnen und welche Er-fahrungen.

Wir haben miteinander die Verantwor-tung, welche Verhaltensweisen unter unsPlatz ergreifen. Kehrt um, wo falsche Bilderund falsche Verhaltensweisen unter unssind! Gott schenke uns Bilder des Friedensund neuen Lebens.

„Er wird in ihrer Mitte wohnen und siewerden sein Volk sein. Er wird alle Tränenvon ihren Augen abwischen. . .“

Amen

Predigt im ökumenischen Trauergottes-dienst am 21. März in der Kirche St. KarlBorromäus in Winnenden

Er wird alle Tränen von ihren Augenabwischen“ – so haben wir es eben inder Offenbarung des Johannes ge-

hört. Liebe Angehörige, liebe Trauerge-meinde in nah und fern, wie viele Tränensind geflossen seit jenem Mittwoch, dem 11.März, jenem Tag des Todes in Winnendenund Wendlingen. Wie viele Tränen sind ge-flossen und WARUM? In den Himmel ge-schrien worden. Bei Tag und bei Nacht.

Wie viele Tränen bei Angehörigen undFreunden, bei Helferinnen und Helfern,Schülern und Lehrerinnen. Wie oft die Bit-te: Lass es nicht wahr sein! Manche hat dieTrauer stumm gemacht, die Zeit ist für siestehen geblieben, hat sie herausfallen las-sen aus all’ dem, was bisher wichtig und be-deutend erschien. Und dann waren plötz-lich auch keine Tränen mehr da - die Augenleer geweint. Andere haben in ihrer Trauerund in ihrer Suche nach Antworten, in ih-rem Fassen-Wollen des Unfassbaren, schonfrüh nach Gründen gesucht, Ursachen er-forscht, Erklärungen ausgesprochen. Aberauch in dieser Suche tritt uns viel Ratlosig-keit entgegen.

Und unser heutiges öffentliches Trauernin Verbindung mit dem schweren persönli-chen Leid der Angehörigen soll ja auchdeutlich machen: Es ist eine Schockwelledurch unser Land gegangen. Wir zeigen ge-meinsam unsere Trauer. Wir sehen uns an.Wir sagen den Angehörigen, den Menschenin Winnenden, Wendlingen und in den be-nachbarten Orten: Ihr seid nicht allein.

In dieser Tragödie sehen wir aber auch:Wir brauchen Räume des gemeinsamenTrauerns und Tragens, des Austausches, desSehens und des Mutes über die Gebote Got-tes zum Leben zu sprechen. Es waren undsind Tage, in denen wir nur Bruchstückeeinsammeln und vor Gott hinhalten kön-nen. Da stehen die flackernden Kerzen, dastehen die Namen und Bilder derer, derenLebenslauf jäh zu Ende ging - abgebrochenwurde. All’ die geliebten Menschen, die ausunserer Sicht noch so viele Möglichkeitengehabt hätten: Wir bringen diese Leben vorGott.

Aber wir schweigen auch den Täter, TimK. nicht tot. In Wendlingen haben Men-schen an der Stelle, wo er sich selbst tötete,einige, wenige Kerzen aufgestellt. Abge-schieden von den Opfern, wird auch diesesBruchstück eines Lebens vor Gott gestellt.All das bringen wir in dieser Stunde vorGott.

Die Bruchstücke, alles Ausgesprocheneund Unausgesprochene, all’ unsere Trauer,

Er wird alleTränen

abwischenDie Predigt des evangelischen Landesbischofs

Frank Otfried July im Wortlaut

TELEFON 0 71 51 / 566 -275FAX 0 71 51 / 566 -402

E-MAIL [email protected] www.zvw.de

Nummer 68 – RMR5Montag, 23. März 2009Rems-Murr RUNDSCHAU B5

EXTRA: Der Tag der Trauer: Dokumentation

„Mein Herz grübelt bei Nacht, ich sinne nach, es forscht mein Geist. . .“ – Bischof Gebhardt Fürst. Bild: dpa

Die Ehrengäste (erste Reihe von links): Außenminister Frank Walter Steinmeier, der baden-würt-tembergische Landtagspräsident Peter Straub, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts,Hans-Jürgen Papier, Bundeskanzlerin Angela Merkel, Eva Luise Köhler, Bundespräsident HorstKöhler, die Lebensgefährtin des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, Friederike Bey-er und Ministerpräsident Günther Oettinger. Bild: dpa

Schülerinnen und Schüler der Albertville-Realschule stellten in der St.-Karl-Borromäus-Kirchevon Winnenden während der Trauerfeier eine Kerze auf den Altar, die zuvor für eines der Opferentzündet wurde. Jeder Name wurde einzeln vorgelesen, je zwei Jugendliche brachten eine Ker-ze mit dem Vornamen durch den langen Mittelgang der Kirche nach vorn, zündeten sie an undstellten die Kerze zusammen mit einer gelben Rose auf den Altar. Bild: dpa

Kraft unseres christlichen GlaubensDie Predigt des katholischen Bischofs der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Gebhardt Fürst, in der Borromäus-Kirche

selbst erlitten - so trägt er ihn mit uns.Im Glauben sind wir uns gewiss: Gottschaut auf die Mächte des Todes, die unsbedrücken, bedrohen, ja, die hier das Lebenvon Menschen vernichtet haben. Gottkommt uns entgegen auf den schweren We-gen dieser Tage. Er sieht den Schmerz, dasLeid und die Not. Er hat es überwunden,weil er in Jesus Christus den Tod selbst ge-tragen und in neues Leben verwandelt hat.Wir dürfen glauben und hoffen, dass Ihrelieben Angehörigen bei ihm sind.

Liebe Schwestern und Brüder, wir erfah-ren Trost und Beistand aus dem Verspre-chen Gottes, uns gerade auf solch rätselhaf-ten Wegen heilsam nah zu sein. Dieses Ver-trauen spricht aus dem Christus-Lied „OHaupt von Blut und Wunden“, das wirgleich gemeinsam singen. Da heißt es: Wennmir das Allerschlimmste widerfährt,

„So tritt DU - Herr - dann herfür. Wennmir am allerbängsten wird um das Herzesein, so reiß mich aus den Ängsten kraft dei-ner Angst und Pein.“

Gott kommt uns entgegen mit seiner Lie-be. Das ist die Kraft unseres christlichenGlaubens, der uns trägt - gerade heute. Hal-ten wir die Hoffnung fest, dass Gott uns inseinen Armen hält.

Amen.

Gott selbst die Fragen richten, die uns zu-tiefst erschüttern.

In der Lesung aus der Offenbarung desJohannes antwortet Gott auf unser Klagen:

„Die alte Erde wird vergehen, ein neuerHimmel wird über euch aufgehen, unterdem kein Tod mehr sein wird.“

Gottes Versprechen gilt einer neuen Zeitfür uns, für Sie, die Leidtragenden. GottesVersprechen gilt einer neuen Welt zum Le-ben. Im Glauben begreifen wir: Die Zukunftvon Gott her ist nicht die endlose Verlänge-rung der heutigen Not und Bedrängnis.

Sie, die so leiden unter dem Schmerz desVerlustes, können hoffen: Ihre Kinder, IhreKolleginnen, Ihre Angehörigen liegen inden offenen Armen Gottes. Sie sind gehal-ten von seiner Liebe. Gott selbst ist naheund schenkt neues Leben.

Liebe zum Gedenken Versammelte! Man-che werden sich schwer damit tun, diesenTrost für sich heute anzunehmen. Da sindnoch lange und mühsame Wege zu gehen,und manche Wunde wird kaum heilen kön-nen. Aber dieser Trost ist keine billige Ver-tröstung, die schrecklichen Ereignisse wer-den nicht verdrängt. Gott weiß um unsereTränen, um unsere Mühsal, unsere Fragenund Anklagen (vgl. Apk 21,4): Gott selbstweiß um den Tod - in seinem Sohn hat er ihn

denken, was zu tun sein wird und wo wiruns ändern müssen. Nein: Jetzt ist Zeit zumWeinen, zum Klagen und zum Trauern.Deshalb war es in diesen Tagen und ist es indieser Stunde gut, Ihnen, den Angehörigen,mitmenschliche Verbundenheit zu zeigenund Sie Nähe spüren zu lassen. Wir sindverbunden mit Ihnen, die Sie Ihr Kind, denVerwandten, die Kollegin, Freund oderFreundin verloren haben; Verbundenheitund Nähe für Sie, die ob des Verlustes kla-gen, die an den Ereignissen und auch anGott zu verzweifeln drohen.

Ich weiß, viele konnten tröstende Nähespüren in diesen Tagen durch Menschen anihrer Seite, durch Notfallseelsorger, Sani-täter, Psychologen und viele andere Men-schen, die einfach da sind. Sie sind nichtverlassen! Wir alle danken den Helfern!

Doch unser von Schmerz erfülltes, nochlange nicht verklingendes: WARUM?, kön-nen wir auch zu Gott selbst tragen. EinMensch, der selbst Leid und Tod erlebte,schrieb einmal in sein Tagebuch:

„Wenn ich selbst drüben bin, bei Gott,werde ich ihn selbst auch fragen über alldas, was ich in diesem Leben nicht begreifenkonnte, und wo ich nirgends eine Antwortgefunden habe.“

Wir ungetrösteten Menschen können an

Predigt in Winnenden, 21. März 2009Schrifttexte: Ps 77, 1-21; Offbg 21,1-5

L iebe Angehörige! Liebe Trauerge-meinde! „Mein Herz grübelt beiNacht, ich sinne nach, es forscht

mein Geist. . .“ (Ps 77,7)Wer von uns, die wir in immer noch fas-

sungsloser Trauer hier versammelt sind,könnte diese Worte aus dem eben gebetetenKlagepsalm nicht mitsprechen? Es sindWorte, die auch unseren, vom vielfachenTod verstörten Herzen entstammen. Wiedem verzweifelten Beter geht es heute be-sonders Ihnen, den Angehörigen, die Sie soschwer getroffen sind. Ihnen gilt mein, un-ser aller tief empfundenes Mitgefühl. Ihnen,die unermessliches Leid tragen müssen, Ih-nen, denen die liebsten Menschen genom-men wurden, Ihnen wollen wir zur Seitestehen, sie stützen, Ihre Trauer und IhrenSchmerz teilen. Deshalb sind wir hier zumgemeinsamen Gottesdienst.

„Ich rufe zu Gott, ich schreie, ich rufe zuGott, bis er mich hört.“ (Ps 77,1)

Auch das ein Wort aus dem Psalm. Jetztist Zeit für diesen Ruf aus verwundetenSeelen. Heute ist Raum für diese Klage - da-mit Gott uns hört!

Heute ist noch nicht die Zeit, daran zu

Karl Borromäus� Die 1958 von Bischof Leibrecht vonder Stadtpfarrverweserei zum Stadt-pfarramt erhobene Katholische Kir-chengemeinde St. Karl BorromäusWinnenden ist eine erst durch Zuzugin den frühen Nachkriegsjahren ent-standene, aus 25 Teilorten bestehen-de typische Diasporagemeinde mitheute 7386 Katholiken.� Karl Borromäus (geboren am 2.Oktober 1538 bei Arona; gestorbenam 3. November 1584 in Mailand) warein Kardinal und ist ein Heiliger derkatholischen Kirche. Er stammte ausdem italienischen Adelsgeschlechtder Borromeo. „Der Kardinal galt alsbescheidener, asketisch lebenderWohltäter mit einer großen Liebe zurKunst, er entwickelte sich zu einemgroßen Reformer der katholischen Kir-che“, schreibt das Heiligen-Lexikon.� Karl Borromäus führte die Gegen-reformation, unterstützt auch von derweltlichen Macht, in den Kampf gegenden Protestantismus. Unter Borro-mäus als Inquisitor wurde die Protes-tantenverfolgung bis in die höchstge-legenen Orte des Engadins getragen.� Um die protestantischen Ketzer zuvertreiben und den katholischen Glau-ben wiederherzustellen, wurden dieProtestanten, die unter dem Schutzder Landesgesetze standen und da-rum nicht der Ketzerei angeklagt wer-den konnten, der Hexerei bezichtigt.108 Personen kamen vor Gericht,zehn Frauen und ein Mann wurdenverbrannt.� Karl Borromäus verstarb im Altervon 46 Jahren und wurde 1610 vonPapst Paul V. heiliggesprochen.

TELEFON 0 71 51 / 566 -275FAX 0 71 51 / 566 -402

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Nummer 68 – RMR6Montag, 23. März 2009 Rems-Murr RUNDSCHAUB 6

Schritt für Schritt Vertrauen zurückgewinnenDie Rede des Ministerpräsidenten Günther H. Oettinger in der St.-Karl-Borromäus-Kirche im Wortlaut

die Opfer zu Grabe getragen.Ich danke den Notfallseelsorgern, Psy-

chologen und allen Betreuern für ihre ein-fühlsame und aufopferungsvolle Hilfe.

Ich danke der Schulleitung der Albertvil-le-Realschule und der Stadt Winnenden fürihren sensiblen, umsichtigen und warmher-zigen Umgang mit den von dem schreckli-chen Geschehen betroffenen Menschen.

Mein Dank gilt den Ärzten und Rettungs-kräften. Sie haben sich in die Schule bege-ben, um die Opfer zu versorgen, obwohlnicht sicher war, ob der Täter noch im Ge-bäude war.

Besonders denke ich in dieser Stunde andie Polizisten, die am 11. März im Einsatzwaren. Sie haben unter schwierigsten Be-dingungen gehandelt. Sie hatten einen aufsie schießenden Täter zu überwältigen undgleichzeitig unbeteiligte Schüler und Leh-rer zu schützen. Das schnelle Eintreffenund Eingreifen der Polizei zwang denAmokläufer zur Flucht. Es ist nicht auszu-denken, wie viele Opfer wir sonst heute zubeklagen hätten. Auch in Wendlingen ge-rieten Polizisten unter Beschuss. Ihnen istes zu verdanken, dass das Töten ein Endehatte. Ich spreche den beteiligten Polizis-tinnen und Polizisten meinen Dank undmeine Hochachtung aus – für ihren Mut undfür ihr rasches und beherztes Handeln.

Das furchtbare Ereignis hat große Anteil-nahme und Hilfsbereitschaft in unseremLand, in ganz Deutschland und weltweitausgelöst. Wir sind dafür sehr dankbar.

Und ich bin dankbar dafür, dass Sie, HerrBundespräsident, und Sie, Frau Bundes-kanzlerin, heute unter uns sind und unsereTrauer mit uns teilen.

Ganz besonders danke ich den Helfern,die aus Thüringen und anderen Bundeslän-dern zu uns gekommen sind, um den betrof-fenen Menschen zur Seite zu stehen.

Am 11. März ist für viele von uns eineWelt ins Wanken geraten. Wir können dasGeschehene nicht begreifen – und erst rechtnicht ungeschehen machen, obwohl wir unsnichts sehnlicher wünschen würden als das.Wir alle müssen lernen, mit dem, was ge-schehen ist, zu leben. Schritt für Schritt giltes, Vertrauen zurückzugewinnen: Vertrau-en zu den Mitmenschen, Vertrauen zum All-tag, Vertrauen zu Gott.

Wir können und dürfen aber auch nichteinfach zum Alltag zurückkehren. Wir müs-sen uns der Frage stellen, wie es dazu kom-men konnte, dass mitten in unserer Gesell-schaft ein 17-jähriger Jugendlicher eineWaffe in die Hand nahm, um wehrlose Men-schen zu ermorden. Nicht nur die Opfer ka-men aus unserer Mitte, auch der Täter.

Wir müssen aus diesem 11. März Lehrenziehen: keine einfachen und schnellen, son-dern solche, die über diesen Tag, über unse-re Fassungslosigkeit und unsere Trauer hi-nausreichen. Wir müssen überlegen, wassinnvoll und notwendig ist, um vorbeugendsolchen Ausbrüchen von Gewalt entgegen-zuwirken. Die Aufarbeitung des Geschehe-nen kann nur gemeinsam gelingen. Wir dür-fen nicht mit Resignation oder Sprachlosig-keit reagieren.

Emsdetten, Erfurt, Winnenden bleibeneine ständige Mahnung: eine Mahnung,dass unsere Gesellschaft nicht in unter-schiedliche Welten mit unterschiedlichenWerten und Regeln auseinanderbrechendarf.

Wir brauchen mehr Sensibilität für das,was unser Gemeinwesen im Kern zusam-menhält und was eine humane Gesellschaftwirklich ausmacht. Wir brauchen ein offe-nes und öffentliches Gespräch darüber, einGespräch, in das wir gerade auch jungeMenschen einbeziehen müssen.

Der erste Satz unseres Grundgesetzeslautet: „Die Würde des Menschen ist unan-tastbar.“ Diesen Satz mit Leben zu füllen –ganz praktisch, jeden Tag und jeder an sei-nem Platz – ist der Auftrag aus dieser Stun-de an uns alle.

W ir sind zusammengekommen, umder Opfer zu gedenken, die am 11.März in Winnenden und in Wend-

lingen getötet wurden. Der 11. März 2009wird für immer ein trauriger Tag in der Ge-schichte unseres Landes bleiben. Er ist ein-gebrannt in unser kollektives Gedächtnis.

Wir gedenken der acht Schülerinnen unddes Schülers der Albertville-Realschule inWinnenden, die mitten im Unterricht getö-tet wurden. Wir gedenken der drei jungenLehrerinnen dieser Schule, die an diesemTag die Ausübung ihres Berufs mit dem Le-ben bezahlt haben. Wir gedenken der Mit-bürger, die der Täter auf seiner Flucht inWinnenden und in Wendlingen ermordethat. Wir trauern um diese Menschen undsind fassungslos über die Tat, durch die sieihr Leben verloren haben.

Unsere Gedanken sind bei allen, die denTod eines lieben Menschen zu beklagen ha-ben. Wir fühlen mit den Eltern und Ge-schwistern, mit den Angehörigen undFreunden der Toten.

Ich spreche ihnen persönlich und im Na-men des Landes Baden-Württemberg meintief empfundenes Beileid aus.

Der Amoklauf in der Albertville-Real-schule in Winnenden hat uns zutiefst ge-troffen. Die Schule ist ein Ort der Gemein-schaft, der Bildung und der Erziehung; einRaum des Miteinanders von Lernenden undLehrenden; ein Raum, in dem Kinder, Ju-gendliche und Erwachsene Tag für Tag im-mer wieder aufs Neue lernen müssen, ei-nander zu respektieren und miteinanderauszukommen.

Dieser Raum ist auf brutale Weise ver-letzt und zerstört worden: durch einen ehe-maligen Schüler, dem diese Schule nur dasBeste für seine Zukunft mitgeben wollte.Neun seiner einstigen Mitschüler hat er ih-rer Zukunft beraubt, genauso drei Lehre-rinnen.

Die drei engagierten jungen Frauen stan-den im Dienst des Landes Baden-Württem-berg. Sie sind in Ausübung dieses Dienstesums Leben gekommen. Das Land wird ih-nen und den Schülerinnen und Schülern,die am 11. März in der Albertville-Real-schule ihr Leben verloren, ein ehrendes An-denken bewahren.

Ich denke in dieser Stunde aber auch mitgroßem Respekt und mit Dankbarkeit andas mutige und selbstlose Verhalten vieleranderer Lehrerinnen und Lehrer. Sie habenunter großer Gefahr die ihnen anvertrautenSchülerinnen und Schüler in Sicherheit ge-bracht und damit noch Schlimmeres ver-hindert.

Unsere Gedanken sind in dieser Stundeauch bei den Menschen, die außerhalb derSchule ermordet wurden. Sie wurden Opfereines wahllosen Tötens, nur weil sie an je-nem schwarzen Tag dem Täter über denWeg liefen.

Unsere Gedanken sind auch bei denen,die noch unter den Verletzungen leiden, diesie erlitten haben. Nicht nur die körperli-chen, auch die seelischen Wunden, die der11. März geschlagen hat, reichen tief. Siewerden lange nicht heilen. Keiner kann sichwirklich vorstellen, was die jungen Men-schen an jenem Morgen ausgestanden ha-ben und wie grausam das Leid der Angehö-rigen der Opfer ist. Es wird lange dauern,bis an eine Rückkehr ins gewohnte Lebenund an die gewohnten Orte gedacht werdenkann.

Ich bin den vielen Menschen unendlichdankbar, die in den schweren Stunden undTagen nach dem Amoklauf in Winnendenund Wendlingen da waren, um die Eltern,Geschwister und Angehörigen der Getöte-ten zu betreuen.

Ich danke den Pfarrerinnen und Pfarrernaus Winnenden und den Nachbarorten, diein persönlichen Gesprächen und in Gottes-diensten geholfen haben, mit dem Unbe-greiflichen umzugehen, das geschehen war.Sie haben Trost gespendet. Und sie haben Ministerpräsident Günther H. Oettinger bei seiner Rede in der St.-Karl-Borromäus-Kirche. Bild: dpa

EXTRA: Der Tag der Trauer: Dokumentation

Ein würdiger Abschied von den OpfernWinnender Stadtverwaltung und Polizeidirektion Waiblingen zum Tag der Trauer

Für das Polizeiprotokoll gab es keine „be-deutenden Vorkommnisse“. Nach Zählun-gen der Polizei fanden sich im Raum Win-nenden insgesamt rund 8500 Trauergästeein, die die Veranstaltungen im Herbert-Winter-Stadion und in zahlreichen Kirchenund Hallen in der Stadt und den Stadtteilenverfolgten. Mehrere Tausend Trauergästewohnten weiteren 20 Veranstaltungen inden Städten und Gemeinden des Rems-Murr-Kreises bei.

Viele Besucher sind mit öffentlichen Ver-kehrsmitteln angereist, so dass die Polizei,die mit mehreren Hundert Beamten im Ein-satz war, keine Störungen verzeichnenmusste. Die Ordnungshüter seien von 500Feuerwehrkräften, die aus dem gesamtenKreisgebiet kamen, bei den Ordnungsmaß-nahmen „bestens unterstützt“worden.

Auch die rund 500 Kräfte des Sanitäts-dienstes, ebenfalls aus dem gesamten Land-kreis, die zusammen mit 55 Rettungsdienst-kräften und sechs Notärzten im Einsatz wa-ren, mussten nur wenige Besucher versor-gen. Sechs Personen der Trauerfeierlichkei-ten wurden wegen Kreislaufversagens me-dizinisch behandelt. Vier Trauergäste ver-langten nach psychischer Betreuung, teiltdie Polizei mit.

Zeichen der Hoffnung setzen“, so Fritz.Winnenden sei tief erschüttert.

„Die Bürger haben aber heute eindrucks-voll demonstriert, dass sie in einer sozialenStadt leben, in der die Menschen zusam-menhalten“, so Fritz. „Wir werden diesenschwierigen Weg gemeinsam gehen undniemanden allein lassen.“

An den Orten der TV-Übertragungen ver-sammelten sich mehrere Tausend Men-schen. Weit über 1000 Einsatzkräfte warenim Einsatz und sorgten dafür, dass der Tagin Winnenden in geordneten Bahnen ver-lief, teilt die Stadtverwaltung mit.

Winnenden/Waiblingen.Es sei ein ruhiger und würdiger Ab-schied von den Opfern des Amoklaufsgewesen, bilanzieren die WinnenderStadtverwaltung und die Polizeidirekti-on Waiblingen über den Tag der Traueram vergangenen Samstag. Oberbürger-meister Bernhard Fritz bedankt sich inseiner Mitteilung zudem für die Anteil-nahme.

„Winnenden dankt den Menschen für ihrenBeistand und ihre Anteilnahme“, sagtOberbürgermeister Bernhard Fritz. „DieTrauerfeier und der Staatsakt waren sehrbewegend und haben uns allen einen würdi-gen Abschied von den Opfern des 11. Märzermöglicht.“

Die Predigten der Bischöfe GebhardFürst und Otfried July und die Ansprachenvon Bundespräsident Horst Köhler und Mi-nisterpräsident Günther H. Oettinger ha-ben laut Fritz den richtigen Ton getroffen.„Wir begehen heute einen Tag der Trauer.Es liegt eine besondere Stille über derStadt. Gleichzeitig möchten wir ein erstes

Viele Geschäfte in Winnenden hatten ge-schlossen. Bild: Pavlovic

Botschaft formuliert: Wir alle müssen unse-ren Umgang mit medial vermittelter Ge-walt überprüfen, weil das genussvolle Spielmit Mord und Totschlag keine akzeptableBeschäftigung für eine zivilisierte Gesell-schaft sein kann. Das ist weder eine neue,noch eine aufsehenerregende These; es istschlichte Wahrheit. Wirklich neu ist aber,dass diese Wahrheit dank der eindringli-chen Bilder aus Winnenden tief ins gesell-schaftliche Bewusstsein vordringen kann.Trierischer Volksfreund:Diese Wortmeldung (der offene Brief derEltern) kann man nicht als Reflex von Men-schen abtun, die wütend und verzweifeltsind. Was die Angehörigen der Opfer vonWinnenden in ihrem offenen Brief formu-liert haben, ist eine sehr überlegte und dif-ferenziert vorgetragene Erkenntnis, die ausihrer Betroffenheit gewachsen ist. Umsomehr hat sie Gewicht.Berliner Zeitung:Amokläufe sind nicht zu verhindern, siekönnen allenfalls erschwert werden. Selbstbei einem generellen Waffenverbot wirdderjenige, der zu einer solchen Tat ent-schlossen ist, Mittel und Wege finden, sicheine Schusswaffe und Munition zu besor-gen. Oder er wird die Tat auf andere Weisebegehen.

Allgemeine Zeitung (Mainz):Die Familien getöteter Schüler haben einunmissverständliches Signal gesetzt mit ih-rer Forderung, den Zugang zu Waffen zu er-schweren, gegen Killerspiele und andereextreme Gewaltdarstellungen vorzugehen.Diese Forderung ist weit mehr als nur einmoralischer Appell, er muss Verpflichtungsein für alle, die politische Verantwortungtragen. Es geht nicht zuletzt darum, dassdie Gesellschaft klar Stellung bezieht. Unddabei wäre eine Laissez-faire-Grundhal-tung à la «Macht, was ihr wollt, man kannja doch nichts ändern» verhängnisvoll. DieMaterie ist juristisch kompliziert, grundge-setzlich garantierte Freiheitsrechte sind zubeachten. Andererseits ist dem Grundge-setz auch bei extensivster Auslegung keinRecht auf leichtfertigen Umgang mitSchusswaffen oder bedenklichen Internet-seiten zu entnehmen.Münchner Merkur:Wenn man nach dem Fünkchen Hoffnungim schwarzen Meer der Trauer suchenmöchte, dann könnte man es vielleicht inder Anteilnahme von Millionen Menschenfinden, die dem Gedenken persönlich, aberauch mit den elektronischen und gedruck-ten Medien beigewohnt haben. Die Hinter-bliebenen haben eine unmissverständliche

Großes Medien-EchoSo kommentieren heute die Zeitungen

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Nummer 68 – RMR7Montag, 23. März 2009Rems-Murr RUNDSCHAU B7

EXTRA: Der Tag der Trauer: Dokumentation

Bundeskanzlerin Merkel beim Kondolieren in der Borromäus-Kirche. Bild: dpa

Nichts ist mehr, wie es warDie Rede des Bundespräsidenten Horst Köhler in der St.-Karl-Borromäus-Kirche

und böse. Also handeln wir auch danach!Helfen wir denjenigen, die sich in medialenScheinwelten verfangen haben und aus ei-gener Kraft nicht mehr zurückfinden. Hel-fen wir auch Eltern, denen ihre Kinder zuentgleiten drohen.

Und schauen wir auch genau hin, welcheBilder wir uns von unseren Mitmenschenmachen, welche Menschenbilder wir in un-serer Umgebung akzeptieren und von wel-chen wir uns selbst beeinflussen lassen:Welche Erwartungen haben wir an andere?Wie schön, klug und kraftvoll muss einersein, um dazuzugehören? Und wie verlorenmuss sich einer fühlen in einer Gesellschaft,die täglich scheinbare „Stars“ produziertund sie morgen schon wieder vergessen hat?Was wird aus denen, die solchen Bildernnicht entsprechen? Wie schnell fällt eineraus dem Rahmen - nur weil er anders ist, alswir es von ihm erwarten; nur weil wir zu be-quem sind, um nachzudenken und unsereSchablonen zu korrigieren? Einen Men-schen so wahrzunehmen, wie er ist - das istdie wichtigste Voraussetzung, um einanderverstehen und annehmen zu können, um ei-nander zu helfen.

Da haben auch die Schulgemeinschafteneine wichtige Aufgabe. Wenn ihnen viel gu-tes Miteinander gelingt und wenn sie dabeiunterstützt werden, wenn sie geprägt sindvon Aufmerksamkeit, von gegenseitigerWertschätzung und Sorge füreinander,dann macht das junge Menschen stark undhilft, dass niemand zurückbleibt.

Wir wurden in den letzten Tagen Zeugenvon sinnloser Gewalt und unermesslichemLeid. Wir haben aber auch erlebt, wie Men-schen füreinander da waren, wie sie sich ge-genseitig stützten und beistanden, wie sieZeit und Trost füreinander hatten. Ich dan-ke allen, die geholfen haben und dabei oftbis an ihre eigenen Grenzen gegangen sind:der Schulleiterin Frau Hahn und ihremStellvertreter Herrn Stetter, den Lehrerin-nen und Lehrern, den Schülerinnen undSchülern, die während des Attentats geis-tesgegenwärtig reagierten und ihre Schülerund Mitschüler schützten, den freiwilligenHelfern, den Polizisten, Rettungskräften,Ärzten, Psychologen und Seelsorgern. Undich danke allen, die in den vergangenen Ta-gen füreinander da gewesen sind.

Ich danke den Menschen aus Erfurt, beidenen der Amoklauf am 11. März schreckli-che Erinnerungen geweckt hat und die nunihre Hilfe bei der Bewältigung des Un-glücks angeboten haben. Ich danke den vie-len Menschen aus dem In- und Ausland, diein Briefen, E-Mails und im Internet ihr Mit-gefühl und ihre Solidarität ausgedrückt ha-ben. Viele Beileidsbriefe kamen aus den öst-lichen Bundesländern. Es ist gut zu wissen,dass unser Land in dieser Stunde der Trau-er zusammensteht und dass Menschenüberall auf der Welt Teil dieser Trauerge-meinde sind.

Unsere Gedanken sind bei den Verletztenund bei denjenigen, die nicht die Kraft ge-funden haben, heute bei uns zu sein.

Liebe Angehörige, meine Frau und ich, wirwünschen Ihnen Kraft und Zuversicht. Wirwünschen Ihnen, dass Ihr Leben wieder ei-nen Rahmen findet - einen Rahmen, der Ih-nen hilft, weiterzuleben, und in dem auchdie Toten und Verlorenen, der Schmerz unddie Trauer ihren Platz finden. Wir wün-schen Ihnen die Zeit, die Sie brauchen, undMenschen, die in echter Anteilnahme beiIhnen sind.

Ganz Deutschland trauert mit Ihnen.Sie sind nicht allein.

Erfurter Gutenberg-Gymnasium gesagt:„Wir sind ratlos und wir spüren, dassschnelle Erklärungen so wenig helfen wieschnelle Forderungen.“

Es ist wahr: Amokläufe wie der in Erfurt,in Emsdetten und jetzt hier in Winnendenund Wendlingen führen uns auf schmerzli-che Weise vor Augen, wie verletzlich undzerbrechlich unser Leben ist, wie trügerischunser Gefühl von Normalität und Sicher-heit. Wir spüren, wie uns plötzlich der Bo-den unter den Füßen weggezogen wird. Wirsuchen Halt: bei Freunden und Angehöri-gen; bei Menschen, die das gleiche Schick-sal erlitten haben; im Glauben an Gott.

Solche Taten führen uns an die Grenzedes Verstehens. Und auch an die Grenze desSagbaren, hinter der alles Deuten, Fordernund Erklärenwollen schnell unsäglich wird.

Ja, wir haben Angst und sind ratlos. Abersolange wir einander halten und helfenkönnen, sind wir nicht hilflos.

Ja, viele von uns vergehen vor Schmerz.Aber solange wir einander trösten können,ist unser Leben nicht trostlos.

Ja, wir können keinen Sinn in dieser Taterkennen. Aber solange es Menschen gibt,die uns brauchen und auf die wir achten,solange wir eine Aufgabe haben, ist unserLeben nicht sinnlos.

Wir haben in den letzten Tagen aufschmerzliche Weise gespürt, was wirklichwichtig ist im Leben.

Wirklich wichtig ist, dass wir spüren,wenn einer verletzt ist und Hilfe braucht.Dass wir uns unserer eigenen Verletzlich-keit und unserer eigenen Grenzen bewusstsind.

Wir brauchen den Trost, das Schweigen,das Zuhören und das Einfach-nur-Daseinunserer Mitmenschen.

Wirklich wichtig ist, dass wir uns umei-nander kümmern, dass wir uns gegenseitigannehmen und dass wir füreinander dasind.

Wir haben großen Respekt vor der Tap-ferkeit der örtlichen Polizeibeamten, diehier in Winnenden mit hohem persönlichemRisiko noch Schlimmeres verhindert haben.Ihr rasches Eingreifen war auch eine Kon-sequenz aus früheren Amoktaten.

Doch es bleiben Fragen an uns alle: Tunwir genug, um uns und unsere Kinder zuschützen? Tun wir genug, um gefährdeteMenschen vor sich selbst zu schützen? Tunwir genug für den inneren Frieden bei uns,den Zusammenhalt? Wir haben uns auchalle selbst zu prüfen, was wir in Zukunftbesser machen, welche Lehren wir aus die-ser Tat ziehen müssen.

Zum Beispiel wissen wir doch schon lan-ge, dass in ungezählten Filmen und Compu-terspielen extreme Gewalt, die Zurschau-stellung zerstörter Körper und die Erniedri-gung von Menschen im Vordergrund stehen.Sagt uns nicht der gesunde Menschenver-stand, dass ein Dauerkonsum solcher Pro-dukte schadet? Ich finde jedenfalls: DieserArt von „Marktentwicklung“ sollte Einhaltgeboten werden.

Eltern und Angehörige von Opfern habenmir gesagt: „Wir wollen, dass sich etwas än-dert.“ Meine Damen und Herrn, das will ichauch. Das sollten wir alle wollen. Und da istnicht nur der Staat gefordert. Es ist aucheine Frage der Selbstachtung, welche Filmeich mir anschaue, welche Spiele ich spiele,welches Vorbild ich meinen Freunden, mei-nen Kindern und Mitmenschen gebe. ZurSelbstachtung gehört es, dass man „Nein“sagt zu Dingen, die man für schlecht hält -auch wenn sie nicht verboten sind. Diemeisten von uns haben ein Gespür für gut

W ir gedenken heute der Opfer einesfurchtbaren Verbrechens. Wirtrauern um

Jacqueline Hahn,

Ibrahim Halilaj,

Franz Josef Just,

Stefanie Tanja Kleisch,

Michaela Köhler,

Selina Marx,

Nina Denise Mayer,

Viktorija Minasenko,

Nicole Elisabeth Nalepa,

Denis Puljic,

Chantal Schill,

Jana Natascha Schober,

Sabrina Schüle,

Kristina Strobel,

Sigurt Peter Gustav Wilk.

Wir trauern um acht Schülerinnen, einenSchüler und drei Lehrerinnen der Albert-ville-Realschule in Winnenden. Wir trauernum drei Männer, die der Täter auf seinerFlucht wahllos tötete, ehe er sich selbst dasLeben nahm.

Wir trauern mit allen Eltern, die Kinderverloren haben, mit den Freundinnen undFreunden der Getöteten, mit den Familiender ermordeten Erwachsenen.

„Nichts ist mehr, wie es war.“ Dieser ver-zweifelte Satz war in den letzten Tagen oftzu hören: in Winnenden und Wendlingen, inWeiler zum Stein und in vielen anderen Or-ten überall im Land und darüber hinaus.Ein junger Mensch hat 15 Mitmenschen unddann sich selbst getötet. Er hat gemordet -und er hat viele an Leib und Seele verletzt.Er hat Familien in Trauer und Verzweiflunggestürzt - auch seine eigene. Auch sie hatein Kind verloren. Auch für sie ist eine Weltzusammengebrochen.

Wir haben die schrecklichen Bilder vomvorletzten Mittwoch noch vor Augen: dieBilder von Eltern, die voller Angst aufNachricht von ihren Kindern warten. DieBilder von jungen Menschen und von Er-wachsenen, die sich weinend in den Armenliegen. Das Bild eines Polizeipräsidenten,dem die Stimme versagt. Die Bilder derTrauernden an der improvisierten Gedenk-stätte mit Kerzen, Blumen und Plakaten.

Jedes Kind ist unschuldig geboren. Wennein Kind stirbt, dann sterben auch Hoff-nung und Zukunft mit ihm. Deshalb entset-zen uns Berichte über Gewalt gegen Kinderso sehr. Was aber, wenn Kinder selbst zuMördern werden? Uns quälen die immergleichen Fragen: Wie konnte das gesche-hen? Wie kann ein Mensch so etwas tun?Gab es keine Alarmsignale, keine Zeichen,auf die man hätte reagieren können? Man-che werden sich auch fragen, wie Gott so et-was zulassen kann. Und viele Angehörigefragen sich: „Wie soll unser Leben nun wei-tergehen?“

Bundespräsident Johannes Rau hat vorsieben Jahren nach dem Mordanschlag am

Für jedes der 15 Opfer wurde eine Kerze entzündet. Bild: dpa

„Ganz Deutschland trauert mit Ihnen“ – Ehepaar Eva Louise und Horst Köhler. Bild: dpa

Winnenden Nummer 68 – WIS1Montag, 23. März 2009

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