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SWR2 ESSAY EWIG LEBEN – WIE, WER UND WOZU?
ÜBERMENSCHLICHES UND ALLZUMENSCHLICHES IM AKTUELLEN TRANSHUMANISMUS
VON JOHANNES ULLMAIER SENDUNG /// 30.12.2013 /// 22.03 UHR Redaktion Künstlerisches Wort /// Literatur /// Stephan Krass Übernahme BR vom 15.08.2013 Regie: Barbara Schäfer __________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung
und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
__________________________________________________________________
2
Musik Tortoise Djed
You Tube: Ray Kurzweil Human Enhancement and Singularity
Ansage
U: Guten Tag, mein Name ist Johannes Ullmaier, ich bin, wie Sie vielleicht auch, ein
sterblicher, beschränkter Mensch. Wurde aber in eine Zeit geboren, wo es zum
ersten Mal ernstzunehmende, sehr erfolgreiche Leute gibt, die behaupten, dass es
mit den menschlichen Beschränkungen und mit der Sterblichkeit sehr bald vorbei
sein wird:
K: Die Singularität wird uns erlauben, die Beschränkungen unserer biologischen
Körper und Gehirne zu transzendieren. Wir werden die Macht über unser Schicksal
erlangen. Unsere Sterblichkeit wird in unseren eigenen Händen liegen. Wir werden
so lange leben können, wie wir wollen.
A: Der hier spricht, ist nicht irgendwer: Ray Kurzweil, Jahrgang 1948, Erfinder,
Wissenschaftler, Kybernetiker und Mitbegründer Singularity University im Silicon
Valley, ist der wohl einflussreichste Repräsentant der sogenannten
transhumanistischen Bewegung, die das Hinauswachsen des Menschen über sich
selbst – vor allem über den eigenen Tod – zum intellektuellen wie technischen
Programm erhoben hat.
Musik ff
You Tube s.o.
K: Die Singularität bezeichnet den Höhepunkt der Verschmelzung unseres
biologischen Denkens und Seins mit unserer Technologie [...]. Nach Eintreffen der
Singularität – und sie ist nah – wird es keine Unterscheidung mehr zwischen Mensch
und Maschine oder zwischen physischer und virtueller Realität geben.1
U: Wahnsinn! Da bereitet sich offenbar die größte Revolution der
Menschheitsgeschichte vor, und die europäische oder gar deutsche Öffentlichkeit,
3
der antiquierte Durchschnittsmensch nimmt es nur ganz am Rand zur Kenntnis, starrt
stattdessen unverdrossen aufs Politbarometer oder seine neueste App – was für eine
Ignoranz! Andererseits denke ich mir als christlich sozialisierter Mensch natürlich
gleich: „Singularität? Das klingt doch sehr nach Apokalypse und Neuer Zeit? Und
Ewiges Leben? Das kenn ich bzw. kennen wir Christen doch alles schon, seit fast
zweitausend Jahren. Und außer ein paar Leuten, die da noch ernsthaft dran glauben,
haben wir in der langen Zeit ganz gut gelernt, uns lieber klug im Diesseits
einzurichten, als das Jenseits zu erwarten. Kurzweil rennt bei uns also zwar offene
Türen ein – die aber bei den meisten längst vermauert sind. Wozu brauchen wir da
also eine neue Religion?
K: Ich bin nicht von einem Bündel religiöser Gebote oder Ideen darüber
ausgegangen, wie das Leben sein sollte, sondern meine Gedanken entstanden vor
einem wissenschaftlichen Hintergrund. Ich komme vielleicht zu ähnlichen
Ergebnissen wie manche Religionen im Hinblick auf die Idee, den Tod zu
überwinden, das Leid zu besiegen und über das hinauszuwachsen, was wir sind,
indem wir unsere Beschränkungen überschreiten. Aber meine Vorhersagen sind
nicht religiös, da sie nicht auf Glauben basieren, sondern auf der wissenschaftlichen
Auswertung technologischer Trends und Untersuchungen.2
A: Die Sicht der Transhumanisten auf die Gegenwart ist keine im klassischen Sinne
religiöse. Eher die von Menschen, die schon heute in der Welt von Morgen zu leben
und zu denken versuchen: Und solange die Evolution voranschreitet, sieht jede
Gegenwart – so aus der Zukunft angeschaut – natürlich ziemlich alt aus. Zumal im
Bewusstsein der nie gesehenen, ja kaum vorstellbaren Umwälzungen, die der
Menschheit bald bevorstehen. Und zwar nicht in irgendeiner fernen, unbestimmten
Zukunft, sondern noch zu Lebzeiten der allermeisten, die jetzt, im Jahr 2013, gerade
zuhören. Und nicht etwa nur eine Umwälzung, sondern ein ganzes Bündel
ineinandergreifender Durchbrüche, von denen jeder einzelne das menschliche Leben
schon radikal verändern würde, die in der Summe aber eine völlig neue Welt
erschaffen werden.
U: Wenn es so ist, möchte ich natürlich doch etwas genauer wissen, was auf dieser
transhumanistischen Agenda steht...
4
Musikakzent Tortoise Djed
A: Erstens: die Entwicklung einer computerbasierten Künstlichen Intelligenz, die ihren
Namen endlich wirklich verdient, weil sie dem Menschen nicht nur im Schach oder
bei Jeopardy überlegen ist, sondern bei jeder erdenklichen Tätigkeit oder
Problemlösung, bis hin zur Kunst und Empathie. Weshalb sie sich ab einem
gewissen Punkt nur noch selber fortentwickeln kann – und wird, ohne dazu länger
ihrer menschlichen Erfinder zu bedürfen.
Zweitens: die Dechiffrierung und Anwendung von biologisch-genetischen Verfahren,
die es erlauben, umfassend in evolutionäre Prozesse einzugreifen, sie also so zu
programmieren, dass die ‚Evolution der Evolution„ künftig nicht mehr auf zufällige
Mutationen angewiesen ist und für jeden kleinen Fortschritt viele Generationen oder
Jahrmillionen braucht, sondern stattdessen zu einem Zweig der
Informationstechnologie wird – und damit zur Chance, auch die menschliche Biologie
planvoll und in kurzer Zeit zu perfektionieren und zu transformieren.
Drittens schließlich: die flächendeckende Durchsetzung der Nanotechnologie, vor
allem in Form winziger Roboter, die nicht nur sämtliche Umwelt- und
Energieprobleme lösen werden, sondern mit deren Hilfe die Software der neuen
Super-Intelligenz und der neuen Super-Biologie auch in der Hardware des
menschlichen Körpers installiert werden kann: sei es, um nach Belieben zwischen
der realen Welt und allen nur erdenklichen virtuellen Realitäten hin- und herwandern
zu können; oder sei es, vor allem, um erkrankte Körperzellen zu reparieren und
veraltete zu regenerieren – also den natürlichen Verfall, letztlich den Tod zu
überwinden.
Musik Tortoise Djed
You Tube Ray Kurzweil How far to Immortality
“In 15 years we will…its never an infinite amount on time…”
U: Das klingt wirklich nicht gerade nach abendländischer Metaphysik, sondern nach
einer Zukunftskonzeption für das reale Diesseits. Andererseits könnte ich meinen
vorigen Einwand jetzt einfach etwas modernisieren und sagen: Wissenschaftliche
Auswertung technologischer Trends – schön und gut. Aber gerade als Kenner der
5
Futurologie-Geschichte und geübter Mediennutzer weiß ich doch, dass solche
futuristischen Verheißungen mit meiner außermedialen Lebenswelt nur sehr begrenzt
etwas tun haben. Sicher, in Romanen und Comics, in Hollywood und
Computerspielen klappt immer alles, wenn auch mit großem finanziellem und
kreativem Aufwand. Aber genauso, wie wir uns in Text und Bild schon längst an
Cyborgs, intergalaktischen Personenverkehr, Zeitreisen, die Apokalypse und – von
Mickey Mouse über James Bond bis Lara Croft – auch an alterungslose, ewig
lebende Figuren gewöhnt haben, haben wir uns umgekehrt auch längst – und mit
dem Scheitern der bemannten Weltraumfahrt endgültig – damit abgefunden, dass
das Meiste davon in der Wirklichkeit nicht hinhaut: Die jeweils neueste Künstliche
Intelligenz ist doch nie halb so intelligent wie die dafür gestellten Förderanträge; der
neueste Cyber-Anzug sitzt wieder ziemlich schlecht und sieht noch schlechter aus;
die Lichtgeschwindigkeit wird wieder nicht überschritten, weder im Raumgleiter noch
bei der Krebs-Gen-Therapie – und am Ende sterben doch alle. So gesehen hat es
durchaus seine Richtigkeit, auch Kurzweils Techno-Prophezeihungen eher der
immerwährenden Science-Fiction-Folklore zuzurechnen – gut für ein
Wochenenddossier, aber bei aller Pfiffigkeit nichts wirklich Ernstzunehmendes.
A: Mag vieles bei Ray Kurzweil zugleich phantastisch und doch aus der Popkultur
vertraut klingen, so war er in seinem bisherigen Leben alles andere als ein Phantast;
und die transhumanistische Bewegung ist alles andere als eine verschrobene,
einflusslose Psychosekte unter vielen. Nicht primär wegen Kurzweils Herkunft aus
einer wiener jüdischen Emigrantenfamilie, die nur knapp dem Holocaust entging, was
ihn assoziativ in die Nähe anderer US-Wissenschaftsheroen wie John von Neumann
oder Eric Kandel rückt; nicht aufgrund der achtzehn Ehrendoktorwürden und
unzähligen Auszeichnungen, teils von höchsten US-Regierungsstellen, die Kurzweil
bis dato zuteil wurden; und auch nicht wegen der abermillionen Dollar, die er als
universalistischer Erfinder im Geiste Thomas Edisons oder Nikola Teslas mit seinen
zahlreichen Patenten verdient hat – darunter so populäre wie eine Computer-
Lesemaschine für Blinde (etwa den befreundeten Stevie Wonder) oder die zeitweise
überzeugendsten Nachahmungen natürlicher Musikinstrumente auf dem Synthesizer.
Was Kurzweils Kombination aus Heilslehre und technologischem Programm vielmehr
entscheidend über konkurrierende Bewegungen – und auch alle seine Kritiker –
hinaushebt, ist, dass er mit der von ihm 2009 mitbegründeten Singularity-University
6
über eine Infrastruktur verfügt, die geographisch wie sozial mitten im Machtzentrum
der Gegenwart platziert ist, nämlich im Silicon Valley, genauer: auf dem
Forschungsgelände der NASA. Die Chefs von Google gehen dort ein und aus, Bill
Gates bewirbt seine Bücher.
U: Verstehe, das bedeutet, während ich als Kulturkritiker hier noch meine Gedanken
und Fragen zum Transhumanismus zu sammeln versuche, weiß die digitale
Machtzentrale aufgrund meines Tracking-Profils im Prinzip schon, was ich sagen
werde und ob ich als öffentliche Stimme überhaupt ernstzunehmen bin...
A: Den Totalitätsanspruch und die reale Macht des Transhumanismus artikuliert
Peter Diamandis, Kurzweils etwas weniger feinsinnige Kollege und Leiter der
Singularity University, mit aller Offenheit:
D: Wir werden Gott sein! Omnipotent sein! Unser Gehirn an Google anschließen
können, um etwas auf der anderen Seite der Welt kontrollieren zu können! Um die
Gedanken von jedem Menschen zu kennen zu jeder Zeit!3
You Tube Ray Kurzweil How far to immortality
“People will think it’s crazy…didn’t back up their Email…”
U: Ich sehe ein: Sich mit Kurzweils Ideen zu beschäftigen, lohnt sich – völlig
unabhängig davon, wie realistisch, stimmig oder originell sie sind. Denn sie
beschäftigen sich doch schon ziemlich handgreiflich mit uns. Wenn man nicht ganz
blind sein will, erkennt man in den rasend evolvierenden Datenkonglomeraten, Big-
Data-Routinen und Real-Schnittstellen dieses digitalstaatsindustriellen Komplexes
leicht die ersten Regungen künftiger Trans-Intelligenzen, wie bei Frankenstein, da
stöhnt es schon...kurz vorm Erwachen.
A: Niemand, der auf dieser Welt noch ein paar Jahre zu leben und zu kommunizieren
hat und dafür Geld verdienen muss, wird von dem, was der kalifornische
Transhumanismus prophezeit und propagiert, ganz unbehelligt bleiben. Bereits in
den vergangenen dreißig Jahren hat sich der „Intelligenz“-Abstand zwischen den
Maschinen und den Menschen, die sie bedienen, radikal zu Ungunsten der letzteren
7
verändert. Und der Zeitpunkt, wo sie – auch über den Einzelnen – vermeintlich alles
besser wissen werden als dieser selbst, ist absehbar.
You Tube Ray Kurzweil Human Enhancement
“We will expand to the rest of the universe.”
K: Am Ende dieses Jahrhunderts wird der nicht-biologische Anteil unserer Intelligenz
Trillionen mal so mächtig sein wie unsere heutige menschliche Intelligenz.4
U: Ist mir das egal, solange es nur bequem ist? Ist es mir egal, womöglich bald in
allem, worin ich involviert bin, immer das schwächste, dümmste, austauschbarste
Glied zu sein? Kann das auf Dauer gutgehen? Und ist es uns zuletzt auch schon
egal, ober ich und alle, die mir wichtig sind, dabei am Ende auch noch unsterblich
werden? Oder gerade nicht? Oder als Menschheit abgeschafft? Oder gar beides
gleichzeitig?
K: Im Jahr 2099 werden Menschen, deren Existenz auf Software beruht, gegenüber
denjenigen, die noch immer die traditionelle neuronale und auf organische Zellen
sich gründende Verarbeitungsmethode nutzen, bei weitem in der Überzahl sein.5
You Tube Ray Kurzweil Human Enhancement
“Maybe intelligences from other…. expand to the rest of the universe.”
U: Wie aber soll ich mich als Mensch der Gegenwart mit den Verkündigungen dieser
transhumanen Zukunft auseinandersetzen?
Die bequemsten Reaktion wäre natürlich: einfach alles glauben und selbst
Transhumanist werden. Aber was ist, wenn es bei aller transhumanen Frömmigkeit
mit der Selbstverbesserung oder Unsterblichkeit dann doch schiefgeht? Wegen
technischer Probleme; oder weil ich den Eintrittspreis nicht zahlen kann; oder weil die
Übermensch-Maschinen mich aus irgendwelchen Gründen nicht für würdig halten?
Und was, wenn es zwar funktioniert, das transhumane Dasein sich jedoch als Hölle
offenbart, in der ich dann für immer festsitze?
Musik Tortoise Djed
8
U: Die bequemste Alternative wäre, wie bisher, einfach alles tapfer ignorieren. Aber
auch da stellt sich die bange Frage: Was mache ich, wenn auf dem Display des
Digital-Monopolisten meiner Wahl mal plötzlich steht:
Service-Stimme: Lieber User, unsere Geschäftsbedingungen haben sich geändert.
Wenn du unsere Dienste, ohne die du nicht mehr existieren kannst, weiter nutzen
möchtest, dann willige jetzt bitte ein, dass wir aus den von uns zusammengeführten
Daten deinen transhumanen Super-Avatar kreieren und auf unserem Cloud-Server
bereitstellen. Du kannst ihn dann entweder selber aktivieren. Und so in ihn
übergehen. Oder wir aktivieren ihn und sehen, wie lang du neben ihm noch
durchhältst.
U: Wer hilft mir dann, wenn ich gerne noch ein bisschen Mensch bliebe? Die Politik?
Der Staat? Nach aktuellem Stand wohl kaum. Deren Repräsentanten werden tun, als
wüssten sie von nichts – obwohl ich ahne, dass sie schon selbst mehrheitlich Avatare
sind. Und die anderen User? Solidarisieren sie sich? Am digitalen Monopol vorbei?
Wohl kaum. Die große Mehrzahl wird tun, was sie so lang trainiert hat: einwilligen.
Und sonst? Ist außer ein paar analogen Außenseitern, Aborigines und
Altenheimbewohnern leider niemand mehr zu sehen.
Musik Tortoise Djed
A: Öffentlichkeit und Politik sollten flächendeckend zur Kenntnis nehmen, dass der
Transhumanismus grundsätzliche Fragen aufwirft, die nicht trivial und nicht leicht zu
entscheiden sind. Und denen man sich als Individuum wie als Gesellschaft stellen
muss, bevor Konzerne, Algorithmen oder transhumane Übermenschen allen die
Antworten diktieren – oder die Debatte sich von selbst erübrigt, so wie Kurzweil es in
einem seiner fiktiven Dialoge mit Kollegen und Kritikern – hier mit Ned Ludd, dem
klassischen Maschinenstürmer des 19. Jahrhunderts – schlagend pointiert:
Musik ff
9
Ludd: Ray, dir entgeht etwas! Wir sind einfach biologische Wesen. Und ich glaube,
die meisten würden bestätigen, dass das eine grundlegende Eigenschaft des
Menschseins ist.
K: Heutzutage, sicher...
L: Und ich plane, es auch weiterhin so zu halten!
K: Wenn du für dich selber sprichst, geht das für mich in Ordnung. Aber wenn du
biologisch bleibst und deine Gene nicht reprogrammierst, wirst du die Debatte
sowieso nicht mehr lang beeinflussen können.6
U: Man sollte die Debatte also führen, solange alle Beteiligten noch „biologisch“ sind,
am besten gleich. Dafür würde man natürlich zunächst gern noch einmal etwas
genauer wissen, was es mit dieser Singularität und dem unbegrenzten Leben
konkreter auf sich hat.
Musik Tortoise Djed
You Tube Ray Kurzweil Human Enhancement
My prediction is, objective….out in the Cloud.”
A: Laut Ray Kurzweil werden die kybernetische, die biotechnologische und die
nanotechnologische Revolution gemeinsam um das Jahr 2045 zu einem prinzipiell
neuen Weltzustand führen, den er – in Anschluss an John von Neumann und Vernor
Vinge – die „Singularität“ nennt. Nicht im Sinne der Mathematik, wo der Ausdruck die
Definitionslücke einer Funktion meint, etwa bei der Division durch Null. Oder im
Sinne der Astrophysik, wo er für ein schwarzes Loch steht. Sondern als Metapher für
das bislang Unvorstellbare, was geschehen wird, sobald das vom Menschen
erschaffene Übermenschliche einmal das Kommando übernimmt und die weitere
Zukunft modelliert.
Eingebettet ist Kurzweils Singularität in eine universale Weltgeschichtsphilosophie
aus sechs zwar jedesmal aufeinander aufbauenden, sich aber stets überbietenden
und deshalb auch immer kürzeren Epochen:
K: Epoche 1: Physik und Chemie seit dem Urknall – Epoche 2: Biologie und DNA seit
Entstehung des Lebens – Epoche 3: Das Gehirn, seit den ersten Mustererkennungen
10
und -repräsentationen durch Tiere – Epoche 4: Technologie als den Menschen
definierende Möglichkeit, innere Modelle in die Außenwelt zu exportieren und dort
wirksam werden zu lassen, vom Steinkeil bis zum Internet – Epoche 5: Die
Verschmelzung von menschlicher Technologie und menschlicher Intelligenz, wie jetzt
gerade massiv beginnt und alsbald in die Singularität münden wird – sowie
schließlich: Epoche 6: Das Universum erwacht – d.h. die neue Hyperintelligenz wird
das gesamte Universum kolonisieren.7
A: Dabei ist Ray Kurzweil – wie gesagt: Jahrgang 1948 – fest davon überzeugt, dass
er all das noch selbst erleben wird. Und zwar nicht als gebrechlicher Greis kurz vor
dem Dahinscheiden, sondern als agiler Transmensch von nur 97 Jahren, dem noch
viele Jahre, ja Jahrtausende bevorstehen. Wie das konkret vor sich gehen soll, hat er
in Büchern wie „Transcend. Nine Steps to Living Well Forever“ oder „Fantastic
Voyage. Live Long Enough to Live Forever” detailliert beschrieben – bis hin zu
einzelnen Gymnastikübungen und Kochrezepten.
U: Oje, „1001 Rezepte, die sie kochen sollten, bevor Sie unsterblich werden“, das
klingt doch wieder eher nach Psychosekte und Quacksalberei.
A: All das ist freilich nur der erste Schritt, genauer gesagt: die erste von drei Brücken
zur Unsterblichkeit:
K: Brücke Eins handelt von allem, was man im Hier und Jetzt tun kann, um jene
Prozesse zu verlangsamen, die zu Krankheit und Altern führen, sie in vielen Fällen
sogar ganz zu stoppen. […] Diese Brücke Eins bringt dich über eine bewegliche
Grenze, da sich unser Wissen über Biologie und darüber, wie man ihre
Begrenzungen überwindet, beständig erweitert – und zwar exponentiell.
So führt uns Brücke Eins zu Brücke Zwei, welche die volle Entfaltung der
biotechnologischen Entwicklung markiert. In weniger als zwei Jahrzehnten werden
wir die Mittel dazu haben, unsere eigene Biologie zu perfektionieren, indem wir die
sie steuernden Informationsprozesse vollkommen neu programmieren. Wir werden
imstande sein, unsere Gene zu verändern, Jahrzehnte länger – und gut! – zu leben,
als wir es uns heute unter einem langen Leben vorstellen.
11
Dies wiederum bringt uns zu Brücke Drei – der vollen Blüte der nanotechnischen
Revolution, wo wir über die Grenzen der Biologie hinausgehen und unendlich leben
können.8
A: Dieser Brückenpfad zum unbegrenzten Leben braucht natürlich ein breites
technisches Fundament. Und dieses Fundament, wovon, wie Kurzweil einräumt,
noch entscheidende Teile fehlen, entsteht, wie er als erfahrener Erfinder weiß,
mitnichten sprunghaft, sondern als Synthese aus unzähligen kleinen Fortschritten auf
den verschiedensten Gebieten. Wann dabei genau welches Patent angemeldet
werden kann, ist nicht vorhersagbar. Doch die Richtung ist laut Kurzweil klar. Und
auch, dass die Entwicklung sich – so wie die Technikgeschichte insgesamt – stets
weiter beschleunigen wird. Dem entspricht die exponentielle Zunahme der Speicher-
und Rechenkapazitäten von Computern, wie Gordon Moore sie 1965 postuliert hat,
und wie sie sich seither überwältigend vollzieht.
U: Also wenn ich das hör, denke ich wunderbar, der einladende US-Optimismus,
nicht dieses alteuropäische Gemüffel, dieser Untergang, zum Museum werden,
Kalifornien, das ist der Aufbruch, Go West bis zum Pazifik, zum Mond, nach innen, in
die Psychedelic Welt, Timothy Leary, der im späteren Leben Transhumanist wurde.
Hier bei Kurzweil geht es weiter mit dem den Aufbruch in die Nanosphäre und
entscheidende, ins ewige Leben. Immer der praktische Geist der Hippie-Utopisten,
jedes Problem ist lösbar mit Technik. Gegenteil der deutschen Stimmung, in
Deutschland Hauptsache bremsen, was zwar so polarisiert nicht stimmt, aber man
muss schon zugeben, die Kalifornier legen hier eine Dynamik vor, hier wir nicht
gebremst, hier wird nach vorne geblickt. Wenn man nicht überrollt werden will, sollte
man das entschieden organisieren. (Take 23)
A: In wenigen Jahren wird die Komplexität der Computer die Dimension des
menschlichen Gehirns erreichen und rasch überschreiten. So rast die Welt von sich
aus unaufhaltsam auf die Singularität zu. Und wer willens und fähig ist, sich dafür
bereit zu machen, kann das Wunder selber miterleben – und vor allem: überleben.
Kurzweil, selbst als Unitarier aufgewachsen, hat dafür einen charakteristischen
Begriff:
12
K: Ich betrachte jeden Menschen, der die Singularität begreift und deren
Auswirkungen auf sein oder ihr eigenes Leben reflektiert hat, als ‚Singularitianer„.9
U: Gut, dann werde ich also Singularitianer, insofern, als ich versuche, diese
Auswirkungen zu reflektieren. Aber wo beginnen? Es sind so viele Fronten. Und so
viele verschiedenen Ebenen.
A: Um eine sinnvolle Debatte über den Transhumanismus zu führen, wird man nicht
darum herumkommen, verschiedene Fragenfelder auseinanderzuhalten:
1) Was ist technisch überhaupt möglich? Respektive wie wahrscheinlich? Und bis
wann?
2) Welche Konsequenzen – und womöglich Paradoxien – ergeben sich jeweils
daraus? Vor allem bei der Frage nach dem unbeschränkten Leben.
Und auf dieser Basis schließlich 3) Was wollen wir? Als Gesellschaft und als
Einzelne?
U: Gut, dann frag ich mich jetzt also als Mensch im Dialog mit Kurzweil, was es mit
diesem ewigen Leben auf sich hat.
Musik Tortoise Djed
U: Bei aller Grundsätzlichkeit, oder gerade deswegen, darf man natürlich auch nicht
außer Acht lassen, dass der kalifornische Transhumanismus, auch wenn
Gesellschaft bei ihm, wenn überhaupt, meist nur als Bremse vorkommt, die
Entstehung des unbegrenzten Lebens ja nicht im luftleeren Raum propagiert,
sondern durchaus in einen ganz bestimmten gesellschaftlichen Kontext:
K: Denn das Gesetz des sich beschleunigenden Nutzens ist im Prinzip eine
ökonomische Theorie, d.h. die primäre treibende Kraft des technischen Fortschritts,
der eigentliche Brennstoff dieses Gesetzes ist nichts anderes als der ökonomische
Imperativ konkurrierender Marktkräfte. [...] Und dieser ökonomische Imperativ ist das
Äquivalent zum Überleben in der biologischen Evolution.10
13
U: An solchen Statements merkt man, im transhumanen Kalifornien weht der Geist
des kapitalistischen Sozialdarwinismus. Ob dort wirklich ein freier Markt herrscht, ist
eine andere Frage, aber umso mehr ist das eigene Selbstverständnis: totaler
Wettbewerb zum Zwecke maximaler Dynamik. Und insofern muss man sich
klarmachen, dass auch das Ewige Leben nach jetziger Lage bzw. Kassenlage
zunächst einmal nur als Privileg für Reiche wird entstehen können.
K: Diese Ungleichheit ist allerdings nichts Neues. Außerdem hat das Gesetz des sich
beschleunigenden Nutzens diesbezüglich einen wichtigen und hilfreichen Effekt.
Denn wegen des fortschreitenden exponentiellen Wachstums beim Preis-
Leistungsverhältnis werden all diese Techniken bald so billig werden, dass sie
praktisch kostenlos sind. Schauen Sie sich an, wie viel hochwertige Information man
heute kostenlos im Internet findet! [...] Und wie die Zugriffsmöglichkeit darauf selbst
in den ärmsten Ländern Afrikas rasant ansteigt!11
U: Das mag stimmen, andererseits: das freie Wissen im Internet ist weder überall
qualitativ hochwertig, noch das Hochwertige überall kostenlos, und frei auch insofern
nicht, als sein Abruf und seine Verwendung global überwacht werden kann – und
wird. Und außerdem gilt das ja nur Software; bei der Hardware sieht es nicht ganz so
aus; und bei ganz un-digitalen Dingen wie Wohnen, Essen, Heizen schon gar nicht.
Der prinzipielle Einwand ist aber der: Hier wird ein soziales Problem rein technisch
gelöst: Technik statt Ethik, Technik als Ethik. Und das bedeutet in Analogie zu
bisherigen Entwicklung: So wie die Tiere und die Steine nicht gefragt wurden, ob sie
Atombomben und die Wall Street wollen, werden die Menschen von den
Supermenschen auch nicht vorher gefragt werden, ob sie superüberlegene oder
unsterbliche Artgenossen haben oder selber sein wollen oder nicht. Es werden
einfach irgendwann die Tools dazu angeboten, erst teuer, dann billiger – und es wird
eine Welt gebaut, wo man diese Tools verwenden muss, wenn man darin nicht
untergehen will! Der Unterschied zu den Tieren ist allerdings: Diese hätten wir auch
relativ schlecht fragen. Uns Menschen könnte man aber eigentlich fragen. Aber wenn
niemand das tut, dann stellen wir eben unsere Fragen, zunächst also mal: Ewig
leben – Wie?
Natürlich durch Technik, aber in verschiedenen Aspekten, erstens: Selbsttechnik.
14
Musik Tortoise, Djed
K: Zum TRANSCENDieren gehören, wie das Wort selbst schon sagt, neun Elemente:
- T für Talk to your Doctor: Sprich mit deinem Doctor, analysiere deinen aktuellen
Gesundheitszustand,
- R für Relaxation: Spann auch mal aus,
- A für Assessments: Kontrolliere engmaschig deine Körperdaten, Blutwerte, etc.
- N für Nutrition: Esse gesund,
- S für Supplements: Vergiss nicht deine Nahrungsmittelzusätze, Vitaminpräparate
etc.
- C für Calories: Reduziere deine Kalorien,
- E für Exercising: Mache regelmäßig deine Gymnastikübungen,
- N für New Technologies: Setze neue Technologien gleich ein, sobald sie auf den
Markt kommen, es gibt z.B. schon erschwingliche Genom Tests – und schließlich:
- D für Detoxifying, entgifte dich.12
U: Also Selbstdisziplin, Affektkontrolle. Klappt das? Teils ja: Wer gesund lebt, lebt im
Schnitt gesünder und länger. Kurzweil selbst war Diabetiker, seine Urerfahrung:
Analyse, technische Lösung. So auch beim Altern. Jetzt von 250 Zusatzpillen am Tag
auf 200 Pillen am Tag runter.
Sachlich nun graduell etwas Neues, aber vom Modus her: Früher konnte man im
Angesicht des Todes entscheiden, zwischen verschiedenen Lebensökonomien: lang
oder kurz leben, wild oder brav? Hier passiert aber alles schon „sub specie
aeternitatis“ – also: Turnübungen für die Unsterblichkeit. Wird man die durch ein paar
blöde Exzesse gefährden? Ambivalenz von Sorgfalt mit sich selbst und
unvorstellbarer Angst um sich.
Aber natürlich ist das nur die Alte Schule der technischen Verbesserung. Etwas
handfester wird es schon bei der Körper-Hardware:
K: Wir haben inzwischen für alles Prothesen: für unsere Hüften, Knie, Schultern,
Kiefer, Zähne, Haut, Arterien, Venen, Herzklappen, Arme, Beine, Finger und Zehen.
Und Systeme, die auch komplexere Organe ersetzen können, wie etwa das Herz,
werden gerade eingeführt. In dem Maße, wie wir die Funktionsweise des
menschlichen Körpers und des Gehirns verstehen, werden wir bald in der Lage sein,
15
unvergleichlich überlegene Systeme zu entwerfen, Systeme, die länger und besser
funktionieren werden, ohne Ausfalls- oder Krankheitsrisiko, und ohne Altern.13
U: Funktioniert das? Sicher, zunehmend. Bis hin zum Paradox des Sports, wo die
Paralympiker die Olympiker in immer mehr Disziplinen hinter sich lassen, so dass
man sich zunehmend entscheiden müssen wird, was einen eigentlich interessiert: die
objektiv besten Leistungen? Oder die Paralympics der besten menschlichen
Athleten?
Das ist aber vergleichsweise Folklore: Das eigentliche Problem ist die moralische
Dimension, die hier sichtbar wird: Immer ist derselbe Prozess: Jemand hat einen
Defekt (in den USA oft Soldaten, die aus dem Krieg kommen). Man will ihnen helfen,
und sie wollen auch selbst Hilfe. Dabei entwickelt man Prothesen, diese werden aber
bald besser als die natürlichen Körperteile und entwickeln dann indirekt Druck auf
alle. Diese „Ausweitung der Moralitätszone“ wird aber von den Technikern, denen es,
wenn sie ehrlich sind, oft mehr um ihre Ingenieurs-Ehrgeiz geht als um den einzelnen
Leidenden, ausgeklammert. Hart gesagt: Die Kranken werden moralisch in Geiselhaft
genommen, um auf Dauer einen neuen, stressigeren Standard für alle zu etablieren.
Und nicht nur im Körperlichen:
K: Wir werden in dem Maß unvergleichlich klüger, in dem wir mit unserer
Technologie verschmelzen.14
U: Bei Kurzweil kippt „klüger“ aber fast immer ganz auf die eine Seite von smart, also
nicht weise oder reif, sondern schlau, fit. Gemeint: bessere Umweltanpassung mit
allen Formen von Enhancement, psychischer Leistungsverbesserung, sei es
klassisch früher durch Drogen, Kaffee oder heute Ritalin, vor allem aber durch die
Verbindung mit schwacher KI, also konkret etwa: das Smartphone, Google-Brille,
Wikipedia, das ganze Weltwissen, kurzum: die erweiterte Augmented Reality immer
vor sich haben.
Auch das kann wieder Mängel ausgleichen: Wer dauernd bei allem auf dem
Schlauch steht, kann immer nachschauen. Wer die Daten über sein Gegenüber
sofort vor sich hat, hat bessere Handlungsoptionen. Aber auch hier: blitzschnell: ein
neuer Standard, ein neues Anforderungsniveau für alle, wo zwar sicher mehr
16
Information umgesetzt wird, nicht aber unbedingt mehr Erfahrung generiert wird,
mehr Glück oder gar neue Ideen generiert.
Was dagegen auf jeden Fall generiert wird, ist ein nie dagewesenes Maß an
Überwachung und Mißbrauchsmöglichkeiten:
K: Wenn wir die 2020er Jahre erreichen und in unseren Körpern und Gehirnen
Software implementiert sein wird, werden die staatlichen Autoritäten einen legitimen
Anspruch darauf haben, diese Datenströme nach Gelegenheit zu überwachen.15
U: Kurzweil verweist dann zwar schon auf die Verluste an Freiheit und Privatheit, die
das mit sich bringen kann, aber anders als etwa bei der Energieversorgung, wo er,
um die Verwundbarkeit des Staates zu minimieren, auf Dezentralisierung setzt,
kommt er hier nicht etwa auf die Idee, dass man darauf achten müsste, zuerst
gewisse Daten-Dezentralisierungs- oder gar ethische Standards zu sichern, bevor
man sich sein erstes Google-Hirn-Implantat einbauen lässt, oder 2014 seine Google-
Brille aufzieht. Das ist ihm nicht so wichtig – da sieht man, in welche Richtung sich
das bewegt.
Auf neue Ideen kommt man durch schwache KI kaum. Dazu bräuchte man starke
Formen von Künstlicher Intelligenz, also solche, die selbständig komplexe Probleme
lösen und wirklich „menschlich“ agieren können; aber auch die stehen, nach so
vielen Enttäuschungen – laut Kurzweil – jetzt endgültig vor der Tür.
Musik Tortoise, Djed
You Tube: Ray Kurzweil Human Enhancement and Singularity
“We’re already there…includes our whole moral system.”
K: Sobald wir einmal vollständige Modelle der menschlichen Intelligenz entwickelt
haben, werden Maschinen in der Lage sein, die flexiblen und feinen Ebenen
menschlicher Mustererkennung mit den Vorteilen von Maschinen-Intelligenz zu
kombinieren.16
U: Ob das funktionieren kann, wird sich zeigen. Die Chancen werden immer besser.
Allerdings erweitert sich auch hier die ethische Kampfzone. Denn was heißt
17
Verbesserung der menschlichen Intelligenz? KI für mehr Weisheit? Mehr Demut? Für
die Einhaltung der Goldenen Regel? Die Nächstenliebe? Die Einhaltung der
Menschenrechte? Gegen Profitsucht? Die könnten viele derzeitige Machthaber gut
brauchen, davon hört man aber, außer in legitimatorischen Nebensätzen, von
Kurzweil nie was. Immer geht es um Mustererkennen, Rechnen, Problemlösen – also
nackte Intelligenzsteigerung unter bewusstem, eklatantem Ausschluss jeglicher
Vernunftbindung. So steht leider zu erwarten, dass Kurzweils Superintelligenzen
zwar in vielem bessere Testergebnisse liefern werden, aber im Vergleich zu einem
nicht völlig verkommenen Normalmenschen – in Punkto Verantwortung, Weisheit und
Würde – trotzdem einen evolutionären Abstieg, nach seiner Terminologie eigentlich
einen Irrweg bedeuten.
Denn entweder die Superintelligenzen verhalten sich so wie wir zu den früheren
Evolutionsstufen: Dann sollten wir lieber schauen, dass wir pittoresk aussehen oder
gut schmecken, damit wir wenigstens im History-Zoo oder als Nutzmenschen
überleben dürfen. Oder die Superintelligenzen werden irgendwann so klug, dass sie
merken, dass sie nur ins Monströse vergrößerte Nerds sind – und eliminieren sich
dann aus besserer Einsicht selber. Wenn man dagegen andere Superintelligenzen
wollte, müsste man die Sache wohl völlig anders angehen.
Tut man aber nicht. Eher betreibt man parallel die biotechnologische Revolution:
Musik Tortoise, Djed
K: Einer der energischsten und kundigsten Kämpfer gegen den Alterungsprozess ist
Aubrey de Grey, Wissenschaftler am Gentechnik-Institut in Cambridge. [...] De Grey
ist sich sicher, dass wir in zehn Jahren „robust verjüngte“ Mäuse vorführen können
werden, also solche, die jünger wirken als vor ihrer Gen-Behandlung. Sobald wir aber
zeigen können, dass wir den Alterungsprozess bei einem Tier, das mit uns 99%
seiner Gene teilt, umkehren können, wird das die allgemeine Auffassung von der
Unvermeidlichkeit des Todes massiv herausfordern. Dadurch wird einer enormer
Konkurrenzdruck entstehen, diese Ergebnisse in menschliche Anwendungen zu
überführen.17
U: Ob es funktionieren wird? Man wird sehen. Entscheidend ist, sich klarzumachen,
dass der Tod hier insgesamt pathologisiert, zur Krankheit erklärt wird. Damit werden
18
die Sterblichen nun insgesamt als Geisel genommen. Für einen Zustand, den man
einerseits als extremen Freiheitsgewinn verbuchen kann: So wie bisher nur der
Selbstmörder verfügt nun auch der Lebende über sein Leben. Auf der anderen Seite
bedeutet das: Wer künftig sterben will, muss sich dafür selber umbringen, muss dafür
an sich selbst zum Mörder werden. Und sich damit nicht nur ein paar Jahre, sondern
seine eigene Ewigkeit rauben.
[Was nach dem Wie zur nächsten Frage führt: Wer soll ewig leben?]
K: Wissen ist kostbar in all seinen Formen: als Musik, Kunst, Wissenschaft und
Technologie genauso wie das in unseren Körpern und Gehirnen eingelagerte
Wissen. Jeder Verlust einen solchen Wissens wäre tragisch.18
U: Das klingt gut, also eigentlich alle. Worüber man bei Kurzweil kaum etwas findet,
sind die Fragen, die das aufwirft. Denn das Geniale an der paulinischen
Jenseitserfindung war ja, dass es da keine realen Probleme gibt, im Himmel haben
alle Platz, alles ist auf unbestimmte Weise super, es ist auch alles statisch, gibt keine
weitere Evolution mehr.
Bei einem Realübergang zum unbegrenzten Leben wäre das nicht so. Ewige würden
neben Sterblichen leben, was die Populärkultur in Serien wie „True Blood“ mit
Vampiren schon durchbuchstabiert; aber man wüsste doch darüber hinaus gerne,
wie das werden soll: Wo sollen, wenn alle überleben sollen, dann alle hin? In die
Cloud? Dann also offenbar doch auf Dauer keine Wahlfreiheit zwischen virtual und
real, sondern eine Festplatten- Bio-Adapter-Existenz.
Und wie soll es gesellschaftlich gehen? Gibt es noch Familien? 200 Generationen
unter einem Dach? Werden noch weiterhin Kinder geboren? Wie teilt man seine
Lebensspanne ein? 18 Jahre Kindheit und Jugend und dann 3000 Jahre fitte
Berufstätigkeit?
De facto muss man sich, wenn Kurzweils Visionen wahr werden, um all des keine
Sorgen machen:
K: Information ist kein Wissen. Die Welt quillt über vor Informationen. Es ist aber
gerade die Aufgabe der Intelligenz, die herausragenden Informationen zu finden.
Jede Sekunde fließen hunderte von Megabits durch unsere Sinne, aber der Großteil
19
davon wird intelligenterweise ausgefiltert. Wir reagieren nur auf die Schlüsselreize.
So zerstört Intelligenz per Selektion Information, um Wissen zu kreieren.19
U: Klingt auch erstmal toll. Sobald die Superintelligenzen dies auf die Menschheit
anwenden, werden sie feststellen, dass auch sehr viele Menschen eigentlich nur
Information sind, und keine Wissen. Wozu so viele Shopping-Center, Konsumenten,
laute Leute, die dasselbe kaufen, denken und fühlen? Das ist doch redundant. Also
weg mit allem, bis auf je ein zwei Zoo-Exemplare für die Forschung. Fürs Museum.
Je genauer man die Menschheit ansieht, desto mehr Schwächen entdeckt man. Weg
damit, als Hyperintelligenz.
Trotzdem soll nach Kurzweil alles irgendwie human bleiben:
Musik Tortoise, Djed
K: Manche Beobachter bezeichnen die Periode nach Eintreffen der Singularität als
„post“-human. Für mich bedeutet „human“ sein aber gerade, Teil einer Zivilisation zu
sein, die ihre Grenzen überschreiten will. [...] Wenn wir den technologisch
veränderten Menschen nicht mehr als „menschlich“ begreifen, wo ziehen wir dann
die Grenzlinie?20
U: Eine herausfordernde Frage, die aber darauf deutet, dass man diese Grenze
vielleicht nicht anhand der Anzahl von Prothesen und Nanobots, die jemand im
Körper hat, diskutieren sollte, wie Kurzweil, sondern sich prinzipiell fragen muss: Was
gehört eigentlich zum Menschsein?
Bislang war das vor allem der Tod.
K: Die Hauptrolle der traditionellen Religionen bestand darin, den Tod zu einer guten
Sache zu rationalisieren. Malcom Muggeridge bringt diese allgemeine Ansicht auf
den Punkt, wenn er sagt: „Ohne Tod wäre das Leben unerträglich.“ Aber die
Explosion der Kunst, Wissenschaft und der anderen Formen des Wissens, die die
Singularität mit sich bringen wird, macht das Leben durchaus erträglicher; es macht
das Leben erst wirklich sinnvoll!21
20
U: Endlichkeit Segen oder Fluch - das ist wirklich eine philosophische, tiefe, für
Menschen kaum lösbare Frage. Es gibt Menschen, die sich den Tod
herbeiwünschen, andere, die vielleicht ewig leben wollen. Was fatal wäre, wäre, sich
als Mensch angesichts dieser Herausforderung auf seine Mangelhaftigkeit
zurückzuziehen. Bzw. sich den Fortschrittsbegriff zum reinen Für oder Wider den Tod
verengen zu lassen. Es kann auch andere Lebenssinne geben als den, unsterblich
zu werden. Das ist bei dem Druck, der durch den Transhumanismus entstehen wird,
eine schwerwiegende Gefahr.
Auch für Kurzweil selbst ist das Wozu des ewigen Lebens, auf wenn er viele seiner
Anhänger damit ködern dürfte, nicht dieses ewige Leben selbst, ist dieses ewige
Leben eigentlich nicht der Sinn:
K: Aus meiner Sicht besteht der Sinn des Lebens –unseres Lebens – darin, immer-
größeres Wissen zu kreieren und zu genießen. sich einer höheren „Ordnung“
entgegenzubewegen.22
U: Darum geht es ihm, wenn man Kurzweil ontologisch fassen will, müsste man
sagen, er ist eine Art Pattern-Platoniker, bei allem Technizismus und Realismus, den
er auf der einen Seite ausstrahlt, steckt dahinter eine radikale Geistutopie, letztlich
ein ganz klassischer jüdisch, christlich-platonischer , plutinischer- metaphysischer
Tradition, da gibt es einen Geist der über den Dingen schwebt, der die Dinge
bestimmen, überwinden will und kann. Das ist im Prinzip der Plan, Kurzweils
Elysium, seine große Vision, dass wofür er letztlich wahrscheinlich lebt, ist ein
bisschen wie ein Mad Scientist bei James Bond, dass er Zeuge werden will, sehen
will, wie diese Intelligenz das Universum nach und nach erfüllt, also quasi diesen
gigantischen Orgasmus seines Geistes über die Materie bis in die letzten Ränder des
Universums mitverfolgen kann.
Musik Tortoise, Djed
K: So zeigt sich, dass wir als Menschen nach allen Kränkungen durch die
Wissenschaft im Universum doch zentral sind. Unsere Fähigkeit, Modelle zu kreieren
[...], war ausreichend, um uns in eine andere Form der Evolution zu überführen:
21
Technologie. [...] Und diese Entwicklung wird weitergehen, bis wir das gesamte
Universum zu unserer Verfügung haben.23
U: Und hier sind wir am Schluss dann doch beim allzumenschlichen Kern des
kalifornischen Transhumanismus angelangt: beim kleinen Nerd-Jungen, der davon
träumt, der Master of the Universe zu sein. Wenn man so begabt und mächtig ist wie
Ray Kurzweil, kann man auf dem gloriosen Weg zum eigenen Scheitern sehr viel
Gutes und sehr viel Böses anrichten. Aber der Transhumanismus wird dabei viel
Hilfe brauchen. Hilfe von ganz normalen, leidenden, liebenden, lachenden
Menschen. Denn genauso, wie die Maschinen den Menschen helfen sollen, müssen
die Menschen den Maschinen auch helfen, menschlich zu bleiben, solange ihnen
hoffentlich nicht alles egal ist.
22
1 Singularity, 9 (+ Titel).
2 Hülswitt, 28.
3 Arte-Doku Mensch 2.0. – amerikanischer O-Ton.
4 Singularity, 9.
5 Homo Sapiens, unpag., 8.
6 Singulartiy, 226.
7 Singularity: Zusammenfassung von 14-21
8 We often use the metaphor of three bridges to talk about the three steps toward radical life
extension. Bridge One is about what you can do right now to slow down and in many cases to
stop the processes that lead to disease and aging. [...] Bridge One will take you over a moving
frontier because our knowledge about biology and how to transcend its limitations is
expanding – at an exponential pace.
Bridge One will take us to Bridge Two, which is the full flowering of the biotechnology
revolution. In less than two decades, we will have the means to perfect our own biology by
fully reprogramming its information processes. We will be able to actually change our genes
in order to live – well – for decades longer than what we now consider a long life. This, in
turn, will take us to Bridge Three – the full flowering of the nanotechnology revolution –
where we can go beyond the limitations of biology and live indefinetely. [Transcend, XX] 9 I regard someone who understands the Singularity and who has reflected on its implications
for his or her own life as a “singularitarian”. [Singularity, 7] 10
Singularity, 96. 11
Singularity, 470. 12
Transcend, 422/3, Zus.. 13
Singularity, S. 302. 14
Singularity, S. 24. 15
Singulyrity, S. 424. 16
Singularity, S. 441/2. 17
Singularity, S. 213. 18
Singularity, S. 372. 19
Ebd. 20
Singularity S. 374. 21
Singularity, S. 372. 22
Ebd. 23
Singularity, S. 487.