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EUROPARECHT In Verbindung mit der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Europarecht herausgegeben von Claus-Dieter Ehlermann, Ulrich Everling, Hans-J. Glaesner, Meinhard Hilf, Hans Peter Ipsen †, Joseph H. Kaiser †, Peter-Christian Müller-Graff, Gert Nicolaysen, Hans-Jürgen Rabe, Jürgen Schwarze Schriftleiter: Armin Hatje, Ingo Brinker 41. Jahrgang 2006 Heft 2, März – April Das Grundrecht auf eine gute Verwaltung – Strukturen und Perspektiven des Charta-Grundrechts auf eine gute Verwaltung Von Bernd Grzeszick, Erlangen * I. Einleitung Die Rechtsstaatlichkeit ist nach Art. 6 Abs. 1 EUV ein Fundamentalprinzip der Union, und der EuGH bezeichnet die Europäische Gemeinschaft regelmäßig als eine auf dem Recht gegründete Gemeinschaft. 1 In der Literatur wird der rechtstaat- liche Charakter der Gemeinschaft dahingehend präzisiert, dass die Europäische Gemeinschaft auf dem Verwaltungsrecht beruht. 2 Um so mehr überrascht deshalb der Befund, dass die Verträge der Union nur wenige Aussagen über das Verwal- tungsverfahrensrecht der Gemeinschaft enthalten. 3 Diese prekäre Lücke wurde von den Gemeinschaftsgerichten entdeckt und zu schließen versucht: Durch „Grundsät- ze einer ordnungsgemäßen Verwaltung“ 4 und „einer guten Verwaltungsführung“, 5 die aus den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV * Prof. Dr. Bernd Grzeszick, LL.M. ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Rechtsphi- losophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. 1 Deutlich EuGH, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 – Les Verts. 2 J. Schwarze, European Administrative Law, 1992, S. 4. 3 G. Haibach, NVwZ 1998, 456. 4 EuGH, Rs. 32/62 (Alvis), Slg. 1963, 107 (123); EuGH, Rs. C-255/90 (Burban), Slg. 1992, I-2253, Rn. 7, 12. 5 Zuerst: EuGH, verb. Rs. 56 u. 58/64 (Consten), Slg. 1966, 321, LS 12. Siehe auch EuG, Rs. T-167/94 (Nölle), Slg. 1995, II-2589, Rn. 53 ff., „Erfordernisse […] einer einwandfreien Verwaltungsführung“.

Europarecht - Aufsatz · 162 EuR – Heft 2 – 2006 entwickelt wurden und die – oberhalb des Sekundärrechts6 – ein allgemeines Ei- genverwaltungsverfahrensrecht der Europäischen

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161EuR – Heft 2 – 2006

EUROPARECHT

In Verbindung mit der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Europarecht

herausgegeben von

Claus-Dieter Ehlermann, Ulrich Everling, Hans-J. Glaesner, Meinhard Hilf,Hans Peter Ipsen †, Joseph H. Kaiser †, Peter-Christian Müller-Graff,

Gert Nicolaysen, Hans-Jürgen Rabe, Jürgen Schwarze

Schriftleiter:Armin Hatje, Ingo Brinker

41. Jahrgang 2006 Heft 2, März – April

Das Grundrecht auf eine gute Verwaltung –Strukturen und Perspektiven des Charta-Grundrechts

auf eine gute Verwaltung

Von Bernd Grzeszick, Erlangen*

I. Einleitung

Die Rechtsstaatlichkeit ist nach Art. 6 Abs. 1 EUV ein Fundamentalprinzip der Union, und der EuGH bezeichnet die Europäische Gemeinschaft regelmäßig als eine auf dem Recht gegründete Gemeinschaft.1 In der Literatur wird der rechtstaat-liche Charakter der Gemeinschaft dahingehend präzisiert, dass die Europäische Gemeinschaft auf dem Verwaltungsrecht beruht.2 Um so mehr überrascht deshalb der Befund, dass die Verträge der Union nur wenige Aussagen über das Verwal-tungsverfahrensrecht der Gemeinschaft enthalten.3 Diese prekäre Lücke wurde von den Gemeinschaftsgerichten entdeckt und zu schließen versucht: Durch „Grundsät-ze einer ordnungsgemäßen Verwaltung“4 und „einer guten Verwaltungsführung“,5 die aus den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV

* Prof. Dr. Bernd Grzeszick, LL.M. ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Rechtsphi-losophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

1 Deutlich EuGH, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 – Les Verts.2 J. Schwarze, European Administrative Law, 1992, S. 4.3 G. Haibach, NVwZ 1998, 456.4 EuGH, Rs. 32/62 (Alvis), Slg. 1963, 107 (123); EuGH, Rs. C-255/90 (Burban), Slg. 1992, I-2253, Rn. 7, 12.5 Zuerst: EuGH, verb. Rs. 56 u. 58/64 (Consten), Slg. 1966, 321, LS 12. Siehe auch EuG, Rs. T-167/94 (Nölle),

Slg. 1995, II-2589, Rn. 53 ff., „Erfordernisse […] einer einwandfreien Verwaltungsführung“.

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entwickelt wurden und die – oberhalb des Sekundärrechts6 – ein allgemeines Ei-genverwaltungsverfahrensrecht der Europäischen Union bilden.7

Dieser Zustand wurde mit der fortschreitenden Europäischen Integration und der damit einhergehenden Konstitutionalisierung sowie Positivierung des primären Ge-meinschaftsrechts zunehmend als unzureichend angesehen.8 Wegen der diver-gierenden Interessen und unterschiedlichen Verwaltungskulturen der Akteure wur-de aber einer Kodifikation des allgemeinen Verwaltungsrechts der Gemeinschaft nur geringe Chancen eingeräumt: Die Vorstellung einer allgemeinen Kodifizierung des Verwaltungsrechts sei noch verwegener als diejenige, eine Gemeinschaftsver-fassung zu entwerfen.9

Diese Argumentation schien zwischenzeitlich widerlegt worden zu sein. Der Ent-wurf einer Gemeinschaftsverfassung liegt in Form des Verfassungsvertrags für Eu-ropa10 vor. Ein Teil des Verfassungsvertrags ist die Grundrechtecharta, die in Art. II-101 VVE ein Recht auf eine gute Verwaltung garantiert. Diese Regelung ist die erste explizite Verbürgung eines Rechts auf gute Verwaltung in einer internationa-len Menschenrechtserklärung.Allerdings ist die Verwegenheit des Versuchs, einen Gemeinschaftsverfassungsver-trag zu entwerfen und in Geltung zu setzen, mittlerweile offenbar geworden. Die Risiken, die mit der Erweiterung und der dazu erforderlichen rechtlichen Vertie-fung der EU einhergehen,11 werden möglicherweise zu einem endgültigen Schei-tern der Ratifikation des Verfassungsvertrags führen.Treffen die gegen den Verfassungsvertrag vorgebrachten Gründe und dessen unsi-chere Zukunft auch den Versuch, die Kodifizierung des Eigenverwaltungsrechts der Union voranzutreiben? Tatsächlich hat die Regelung des Art. II-101 VVE zu unterschiedlichen Reaktionen geführt. Die Gemeinschaftsgerichte scheinen die Re-gelung zu begrüßen, denn sie haben sie bereits rezipiert: Das EuG hat in der Ent-scheidung max.mobil vom 30. Januar 2002 zur Begründung des Anspruchs auf ei-ne sorgfältige und unparteiische Behandlung einer bei der Kommission erhobenen Beschwerde ausdrücklich auf Art. II-101 Abs. 1 VVE rekurriert und dieser Rege-lung eine Bekräftigung des aus der Rechtsstaatlichkeit der Gemeinschaft folgenden

6 Vgl. dazu näher P. Szczekalla, in: H.-W. Rengeling (Hrsg.), EUDUR, 2. Aufl., 2003, Band I, § 11 Rn. 27 ff. m.w.N.

7 Umfassende Übersicht und Analyse: H. Nehl, Principles of Administrative Procedure in EC Law, 1999. Darstel-lung der wesentlichen Rechtsprechung einschließlich der Schlussanträge der Generalanwälte: R. Bauer, Das Recht auf eine gute Verwaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002, S. 21 ff. Weiter: J. Usher, The „Good Administration“ of European Community Law, Current Legal Problems 1985, 269 ff.; J. Schwarze, NJW 1986, 1067 ff.; M. Chiti, EPL 1 (1995), 241 ff.; K. Lenaerts/J. Vanhamme, CMLR 34 (1997), 531 ff.; M. Lais, ZEuS 5 (2002), 447 (453) ff.; K. Klańska, ELJ 10 (2004), 296 (303 ff.).

8 Dazu K. Lenaerts/J. Vanhamme (Fn. 7); C. Harlow, in: P. Craig/G. de Burca (Hrsg.), The Evolution of EU Law, 1999, 261 ff.; K. Klańska (Fn. 7), 298 f.; jew. m.w.N.

9 So H. P. Ipsen nach K. Iliopoulos, Diskussionsbericht, in: J. Schwarze (Hrsg.), Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, 1992, S. 123. Zurückhaltend auch C. Harlow, ELJ 2 (1996), S. 3 ff. Positivere Perspektive bei J. Schwarze, EuGRZ 1993, 377 (382 f.).

10 Dazu nur C. Calliess/M. Ruffert, EuGRZ 2004, 542 ff. m.w.N.11 Vgl. dazu nur C. Calliess/M. Ruffert (Fn. 10).

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Rechts auf eine geordnete Verwaltung entnommen.12 In der Literatur fallen die Re-aktionen dagegen zurückhaltender und differenzierter aus. Überwiegend wird er-wartet, dass die Kodifizierung eines Rechts auf gute Verwaltung den Schutz dieses Rechts verstärkt.13 Die Kritiker bemängeln dabei, dass die Regelung zu sehr vom Konzept des Individualrechtsschutzes geprägt sei.14

Dass die Reaktionen auf Art. II-101 VVE so heterogen ausfallen, dürfte vor allem deren ambivalentem Neuerungsgehalt geschuldet sein. Abs. 1 und 2 sind im We-sentlichen eine Zusammenfassung der bisherigen Rechtsprechung der Gemein-schaftsgerichte zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Verwaltung und bieten insoweit nichts Neues. Über diesen Stand geht Abs. 1 zwar insoweit hinaus, als dem Einzelnen ein Recht auf eine „gerechte“ Behandlung eingeräumt wird.15 Was dieses Recht beinhaltet, ist aber noch weitgehend unbestimmt.16 Ob Art. II-101 VVE als Ausdruck einer „neuen Kategorie von Grundrechten“17 zu verstehen ist und die Charta damit die „Grundprinzipien des Verwaltungsverfahrens in einem Ausmaß konstitutionalisiert, das den Verfassungen der Mitgliedstaaten unbekannt ist“,18 ist deshalb nicht klar; erst recht gilt dies für die an der Regelung geäußerte Kritik. Zudem sind die Folgen der ins Stocken geratenen Ratifikation des Verfas-sungsvertrags für Art. II-101 VVE und dessen Wirkungen in den Blick zu neh-men.Diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen. Dazu werden zunächst Genese und Inhalt der Regleung kurz skizziert (II.). Danach werden die dogmatischen Grundzüge des allgemeinen Rechts auf eine gute Verwaltung erarbeitet (III.). Auf dieser Grundlage wird der Kritik an der Regelung nachgegangen (IV.). Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf das Entwicklungspotential des Rechts auf eine gu-te Verwaltung (V.).

II. Regelungsüberblick

1. Genese und Struktur

Dass die Grundrechtecharta ein Grundrecht auf eine gute Verwaltung enthält, be-ruht ganz wesentlich auf den Aktivitäten des Europäischen Bürgerbeauftragten. Dessen zahlreiche Initiativen, Anregungen und Forderungen in Richtung einer Ko-

12 EuG, Rs. T-54/99 (max.mobil), Slg. 2002, II-313, Rn. 48. – Ein derartiges Vorgehen wurde erwartet von C. Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (11).

13 R. Bauer (Fn. 7), 2002, S. 145 m.w.N.14 M. Bullinger, Das Recht auf eine gute Verwaltung nach der Grundrechtscharta der EU, in: FS für Winfried

Brohm, 2002, S. 25 (28 ff.); K. Klańska (Fn. 7), 299, 323 ff.15 R. Bauer (Fn. 7), S. 90 ff., 138 f.16 Siehe z.B. S. Magiera, in: J. Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrecht der EU, 2003, Art. 41 Rn. 7:

„Der genauere Inhalt liegt […] nicht […] fest, sondern ist allmählich – nach Sachmaterien, näheren Umständen und Stand der Rechtsordnung – zu entwickeln“

17 K. Klańska (Fn. 7), 297.18 K. Klańska (Fn. 7), 297.

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difizierung des Verwaltungsrechts19 haben bei den Beratungen über die Charta der Grundrechte der Europäischen Union20 ganz wesentlich dazu beigetragen, dass sich der gleichfalls von ihm vorgetragene Vorschlag, in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ein eigenständiges Recht auf eine gute Verwaltung aufzu-nehmen, durchsetzen konnte.Art. II-101 VVE fasst als administratives Grundrecht eine Reihe elementarer Ver-fahrensrechte im Verwaltungsverfahren zusammen.21 Abs. 1 enthält ein allgemeines Recht auf eine gute Verwaltung und in Abs. 2 werden Beispiele dieses Rechts ange-führt: Das Recht auf Anhörung, das Recht auf Akteneinsicht sowie das Recht auf Begründung von Entscheidungen. Abs. 3 beinhaltet einen Haftungsanspruch, und in Abs. 4 wird eine Sprachengarantie gewährt.

2. Hintergrund: bisherige Rechtslage

Das Recht auf eine gute Verwaltung enthält damit in der Sache in weiten Teilen nichts Neues.22 Nach den Erläuterungen des Grundrechte-Konvents zu Art. II-101 VVE23 ist diese Regelung auf den Charakter der Gemeinschaft als einer Rechtsge-meinschaft gestützt, und in den verschiedenen Vorgaben des Primärrechts sowie in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte finden sich bereits zahlreiche kon-krete Ausprägungen des rechtsstaatlichen Charakters der Gemeinschaft.

a) kodifiziertes Primärrecht

Die in Art. II-101 VVE geregelten Grundsätze und Rechte sind teilweise bereits im EG-Vertrag enthalten. Art. 253 EGV statuiert eine Pflicht zur Begründung, Art. 288 Abs. 2 EGV gewährt einen Schadensersatzanspruch und Art. 21 Abs. 3 EGV sieht eine Sprachengarantie vor. Zudem steht Art. II-101 VVE im Zusammenhang mit weiteren, in der Grundrechtecharta und dem EG-Vertrag geregelten, Rechten: den Rechten gemäß Art. II-102 bis 104 VVE für den Zugang zu Dokumenten, Be-schwerden an den Bürgerbeauftragten, Petitionen an das Europäische Parlament; dem Recht gemäß Art. II-107 VVE auf einen wirksamen und unparteiischen ge-richtlichen Rechtsschutz; den Rechten gemäß Art. II-68 VVE hinsichtlich des Schutzes personenbezogener Daten, die zu einer Begrenzung des Aktenzugangs-rechts führen können; den Rechten auf Datenschutz gemäß Art. 286 EGV sowie der Geheimhaltungspflicht für Berufsgeheimnisse gemäß Art. 287 EGV.

19 Vgl. dazu nur P. G. Bonnor, ELR 25 (2000), S. 39 ff.; J. Martínez Soria, EuR 2001, 683 f.; jew. m.w.N.20 Dazu sowie zur Grundrechtecharta im Übrigen nur I. Pernice, DVBl. 2000, 847 ff.; A. Weber, NJW 2000, 537

ff.; C. Grabenwarter (Fn. 12), 1 ff.; ders., in: FS für T. Öhliger, 2004, S. 469 ff.; jew. m.w.N.21 So die Charakterisierung von T. Kingreen, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., 2002, Art. 6

EU Rn. 190.22 Dazu G. Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, 2004, S. 253 ff. m.N.23 Abgedruckt in: EuGRZ 2000, 559 (566).

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b) Rechtsprechung: Rechtsstaatliche Grundsätze

Im Übrigen sind die durch Art. II-101 VVE garantierten Rechte ganz überwiegend eine Kodifizierung der von den Gemeinschaftsgerichten entwickelten Grundsätze und Rechte, die in der Rechtsprechung als „Grundsätze der ordnungsgemäßen Ver-waltung“24 und „Grundsätze einer guten Verwaltungsführung“25 bezeichnet wer-den. Der EuGH hat einzelne Rechte als Ausfluss der Rechtsstaatlichkeit bereits zu einer Zeit entwickelt, als er selbst den Bestand von Gemeinschaftsgrundrechten noch nicht ausdrücklich anerkannt hatte.26

Die Entscheidungen der Gemeinschaftsgerichte zu den rechtsstaatlichen Grundsät-zen einer guten und ordnungsgemäßen Verwaltung sind zwar nicht immer klar und widerspruchsfrei. Sie lassen aber erkennen, dass in der bisherigen Rechtsprechung die unterschiedlichen Verfahrensrechte verschiedenen Begründungslinien folgen. Im Unterschied zum in Art. 255 EGV geregelten Recht auf Zugang zu Dokumen-ten, das im Demokratieprinzip wurzelt,27 sind die beiden tragenden Begründungs-linien der aus den rechtsstaatlichen Grundsätzen folgenden Rechte des Bürgers der Belastungsgedanke sowie der Kompensationsgedanke.Rechtsstaatliche Verfahrensrechte des Bürgers folgen zum einen daraus, dass das Ergebnis des Verfahrens den Einzelnen belastet. So werden insbesondere das rechtsstaatliche Recht auf Zugang zu Informationen sowie das rechtsstaatliche An-hörungsrecht vor allem auf die individuelle Belastung bzw. Benachteiligung durch eine Maßnahme gestützt.28

Zum anderen sind Verfahrensrechte Kompensation dafür, dass die Behörde einen erheblichen inhaltlichen Entscheidungsspielraum hat. So werden vor allem der rechtsstaatliche Untersuchungsgrundsatz sowie die Begründungspflicht als Kom-pensation für inhaltliche Entscheidungsspielräume angesehen:29 Durch diese Rech-te und die korrespondierenden Pflichten sollen der Ermessensgebrauch gesteuert und eine wirksame gerichtliche Kontrolle der Ermessensausübung ermöglicht wer-den.30

24 EuGH, Rs. 32/62 (Alvis), Slg. 1963, 107 (123); EuGH, Rs. C-255/90 (Burban), Slg. 1992, I-2253, Rn. 7, 12; EuG, Rs. T-167/94 (Nölle), Slg. 1995, II-2589, Rn. 53 ff., „Erfordernisse […] einer einwandfreien Verwaltungs-führung“.

25 Zuerst: EuGH, verb. Rs. 56 u. 58/64 (Consten), Slg. 1966, 321, LS 12.26 Vgl. EuGH, Rs. 8/55 (Fédération Charbonnière de Belgique), Slg. 1955/1956, 297 (311); verb. Rs. 7/56 und

3-7/57 (Algera), Slg. 1957, 83 (117 ff.).27 Dazu B. Wegener, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., 2002, Art. 255 EG Rn. 1 m.w.N.28 H. Nehl (Fn. 7), S. 82 ff., 94 f.29 H. Nehl (Fn. 7), S. 115 ff.30 H. Nehl, Europäisches Verwaltungsverfahren und Gemeinschaftsverfassung, 2002, S. 323 ff., 330.

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3. Das allgemeine Recht auf eine gute Verwaltung

Dieser rechtsstaatliche Hintergrund prägt auch das in Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE geregelte allgemeine Recht auf eine gute Verwaltung.31 Abs. 1 lautet: „Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Angelegenheiten von den Organen und Einrich-tungen der Union unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden“. Dieses Recht ist zwar im Verhältnis zu den in den Absätzen 3 und 4 gewährten Rechten ein eigenständiges Grundrecht. Auch ist die Aufzählung in Abs. 2 nicht abschließend, sondern nur beispielhaft,32 wie sich aus dem „insbe-sondere“ zu Beginn von Abs. 2 ergibt. Die Grundsätze einer unparteiischen sowie einer zeitlich angemessenen Behandlung von Angelegenheiten der Bürger bestan-den allerdings bereits nach bisheriger Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte als Teile der aus dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit abgeleiteten „Grundsätze der ordnungsgemäßen Verwaltung“ und „Grundsätze ei-ner guten Verwaltungsführung“.33

Dies gilt aber nicht für das gleichfalls in Abs. 1 gewährte Recht des Bürgers auf eine gerechte Behandlung seiner Angelegenheiten. Dieses Recht ist ohne jedes konkrete Vorbild: Weder die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte noch der Grundrechte-Konvent oder andere positive internationale Rechtsgewährungen ken-nen ein allgemeines Recht des Bürgers auf eine gerechte Behandlung seiner Ange-legenheiten. Die Grundrechtecharta geht mit diesem Recht über den bestehenden Rechtszustand hinaus und öffnet das Recht auf eine gute Verwaltung für neue Ent-wicklungen, die es noch zu erörtern gilt.34

III. Grundfragen des allgemeinen Rechts auf eine gute Verwaltung

1. Verpflichtete

Zunächst ist aber zu klären, wer durch das allgemeine Recht auf eine gute Verwal-tung nach Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE verpflichtet werden kann. Der Anwen-dungsbereich der Grundrechte der Charta wird allgemein in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE bestimmt. Danach bindet die Charta die Organe und Einrichtungen der Uni-on sowie die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“.35

31 C. Grabenwarter (Fn. 12), 8.32 S. Magiera (Fn. 16), Rn. 9; G. Sydow (Fn. 22), S. 254 f.33 Dazu R. Bauer (Fn. 7), 2002, S. 90 ff., 138.34 Zum Inhalt siehe unten III. 3.35 Dazu nur W. Cremer, NVwZ 2003, 1452 ff. m.w.N.

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a) Bindung der Mitgliedstaaten

Art. II-101 Abs. 1 VVE weicht nun von dieser allgemeinen Regelung ab. Als Ver-pflichtete werden ausdrücklich nur die Organe und Einrichtungen der Union er-wähnt. Diese Formulierung soll die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grund-rechtecharta beschränken.36 Hinter dieser nur eingeschränkten Bindung steht die Überlegung, dass angesichts der zum Teil sehr unterschiedlichen Verwaltungs-rechtskulturen der Mitgliedstaaten sowie wegen der erheblichen inhaltlichen Reich-weite des Gemeinschaftsrechts eine umfassendere Bindung der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union im Ergebnis eine ganz erhebliche Harmo-nisierung der nationalen Rechtsordnungen bedeutet hätte.37 Der Ansicht, dass der in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE bestimmte allgemeine Anwendungsbereich der Chartagrundrechte ohne weiteres auch der Anwendungsbereich des Rechts aus Art. Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE ist,38 ist demnach nicht zuzustimmen. Art. II-101 VVE betrifft im Grundsatz nur das Eigenverwaltungsrecht der Union.Allerdings wird eine Bindung der Mitgliedstaaten an das gemeinschaftsrechtliche Recht auf gute Verwaltung nicht vollständig ausgeschlossen. Zum einen bleibt die bereits vor Abfassung des Art. II-101 VVE bestehende Bindung der Mitgliedstaa-ten beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts an die rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV erhalten, denn die Grundrechtecharta soll das in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte bereits erlangte Grundrechtsniveau nicht absenken.39

Zum anderen ist davon auszugehen, dass die Mitgliedstaaten in den Bereichen ko-operativer Gemeinschaftsverwaltung,40 vor allem bei der Verwaltung gemein-schaftseigener Beihilfen durch die Mitgliedstaaten,41 nicht nur an die rechtsstaatli-chen Grundsätze im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV gebunden sind, sondern in glei-chem Maße auch an Art. II-101 VVE gebunden sein werden, soweit sie in diesen Bereichen als Vertreter der Gemeinschaft anzusehen sind.42

Ob die Mitgliedstaaten darüber hinaus bei der Durchführung des Rechts der Union über den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit der Gemeinschaft im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV umfassend an Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE gebunden werden, bleibt abzuwarten.43 Für eine weitergehenden Bindung der Mitgliedstaaten wird ange-führt, dass der in Art. 6 Abs. 1 EUV bestimmte Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit der Union in Verbindung mit dem Prinzip der Effektivität des Gemeinschaftsrechts

36 Vgl. G. Sydow (Fn. 22), S. 263 f.37 Vgl. K. Klańska (Fn. 7), 309 f.38 R. Bauer (Fn. 7), S. 142.39 Vgl. dazu S. Magiera (Fn. 16), 41 Rn. 9; R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 41 GR-Charta,

Rn. 14; G. Sydow (Fn. 22), 264 f.40 Dazu G. Sydow (Fn. 22), insbes. S. 260 ff. m.w.N.41 Dazu H. Nehl (Fn. 30), S. 71 ff. m.w.N.42 K. Klańska (Fn. 7), 309.43 Zur generellen Diskussion über das Verhältnis zwischen nationalem Verfahrensrecht und europäischem Verwal-

tungsrecht W. Kahl, VerwArch. 95 (2004), S. 1 (13 ff.) m.w.N.

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gebiete, dass die gemeinschaftlichen Rechte des Einzelnen auch beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten weitgehend durchgesetzt werden.44 Allerdings ist eine derartige Auslegung nach Entstehungsgeschichte und Systema-tik der Grundrechtecharta abzulehnen, da damit die bewusste und gewollte Unter-scheidung zwischen Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 und Art. II-101 Abs. 1 VVE, womit eine grundrechtliche Harmonisierung der nationalen Rechtsordnungen durch Art. II-101 VVE gerade vermieden werden sollte, aufgehoben wird.

b) Bindung der Union

Die im Wesentlichen durch Art. II-101 VVE Verpflichteten sind demnach die Or-gane und Einrichtungen der Union.45 Allerdings taucht auch hier eine weitere grundsätzliche Frage auf: Sind die Organe und Einrichtungen der Union generell an Art. II-101 VVE gebunden oder kann dieser nur soweit Bedeutung beanspru-chen, als die Organe und Einrichtungen als Verwaltung handeln?Die nähere Betrachtung von Art. II-101 VVE zeigt, dass diese Frage für die Absät-ze 3 und 4 nicht relevant ist, da die dort geregelten Rechte inhaltlich so weit gefasst sind, dass sie durch den Bezug zum in der Überschrift von Art. II-101 VVE er-wähnten Begriff der Verwaltung nicht eingeschränkt werden.46

Für das in Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE kodifizierte allgemeine Recht auf eine gute Verwaltung sieht dies allerdings anders aus. Der Begriff „Verwaltung“ wird zwar inhaltlich nur in Abs. 2 letzter Spiegelstrich ausdrücklich erwähnt. Darüber hinaus ist aber wegen der Überschrift des Art. II-101 VVE und der Entstehungsge-schichte der Regelung vor dem Hintergrund der in der Rechtsprechung der Ge-meinschaftsgerichte gebildeten Grundsätze der guten und ordnungsgemäßen Ver-waltung davon auszugehen, dass die Rechte aus Abs. 1 und 2 die Organe und Ein-richtungen der Union nur soweit verpflichten, als diese „Verwaltung“ sind.Die Bestimmung des Begriffs „Verwaltung“ bereitet dabei Schwierigkeiten, denn die europäische Hoheitsgewalt ist in Bezug auf die Unterscheidung von Legislative und Exekutive nicht nach einem den nationalstaatlichen Rechtsordnungen entspre-chenden Gewaltenteilungsmodell organisiert.47 Deswegen kann im Gemeinschafts-recht nicht nach Organen differenziert werden. Statt dessen ist die Art der Tätigkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen.48 Was danach auf der Ebene des Ge-meinschaftsrechts allgemein als Verwaltung zu verstehen ist, ist aber weiterhin um-

44 Dazu A. W. Heringa/L. Verhey, The EU-Charter, Text and Structure, MJ 8 (2001), S. 11 (30); M. Lais (Fn. 7), 458; W. Kahl (Fn. 43), 18 f.

45 Der Begriff der Organe und Einrichtungen der Union wirft nur in Bezug auf die intergouvernementalen Säulen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit Klärungsbedarf auf; dazu M. Lais (Fn. 7), 456 m.w.N.

46 K. Klańska (Fn. 7), 310.47 Vgl. J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Band I, 1988, S. 22 f.; S. Schreiber, Verwaltungskompeten-

zen der Europäischen Gemeinschaft, 1997, S. 20 f.48 Vgl. K. Klańska (Fn. 7), 310.

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stritten.49 Überwiegend wird einer Begriffsbestimmung gefolgt, die Verwaltung als Vollzug oder Aktualisierung der Regelungen des Gemeinschaftsrechts im Einzel-fall bzw. in konkreten Situationen versteht.50 Dabei wird zum Teil ausdrücklich eingeräumt, dass diese Begriffsbestimmung eher pragmatischen und heuristischen als dogmatischen Charakter habe.51

Die begrenzte Aussagekraft der allgemeinen Begriffsbestimmung von „Verwal-tung“ im Gemeinschaftsrecht zeigt sich auch beim Recht auf eine gute Verwaltung. Die Gemeinschaftsgerichte beschränken die von ihnen entwickelten rechtsstaatli-chen Grundsätze guter und ordnungsgemäßer Verwaltung nicht auf den Erlass indi-vidueller und konkreter Vollzugsakte, sondern wenden diese Grundsätze auch auf Bereiche an, in denen die Gemeinschaftsorgane generelle Regelungen setzen, bei deren Schaffung sie einen erheblichen inhaltlichen Gestaltungsspielraum haben.52

Die Rechtsprechung hat dies bei Verordnungen im Antidumpingrecht deutlich ge-macht. Der EuGH hat Verfahren zum Erlass entsprechender Verordnungen aus-drücklich als administrative Verfahren qualifiziert.53 Nach Ansicht des EuG steht dabei das Bestehen eines weiten Ermessens der Organe der Gemeinschaft der An-wendung der Grundsätze guter Verwaltung nicht entgegen, da in diesen Konstella-tionen „der Beachtung der Garantien, die die Gemeinschaftsrechtsordnung in den Verwaltungsverfahren gewährt, eine um so größere Bedeutung“ zukommt.54

Diese Rechtsprechung ist zwar zum Antidumpingrecht ergangen. Die dort ent-wickelten Grundsätze sind aber nicht auf dieses Rechtsgebiet beschränkt: Auch Verordnungen aus anderen Bereichen wurden vom EuGH als „mehr administrative als normative Durchführungsmaßnahme“ bezeichnet.55 Die Eingrenzung des An-wendungsbereichs der Grundsätze einer guten Verwaltung erfolgt demnach in der bisherigen Rechtsprechung zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht über die Handlungsform, sondern über das Maß der Konkretheit des Rechtsverhältnisses zwischen dem Gemeinschaftsorgan und dem Bürger.56 So ist für eine mögliche Berufung auf das Recht auf eine gute Verwaltung im Bereich von Rechtsverord-nungen nach Ansicht des EuGH entscheidend, dass der Bürger durch die Verord-nung unmittelbar und individuell berührt ist und nachteiligen Auswirkungen unter-liegt.57

Da der Schutz des Bürgers durch die Kodifizierung des Rechts in Art. II-101 VVE nicht hinter den in der Rechtsprechung bereits erreichten Stand zurückfallen sollte,

49 Dazu R. Bauer (Fn. 7), S. 17 f. m.N.50 So vor allem M. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, KSE 9

(1969), S. 47 f.; H.-W. Rengeling, Rechtsgrundsätze beim Verwaltungsvollzug des Europäischen Gemeinschafts-rechts, KSE 27 (1977), S. 8 f.; U. Everling, DVBl. 1983, 649; K. Lenaerts, CMLR 28 (1991), 11 (13).

51 U. Everling (Fn. 50).52 Deutlich bereits EuGH, Rs. 64/82 (Tradax), 1984, 1359, Rn. 17, 22.53 EuGH, Rs. C-170/89 (BEUC), Slg. 1991, I-5709, Rn. 25.54 EuG, Rs. T-167/94 (Nölle), Slg. 1995, II-2589, Rn. 73.55 EuGH, Slg. 1973, 575, Rn. 10.56 R. Bauer (Fn. 7), S. 19.57 EuGH, Rs. C-49/88 (Al-Jubail Fertilizer), Slg. 1991, I-3187, Rn. 15. Dazu näher H. Nehl (Fn. 7), S. 75 f.

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ist der in der Rechtsprechung zu den rechtsstaatlichen Verwaltungsgrundsätzen ge-prägte Verwaltungsbegriff auf Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE zu übertragen. In der Konsequenz ist das allgemeine Recht auf gute Verwaltung in Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE nicht auf Maßnahmen mit individuellem Regelungscharakter beschränkt, sondern kann auch Maßnahmen mit abstrakt-generellem Regelungscharakter erfas-sen.58 Die Eingrenzung des Regelungsbereichs des Rechts auf eine gute Verwal-tung im Sinne von Art. II-101 VVE erfolgt – entsprechend der bisherigen Recht-sprechung – nicht über einen allgemeinen Begriff der Verwaltung, sondern über das Erfordernis einer konkreten bzw. konkretisierten Beziehung zwischen dem Ge-meinschaftsorgan und dem einzelnen Bürger.59

2. Berechtigte

Das entsprechende Kriterium, der Bezug zum einzelnen Bürger, wird im Rahmen von Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE im Zusammenhang mit der persönlichen Berech-tigung genannt: Personen haben ein Recht auf eine gute Verwaltung nur in Bezug auf „ihre“ Angelegenheiten. Damit ist die Frage nach dem persönlichen Anwen-dungsbereich des Rechts auf gute Verwaltung aus Art. II-101 VVE aufgeworfen. Durch Art. II-101 VVE kann „jede Person“ berechtigt werden. Die Regelung ist damit ausdrücklich nicht auf die Unionsbürger beschränkt, sondern ein Menschen-recht. Unter den Begriff der Person fallen in Übereinstimmung mit der Rechtspre-chung zu den Grundsätzen einer guten und ordnungsgemäßen Verwaltung zudem neben natürlichen auch juristische Personen.60 Nicht durch Art. II-101 VVE be-rechtigt werden dagegen die Mitgliedstaaten.61 Diese können sich im Verhältnis zur Gemeinschaft aber weiterhin auf die in der Gemeinschaftsrechtsprechung ent-wickelten rechtsstaatlichen Grundsätze einer guten und ordnungsgemäßen Verwal-tung berufen.62

a) persönliche Reichweite für Dritte

Mit der Frage nach der persönlichen Berechtigung von Art. II-101 VVE ist ein zen-trales Problem der Regelung verbunden: Wie weit reicht die Berechtigung für Per-sonen, die nicht Adressaten einer Maßnahme bzw. Parteien des entsprechenden Verfahrens sind? Diese Frage stellt sich zum einen in Bezug auf Art. II-101 Abs. 1 VVE. Diese Regelung ordnet das allgemeine Recht auf eine gute Verwaltung Personen nur in Bezug auf „ihre“ Angelegenheiten zu. Damit wird der Kreis der

58 So auch K. Klańska (Fn. 7), 316 für das Recht auf Anhörung.59 H. Nehl (Fn. 7), S. 30, 74, jew.m.N.60 J. Schwarze, EuZW 2001, 517 (518 f.); M. Mahlmann, ZeuS 4 (2000), S. 419 (437); M. Lais (Fn. 7), 460 f.;

R. Streinz (Fn. 39), Rn. 13.61 R. Bauer (Fn. 7), S. 141.62 Dazu R. Bauer (Fn. 7), S. 110 m.N.

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Berechtigten auf solche Personen begrenzt, die zu der Angelegenheit eine derart spezifische Beziehung haben, dass die Angelegenheit „ihre“ ist.Zum anderen ist fraglich, wie der Kreis der Berechtigten bei den einzelnen Rechten des Art. II-101 Abs. 2 VVE zu bestimmen ist. Der Text von Abs. 1 und 2 könnte so verstanden werden, dass hinsichtlich der persönlichen Reichweite nach den einzel-nen Rechten weiter zu unterscheiden ist. Bei einer entsprechenden Auslegung enthielte Abs. 1 das Erfordernis eines hinreichenden Bezugs zur Person im Sinne „ihrer“ Angelegenheiten. Dagegen träten in Abs. 2 teilweise zusätzliche, den Kreis der Berechtigten enger eingrenzende Erfordernisse hinzu: Das Recht auf Anhörung würde nur durch für die Person „nachteilige individuelle Maßnahmen“ ausgelöst63 und das Recht auf Zugang zu Akten wäre für die Person auf „sie betreffende“ Ak-ten begrenzt.64 Das Recht auf Begründung von Entscheidungen enthielte keine zu-sätzliche Eingrenzung des persönlichen Bezugs, weshalb es genügte, dass die Ent-scheidungen für die Person als „ihre Angelegenheiten“ im Sinne von Abs. 1 zu qualifizieren sind.Eine derartige Auslegung würde sich von der Rechtsprechung zu den rechtsstaatli-chen Verwaltungsgrundsätzen unterscheiden. Nach Ansicht der Gemeinschaftsge-richte können die rechtsstaatlichen Grundsätze einer guten und ordnungsgemäßen Verwaltung Drittschutz vermitteln. Dabei differenziert die Rechtsprechung bei der persönlichen Reichweite der rechtsstaatlichen Grundsätze durchaus, stellt dazu aber nicht auf die verschiedenen Rechte ab, sondern auf das jeweilige Verfahren bzw. die jeweilige Maßnahme, auf die die Rechte auf eine gute Verwaltung bezogen sind.65 Als Tendenz lässt sich festhalten, dass je konkreter und belastender das Ver-fahrensergebnis für eine Person ist, ihr desto eher der Schutz durch die rechtsstaat-lichen Grundsätze zugeordnet wird.Dies hat Auswirkungen auf das Verständnis von Art. II-101 VVE. Denn die Kodifi-zierung soll den Schutz des Einzelnen im Vergleich zur bisherigen Rechtslage nicht einschränken. Unter dieser Voraussetzung eröffnen sich für die Auslegung von Art. II-101 VVE zwei Möglichkeiten. Entweder wird die Regelung als nicht abschlie-ßende Kodifizierung verstanden, so dass in Konstellationen, in denen Art. II-101 VVE weniger Drittschutz vermittelt als die rechtsstaatlichen Grundsätze nach Art. 6 Abs. 1 EUV, weiterhin auf die Grundsätze zurückgegriffen werden kann. Oder Art. II-101 VVE wird in der Frage der Reichweite der persönlichen Berechtigung so ausgelegt, dass die von den Gemeinschaftsgerichten entwickelten Grundlinien zur persönlichen Reichweite der rechtsstaatlichen Grundsätze auf Art. II-101 VVE übertragen und die Formulierungen in Art. II-101 Abs. 2 VVE nur als Konkretisie-rungen, nicht aber Einengungen der allgemeinen Anforderungen an den Drittschutz verstanden werden.

63 Nach K. Klańska (Fn. 7), 316 f. ist dies eine erhebliche Einschränkung des persönlichen Anwendungsbe-reichs.

64 Vgl. dazu K. Klańska (Fn. 7), 318 f.65 Dazu H. Nehl (Fn. 7), S. 54 f., 62, 69, 73 ff., 84 ff., 94 ff., 127 ff., 149 ff.; ders. (Fn. 30), S. 244 ff.

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Im Ergebnis ist die zweite Lösung vorzuziehen. Zum einen wird dadurch der Ge-fahr einer divergierenden Auslegung von Art. II-101 VVE und den rechtsstaatli-chen Grundsätzen mit der Folge einer inhaltlichen Aufspaltung des Grundrechts-schutzes vorgebeugt. Dies ist insbesondere deshalb zu vermeiden, weil Art. II-101 VVE in weiten Teilen die Grundsätze einer rechtsstaatlichen Verwaltung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV kodifizieren soll. Zum anderen ist eine Differenzierung der persönlichen Reichweite von Art. II-101 VVE allein nach der Art des jeweils ein-schlägigen Rechts auch inhaltlich nicht überzeugend. Das Recht auf eine gute Ver-waltung beruht, wie oben gezeigt, auf zwei tragenden Begründungslinien: dem Belastungsgedanken sowie dem Kompensationsgedanken. Dieser Hintergrund ist bei der Bestimmung des persönlichen Anwendungsbereichs zu berücksichtigen. Die Bestimmung der Reichweite des persönlichen Anwendungsbereichs hat des-halb nicht allein strikt formal am jeweiligen Einzelrecht anzusetzen, sondern muss das die einzelnen Rechte begründende Verhältnis zur „Verwaltung“ der Union in den Blick nehmen: Je stärker eine Person durch das Verfahrensergebnis belastet wird oder auf das Verfahrensrecht als Kompensation für eine reduzierte inhaltliche Kontrolle des Verfahrensergebnisses angewiesen ist, desto eher ist der persönliche Anwendungsbereich eines Rechts gegeben.66 Hinsichtlich der Kriterien für die ent-sprechende Qualifikation der Beziehung ist deshalb grundsätzlich an die bisherige Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte zu den rechtsstaatlichen Verwaltungs-grundsätzen anzuknüpfen.

b) Anlehnung an Art. 230 Abs. 4, 2. Alt. EGV?

Die Frage, wieweit jeweils ein Schutz auch Dritter besteht, wird von den Gerichten allerdings nicht anhand einer einheitlichen Formel beantwortet, sondern für die verschiedenen Konstellationen differenziert ausgeführt; ein übergreifendes, und dogmatisch hinreichend tragfähiges Konzept ist allerdings bisher nicht hinreichend klar auszumachen.67 Kann diese in ihrer Differenziertheit unbefriedigende Recht-sprechung durch ein kohärentes Konzept unterfangen werden? In Frage käme eine Anlehnung an die Regelung der Individualklagebefugnis vor den Gemeinschafts-gerichten.68 Nach Art. 230 Abs. 4, 2. Alt. EGV sind Individualklagen gegen Sekun-därrechtsakte der Gemeinschaft von Personen, die nicht Adressaten der Maßnahme

66 Deshalb stellt K. Klańska (Fn. 7), 316 hinsichtlich der Frage der persönlichen Berechtigung für das Anhörungs-recht nach Art. 41 Abs. 2, 1. Spiegelstrich zu Recht nicht darauf ab, ob eine Maßnahme individuell-konkreter oder abstrakt-genereller Art ist, sondern auf die möglichen Auswirkungen der Maßnahme auf die Interessen des Einzelnen.

67 Zu den Einzelheiten H. Nehl (Fn. 7), S. 23, 30 ff., 54 f., 62 ff., 69, 75, 77, 84, 94 ff., 127, 131, 138 ff., 150; ders. (Fn. 30), S. 55 f., 60 f., 66, 68, 228 f., 244 ff., 254 ff., 267, 272, 276, 280, 298 ff., 305 ff., 323 f., 329, 338 f., 343 ff., 352 ff., 362 ff., 385, 395, 398, 401, 416 ff., 429, 472; jew.m.N.

68 In diese Richtung K. Klańska (Fn. 7), 317. Der Gedanken einer Parallelität zwischen dem persönlichen Schutz-bereich von Verfahrensgarantien und individueller Klagebefugnis findet sich zuvor bereits bei H. Nehl (Fn. 30), S. 417 ff., der ihn aber im Wesentlichen darauf beschränkt, das Prozessrecht an das materielle Recht heran-zuführen.

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sind, nur zulässig, wenn sie den Einzelnen unmittelbar und individuell betreffen.69

Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass ein Rückgriff auf Art. 230 Abs. 4, 2. Alt. EGV zur Konturierung der persönlichen Reichweite des Schutzes durch das Recht auf eine gute Verwaltung nicht überzeugt. Zum einen fehlt für eine unmittel-bare Anlehnung von Art. II-101 VVE an Art. 230 Abs. 4 EGV die argumentative Grundlage, da Art. 230 Abs. 4 EGV allein die allgemeinen Anforderungen im Sinne der Klagebefugnis bestimmt und die daraufhin jeweils zu beurteilende bzw. einzuklagende Rechtsstellung voraussetzt.70 Zum anderen wird das Klagerecht Drittbetroffener bei Art. 230 Abs. 4, 2. Alt. EGV nach der Rechtsprechung in der Regel aus einer Vielzahl von Kriterien gefolgert, die stark am Einzelfall orientiert sind,71 weshalb auch dieser Rechtsprechung ein dogmatisch stringentes und hinrei-chend klares Konzept nicht ohne weiteres entnommen werden kann.72 Die Recht-sprechung zur Reichweite des durch den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwal-tung vermittelten Drittschutzes hat sich deshalb zu Recht bisher nicht an Art. 230 Abs. 4, 2. Alt. EGV orientiert.

c) Reichweite in Bezug auf Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren

Zur persönlichen Berechtigung und deren Reichweite gehört schließlich die Frage, ob die Kommission in Bezug auf Vertragsverletzungsverfahren durch das Recht auf eine gute Verwaltung gegenüber den Bürgern verpflichtet werden kann.73 Die Ent-scheidung, ob und wann die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV einleitet, wurde von den Gemeinschaftsgerichten bisher als eine An-gelegenheit allein zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten angesehen.74 Zudem wurde der Kommission dabei ein erheblicher, gerichtlich nur beschränkt kontrollierbarer Entscheidungsspielraum zugestanden.75

Diese Position ist vom Europäischen Bürgerbeauftragten ständig kritisiert und mit der Forderung nach Verfahrensrechten zugunsten der Beschwerdeführer konfron-tiert worden.76 In Reaktion darauf hat die Kommission in der Praxis allmählich zugunsten von Beschwerdeführern bestimmte Mindeststandards im Verfahren an-

69 Zu den Einzelheiten W. Cremer, EuGRZ 2004, 577 (577 f.) m.w.N.70 Entsprechend differenzierend W. Kahl (Fn. 43), S. 17 f., der – aus der umgekehrten Perspektive der Begründung

der Klagebefugnis aus der Verletzung von Verfahrensrechten – von einer begrenzten Korrelation ausgeht.71 H. Nehl (Fn. 30), 2002, S. 418 f. m.N.72 Kritik und Versuche eines Konzepts: M. Nettesheim, in: H.-W. Micklitz/N. Reich (Hrsg.), Public Interest Litiga-

tion before European Courts, 1996, S. 225 (237 f.); C. Nowak, Konkurrentenschutz in der EG, 1997, insbes. S. 499 ff.; W. Cremer, in: C. Callies/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., 2002, Art. 230 Rn. 52 ff.

73 K. Klańska (Fn. 7), 311 f.74 Dazu näher R. Rawlings, ELJ 6 (2000), 4 ff.75 EuGH, Rs. 247/87 (Star Fruit), Slg. 1989, 291 Rn. 13; Rs. C-87/89 (Sonito), Slg. 1990, I-1981 Rn. 6 LS 1;

Rs. C-329/88 (Kommission/Griechenland), Slg. 1989, 4159 LS 2; Rs. C-200/88 (Kommission/Griechenland), Slg. 1990, I-4299 Rn. 9 LS 1; Rs. C-422/92 (Kommission /Deutschland), Slg. 1995, I-1097 Rn. 16, 18 LS 1,2; Rs. C-207/97 (Kommission/Belgien), Slg. 1999, I-275 Rn. 24 LS 1; Rs. C-212/98 (Kommission/Irland), Slg. 1999, I-8571 Rn. 12 LS 2; Rs. C-317/92 (Kommission/Deutschland), Slg. 1994, I-2039 Rn. 4 LS 1.

76 Dazu näher P. G. Bonnor (Fn. 19), 47 ff. m.N.

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erkannt.77 Diese Mindeststandards sind zuletzt in Folge des Thessaloniki Metro-Falls im Jahr 2002 neu und weiter gefasst worden.78 Danach akzeptiert die Kom-mission jetzt unter anderem, dass der Beschwerdeführer vor der Entscheidung über die geplante Vorgehensweise der Kommission informiert und dazu gehört werden soll.79

Werden die Rechte der Bürger gegenüber der Kommission in Vertragsverletzungs-verfahren durch die Kodifizierung des Rechts auf eine gute Verwaltung in Art. II-101 VVE gestärkt? Der Bürgerbeauftragte bejaht dies: Die Grundsätze des Europä-ischen Verwaltungsrechts würden verlangen, den eine Beschwerde führenden Bür-ger als Partei des Vertragsverletzungsverfahrens anzuerkennen, weshalb ihm in diesem Verfahren gegenüber der Kommission grundsätzlich auch das Recht auf eine gute Verwaltung aus Art. II-101 VVE zustehe.80

Da der Begriff der „Verwaltung“ in Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE für diese Frage keine Eingrenzung enthält, hängt die Anwendbarkeit von Art. II-101 VVE entschei-dend davon ab, ob das vom Bürger angestoßene Vertragsverletzungsverfahren als seine Angelegenheit zu qualifizieren ist. Erforderlich dafür ist eine spezifische Nä-hebeziehung des Bürgers zu der Angelegenheit, die diese zu seiner macht. Dies wurde von den Gemeinschaftsgerichten in der tradierten Rechtsprechung zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen bisher abgelehnt.81 Diese Rechtsprechung auf Art. II-101 VVE zu übertragen würde dazu führen, dass das allgemeine Vertragsverlet-zungsverfahren nicht als Angelegenheit des eine Beschwerde führenden Bürgers anzusehen ist und ihm deshalb insoweit der Schutz des Art. II-101 VVE nicht zu-steht.Ob die Gemeinschaftsgerichte an ihrer bisherigen Linie festhalten werden, ist aber angesichts einer jüngeren Entscheidung des EuG zum Verhalten der Kommission gegenüber Beschwerdeführern im Bereich des Wettbewerbsrechts fraglich gewor-den. Das Gericht erster Instanz hat in der Entscheidung max.mobil vom 30. Januar 2002 ein Recht des Bürgers auf sorgfältige und unparteiische Behandlung seiner im Rahmen des Wettbewerbsrechts nach Art. 86 Abs. 3 EGV erhobenen Beschwer-de durch die Kommission angenommen. Dabei hat das Gericht zur Begründung des Anspruchs unter anderem auf Art. II-101 VVE verwiesen und diese Regelung als eine Bekräftigung des aus der Rechtsstaatlichkeit der Gemeinschaft folgenden Rechts auf eine geordnete Verwaltung angesehen.82

Das Urteil des EuG betrifft zwar kein allgemeines Vertragsverletzungsverfahren. Es könnte aber dafür Bedeutung erlangen, falls die vom EuG in max.mobil zum Wettbewerbsrecht gegebene Begründung des Rechts des Bürgers auf das allgemei-

77 Siehe dazu die von der Kommission erarbeitete Beschwerdevorlage OJ C 119, 30. 4. 1999, S. 5.78 Siehe dazu die überarbeitete Fassung des Beschwerdeformulars COM/2002/141 endg.79 K. Klańska (Fn. 7), 312.80 J. Södermann, The Citizen, the Rule of Law and Openness, nach: K. Klańska (Fn. 8), 311 Fn. 86.81 Vgl. EuGH, Rs. 247/87 (Star-Fruit), Slg. 1989, 291 Rn. 11 ff.; EuG, Rs. T-479/93 und 559/93 (Bernardi), Slg.

1994, II-1115 Rn. 31.82 EuG, Rs. T-54/99 (max.mobil), Slg. 2002, II-313 ff. Rn. 48.

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ne Vertragsverletzungsverfahren übertragbar ist.83 Eine Antwort auf diese Frage zu geben erfordert einen Rückgriff auf die Begründung der rechtsstaatlichen Grund-sätze einer guten und ordnungsgemäßen Verwaltung. Wie oben gezeigt, werden dem Einzelnen Verfahrensrechte vor allem aus zwei Gründen gewährt: weil das Verfahrensergebnis ihn belastet und weil die inhaltliche Kontrolle des Verfahrens-ergebnisses reduziert ist.84

Der Belastungsgedanke ist für das allgemeine Vertragsverletzungsverfahren weni-ger relevant, da allgemeine Vertragsverletzungen regelmäßig keinen hinreichenden Bezug zu einer individuellen Belastung einzelner Bürger durch das Verhalten der Kommission haben.85

Der Gedanke der Kompensation eines inhaltlich weiten Entscheidungsspielraums der Kommission durch Verfahrensrechte des Bürgers kann dagegen für das Ver-tragsverletzungsverfahren durchaus einschlägig sein. Der Kommission wird bei der Entscheidung, ob und wann sie ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet, von den Gemeinschaftsgerichten ein erheblicher Entscheidungsspielraum zugestanden. Bei konsequenter Anwendung der Leitlinien der bisherigen Rechtsprechung zu den Grundsätzen einer guten und ordnungsgemäßen Verwaltung müssten zumindest die dieser Begründungslinie entsprechenden rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätze auch auf das Vertragsverletzungsverfahren anwendbar sein.Und genau dies hat das EuG in der max.mobil-Entscheidung angenommen. Aus der Analyse der bisherigen Rechtsprechung folgt deshalb, dass die in der max.mo-bil-Entscheidung eingenommene Position des EuG keine Änderung der bisherigen allgemeinen Linie der Gemeinschaftsgerichte zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen enthält, sondern vielmehr deren konsequente Fortsetzung ist. Damit wird nicht al-lein deutlich, dass Art. II-101 VVE im allgemeinen Vertragsverletzungsverfahren vor der Kommission anwendbar sein kann. Zugleich zeigt sich, dass die Bedeutung der rechtsstaatlichen Grundsätze einer guten Verwaltung durch die Kodifizierung in der Grundrechtecharta betont werden und dadurch die Grundrechtecharta bereits vor ihrer Verbindlichkeit als argumentativer Katalysator einer Entwicklung wirkt, die in Richtung einer weitergehenden Anwendung der Grundsätze einer rechtsstaat-lichen Verwaltung führt.

3. Recht auf eine „gerechte“ Behandlung

Diese Wirkung von Art. II-101 Abs. 1 und 2 VVE, die Anwendung und Fortbildung von Verfahrensrechten der Bürger zu fördern, wird zusätzlich betont durch das in Art. II-101 Abs. 1 VVE gewährte Recht des Bürgers auf eine „gerechte“ Behand-

83 Vgl. K. Klańska (Fn. 7), 312.84 Dazu oben unter II. 2. b).85 Vgl. dazu auch die zurückhaltende Position von H. Nehl (Fn. 7), S. 84 ff. zur Frage, ob im Bereich der gemein-

schaftsrechtlichen Fördermittel das Stellen eines Antrags auf Zuteilung von Mitteln genügt, um rechtsstaatliche Verfahrensrechte zu begründen.

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lung seiner Angelegenheiten. Der Begriff der „gerechten“ Behandlung ist dem bis-herigen Primärrecht fremd. Er wird in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsge-richte zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen, auf die der Grundrechte-Konvent zur Interpretation des Art. II-101 VVE allgemein verwiesen hat, noch nicht einmal er-wähnt.86 Die „gerechte“ Behandlung ist eine Neuschöpfung, die über den Stand der bisherigen Rechtsprechung hinausgeht, das Recht auf eine gute Verwaltung für neue Entwicklungen öffnet und deren Inhalt es deshalb näher zu bestimmen gilt.

a) Beschwerdepraxis des Europäischen Bürgerbeauftragten

Dazu bietet sich zum einen ein Rückgriff auf die Beschwerdepraxis des Europä-ischen Bürgerbeauftragten an. Dieser hat bei der Reaktion auf Beschwerden der Bürger häufiger auf den Begriff der „Fairness“ rekurriert: Nach seinen Stellung-nahmen sollen die Bürger von der Verwaltung fair behandelt werden.87 Dieser Grundsatz ist auch in die Entstehung der Grundrechtecharta eingeflossen. Das Recht auf eine gute Verwaltung wurde insbesondere auf Anregung des Bürgerbe-auftragten in die Charta aufgenommen, der sich für ein Grundrecht der Bürger auf eine gute Verwaltung intensiv einsetzte.88 Im Rahmen der Anhörung hat er dabei ausdrücklich die Forderung aufgestellt, dass die Bürger ein Recht darauf haben sol-len, dass ihre Angelegenheiten „angemessen, fair und rasch“ behandelt werden.89 Der textliche Unterschied zwischen fair bzw. Fairness und einer „gerechten“ Be-handlung steht dabei einem Rückgriff auf die Praxis des Bürgerbeauftragen im Rahmen der Auslegung nicht entgegen, denn in der englischen Textfassung von Art. II-101 VVE wird das Recht auf eine „gerechte“ Behandlung als „the right to have his or her affairs handled [...] fairly” bezeichnet.

b) Musterkodex für gute Verwaltungspraxis

Weiter kann zur näheren Bestimmung einer „gerechten“ Behandlung auch auf den vom Europäischen Bürgerbeauftragten ausgearbeiteten Musterkodex für gute Ver-waltungspraxis90 zurückgegriffen werden. Dieser Musterkodex soll gemäß einer Entschließung des Europäischen Parlaments künftig in eine auf Art. 308 EGV ge-stützte Verordnung aufgenommen werden, die dann verbindlich für die Verwal-tungspraxis aller gemeinschaftlichen Organe und Einrichtungen gilt91 und vermei-

86 M. Lais (Fn. 7), 462.87 Europäischer Bürgerbeauftragter, Rede vom 2. 2. 2000, CHARTE 4131/00 vom 17. 2. 2000 (http://www.euro-

ombudsman.eu.int./speeches/de/charter1.htm (Zugriffsdatum: 01. 02. 2005)). Vgl. J. Martínez Soria (Fn. 19), 682 ff.

88 Dazu S. Magiera (Fn. 16), Rn. 2; R. Streinz (Fn. 39), Rn. 3; K. Klańska (Fn. 7), 306 f.89 Europäischer Bürgerbeauftragter, Rede v. 2. 2. 2000: Öffentliche Anhörung zu dem Entwurf einer Charta der

Grundrechte der Europäischen Union, http://www.euro-ombudsman.eu.int./speeches/de/charter1.htm (Zugriffs-datum: 01. 02. 2005).

90 Abrufbar unter http://www.euro-ombudsman.eu.int/code/pdf/de/code_de.pdf (Zugriffsdatum: 01. 04. 2005).91 Entschließung v. 6. 9. 2001, ABl. 2002 Nr. C 72 E S. 331.

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den soll, dass die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaften wie bisher unter-schiedliche Grundsätze anwenden, deren Rechtsverbindlichkeit zudem nicht ge-währleistet ist.92

Da die entsprechende Verordnung noch nicht verabschiedet ist, ist der Musterkodex noch nicht unmittelbar verbindlich. Zwar hat der Bürgerbeauftragte bereits vor der letzten Abfassung der Grundrechtecharta den Musterkodex an alle Gemeinschafts-institutionen und -organe übersandt und mit der Bitte versehen, entsprechende Vor-schriften zu erlassen. Die vorgeschlagenen Vorschriften wurden aber entweder gar nicht oder nur in den Anhang der Geschäftsordnungen der Organe aufgenommen.Dies verhindert aber nicht, dass der Kodex bereits jetzt im Wege der Auslegung Eingang sowohl in die rechtsstaatlichen Grundsätze der Verwaltung als auch in Art. II-101 VVE findet93. Für das nähere Verständnis einer gerechten Behandlung im Sinne von Art. II-101 Abs. 1 VVE kann insbesondere auf die Vorstellungen zurück-gegriffen werden, die in Art. 11 des Musterkodex zum Ausdruck kommen,94 wo-nach der Beamte „unparteiisch, fair und vernünftig handeln“ soll. Die textliche Differenz zwischen „gerecht“ und „fair“ bzw. „vernünftig“ steht auch hier einem interpretatorischen Rückgriff nicht entgegen, da die englische Fassung von Art. 11 des Musterkodex „fairly and reasonably“ 95 lautet und das Recht auf eine „ge-rechte“ Behandlung in der englischen Textfassung von Art. II-101 VVE als „the right to have his or her affairs handled [...] fairly” bezeichnet wird.Darüber hinaus ist das Recht des Bürgers auf eine „gerechte“ Behandlung seiner Angelegenheiten entwicklungsoffen. Es kann von den Gemeinschaftsgerichten fortgebildet werden, wie dies bereits bisher mit den Grundsätzen zu Art. 6 Abs. 1 EUV erfolgt ist. Das Recht auf eine „gerechte“ Behandlung wird auf diese Art und Weise zu einem Recht auf Beachtung der Rechtsstaatlichkeit, wie sie von den Ge-meinschaftsgerichten entwickelt wird.

c) Erlass eines Kodex und Folgen

Aus dem Zusammenspiel der inhaltlichen Offenheit einer „gerechten“ Behandlung einerseits und der Garantie eines subjektiven Rechts auf eine solche Behandlung andererseits folgt schließlich ein spezieller Doppeleffekt des in Art. II-101 VVE kodifizierten Rechts auf eine gerechte Behandlung: Es wirkt zunächst als Anreiz zum Erlass dieses Recht konkretisierender Vorschriften, und erlassenen Vor-schriften verleiht es sodann umfassenden subjektiv-rechtlichen Charakter.Wegen der inhaltlichen Unbestimmtheit und Offenheit sowohl der rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EUV als auch der „gerechten“ Behandlung im Sinne von Art. II-101 Abs. 1 VVE ist das Risiko der Verpflichteten, gegen diese

92 Vgl. dazu J. Martínez Soria (Fn. 19), 697 ff.; M. Lais (Fn. 7), 476 ff.; S. Magiera (Fn. 16), Rn. 16 f.93 K. Klańska (Fn. 7), 306.94 Vgl. dazu auch K. Klańska (Fn. 7), 306, 312 f.95 Siehe http://www.euro-ombudsman.eu.int/code/pdf/en/code_en.pdf, S. 10 (Zugriffsdatum: 31. 01. 2005).

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Anforderungen zu verstoßen und deswegen vor den Gemeinschaftsgerichten ver-klagt zu werden, erheblich. Dieses Risiko kann dadurch reduziert werden, dass die Gemeinschaftsorgane Vorschriften erlassen, die die relativ unbestimmten Pflichten konkretisieren, klare und einheitliche Vorgaben für die Mitarbeiter aufstellen und damit die Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes reduzieren.96

Soweit derartige Vorschriften erlassen worden sind, folgen daraus sodann über Art. II-101 VVE subjektive Rechte der Bürger. Zwar können Vorschriften, die das Recht auf gute Verwaltung konkretisieren, auch wenn sie gegenüber den Mitarbeitern bindende Wirkung haben,97 nur soweit klagbare subjektive Rechte der Bürger schaffen, als ihnen Außenwirkung gegenüber den Bürgern zukommt.98 Art. II-101 Abs. 1 VVE ist aber mit dem Begriff der „gerechten“ Behandlung offen für die Praxis der Unionsorgane und rezipiert insoweit auch die konkretisierenden Vor-schriften. Daher folgt aus den konkretisierenden Vorschriften in Verbindung mit dem Recht auf „gerechte“ Behandlung über ein mögliches subjektives Recht hin-aus aus dem Gedanken der Selbstbindung der Verwaltung99 ein umfassendes sub-jektives Recht des Bürgers auf Beachtung der konkretisierenden Vorschriften. Art. II-101 Abs. 1 VVE kommt damit eine erhebliche zusätzliche Wirkung in Richtung auf die Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit der Verwaltung zugunsten des ein-zelnen Bürgers zu.Diese Wirkung von Art. II-101 Abs.1 VVE könnte mit dem Argument kritisiert werden, dass damit der Kodifizierung des Rechts auf eine gute Verwaltung zu weit-gehende Rechtswirkungen zugeordnet werden. Die Kritik vermag aber nicht zu überzeugen. Ohne eine derartige Rechtswirkung würde sich die Wirkung von Art. II-101 VVE i.V.m. einem – zu erlassenden – Kodex auf einen Anspruch auf Beach-tung der Selbstbindung der Verwaltung beschränken. Dieser besteht aber schon nach bisheriger Rechtslage, weshalb durch Art. II-101 Abs. 1 VVE gegenüber der bisherigen Rechtslage kein Fortschritt erzielt würde. Der Kritik beizupflichten wür-de deshalb dazu führen, Art. II-101 Abs. 1 VVE leerlaufen zu lassen und den vom Rechtsetzer intendierten entwicklungsoffenen Regelungsgehalt des Anspruchs auf gerechte Behandlung zu negieren.

IV. Kritik

Neue Regelungen bleiben selten ohne Kritik. Dies trifft auch auf Art. II-101 VVE zu. Der Regelung des Rechts auf gute Verwaltung wird zum einen vorgeworfen, dass sie zu justizförmig geraten sei. Die Qualität einer Verwaltung hänge nicht al-lein von deren verfahrensmäßig rechtsstaatlicher Kontrolle ab, sondern auch oder

96 Europäischer Bürgerbeauftragter, Jahresbericht 2000, ABl. Nr. C 218 v. 3. 8. 2001, S. 3 (11); M. Lais (Fn. 7), 476, 480.

97 Dafür: J. Martínez Soria (Fn. 19), 698. Zweifelnd: M. Lais (Fn. 7), 477 f.98 Vgl. dazu differenzierend J. Martínez Soria (Fn. 19), 698 ff.99 Dazu J. Martínez Soria (Fn. 19), 700 f.

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vor allem von deren Ergebnissen, weshalb diese auch berücksichtigt werden müss-ten. Aus dieser Perspektive sei Art. II-101 VVE zu stark vom Konzept des Indivi-dualrechtsschutzes geprägt und vernachlässige das Ziel einer materiell guten und effektiven Verwaltung übermäßig.100

Diese Kritik vermag nicht zu überzeugen. Allein die Regelung verwaltungsverfah-rensrechtlicher Grundrechte in Art. II-101 VVE verleiht dem Verfahren noch kei-nen übermäßigen rechtlichen Selbstand. Das Verfahren ist weiterhin Mittel zur Durchsetzung des jeweiligen materiellen Rechts.101 Selbst in Konstellationen, in denen das inhaltliche Ergebnis durch das Verfahren erheblich mitbestimmt werden kann, verlangt Art. II-101 VVE lediglich ein der Verwaltungstätigkeit angemes-senes Maß an Verfahrensweisen, die die Beachtung des Rechts sichern.102 Schließ-lich ist darauf hinzuweisen, dass auch das Recht aus Art. II-101 VVE dem Bürger keinen grenzenlosen Schutz vermittelt, sondern eingeschränkt werden kann. Im Ergebnis steht Art. II-101 VVE daher einer guten im Sinne einer effektiven und effizienten Verwaltung nicht entgegen.103

Zum anderen wird der Regelung des Art. II-101 VVE vorgeworfen, dass sie am Konzept liberaler Individualrechte orientiert sei und deshalb jenseits von Individu-alinteressen liegende Gemeinschafts- und Gruppeninteressen zu stark vernachläs-sige. Öffentliche Verwaltung sei stets auf das Gemeinwohl bezogen. Der Schutz der Rechte einzelner Bürger sei dabei zwar ein wichtiges Anliegen, aber gegenüber der Verwirklichung des Gemeinwohls sekundär. Aus dieser Perspektive sei die Grund-rechtecharta und das darin garantierte Recht auf eine gute Verwaltung einseitig geraten, da die Verwaltung durch die Regelung des Art. II-101 VVE allein aus der Sicht des einzelnen Bürgers angesprochen sei.104

Auch diese Kritik vermag nicht zu überzeugen. Zunächst vernachlässigt die der Kritik zugrunde liegende diametrale Gegenüberstellung von Individualinteressen und Gemeinschaftsinteresse, dass das allgemeine Wohl durchaus durch Individu-alinteressen und entsprechende subjektive Rechte befördert werden kann. Insbe-sondere die Entwicklung der subjektiven Rechte im Gemeinschaftsrecht hat deut-lich gemacht, dass der Einzelne mittels subjektiver Rechte zum Motor für die Durchsetzung des objektiven Rechts und damit auch von Gemeinschaftsinteressen werden kann.105 Darüber hinaus verkennt die Kritik, dass das Verwaltungsverfah-rensrecht im Grundsatz keinen Selbstand hat, sondern im Zusammenhang mit dem

100 M. Bullinger (Fn. 14), S. 28 ff.101 R. Wahl, DVBl. 2003, 1285 (1286); K. Klańska (Fn. 7), 323.102 So auch selbst M. Bullinger (Fn. 14), S. 30.103 Damit entfällt die Notwendigkeit einer Interpretation im Sinne eines Rechts auf eine effektive Verwaltung, wie

sie M. Bullinger (Fn. 14), S. 30 f. verfolgt.104 K. Klańska (Fn. 7), 299, 323 ff.105 Siehe dazu insbesondere die differenzierende Sicht von S. Kadelbach, in: J. Schwarze (Hrsg.), Die rechtsstaat-

liche Einbindung der europäischen Wirtschaftsverwaltung, Europarecht Beiheft 2/2002, S. 7 (25 f.), sowie F. Schoch, Die europäische Perspektive des Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrechts, in: E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1999, 279 (296 f.). In diese Richtung auch M. Bullinger (Fn. 14), S. 32.

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materiellen Recht zu sehen ist. Soweit gruppenspezifische bzw. überindividuelle Interessen gefördert und durchgesetzt werden sollen, kann dies durch entspre-chende Vorgaben im materiellen Recht differenzierter, spezifischer und damit ziel-genauer erreicht werden, als dies eine pauschale Änderung von Art. II-101 VVE bewirken könnte. Dies gilt auch für überindividuelle Verfahrensrechte, wie z.B. Verbandsklagen, die bereichsspezifisch deutlich differenzierter geregelt werden können als durch eine pauschale Erweiterung von Art. II-101 VVE.106

V. Ausblick

Im Ergebnis erweisen sich die Generalkritiken an Art. II-101 VVE als nicht über-zeugend. Der Gedanke der Grundrechtssicherung durch Verfahren, der der bishe-rigen Spruchpraxis des EuGH zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV zugrunde liegt, findet nunmehr in Art. II-101 VVE eine explizi-te Ausformung,107 erhält damit mehr Rechtssicherheit108 und führt zu einem besse-ren Schutz des einzelnen Bürgers gegenüber der Verwaltung.109 In Verbindung mit der neueren Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte zu den rechtsstaatlichen Verfahrensrechten gegenüber der Gemeinschaftsverwaltung belegt dies die pro-gressive Entwicklung des administrativen Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene. Art. II-101 VVE wirkt dabei bereits vor Verbindlichkeit der Grund-rechtecharta als argumentativer Katalysator und ist damit ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einem mit rechtsstaatlichen Garantien versehenen europäischen Ver-waltungsrecht.110

Art. II-101 VVE ist zwar in einigen Bereichen relativ offen und unbestimmt. 111 Die Basis zur Bewältigung der damit verbundenen Herausforderungen ist aber be-reits gelegt in der bisherigen Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen, den Arbeiten des Grundrechte-Konvents sowie den Aktivitäten des Bürgerbeauftragten einschließlich des Musterkodexes für eine gute Verwaltungspraxis. Diese Grundlagen sind für die Auslegung von Art. II-101 VVE fruchtbar zu machen.Hier sind die Gemeinschaftsgerichte gefordert, die zu den Rechten der Bürger im Verwaltungsverfahren Stellung beziehen und diese konkretisieren müssen. Das Stocken des Ratifikationsprozesses hat daran nichts geändert, denn die Rechtslage ist dadurch in Hinsicht auf Art. II-101 VVE nicht verändert worden. Insbesondere steht es den Gerichten zumindest bis zum endgültigen Scheitern der Ratifikations-bemühungen weiterhin offen, über Art. 6 Abs. 1 EUV und das aus der Rechtsstaat-

106 Den Charakter als allgemeine Regelung anerkennt auch K. Klańska (Fn. 7), 325.107 Zur Auswirkung der Grundrechtecharta auf die Rechtsprechung des EuGH siehe C. Callies, EuZW 2001, 261

(267); C. Grabenwarter, in: FS für T. Öhlinger, 2004, 469 (472).108 K. Klańska (Fn. 7), 325.109 K. Klańska (Fn. 7), 326.110 J. Schwarze (Fn. 9), 383; K. Klańska (Fn. 7), 305.111 K. Klańska (Fn. 7), 325 f.

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lichkeit der Gemeinschaft folgende Recht auf eine geordnete Verwaltung, auf Art. II-101 VVE zu rekurrieren als Bekräftigung dieses Rechts, wie dies in der max.mobil-Entscheidung des EuG geschehen ist.Die Gerichte können damit durch Rechtsauslegung und Rechtsfortbildung im Be-reich der administrativen Grundrechte weiterhin zentraler Impulsgeber für das Ver-waltungsrecht der Union bleiben.112 Sie haben es damit in der Hand, Art. II-101 VVE zu einem Meilenstein zu machen auf dem Weg zu einer besseren europä-ischen Verwaltung. Das Recht auf eine gute Verwaltung garantiert zwar noch keine inhaltlich gute Verwaltung.113 Aber es ist geeignet, das Vertrauen des Bürgers in den ordnungsgemäßen Ablauf der Verwaltungsvorgänge zu befördern und damit zur Legitimation der Union beizutragen.

112 J. Schwarze (Fn. 9), 383; H. Nehl (Fn. 7), S. 37; K. Klańska (Fn. 7), 307.113 M. Bullinger (Fn. 14), S. 28 ff.; K. Klańska (Fn. 7), 326.

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