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«Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen» SEITE 14 Die Rolle des Geldes bei der Welt-Zukunftsfrage SEITE 4 ENTWICKLUNGSPARTNERSCHAFT GLOBALEGERECHTIGKEIT weltweit 4/2013

ENTWICKLUNGSPARTNERSCHAFT ......Mister Fontanelli. Sie haben bei uns eines der grössten Konten. Wir verdienen IhreZinsen!» In John Fontanelli löst die Erkenntnis, schuld an vielfältiger

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  • «Ich war fremd, und ihr habtmich aufgenommen» SEITE 14Die Rolle des Geldes beider Welt-Zukunftsfrage SEITE 4

    ENTWICKLUNGSPARTNERSCHAFT GLOBALEGERECHTIGKEITweltweit

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  • VORWORT

    ten eine verbreitete Resistenz gegen die zweiAntibiotika, die es dagegen gibt, das Leben kos-ten.2. Ich gebe Ihnen, gesundheitsbewusste Lese-rInnen, gerne den Geheimtipp «meiner» Gastro-enterologin weiter: Sollten Sie mal wieder zueiner Antibiotikum-Einnahme genötigt sein, dannessen Sie drei Stunden später – vorbeugend,einmal am Tag – ein «Joghurt nature» (zuckernist «erlaubt»).3. Nachdem einige «Selbstverständlichkeiten»des Lebens nicht mehr funktionierten, lernte ichsie wieder viel mehr zu schätzen: einen intaktenKreislauf, körperliche Behaglichkeit, kulinari-schen Genuss im Mass, Fortbewegungskraft und Energie.4. Das alltägliche Einüben der Achtsamkeit undGenügsamkeit, die Wahrnehmung der kleinenWunder des Lebens, dies bringt in unserem Er-dendasein mehr Zufriedenheit und Wohlergehenals der Tendenz zur Gier zu folgen und fixen Vor-stellungen verhaftet zu bleiben. (In meinem Fallhiess das: Wir stornierten die neun Tage Kretaund genossen stattdessen «Frühlings»-Ferienbei Schneefall in einer Wohnung in Engelberg,was wirklich gutgetan hat.)5. Im Kranksein bin ich noch mehr als sonst aufwohlwollende, geduldige und ermutigende Men-schen angewiesen und ihnen dankbar. Gleich-zeitig erfahre ich eine Grundrealität: Letztendlichbin ich für mich nicht nur selber verantwortlich,sondern gehe auch allein durch Nadelöhre desLebens. Dabei ist Linderung möglich durch eineinnige Verbundenheit mit allen Wesen und derSchöpfung, die auch als Gotteserfahrung erleb-bar ist.6. Nun erfreue ich mich wieder weitgehenderGesundheit und erfahre das Leben neu: Darin,dass weniger oft stimmiger wirkt, langsamer imGanzen besser tut. Damit, dass ich wohltuendeLernschritte mache, um auch im Arbeiten mehrzu leben – und das Leben mehr mit Fantasie,Wertschätzung und Zuwendung zu gestalten.

    Theo Bühlmann

    Erkenntnisse aus KrankseinLiebe LeserinLieber Leser

    Sie haben es natürlich nicht bemerkt. Das Er-scheinen der letzten WeltWeit-Ausgabe war zeit-weise infrage gestellt, denn ich war einige Zeitkrank. Bei einer Arbeit, bei der das Meiste durcheinen Kopf und eine Hand geht, lässt sich soschnell nicht Ersatz finden. Ein Antibiotikum gegen eine Entzündung um eineZahnwurzel hatte mir das hartnäckige Clostri-dium-Toxin in den Darm abgesetzt, worauf einKampf zwischen «einheimischer Flora» und dem«Eindringling» tobte, den nach sieben Wochendank Heerscharen eines weiteren Antibiotikumsdann doch endlich die guten Bakterien gewan-nen und meinen Durchfall beendeten.

    Die Krankheitszeit gebar mir einige Erkennt-nisse:1. All den eifrigen DoktorInnen, die gegen(un)mögliche Gebresten leichtfertig diese Wun-dermittel der Medizin verschreiben, möchte ichim Sinne des gesundheitlichen Gemeinwohls ansHerz legen: Versucht doch vorher langsamere,vielleicht auch althergebrachte und alternativeWege der Heilkunst. Denn wem in etwa zehnJahren dieses Malheur passiert, könnte ansons-

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  • AUFTAKT

    INHALT

    DENKMAL4 Wie kann Geld die Welt anders regieren?

    STANDPUNKT7 Reich Gottes auf Erden

    ALLEWELT 8 Nachrichten aus aller Welt

    MERKWÜRDIG9 Andere Kennzahl für Fortschritt

    MISSIONKIRCHE10 Der Missionsbegriff früher und heute

    WERTEBODEN12 Hoffnungsperspektive Weltethos

    THEMENSEITEN14 Asylwesen: Wie weiter?

    Humanität auf dem Prüfstand

    NOTHILFE22 Hilfe für syrische Bürgerkriegsopfer

    ERZÄHLT23 Das kurze Leben der kleinen Fatima

    GLAUBENSVIELFALT25 Die uralte Kirche der Thomas-Christen

    ANGEBOTE28 Veranstaltungen von Herausgebergemeinschaften

    STREIFZÜGE29 Nachrichten aus den Gemeinschaften

    INTERVIEW31 Volontariat mit «Voyage-Partage»

    PROJEKTHILFE32 Schule und Sozialhilfezentrum in Uganda

    BRÜCKENSCHLAG34 Lebenshilfe in kolumbianischem Elendsviertel

    PROJEKTHILFE37 Haus für Familien in Not in Manila, Philippinen

    14 Asylpolitik: Humanitäre Tradition abgeschafft? Das «Asylgesetz» wird immer mehr zum Instrument der Ab-schreckung und Abschiebung. WeltWeit sucht neue Denkan-sätze zwischen Praktikablem und Humanität über die Kritikan den Verschärfungen hinaus: Was muss und kann getanwerden für Menschen, welche in ihrer Heimat keine Lebens-perspektive sehen?

    25 Thomas-Christen in der SchweizInderinnen und Inder hierzulande gehören meist zu den Tho-mas-Christen, einer uralten und bei uns nahezu unbekanntenKirche, die sich als Gründung des Apostels Thomas sieht.Über die Kraftquelle, welche diese Menschen «am Lebenhält» und die Generationen verbindet.

    Bild oben: Georgette Baumgartner-Krieg, Bild unten: Vera Markus.

    Titelbild (Jacques Michel, Missio): Freudige Begegnungen zwischenEinheimischen und vorher Fremden an der 11. Afrikaner-Wallfahrtnach Saint-Maurice 2012.

    Besuchen Sie uns unter: www.weltweit.chund im Facebook: http://www.facebook.com/ZeitschriftWeltWeit

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    Regiert Geld die Welt? Andreas Eschbach thematisiert in «Eine Billion Dollar» die Rolle des Geldes bei der Frage, wie die Mensch-heit ihre verlorene Zukunft zurückgewinnt.

    ZUSAMMENFASSUNG: THEO BÜHLMANN

    Stellen Sie sich vor: Sie werden von einer Anwaltskanzleiin ein Fünf-Sterne-Hotel bestellt. Drei noble Herren inMassanzügen eröffnen Ihnen, dass Sie ein beträchtlichesVermögen erben: «Wollen Sie es haben?» Die Anwältesprechen zuerst von achtzigtausend Dollar. Sie seien vor-sichtig, weil solche Freudenschocks auch schon Herz-versagen ausgelöst haben. Als sie vier Millionen nennen,schiesst Ihnen der Gedanke durch den Kopf, dass Siedamit keinen Tag länger arbeiten müssten. «Sagen Siejetzt bloss nicht, es ist noch mehr», entfährt es Ihnenangesichts der Mienen der Herren. «Doch, wesentlichmehr!», lacht einer, um endlich herauszurücken: «Freun-den Sie sich mit zwei Milliarden an.» Aber auch das istnoch tiefgestapelt, wie Sie erfahren, nachdem sie dieGeschichte erzählt haben: Als Erbe gilt der jüngste Nach-fahre des italienischen Kaufmanns Giacomo Fontanelli,der im Florenz der Medici im 16. Jahrhundert sein Ver-mögen anlegte, damit dieses im Laufe eines halben Jahr-tausends durch Zins und Zinseszins zu einer gewaltigenSumme anwächst. Die altehrwürdige Anwaltsfamilie Vac-chi hat es, so wie vom Stifter im Testament festgelegt, bis zum 23. April 1995 «gehütet». An dem Tag machen sieJohn Salvatore Fontanelli, den mittellosen Pizza-Ausfahrerin New York, zum reichsten Mann aller Zeiten. Reicher alsdie bisher zweihundert reichsten Menschen der Erde –zusammen. Tatsächlich erbt Fontanelli eine Billion Dollar,tausend Milliarden! Ein Privatvermögen, grösser als dasBruttoinlandprodukt der meisten Länder.

    Nicht zufrieden machender ReichtumDer Neureiche lässt sich in den teuersten Luxusläden einkleiden.In den zwei Stunden sei sein Vermögen um rund neun Millionengewachsen, erklärte der ihn begleitende Vacchi; sie hätten auchden Laden kaufen können, ohne es wirklich «anzubrauchen».Fontanelli fliegt zum Anwesen «seiner» Anwälte nach Florenz. Erlässt sich durch den italienischen Staat einbürgern, der sich miteiner symbolischen Erbschaftssteuer von 20 Milliarden begnügt,welche ihm den Eintritt zur Europäischen Währungsunion ebnen.John Fontanelli wird von Prominenten, Reichsten und Einfluss-reichsten aus aller Welt hofiert. Er kauft sich eine Villa, später einriesiges Schloss sowie eine Hochsee-Luxusjacht, die er fast niebraucht. Kurzum, er gewöhnt sich mit angenehmem Überwältigt-sein und grundsätzlichen Zweifeln an sein neues, abgehobenesLeben, das er irgendwie fad statt erfüllend erlebt. Und er zer-bricht sich den Kopf über den testamentarischen Auftrag, mit

    dem sein Erbe verknüpft ist: der Menschheit die verlorene Zu-kunft zurückzugeben. Fontanelli rechnet aus, wie viel jeder derdamals etwa 1,3 Milliarden Armen bekäme, wenn er sein Geldverteilte – knapp 770 Dollar, die aber spätestens in einem Jahr«verfrühstückt» wären –, und er verwirft die Idee. Schliesslichmeldet sich der geniale und mysteriöse Malcom McCaine. DerBörsenunternehmer und Wirtschaftswissenschaftler hatte vor 25Jahren das Programm geschrieben, mit dem die Vacchis dieTausenden von Konti des Fontanelli-Erbes verwalteten.

    Zukunft mit Wirtschaftsmacht erzwingen?Dieser noch vor der Jahrtausendwende geschriebene Romanbesticht durch eine seltene Raffinesse, eine hochspannendeGeschichte gezielt mit wirklich hilfreichen wirtschaftspolitischenund sozioökologischen Erkenntnissen zu bestücken. Nachdemder Erbe McCaine als Geschäftsführer engagiert hat, erklärt ihm

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  • DENKMAL

    dieser die Einkommenshierarchie: Auf niedrigstem Level stehtnormale, «ehrliche Arbeit», ein Handwerk oder eine Dienstlei-stung, mit der Menschen (nach Abzug der Steuern) nicht we-sentlich mehr verdienen können, als sie zum Leben brauchen.Einen höheren Lohn erzielt spezialisierte Arbeit, wenn Sie etwastun, das begehrt ist, was nicht alle können oder bereit sind zuleisten, ein Rechtsanwalt oder eine berühmte Schlagersängerinbeispielsweise. Aber für eine wirklich höhere Stufe sorgt dasHebelprinzip: Beim Handel kann etwas billig eingekauft und teu-

    rer verkauft werden.Die Entlöhnung richtetsich nicht nach demAufwand Ihrer Tätigkeit,sondern nach demNachfragewert derWare. Sie verdienenhauptsächlich an IhrerFähigkeit, einen Bedarfzu entdecken und zubefriedigen. Der nächs-te Sprung bestehtdarin, dass Sie sich alsUnternehmer «verviel-fältigen»: Sie leiten an-dere dazu an, in IhremSinne zu arbeiten. WennSie auf Ihrem Markt gutankommen, ist das Ge-halt Ihrer Angestelltendie beste Geldanlage.Betriebswirtschaftlichgesehen sollten Siedem Unternehmen min-destens das 1,3-Fachedavon einbringen, also eine Rendite von30 Prozent. Obwohl eseine Ungerechtigkeitdarstellt: Es ist umsoleichter, in eine höhereEinkommenskategoriezu gelangen, je mehr

    Geld man bereits hat. Die oberste Stufe ist diejenige, in der IhrGeld weiteres Geld verdient, ohne dass Sie arbeiten müssen.«Ob Sie eine Million, 100 Millionen oder Milliarden durch dieKanäle des weltweiten Finanzverbundes laufen lassen, der Auf-wand ist derselbe», erklärt McCaine. Sie bezahlen andere, diesfür Sie zu tun; Sie müssen Unternehmen auch nicht selber müh-sam gründen und aufbauen, sondern kaufen sie fixfertig. Die Buchprotagonisten gründen die Fontanelli Enterprises. DasUnternehmen expandiert mit der erklärten Absicht, in (un)abseh-barer Zukunft die Welt zum Guten zu verändern. Sie entscheidenüber Glück und Unglück von Konzernen, Währungen und ganzenVolkswirtschaften. McCaine und Fontanelli setzen alle Spielartender Macht ein und werden zur führenden Wirtschaftsmacht.Gleichzeitig versuchen sie an ihrem «Institut für Zukunftsfor-schung» mit den besten Modellen und Computerprogrammendie Entwicklung der Welt so genau wie möglich zu erfassen. Sie

    wollen wissen, wie heutige Entscheide und Massnahmen auf dienächsten 50 und mehr Jahre wirken – und wie die Katastrophefür die Menschheit zu verhindern ist. Ausgangspunkt dazu ist dieStudie «Grenzen des Wachstums» des Club of Rome 1972. Siehat errechnet, wie die Entwicklung der fünf entscheidendstenZustandsgrössen der Welt – Bevölkerungszahl, Lebensqualität,Umweltverschmutzung, Rohstoffvorräte und investiertes Kapital– sich auf die Zukunft der Menschheit auswirken. Bis 1995 sahes nicht übel aus; doch für etwa 2030 wurde der Kollaps pro-gnostiziert, durch «Bevölkerungsexplosion» und Rohstoffmangel.Daraus wurde gefordert, durch eine strikte Kontrolle der Fort-pflanzung und Umweltverschmutzung, durch einen sparsamenUmgang mit Ressourcen und die Beendigung des Wirtschafts-wachstums einen Gleichgewichtszustand zu erreichen, der einelangfristige menschliche Existenz mit hoher Lebensqualität si-chert. Leider wurde das zu wenig getan, bilanziert McCaine, frei-willig werden die notwendigen Korrekturen nicht vorgenommen.Es braucht jemand, der «die Macht hat, sie zu erzwingen».

    Problemverursacher!Zufällig stösst John Fontanelli auf den Philippinen auf Fischer,die verbotenerweise mit Dynamit fischen. In ihrem verzweifeltenÜberlebenskampf zerstören sie Meeresleben und damit künftigeLebensgrundlagen ihrer Familien. Den Sprengstoff und das Ben-zin für die Boote streckt der Fischaufkäufer vor, sackt aber unan-ständig viel Geld dafür ein. Der braucht es unter anderem, umden horrenden Zins seiner Kleinkredite für die Eismaschine undseine kleine Tankstelle zu zahlen. Fontanelli geht der Sache nachund findet heraus, dass der Mann seine Schulden (wie alle hier)dennoch nie wird abarbeiten können. In fünfzehn Jahren wird dieProvinzbank sein Geschäft und das Haus seiner Familie zwangs-verkaufen. Nach den Gründen für die Gläubiger ruinierende Kre-ditvergabepraxis gefragt, antwortete der Bankleiter: «Wir sind inerster Linie unseren Einlegern verpflichtet. Ihnen zum Beispiel,Mister Fontanelli. Sie haben bei uns eines der grössten Konten.Wir verdienen Ihre Zinsen!» In John Fontanelli löst die Erkenntnis, schuld an vielfältiger undweit verbreiteter Armut zu sein, die Sinnkrise seines Lebens aus:Geld arbeitet nicht, dies müssen Menschen. Jeden Dollar, um densein Konto wächst, hat ein Mensch erarbeitet! Jeder mit Schul-den muss vom Verdienten an den abgeben, bei dem er dieseSchulden hat. Dies ist ein riesiger, raffinierter Mechanismus, dermillionenfach in kleinen Dosen Geld von denen, die wenig besit-zen, zu denen transportiert, die schon viel haben. John erkenntmit Schrecken, dass er der grösste Ausbeuter, also nicht die Lö-sung, sondern die Ursache der Probleme der Welt ist! Und er findet in der «Geldschöpfung» den entscheidenden Wirt-schaftssystemfehler: Gewährt – als fiktives Beispiel – eine Natio-nalbank den Kredit von 100 000 Euro (dies ist nicht Geld ausEinlagen, sondern aus dem Nichts «erschaffenes») mit einemZins (Diskontsatz) von drei Prozent, so sind nach einem Jahr3000 Euro zurückzuzahlen. Aber woher kommen die? Natürlichist noch mehr und anderes Geld im Umlauf, womit die Zinsentatsächlich bezahlt werden – aber mit dem Ergebnis, dass diesesGeld (und viel weiteres für Kreditzinsen) anderswo fehlt, wofür«irgendwann und um hundert Ecken herum» ein weiterer Kreditaufgenommen wird, um die Zinsen für den ersten (und weitererKredite) zu bezahlen. Dadurch, dass Zinsen auf neu geschaffe-

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    (Bild: kosmos.welt.de)

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  • nes Kapital verlangt werden, entstehen mehr Schulden, als esGeld gibt. Und da Geldschöpfung nicht nur Zentralbanken – wel-che über den Diskontsatz über das wirtschaftliche Gleichgewicht(zwischen vorhandenen Gütern und Geld) wachen –, sondernauch gewöhnliche Banken tun dürfen, vervielfacht sich der Effekt. Darum erleben wir global ein «Schwarz-Peter-Spiel», indem mit jeder Runde mehr Schwarze Peter (Schulden) dazu-kommen. Alle versuchen, sie loszuwerden, was immer schwererwird, je mehr es davon gibt: Man muss immer mehr produzierenund verkaufen, noch härter (Geld er)arbeiten, schneller werden,andere überflügeln, kann keine Rücksicht mehr nehmen auf dieNatur oder auf jene, die im Wettlauf dieses erzwungenen Wachs-tums scheitern. Darum müsse, so das Fazit, zur «Rettung derErde» dieser Konstruktionsfehler behoben werden.

    Systemfehler in der «Geldschöpfung»und der Besteuerung verursachen dieProbleme!

    Steuern auf Rohstoffe – WeltdemokratisierungInzwischen sind die Ergebnisse der Computersimulationen zurEntwicklung der Menschheit da: Die Möglichkeiten der Einfluss-nahme der Fontanelli Enterprises reichen nicht aus, den künfti-

    gen Zusammenbruch zu ver-hindern. Malcom McCaineschliesst daraus, die Weltstrebe unentrinnbar dem Un-tergang entgegen und nureine kleine Elite könne über-leben. John Fontanelli hin-gegen sucht weiter nachAlternativen. Es kommt zuSpannungen, Meinungsun-verträglichkeiten und zumBruch zwischen den beidenGeschäftspartnern.Letztlich eröffnet das Buch –teilweise abseits der Haupt-handlung – hoffnungsvolleEntwicklungsperspektiventrotz aller globalen Unweg-samkeiten. Ein Wirtschafts-journalist erklärt JohnFontanelli seine bahnbre-chende Idee, alle Einkom-mens- und Umsatzsteuernabzuschaffen und – weltweiteinheitlich geregelt – aus-schliesslich Steuern auf Roh-stoffe zu erheben. Zahlenmüsste derjenige, der etwasaus der Erde entnimmt.Wenn Rohstoffe teuer sind,überlegt man es sich sorg-fältig, Gewonnenes als

    Schadstoffe in die Umwelt zu vergeuden. Zur Festlegung derSteuerhöhe müsste mit den Wiederbeschaffungskosten korrektbilanziert werden. Steuern finanzieren nicht nur Gemeinwohlauf-gaben, sie üben eine lenkende Funktion aus. Sie dämpfen das,worauf sie erhoben werden. Ohne Besteuerung würden mensch-liche Arbeit und Dienstleistungen kostengünstiger und die Arbeitslosigkeit gesenkt. Als sozialen Ausgleich könnten Gemein-wesen nach Gutdünken zusätzlich die Vermögen ihrer Bürgerprogressiv besteuern. Damit liessen sich viele Hindernisse wirkli-cher Personenfreizügigkeit wegräumen; Migrationsbewegungenwürden sich durch unterschiedliche Attraktivität der Regionenregeln. Einen sofortigen Gemeinschaftsbeitrag leistet Fontanelli selber,indem er seinen Konzern nicht länger einer regulären Besteue-rung entzieht. Zusätzlich schlägt er eine Börsentransaktions-steuer vor, um Finanzmarktauswüchse einzudämmen. Und alsAnfang einer Globalisierung im Dienste der ganzen Menschheitgründet er eine Stiftung, welche die Wahl eines «Weltsprechers»ermöglicht. Die entstehende Aufbruchstimmung könnte allmäh-lich zu einer demokratischen Weltregierung führen, die denVereinten Nationen die nötige Macht verleiht, mit weltweiten Gesetzen den Kapitalismus zu reformieren und die Welt in eineneue Zukunft zu führen.

    Roman von Andreas Eschbach: Eine Billion Dollar, Bastei Lübbe

    Taschenbuch, 887 Seiten, Fr. 14.90, 14. Auflage 2012,

    ISBN 978-3-404-15040-3

    Auch der Schweizer Franken treibt mitunter seltsame Blüten. (Bild: Theo Bühlmann)

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    DENKMAL

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  • SR. INGRID GRAVE

    Das Reich Gottes, wir suchen es oft vergeblich in unserer Welt.Auch WeltWeit berichtet in jeder Ausgabe von Menschen in Elend,Unwissenheit und Krieg. Wir sollen ihnen heraushelfen aus die-ser Misere. Damit sie etwas vom Reich Gottes spüren? Wir den-ken doch zuerst an eine Linderung ihrer Not. Vielleicht habengenau diese Menschen schon Predigten gehört, in denen vom

    Reich Gottesdie Rede war.Was könntensie sich da-runter vorge-stellt haben?Oder wiewurde esihnen vorge-stellt? AlsVertröstungaufs Jen-seits?Viele von uns,die – imGrossen undGanzen gese-hen – ineinem wohl-

    habenden Europa leben, kommen gar nicht auf den Gedanken,sie lebten in himmlischen Verhältnissen. Wenn ich mit Menschenins Gespräch komme, die sonntags in die Kirche gehen und inihrer Kindheit einen geregelten Religionsunterricht erhielten, wis-sen sie oft auch nichts anderes zu sagen als: Das Reich Gottes,da wollen wir hin! Sie geben mir zu verstehen, dass sie sichetwas Jenseitiges darunter vorstellen, einen Zustand von Glück-seligkeit, der einem durch nichts und niemand mehr genommenwird.In meinem Bekanntenkreis gibt es eine Frau, die ich seit zwanzigJahren kenne. Sie findet, wenn es einem seelisch wie materiellgut geht, dann soll man an diesem Wohlergehen andere teilhabenlassen. Sie macht ernst damit. Sie teilt ihre Heiterkeit mit jenen,die ihr niedergedrückt erscheinen. Und obwohl sie nicht reich ist,hat sie immer noch einiges übrig, das sie weiterreicht an ihr be-kannte oder unbekannte Menschen, die in prekären Situationenleben. In meinen Augen verwirklicht sie Reich Gottes auf Erden.Sie selbst würde diesen Gedanken weit von sich weisen! Dennniemand hat ihr bisher beweisen können, dass es diesen Gottund sein himmlisches Reich überhaupt gibt.

    Und ich selbst? Ich habe mich über Jahre am Reich-Gottes-Begriff«abgearbeitet». Als Kind und Jugendliche konnte ich mir keinenrechten Reim darauf machen. Ich legte also dieses «Reich Got-tes» erst einmal ad acta. Doch es «meldete» sich wieder!Die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas erwähnen es mehr-fach. Je nach Übersetzung sprechen die Texte vom Reich undseiner Gerechtigkeit, vom Himmelreich oder eben vom ReichGottes. Etwas ungemütlich wird’s mir, wenn ich lese, dass eherein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher es insHimmelreich schafft. Wenn ich sehe, was unser Wirtschaftssys-tem und seine Krise weltweit auslösen, dann bin ich immer nochsehr privilegiert. Bei einem Aufenthalt in Brasilien «identifizierte»mich ein Kind als eine Reiche aufgrund meiner äusseren Erschei-nung. Dabei war ich alles andere als elegant gekleidet.Etwas vom Reich Gottes oder zumindest ein Vorgeschmackdavon lässt sich «vom Himmel auf die Erde ziehen». Es liegt anuns und unseren Entscheidungen, im täglichen Leben umzuset-zen, was Jesus uns vorgelebt hat: Achtsamkeit den Menschengegenüber, und zwar über alle Grenzen hinweg. Jesus kenntkeine Bevorzugung des eigenen Volkes oder der eigenen Ver-wandtschaft. Es gibt nur eine Menschheitsfamilie. Wenn wir demDenken Jesu und den daraus resultierenden Forderungen in derTheorie zustimmen können, sind wir bei der Umsetzung enormgefordert. Oder hoffnungslos überfordert? Ich glaube nicht. Jesus selbst sagt, das Reich Gottes sei schonganz nahe, ja, mitten unter uns (Lk 17,21). Also muss etwasdavon in uns selbst angelegt sein. Das Grösste ist wohl unsereLiebesfähigkeit. MystikerInnen finden Worte für dieses Innewoh-nen des Göttlichen in uns selbst: Seelenquell, Gottesfunken,Liebesglut. Ja, das Reich Gottes ist in uns und um uns. Wie?Das brauchen wir gar nicht so genau zu wissen. Es genügt, wennwir anfangen, von der Mitte unseres Herzens her die Welt zu be-trachten. Dann beginnt Reich Gottes bereits zu wachsen. Ich binsicher, die Menschen um uns werden es spüren. Ganz gleich,welchen Namen sie dafür finden, es ist das, was den historischenJesus leidenschaftlich bewegte und wofür er sein Leben gab.

    Mehr zu diesem Thema finden Sie auf Seite 10.

    Reich Gottes aufErden: wo und wie?

    STANDPUNKT

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    Die Ilanzer Dominikanerin Sr. Ingrid Grave moderierte

    sechs Jahre die «Sternstunde»beim Schweizer Fernsehen.

    Sie engagiert sich heute öku-menisch in der reformiertenPredigerkirche in Zürich.

    (Bild: Maya Jörg)

    (Bild: Badische Zeitung)

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  • ALLEWELT

    Geldabfluss aus Afrika Afrika hat in den vergangenen drei Jahrzehnten bis zu 1,4 Billio-nen Dollar durch illegale Kapitaltransfers verloren – wesentlichmehr Geld, als dem Kontinent im selben Zeitraum durch Ent-wicklungshilfe zugeflossen ist. Zu diesem Ergebnis ist die Afrika-nische Entwicklungsbank in einer gemeinsamen Studie mit derUS-Organisation Global Financial Integrity (GFI) gekommen.Jährlichen Abflüssen von rund 50 Milliarden Dollar stehen Zu-flüsse staatlicher Entwicklungshilfe von weniger als 30 MilliardenDollar gegenüber. Während die Entwicklungshilfe aus den Indus-trienationen rückgängig ist, nimmt die Kapitalflucht weiter zu.Zum «schmutzigen Geld» zählen vor allem illegal abgezweigteBeträge aus Bodenschatzexporten, aber auch zur Steuerhinter-ziehung ins Ausland geschleuste Mittel oder Schwarzgeld ausKorruption und kriminellen Aktivitäten. «Diese Geldströme wer-den nicht zuletzt auch von westlichen Banken und Steuerpara-diesen ermögIicht», sagte GFI-Sprecher Clark Gascoigne.

    Johannes Dieterich, Tages-Anzeiger

    Beschäftigungskrise DSW Die Zahl der Arbeitslosen stieg 2012 auf weltweit 197 Mil-lionen Menschen (5,9 Prozent). Vor Ausbruch der weltweitenWirtschafts- und Finanzkrise im Jahr 2007 waren es 27 Millionenweniger. Laut dem Bericht über globale Beschäftigungstrendsder Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sind besondersjunge Menschen von der Beschäftigungskrise betroffen: 2012waren 73,9 Millionen der Jugendlichen (12,6 Prozent) ohne Arbeit. In Europa lag die Arbeitlosigkeit von Menschen unter 25 Jahren im Frühling 2013 bei rund 25 Prozent; in Griechenlandbetrug sie gar 62 Prozent, in Spanien 56 Prozent.

    Atomwaffen ächten! Im kommenden September hält die 193 Mitgliedsländer zählendeUN-Vollversammlung ihr überhaupt erstes hochrangiges Treffenzum Thema atomare Abrüstung ab. Auch wenn die Chancengleich null sind, dass sich die Atommächte zu einer Verringerungihrer Bestände verpflichten, sei dafür zu sorgen, dass die Kon-trolle und «Abschaffung dieser tödlichen Waffen einen immer höheren Stellenwert auf der politischen Tagesordnung» einneh-men, betonte Jonathan Granoff, Vorsitzender des Global Secu-rity Institute (SIPRI). Gemäss Stockholmer Friedensforschungsinstitut verfügten dieacht Atommächte China, Frankreich, Grossbritannien, Indien, Israel, Pakistan, Russland und USA Anfang 2013 über etwa 4400einsatzbereite Atomwaffen. Die Zahl der atomaren Sprengköpfeder acht Atommächte schätzt SIPRI auf 17 265. Gleichzeitig wirddarauf hingewiesen, dass China, Frankreich, Grossbritannien,Russland und die USA neue Atomwaffenliefersysteme entwi-ckeln oder entsprechende Programme angekündigt haben.

    China vergrössert sein Kernwaffenarsenal, ebenfalls Indien undPakistan. Gemäss Granoff ist die US-Regierung der Auffassung,die verbleibenden US-Waffenarsenale seien zu modernisieren.Auch wenn die UN-Vollversammlung nicht in der Lage sein wird,die Atomwaffenstaaten zur nuklearen Abrüstung zu bewegen,sollte ihre Bedeutung, bestehende Normen zu stärken und aufdie Einhaltung eingegangener politischer Verpflichtungen zudringen, nach Ansicht von Shannon Kile vom SIPRI nicht unter-schätzt werden: «Auf lange Sicht kann sie den Besitz von Atom-waffen delegitimieren.»

    Thalif Deen, IPS

    Überwachung begrenzenEnthüllungen über den US-Militärnachrichtendienst NSA habendie Zivilgesellschaft veranlasst, den UN-Menschenrechtsrat an-zurufen, um die Persönlichkeitsrechte in Zeiten verstärkter welt-weiter staatlicher Überwachung zum Thema zu machen. EinBericht des UN-Sonderberichterstatters Frank La Rue weist aufdie Zunahme der Überwachung hin: «Nationale Gesetze, die dienotwendige, legitime und verhältnismässige Beteiligung desStaates an der Überwachung der Kommunikation regeln, sind oftunzureichend oder existieren einfach nicht.» Überwachungstech-nologien entwickeln sich rascher als die Rechtsrahmen, um siezu regulieren. Der ungehinderte Zugang des Staates zu solchenTechnologien gefährde die Grundrechte auf Privatsphäre undfreie Meinungsäusserung. Sie werden durch die UniverselleMenschenrechtserklärung und den Internationalen Pakt überbürgerliche und politische Rechte geschützt. Der Report warntvor einem «gestaltlosen Konzept nationaler Sicherheit», umRechte der Menschen zu unterhöhlen. Ein solches Eindringen sei eine potenzielle «Bedrohung der Fundamente einer demo-kratischen Gesellschaft».

    George Gao, IPS

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    Ostermärsche gegen Krieg, Rüstung und Atomwaffen:Auch Leute des schweizerischen Friedensdorfes betei-ligen sich. (Bild: Friedensdorf Broc)

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  • MERKWÜRDIG

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    MARTIN FÄSSLER

    Nach dem Zweiten Weltkrieg machte sich in der wohlhabendenWelt die Meinung breit, ein wachsender Wohlstand werde dieFrage der Gerechtigkeit von alleine beantworten. Das wirtschafts-politische Rezept hiess: je mehr Wachstum, desto mehr Gerech-tigkeit. Heute ist der Streit um Gerechtigkeit erneut aktuell. Wiesteht es mit der Gerechtigkeit innerhalb einer Nation, innerhalbder Weltgesellschaft? Welchen Platz haben Fairness und Res-sourcengerechtigkeit in einer Welt der knapper werdenden Res-sourcen (Boden, Wasser, Luft)?

    Wohlstand handelt von der Qualitätunseres Lebens. Er bedeutet nicht,immer mehr zu konsumieren.

    Nicht weiter so wie bisherMomentan werden auf internationaler Ebene Antworten auf diealten Fragen der Gerechtigkeit gesucht. Bis 2015 soll eine Nach-folgeregelung für die Millenniums-Entwicklungsziele gefundenwerden. Nützliche Anstösse, sozialen Fortschritt in armen undwohlhabenden Ländern anders zu denken, gibt der kürzlich erschienene Bericht über eine neue globale Partnerschaft, umArmut zu eliminieren und Volkswirtschaften in Richtung nach-haltige Entwicklung umzubauen. Nach wie vor verbrauchen diewohlhabenden 20 Prozent der Weltbevölkerung 80 Prozent derweltweit verfügbaren Ressourcen. Angesichts der begrenztennatürlichen Ressourcen und einer überstrapazierten Belastungder Ökosysteme ist ein «Weiter so wie bisher» ein schlechterWegweiser für ein gutes Leben von bald 9 Milliarden Menschen.Die Debatte betrifft wohlhabende und arme Länder.Bislang wird der Wohlstand eines Landes vor allem durch dasBruttoinlandprodukt (BIP) gemessen. Kritiker monieren, dassdiese Art von Messung einen «illusionären Wohlstandszuwachs»spiegle. Weder werde damit der Naturverbrauch beziffert, noch

    die Frage beantwortet, wem ein wachsender Wohlstand zugute-komme. Das BIP steigt, wenn zum Beispiel Unternehmen an derVerschmutzung verdienen. Der Wohlstandsindex hingegen steigt,wenn die Umwelt geschont und weniger CO2 in die Luft geht.Oder wenn die Ausgaben für Bildung steigen. Das klassischeBIP als alleiniger Indikator für Reichtum und Fortschritt könntebald ausgedient haben. Wissenschaftler der Freien UniversitätBerlin und der Heidelberger Forschungsstätte der EvangelischenStudiengemeinschaft zum Beispiel haben einen Wohlstandsindexentwickelt, der gleich drei Komponenten misst: das wirtschaftli-che, natürliche und das soziale Kapital. Der Index macht nichtnur den Preis für einen wachsenden Wohlstand stärker sichtbar.Er misst auch die Grundbedingungen für ein gutes Leben.

    Andere Art FortschrittIn der Debatte um die Nachfolge der Millenniums-Entwicklungs-ziele geht es auch um die Frage, wie wohlhabende und armeLänder Wohlstand und sozialen Fortschritt messen. Angesichtsschwindender Ressourcen und fortschreitenden Klimawandelssteht die Vision von gesellschaftlichem Fortschritt als ein Para-dies endlosen Wachstums auf dem Prüfstand. Wir braucheneinen anderen Motor. Hierzu hat ein von UN-GeneralsekretärBan Ki-moon eingesetztes globales Netzwerk von Forschungs-instituten, Thinktanks und Universitäten lösungsorientierte An-sätze für nachhaltige Entwicklung identifiziert. Es sind wichtigeImpulse für die Erarbeitung eines internationalen Zielsystemsnach Auslaufen der Millenniums-Entwicklungsziele im 2015.Ein gutes Leben auf einem endlichen Planeten bedeutet nichteinfach, immer mehr zu konsumieren. Es kann auch nicht darumgehen, mehr und mehr Schulden anzuhäufen. Wohlstand handeltvon der Qualität unseres Lebens und unserer Beziehungen, vonder Belastbarkeit unserer Gemeinschaften und von unseremGefühl einer persönlichen und gemeinsamen Bestimmung. DieSchweiz bringt sich in die Aushandlung der nachhaltigen Ent-wicklungsziele ein. Unsere Generation ist gefordert, die Bau-steine für eine globale nachhaltige Entwicklung und Eliminierungder Armut zu legen. Wohlstand handelt von Hoffnung für dieZukunft, hier und anderswo. Hoffnung für unsere Kinder und füruns selbst.

    Mehr ist nicht genug

    Unter dieser Rubrik erklärt WeltWeit einen «merkens-würdigen» entwicklungspolitischen Begriffoder beantwortet eine spannende Frage aus dem Entwicklungszusammenhang.

    In dieser Ausgabe tut dies Martin Fässler. Er ist Chef des Direktionsstabs bei der Direktion fürEntwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) in Bern: «Lehr- und Wanderjahre führten mich durchdie Sozialwissenschaft, die Alpwirtschaft, die Arbeit mit randständigen Jugendlichen, die huma-nitäre Hilfe in Ex-Jugoslawien und im Horn von Afrika zur Entwicklungszusammenarbeit in derRegion der Grossen Seen und in Mosambik.»

    Wenn Sie als Lesende(r) einen Begriff behandelt haben möchten oder falls Sie eine Frage be-schäftigt, so schreiben Sie an die Redaktion: [email protected]

    Martin Fässler

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  • TBü. Das Buch, das kürzlich im rex verlag luzern erschienen ist,stellt eine erstaunliche Fundgrube dar. Es zeigt nicht nur «Quer-denker und Grenzgängerinnen im missionarischen Einsatz» (Untertitel), sondern bringt eine erstaunliche Vielfalt an Porträtsmissionarischer Charismen, Leistungen und Werke, die facet-tenreicher nicht hätte ausfallen können. Und es erklärt die Be-deutung des Schweizer Katholizismus in der Hochblüte derMissionstätigkeit.

    Verkündigung des Wortes GottesSchliesslich fragt der Autor in einem finalen Schlusswort: Wiehaben die porträtierten Frauen und Männer ihren missionari-schen Dienst verstanden, worin sahen sie ihre Aufgabe? UndErnstpeter Heiniger antwortet ohne Umschweife: «Ihre Zielset-zung war die universale und transkulturelle Ausbreitung desGlaubens durch die Bekehrung Andersgläubiger sowie derenEingliederung in die eine Kirche. Als von Gott berufen machtesich der Priester als hauptverantwortlicher Missionar auf in einfremdes Land mit einer anderen Kultur, lernte die Sprache derMenschen, in deren Dienst er stehen wollte, und teilte mit ihnensein Leben. Mit Hilfe von Laienbrüdern und Schwesterngemein-schaften, mit dem Wissen und den Lebensformen seines Ursprungslandes leitete er erfolgreich Schulen, Spitäler und soziale Einrichtungen. Die Kirchen und die mit ihr zusammen-arbeitenden Kolonialmächte verstanden sich als Auftraggeber. Mit Berufung auf die Heilsbotschaft wurde nicht selten die ge-waltsame Zerstörung von Kulturen und Religionen gerechtfertigt.Das Anderssein der Einheimischen erfuhr man, sofern es zurKenntnis genommen wurde, kaum als Bereicherung; der Verkün-digungsauftrag stellte keine Plattform für interkulturelle Begeg-nungen oder einen interreligiösen Dialog dar. MissionarischeTätigkeit orientierte sich an Norm- und Wertvorstellungen deseuropäischen Christentums und glitt damit zusehends in eineunheilvolle Nähe von kolonialer Expansion und gewaltsamer Inbesitznahme von Territorien.»

    Kirche ist nicht Ziel, sondern Werkzeug:zur ganzheitlichen Befreiung derMenschen.

    Missionsbegriff in der KritikIn dieser unbequemen «Bilanz» sieht Heiniger eine Erklärung,warum der Begriff «Mission» unterschiedlich wahrgenommenwird und sich immer stärkerer Kritik ausgesetzt sieht. Im säkula-ren Sprachgebrauch habe er zur Bezeichnung diplomatischer,politischer, wirtschaftlicher oder wissenschaftlicher Unterneh-men gedient. Ist jedoch von Mission im Zusammenhang mitWeltanschauung und Religion, im Umfeld kolonialer Erfahrungendie Rede, stehe Mission als Synonym für Intoleranz und Domi-nanz. «Im Schlepptau kolonialer Machtentfaltung zögerte die Kirche tatsächlich oft, Führungsverantwortung zu übernehmen.Institutionalisierte Ungerechtigkeit und Unrechtsstrukturen wur-den totgeschwiegen. Dadurch kam es zu starken inneren Span-nungen und sogar zu Spaltungen in der Gesellschaft. Dies erklärt,weshalb mit der Forderung nach einem Ende kolonialer Abhän-gigkeit auch jene nach Beendigung missionarischer Aktivität er-hoben wurde. Übersehen wurde dabei, dass prophetische Kritikan Gewalt und Ausbeutung und Proteste zum Schutz menschli-chen Lebens aus kirchlichen Kreisen kamen.»

    Reich-Gottes-Kompetenz aller ReligionenDer Buchautor regt eine Reflexion über die missionarische Di-mension der Kirche an. Und er betont, dass gemäss neuerenkirchlichen Dokumenten und gemäss Missionsdekret des Zwei-ten Vatikanischen Konzils nichtchristliche Religionen ebensoeine heilsgeschichtliche Aufgabe haben. Das ganze Volk Gottesist seinem Wesen und seiner Berufung nach missionarisch undhat die Aufgabe, «die Liebe Gottes allen Menschen und Völkernzu verkünden und mitzuteilen». Darin eingeschlossen sind allereligiösen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Belange.Deshalb kann Kirche nie das Ziel missionarischer Tätigkeit, son-dern höchstens ein Werkzeug sein. Menschen sollen unabhän-gig von ihrer Hautfarbe, ihrer Kultur und Gesellschaftsform «inentscheidenden Fragen menschlichen Lebens zu einer Zusam-menarbeit finden können, welche die Einheit aller fordert und för-dert». Auf gleicher Augenhöhe und dialogisch in gegenseitigerAchtung, ohne Machtpositionen. Zudem klärt die Kirchenkonsti-tution, was Kirche ist: ein «allumfassendes Heilssakrament».Ausschliesslicher Bezugspunkt für Mission ist das Reich Gottes.Dabei kommt der Kirche nicht das exklusive Wesensmerkmal zu;die Welt teilt mit ihr diese Bestimmung. Denn sich ein Gegenüberzu schaffen, um an ihm seine Liebe vorbehaltlos zu verschwen-den, gehört für Ernstpeter Heiniger zur ursprünglichen Schöp-

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    MISSIONKIRCHE

    Einsatz für Leben in Fülle Was meinen wir, wenn wir heute von Mission reden? Im Buch «Veränderung ist möglich» gibt ErnstpeterHeiniger auf diese Frage eine Antwort. WeltWeit bringt sie als Diskussionsbeitrag.

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    Verlässt man eine «zivilisierte Welt», um den eigenen Reisewegplanlos irgendwohin weiter zu gestalten, kann es sein, dass einkleiner Zebuhirte in dieselbe Richtung auf dem Heimweg ist.

    Bild und Text: Annina Gutmann

    INNEHALT

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    fungsabsicht Gottes. Kirche und Welt sind miteinander pilgerndzum Reich Gottes unterwegs. Die Kirche ist in der Art einer Vor-hut jenes Teils der Menschheit unterwegs, der die Schöpfungs-bestimmung angenommen hat, und gestaltet von dieserErwartung her ihr Leben. Aufgabe der Kirche ist es ebenso, dieWelt zur Annahme dieser eschatologischen Bestimmung einzula-den: «Evangelisieren besagt für die Kirche, die Frohbotschaft inalle Bereiche der Menschheit zu tragen und sie durch deren Ein-fluss von innen her umzuwandeln und die Menschheit selbst zuerneuern.» Denn sie ist ein verlässliches Kriterium für einen ge-glückten Lebensvollzug.

    Kirche und WeltKirche und Mission teilen ähnliche Zielsetzungen: der Welt ihregrundsätzliche Ausrichtung auf das Reich Gottes hin zu er-schliessen, die Wirklichkeit in der Erwartung dessen zu gestaltenund sie ihrer ganzheitlichen Befreiung zuzuführen. Mission öffnetder Welt die Augen für das, wozu sie immer schon bestimmt war.

    Als Wegweiser in die Zukunft könnte Mission zur treibendenKraft bei der Neuschöpfung der Welt werden. Das Ziel, das dieKirche als Wegbereiterin mit der Welt teilt, ist das Heil derMenschheit. Damit ist in den Augen Heinigers eine «Entgrenzung»gegeben: Mission könne weder geografisch auf bestimmte Teileder Welt noch thematisch auf einige religiöse Inhalte eingegrenztwerden. Die Ausrichtung auf das Reich Gottes ist in der Vielfaltunterschiedlichster Kontexte zur Sprache zu bringen. Als Sub-jekt des missionarischen Handelns ist Kirche die Botschafterin,die Gesandte, die nicht sich selbst verkündigt, sondern die«ganzheitliche Befreiung». Sie weist die Welt auf ihre Aufgabehin, ihre Gegenwart im Horizont des Reiches Gottes zu gestal-ten, um allen ein Leben in Fülle zu ermöglichen.

    Buchangaben: Ernstpeter Heiniger, «Veränderung ist möglich –

    Querdenker und Grenzgängerinnen im missionarischen Einsatz»,

    Mission im Dialog Band 1, rex verlag luzern 2013, 312 Seiten,

    Fr. 34.80, ISBN 978-3-7252-0938-5

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    FRANZ GASSMANN

    Die Menschheit kennt viele Wünsche. Allen gemeinsam ist jedochder Wunsch nach friedlichem Zusammenleben von Gemeinschaf-ten, Völkern und Nationen – kurz: Friede auf der Erde. Und doch:Auch nach mehr als einem halben Jahrhundert seit dem Schre-cken zweier Weltkriege liegt die Welt mehr denn je im Argen:Friede entzieht sich uns immer wieder, der Planet Erde leidet anZerstörung, unsere Ökosysteme zerbrechen, weltweite Armutnimmt zu, Hunger, Chancen- und Zukunftslosigkeit bedrängenmehr und mehr Menschen. Soziale Missverhältnisse, fehlendeGerechtigkeit, Gewalt, Aggression und Hass prägen den Alltagvieler – oft sind sogar Religion und Glaubensüberzeugung Ur-sprung für Missverhältnisse.

    Wir sind voneinander abhängigDas alles muss nicht sein – kann, ja muss geändert werden. Wennein menschliches Zusammenleben möglich sein soll, dann müs-sen gewisse Normen und Werte Gültigkeit haben. Zwar garan-tieren die Menschenrechte durch Anerkennung der VereintenNationen viele Rechte des Menschen; sie veranlassen Menschenaber auch dazu, diese Rechte nur für sich zu beanspruchen unddiese als Vorrechte auf Kosten anderer zu verwirklichen. VieleFortschritte in unserer zivilisierten Welt bauen auf der Ausbeu-tung der Dritten Welt. Das Wohlergehen des Einzelnen hängt jedoch vom Wohlergehen aller ab. Die Verantwortung für unserTun erfordert Achtung vor der Gemeinschaft von Mitmenschen,Tieren und Pflanzen, dies fordert Sorgfalt zur Erhaltung unsererErde. Wir müssen andere behandeln, so wie wir gerne behandeltwerden wollen. Es braucht dabei eine Verpflichtung aller, Leben,Würde, Individualität und Verschiedenheit zu achten. Hier setztdas Projekt Weltethos an.

    Was ist Weltethos?Der Programmansatz des Tübinger Theologen Hans Küng, dermit dem Projekt «Weltethos» das Gespräch über den globalenGrundkonsens der Werte, Haltungen und Massstäbe neu inGang brachte, lautet: Es gibt kein Zusammenleben auf unseremGlobus ohne ein globales Ethos. Es ist kein Friede unter den Na-

    tionen möglich ohne Frieden unter den Religionen, und der kannohne Dialog zwischen den Religionen nicht entstehen.

    Friede, Achtung, Würde, Geduld, Nach-sicht und Toleranz führen zu einem glo-balen Bewusstseinswandel.

    Das Projekt Weltethos ist eine Vision des Zusammenlebens undformuliert einen Grundbestand ethischer Normen, die von Reli-gionen und Kulturen unterschiedlichster Art als gemeinsamerKonsens mitgetragen und verwirklicht werden können. Weltethossoll nicht ein grosser, übermächtiger Entwurf sein, den niemandliest, sondern knappe, klare Grundforderungen als Regelwerkenthalten. So können sie auch von allen eingehalten werden.Hans Küng umschreibt es so: «Diese eine Welt braucht ein Ethos,die Weltgesellschaft braucht keine Einheitsreligion und -ideologie,wohl aber einige verbindende und verbindliche Normen, Werte,Ideale und Ziele.»Weltethos zielt auf die Umsetzung der Rechte der Menschen, aufdie Freiheit der Menschen vor Unterdrückung, auf die Freiheit alssolche, auf Beseitigung des Hungers in der Welt, auf die Umset-zung einer menschengerechten Weltordnung, auf Solidaritätzwischen den Menschen, auf Nachhaltigkeit zum Schutze desÖkosystems und letztlich Frieden auf der Erde. Dies soll durchDialog zwischen den Religionen und den Bewusstseinswandeleines jeden erreicht werden.

    Grundlegung für Menschenrechtserklärung Hauptsitz der Stiftung Weltethos ist Tübingen, Stiftungsgründerist Karl Konrad Graf von der Groeben, Unternehmer aus Baden-Baden. Er stellte eine namhafte Summe zur Verfügung, aus derdie Arbeit langfristig finanziert werden kann. Erster Präsident derStiftung war Hans Küng, sein Nachfolger ist seit März 2013Eberhard Stilz, Präsident des Staatsgerichtshofs Baden-Würt-temberg. Die Stiftung leistet und fördert vor allem interkulturelle

    Die Erklärung des «Parlaments der Weltreligionen» ist 20-jährig

    Weltethos – ein hoffnungsvoller Ansatzfür ein mitmenschlich anerkennendes Zusammenleben und eine von allen mitgetragene Verantwortung für eine bessere Welt.

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  • WERTEBODEN

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    und interreligiöse Forschung und will interkulturelle und interreli-giöse Begegnungen ermöglichen.In Chicago wurde 1993 der erste Schritt gemacht, indem sichvom 28. August bis zum 4. September VertreterInnen verschie-denster Religionen trafen, um ein Regelwerk zusammenzustellen,das die Menschenrechtserklärung von 1948 ethisch begründet.6500 Menschen aus 125 Religionen und religiösen Traditioneneinigten sich in der Erklärung zum Weltethos auf vier Weisungen:• Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehr-

    furcht vor allem Leben• Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine ge-

    rechte Wirtschaftsordnung• Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in

    Wahrhaftigkeit • Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die

    Partnerschaft von Mann und Frau

    Werte aus allen Religionen Die Grundforderung lautet: Jeder Mensch muss menschlich be-handelt werden! Eine weitere Erkenntnis aus dem Projekt ist,dass es für einen Dialog zwischen den Religionen und Kulturender Grundlagenforschung bedarf. Und weiter: Dass zu einem

    globalen Ethos ein Bewusstseinswandel von Religiö-sen und Nichtreligiösen nötig ist. Hier setzt Weltethos an: Zu einem Bewusstseinswan-del führen Friede, Achtung, Würde, Geduld, Nach-sicht und Toleranz. Diese Werte finden sich in allengrossen religiösen und philosophischen Traditionender Menschheit. Sie müssen nicht neu erfunden, wohlaber dem Menschen neu bewusst gemacht werden.Sie müssen gelebt und weitergegeben werden. Miteinem solchen Wandel wird Friede möglich. Allerdingskann gemäss Weltethos die Welt nicht zum Besserenverändert werden, wenn sich nicht das Bewusstseindes Einzelnen zuerst ändert. Friedliches Zusammen-leben ist auf gemeinsame elementare ethische Werte,Massstäbe und Haltungen angewiesen, die durchVeränderung des Einzelnen angestossen werden.

    Ungerechtigkeiten und Konflikte: überwindbarViele Themen und Ideen sind hier nicht erwähnt, zubreit ist das Projekt angelegt. Das ganze Projekt Welt-ethos wird ausgeweitet, auch in Schulen getragenund findet Platz im Fachgebiet Ethik und Religionen.Was Schüler lernen, tragen sie hoffentlich weiter alskünftige Erwachsene:• Jeder Mensch muss menschlich behandelt wer-

    den, auch wenn wir fehlbare, unvollkommene Menschen sind, auch wenn wir Grenzen und Mängel haben und oft nur tun, was uns nützt. Unterschiede sind zwar immer da, aber sie sollen nicht verwischt werden. Trotz Unterschieden hat jeder Mensch eine unantastbare Würde.

    • Die Weisungen, das Regelwerk des Weltethos sollnicht Fessel sein, sondern Hilfe und Stütze auf dem Weg zu gemeinsamem Lebenssinn.

    • Grundmaxime soll die «Goldene Regel» sein: Wasdu nicht willst, das man dir tut, das füg auch kei-nem andern zu! Oder positiv formuliert: Was duwillst, das man dir tut, das tue auch an den andern!

    • Weltpolitik, Welttechnologie, Weltwirtschaft, Weltordnung undWeltzivilisation brauchen einen Weltethos: einen Grundkon-sens bezüglich verbindender Werte, unverrückbarer Mass-stäbe und persönlicher Grundhaltungen. Ohne diesenGrundkonsens droht jeder Gemeinschaft früher oder späterdas Chaos oder eine Diktatur.

    • Ethnische, nationalstaatliche Spannungen, soziale und wirt-schaftliche Ungerechtigkeiten, religiöse Unterschiede unddaraus entstehende Konflikte, ungerechte Gesetze und Ego-ismen der Menschen können mit einem neuen Weltethosüberwunden werden.

    • Wir alle haben eine Verantwortung für eine bessere Welt undWeltordnung. Jeder und jede von uns ist zum Einsatz aufge-fordert für die Menschenrechte, für Freiheit, Gerechtigkeit,Frieden und die Bewahrung der Erde.

    • Gerade unterschiedliche religiöse und kulturelle Traditionenmüssen uns ermuntern, uns aktiv einzusetzen gegen alle For-men der Diskriminierung, der Unmenschlichkeit, und einzu-stehen für mehr Menschlichkeit.

    Weiterführende Informationen gibt es unter: www.weltethos.org

    Ein Paar aus Sri Lanka: Überbrückung weltfriedenshinderlicherGegensätze der Geschlechter, der Religionen und Ethnien isteines der erklärten Ziele von Weltethos. (Bild: Franz Gassmann)

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    Die Not dieser MenschensehenSeit über 30 Jahren wird das Asylgesetz verschärft, obwohl damit keine Abschreckung erzielt, sondern nurprekäre Lebenslagen geschaffen werden.

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    THEMENSEITEN

    Hoffnungsvolle Brücken zwischen Ethnien und Generationen:Grosspapa Josef ist stolz auf seine Enkelin Luzia, derenMutter aus Mauritius kommt. (Bild: Georgette Baumgartner-Krieg)

    THEO BÜHLMANN

    Die Revisionen des seit 1981 geltenden Asylgesetzes sind eineeigentliche Repressionsspirale. Schon 1994 wurden Gebiets-sperren, «Erwachsenenbehandlung» ab 15 Jahren sowie dieWohnungsdurchsuche bei vermuteten illegalen Flüchtlingen ein-geführt. Es gab eine dreimonatige «Vorbereitungshaft», und dieAusschaffungshaft wurde von einem auf neun Monate verlän-gert. Seit 2007 können erwachsene Asylsuchende bis zu zweiJahre, 15- bis 18-Jährige ein Jahr lang eingesperrt werden: nichtweil sie ein Delikt begangen hätten, sondern nur, weil sie «uner-laubt» hier sind. Weitere menschenrechtlich beängstigende Mei-lensteine dieser Abschreckungspolitik sind, dass ohne Identitäts-papiere nicht mehr auf ein Gesuch eingetreten werden muss undschwerwiegende persönliche Notlagen kein Asylgrund mehrsind. Seit Herbst 2012 werden nicht mehr nur die Abgewiesenen vonder Sozialhilfe ausgeschlossen, sondern alle Asylsuchendenleben nur noch unter einem Nothilferegime. Was ursprünglichnur als Überbrückung bei Nichteintretensentscheiden eingeführtwurde, verletzt den Verfassungsgeist, der auch Asylsuchendenein würdiges Dasein verspricht. Wer von uns könnte lediglich mitNaturalien oder Geldbeträgen um 10 Franken pro Tag leben, miteinem «Massenlager» zum Schlafen (je nach Ort tagsüber ge-schlossen), ohne Unterstützung und Beschäftigung? Dass sogarverletzliche Personen – Kinder, Alleinerziehende, Betagte – nunjahrelang nur mit Nothilfe leben müssen, verletzt klar Menschen-rechte. Dass nun Familien nicht mehr nach drei, sondern erstnach fünf Jahren nachziehen können, unterläuft das Recht aufmöglichst baldige Familienzusammenführung. Dass für vorläufigAufgenommene neu erst nach sieben Jahren eine normale Auf-enthaltsbewilligung geprüft wird, wirkt ebenfalls konträr zumbisherigen Ausländerrecht, das die Lebenssituationen mit unver-zögerter Integration zu verbessern sucht. Dass schliesslich derBundesrat bestehendes Recht ausser Kraft setzen kann, umneue Asylverfahrensabläufe zur Beschleunigung auszuprobieren,ist demokratisch Besorgnis erregend.

    An den Realitäten vorbeiViele Verschärfungen sind als rein symbolisch, weil undurchführ-bar oder teilweise nur zur Abschreckung eingeführt. Wie ein Be-richt des Bundes feststellte, ist das Asylgesetz inzwischen «vielzu kompliziert und unüberschaubar», so dass auch kaum mehrklar ist, was genau umgesetzt wird angesichts unterschiedlicher

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    Zu einem guten Klima beitragen

    TBü. Die Schweiz entwickelt sich immer mehr zu einer multi-kulturellen Gesellschaft mit mehr Menschen anderer Mentali-tät, Lebensnorm und Religion. Dies führt zu Verunsicherungenund löst auch Entfremdungsgefühle aus. Es ist zwar eineanerkannte Tatsache, das Unsicherheit mehr durch wirtschaft-liche, soziale und politische Veränderungen entsteht als durchImmigration. Trotzdem zielt die Politik einiger Gruppierungenund Parteien darauf, Fremde als Bedrohung zu sehen. Siemachen Ausländer für hohe Arbeitslosigkeit, steigende Sozial-kosten und Kriminalität verantwortlich – zu Unrecht, wie vieleStudien zeigen. Solche Kampagnen sind immer wieder mitdem Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit konfrontiert, einige ver-stiessen gegen das Antirassismusgesetz.Das Fremde kann wichtig sein für die eigene Identität: Es hilftmir, zu erkennen, wer ich bin. Verunsicherungen verleiten je-doch dazu, Andersartiges zu idealisieren oder zu dämonisie-ren. Aber eigentlich geht es dabei nicht um «den Ausländer»,sondern um gesellschaftliche Konflikte, die nicht ausschliess-lich über Zuwanderung entstehen. Wir haben umfassendereHerausforderungen wirtschaftlicher und politischer Natur zulösen. Familie, Gemeinschaftssinn, Heimatgefühl und Natio-nalbewusstsein zeugen als positive Errungenschaften vonStärke und Selbstbewusstsein. Sie sollen gepflegt und ge-schützt werden, aber in Respekt und Achtung vor anderenEthnien. Falsch und gefährlich ist es, Nationalpatriotismusdurch Ausgrenzung herzustellen. Es trifft zwar zu, dass Migra-tionsfamilien andere Kulturen hierhertragen und damit unserenationale Identität teilweise in Frage stellen. Doch das Gast-land verändert auch ihre Tradition und Identität. Wer in dereigenen Tradition verwurzelt ist, kann das Fremde besser an-nehmen und verstehen.«Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen», sagteJesus (Mt 25,35). Er betonte damit, dass wir in erster LinieAbbilder Gottes sind und zur einen universellen Menschheits-familie gehören. Auf dieser Überzeugung basieren auch dieErklärungen der Menschenrechte. Erst in zweiter Linie isteinem Menschen eine bestimmte Kultur, Religion und Natio-nalität eigen. Zuerst und vor allem andern soll er in seinerWürde geachtet und geschützt werden. Diese Haltung sollteauch politisches und wirtschaftliches Handeln bestimmen.Dies verlangt eine differenzierte und (selbst)kritische Wahr-nehmung und eine ausgewogene Darstellung des Fremden.Wir können von ihnen nicht Integration verlangen und siegleichzeitig ausgrenzen. An einem Kulturen verbindendenKlima sollen alle arbeiten. Zugezogene und Einheimischemüssen sich stärker um den interkulturellen Dialog bemühen.Was uns allen bessere Zukunftsperspektiven eröffnet, istnicht einfach an den Staat delegierbar.

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    Instanzen in 26 Vollzugssystemen. Fakt ist: Das Asylgesetz wirdseit 30 Jahren verschärft, um Menschen vor dem Einwandernabzuschrecken. Aber die tatsächlichen Zahlen folgen nicht die-ser Politik, sondern dem steigenden oder abnehmenden Druckdurch Krisen in der Welt: In den letzten 20 Jahren hatte dieSchweiz im Normaldurchschnitt jährlich 20000 Asylgesuche,während der Balkankriege bis zu 47513 Anträge. Wir haben ein Asylgesetz, das an den Realitäten vorbeizielt. Dieszeigt schon die Tatsache, dass zwar ein Grossteil der Asylsu-chenden im Sinne unseres Gesetzes keine Flüchtlinge sind, abertrotzdem durchschnittlich 284 Tage bis zum erstinstanzlichenEntscheid und 1535 Tage bis zum Gerichtsentscheid bei Rekursbei uns bleiben. Unterbringungsengpässe sowie mangelndefinanzielle und personelle Ressourcen vergrössern den Grabenzwischen Asylgesetz und Vollzug. Viele abgewiesene Asylsu-chende bleiben hier, weil ihre Wegweisung nicht durchführbar ist.Je länger sie unter prekären Bedingungen bei uns bleiben, destoschwieriger wird eine Rückschaffung, und es häufen sich psy-chische, körperliche und soziale Probleme. Wie abschreckenddas Asylgesetz auch formuliert ist: Das Gefälle zwischen demElend in Herkunftsregionen und dem Wohlstand hier ist so gross,dass sich MigrantInnen verzweifelt an die Hoffnung auf ein bes-seres Leben in der Schweiz klammern. Sogar das Untertauchennehmen sie dafür in Kauf (2011 taten dies 1700 abgewieseneAsylsuchende), solange es Arbeitgeber gibt, die sie als «Illegale»schwarz beschäftigen.

    Vollzug konstruktiv machen!Wenn letztlich etwa ein Drittel aller Asylsuchenden legal hier blei-ben kann, ist es nicht zu rechtfertigen, ihren Start während Mo-

    naten oder Jahren zu erschweren. Das anfängliche Arbeitsverbotfür Asylsuchende von drei bis sechs Monaten wurde eingeführt,um Arbeitsmigration eindämmen und die Integration von Abge-wiesenen zu verhindern. Doch die Situation würde sich für alleim Land verbessern, könnten Asylsuchende einer Beschäftigungnachgehen. Es gibt genügend gemeinnützige Aufgaben, denenaus personellem oder finanziellem Mangel niemand nachkommt.Die dazu nötigen Investitionen bringen mehr, als weiterhin soviel Geld für die Sicherheit und Repression auszugeben. Es istzu überlegen: Macht – auch als Entwicklungshilfe für Rückkehrerund ihr Herkunftsland – eine Schulung oder ein Berufseinstiegnicht mehr Sinn als die erzwungene Abhängigkeit von Nothilfe,als Depression oder Aggression durch Ohnmacht und Leerlauf,ja als das Bild von faulen, weil zur Untätigkeit gezwungenenAsylsuchenden in der Öffentlichkeit? Auch kantonale und kom-munale Verantwortungsträger können entscheidend dazu bei-tragen, dass sich Asylpolitik nicht weiterhin auf das Thema«Kriminalität» reduziert, sondern offen und konstruktiv mit derBevölkerung kommuniziert wird. Es ist das Bewusstsein zuschärfen, dass Asylsuchende Menschen in Not sind, deren Men-schenrechte unbedingt zu respektieren sind, die ein faires Ver-fahren und eine würdige Behandlung verdienen. DurchIntegration und Austausch können Misstrauen, Vorurteile undÄngste abgebaut werden. In der Schweiz lebten anfangs 2012insgesamt 25342 anerkannte Flüchtlinge und 23310 vorläufigAufgenommene (das sind zusammen nur 0,6 Prozent unsererBevölkerung). Von Letzteren leben 9353 Menschen seit mehr alssieben Jahren in der Schweiz.

    Bild: Tageswoche

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  • Migration als Chance? Flüchtlinge befruchten Wirtschaft und Demokratie.

    THEMENSEITEN

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    THEO BÜHLMANN

    Evolutionsgeschichtlich entstand der «moderne» Mensch voretwa 200000 Jahren in Afrika und machte sich von dort aus indie Welt auf. Auch Europa erlebte in der «Neuzeit» riesige Wan-derbewegungen durch Kelten, Goten, Hunnen und Franken. Biszur Mitte des 20. Jahrhunderts zogen Europäer ihrerseits mas-senhaft nach Nord- und Südamerika aus, um Existenznot undArmut zu entkommen. Allein zwischen 1750 und 1960 wandertenrund 70 Millionen nach Übersee aus. Dies ist ebenso eine Migra-tionsrealität, wie wenn heute Menschen aus benachteiligten Län-dern ihr Glück im «Abendland» suchen.

    Aus- und EinwanderungslandAuch in der Schweiz sahen sich vom 16. bis zum 20. Jahrhundertviele Menschen aus wirtschaftlicher Not gezwungen auszuwan-dern. Gleichzeitig gewährten im 16. und 17. Jahrhundert refor-mierte Kantone protestantischen Flüchtlingen Zuflucht. Späternahm die Schweiz Flüchtlinge der Französischen Revolution auf,schliesslich auch sozialistische. Sie trugen zur liberalen Bewe-gung und so indirekt zur Bundesstaatsgründung 1848 bei. Erst-mals war 1888 der Saldo der Einwanderungen in die Schweizgrösser als jener der Auswanderungen. Im 19. Jahrhundert gin-gen über 200000 SchweizerInnen nach Amerika. Damals war dieweltweite Migration ebenso ausgeprägt wie heute. Menschenverliessen ihre Heimat, weil sie ihre Situation verbessern wollten,sei es als Flüchtlinge vor Bedrohungen oder weil sie woandersmehr Perspektiven sahen.Mitte des 19. Jahrhunderts setzte eine starke Binnenwanderungin die Städte ein. Der Ausländeranteil in Zürich, Basel und Genflag mit 33 bis 40 Prozent viel höher als heute. Ab 1880 kamenzunehmend Leute aus Deutschland, Österreich-Ungarn, Frank-reich und Italien. Die Schweiz nahm sie freizügig auf, auch darum,weil man die Niederlassung der SchweizerInnen im Auslandnicht gefährden wollte. Viele Migranten arbeiteten hierzulande inder Bauwirtschaft, andere gründeten wichtige Unternehmen undbrachten die Wirtschaft vorwärts.

    Motor der EntwicklungPatrick Manning, Professor für Weltgeschichte an der PittsburghUniversity, sieht das Überschreiten von Grenzen und die Begeg-nung der Kulturen als eigentlichen Motor in der Entwicklung desMenschen. Einwanderung sei zwar «auf kurze Sicht meist mitstarken Widerständen verbunden. Auf der andern Seite profitie-ren Gegenden hinterher von der Zuwanderung und entwickelnsich auf ungeahnte Weise.» Laut dem Uno-Hochkommissariatsind heute weltweit mehr als 43 Millionen Menschen auf derFlucht vor Krieg und Verfolgung. Drei Viertel von ihnen leben ineinem Nachbarland ihrer Herkunft. Entwicklungsländer sind Zu-

    fluchtsort von 80 Prozent aller grenzüberschreitenden Flücht-linge. Dazu kommen weltweit etwa 200 Millionen Menschen, dieals «Wanderarbeitende» unterwegs sind. Denn zur Migrations-ursache der «politischen Konflikte» kommen seit jeher fehlendeExistenzgrundlagen und in neuer Zeit zunehmend die Vertrei-bung aus einer «bedrohten Umwelt». Darum wird die Abgrenzungvon durch Krieg und Verfolgung vertriebenen «echten» Flüchtlin-gen zu den Wirtschafts- und UmweltmigrantInnen immer proble-matischer.

    Aufnahmekonzepte wenden NotAuch Wirtschaftsflüchtlinge haben oft keine andere Wahl, als ihreHeimat zu verlassen. Warum sollten sie nicht Anspruch auf inter-nationalen Schutz haben? Asylkonzepte bedürfen der Umgestal-tung, weil immer mehr Menschen in Not aus dem bisherigenFlüchtlingsbegriff – der früher liberaler angewandt wurde – her-ausfallen, aber dennoch über den Asylumweg herkommen undso das System überlasten. Ledigliche Bekämpfung «illegalerEinwanderung» hinkt den Realitäten hoffnungslos hinterher. Europäische Staaten sind heute gefordert – Kanada beispiels-weise macht es vor –, echte Kanäle für legale Zuwanderung (vonausserhalb des Kontinents) einzurichten und sie konstruktiv zugestalten. Wenn Europäer ihre Grenzen dichtmachen und Zu-wanderer stigmatisieren, dann beruht das – wie die Migrations-geschichte zeigt – auf einer «Lebenslüge». Wenn PolitikerInnenauch in der Schweiz mit Überfremdungsszenarien Ängste schü-ren und sie mit halbherzigen Integrationsmodellen belegen, dannist nicht die Einwanderung per se das Hauptproblem, sondernder politische Umgang mit ihr. Dabei hätten wir einen riesigenArbeitskräftemangel – wie in andern europäischen Ländern auch–, gäbe es nicht die Zuwandernden. 2006 forderte Uno-General-sekretär Kofi Annan die Europäer auf zu einer «Politik der ge-steuerten Einwanderung». Sie sei auch für Aufnahmeländer eineEntwicklungschance. Es seien nicht nur die Migranten, die unsbrauchen – wir brauchen auch sie. «Ein Europa, das seine Türenverschliesst, wäre ein schäbigeres, ärmeres, schwächeres undälteres Europa.»Und es sind keineswegs die Ärmsten, die Entwicklungsländerverlassen, sie hätten dazu oft gar nicht die Möglichkeit. Aberjene, die dem Heimatland den Rücken kehren, tragen erheblichzu dessen Bruttosozialprodukt bei. Zahlungen von Ausgewan-derten an ihre Heimatländer übersteigen die öffentlichen Ent-wicklungshilfen um etwa das Dreifache. Global gesehen wandert ein kleiner Teil der Migranten, koste es,was es wolle, auch in Europa ein. Daran ändern Internierungs-lager, meterhohe Stacheldrahtbarrieren an Grenzen und Polizei-patrouillen auf dem Mittelmeer nur insofern etwas, dass es denFliehenden noch schwerer gemacht wird und mehr von ihnenmit dem Leben bezahlen. 4/

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  • «Ich war fremd»Gläubige aller Kirchen setzen sich bis heute für Asylsuchende ein. Dabei berufen sie sich auf die Bibel,das Beispiel Jesu und eine lange Tradition.

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    CHRISTIANE FASCHON

    Im Jahr 2012 beantragten 28600 Personen Asyl in der Schweiz.Dieses Jahr wird die Anzahl wahrscheinlich höher wegen desKriegs in Syrien und der Revolutionen im Nahen Osten. In deröffentlichen Diskussion kommen Asylsuchende heute meistunter Begriffen wie «Kosten», «Kriminalität» und «verkürzte Ver-

    fahren» vor. Doch die Kirchen sehen die einzelnen Menschenmit ihrem Schicksal. Mit offiziellen Stellungnahmen nehmen ihreLeitungen – nicht immer erfolgreich – Einfluss auf die öffentlicheMeinung. Daneben sind sie in der Betreuung und Beratung derBetroffenen engagiert. In manchen Fällen versuchen sie via «Kirchenasyl» Menschen das Aufenthaltsrecht in der Schweizgegen die Anweisung von Behörden zu erkämpfen.

    «Ihr seid selbst Fremde gewesen»In der Bibel werden die Rechte derFremden verteidigt. «Ich bin der Herr,dein Gott, der Ewige, der dich ausÄgypten geführt hat, aus dem Skla-venhaus. Wenn ein Fremder bei dirlebt in eurem Land, sollt ihr ihn nichtbedrängen. Wie ein Einheimischersoll euch der Fremde gelten, der beieuch lebt. Und du sollst ihn liebenwie dich selbst, denn ihr seid selbstFremde gewesen im Land Ägypten»,heisst es da (3. Mose 19,33 f). Es gibtnur Menschen, und diese stehen alleunter Gottes Schutz. Jesus steht klarim Glauben seiner Herkunft. Er be-tont (Mt 25,35): «Ich war fremd undobdachlos, und ihr habt mich aufge-nommen.» Wer Fremde bei sich auf-nimmt, nimmt Jesus auf. Die Kirchen nehmen dies ernst. DerSchweizerische Evangelische Kirchen-bund SEK beispielsweise unterstütztedas Referendum zur letzten Asylge-setzrevision. Die Schweizer Bischofs-konferenz ruft mit dem SEK «dieeidgenössischen und kantonalen Be-hörden auf, für eine den Menschen-rechten und der Bundesverfassungkonforme Umsetzung der Ausschaf-fungsinitiative zu sorgen». Grossekirchliche Werke wie Caritas oderHEKS engagieren sich zusammen mitStiftungen und Kirchgemeinden. Sobieten die Kirchen im Empfangs- undVerfahrenszentrum für Asylsuchendein Kreuzlingen seelsorgliche Betreu-

    Bild: Eric Kanalstein, UN

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    ung an. Die kirchliche «Peregrina-Stiftung» ist zudem im Auftragdes Kantons Thurgau in der Region tätig: Die Asylsuchendenwerden in einem der von ihr geführten sechs Durchgangsheimeuntergebracht. Anerkannte Flüchtlinge erhalten Beratung undBetreuung, abgewiesene Flüchtlinge, die nur noch Nothilfe erhal-ten, werden ebenfalls betreut. Asylsuchende werden nach demHeimaufenthalt jeweils einer Gemeinde zugewiesen. Dort werdensie unterschiedlich und nicht selten auch willkürlich behandelt.Darum engagieren sich die Mitarbeitenden der Stiftung für Kon-takt zwischen Asylsuchenden und Ortsänsässigen, um die Isola-tion der Asysuchenden aufzubrechen und Ängste abzubauen.Auch im Kanton Luzern engagieren sich die Kirchen: 2012 riefendie Synodalräte der Römisch-katholischen und der Evangelisch-Reformierten Landeskirche sowie die Bistumsregionalleitung alleKirchenverantwortlichen dazu auf, mitzuhelfen, dass die Asylsu-chenden «menschenwürdig untergebracht» werden können.

    Asyl in der KircheManche Gläubige gehen noch einen Schritt weiter: Sie wollendie Ausschaffung von abgewiesenen Asylsuchenden verhindernund weisen auf die Not der Betroffenen hin. So bot die Kirchge-meinde Bubendorf einer Familie aus dem Kosovo Kirchenasyl inder Kirche. 2001 besetzten Gruppen von Sans-Papiers mit Un-terstützerInnen Gotteshäuser in Lausanne, Freiburg, Bern undBasel. Vorbild dabei war die französischen Sans-Papiers-Bewe-gung. Diese hatte 1996 mit Hunderten Betroffener St-Bernardin Paris besetzt, um auf deren Not aufmerksam zu machen. 4/

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    Weihnachten 2008 besetzten rund 150 Personen die Prediger-kirche Zürich und stellten drei Forderungen: eine menschlicheUmsetzung der Härtefallverfahren für abgewiesene Asylbewer-berInnen, eine Regularisierung des Aufenthalts für alle, die hierin der Schweiz wohnen und arbeiten, sowie die Aufhebung desArbeitsverbots für abgewiesene Asylsuchende.

    «Wie ein Einheimischer soll euch derFremde gelten, der bei euch lebt.»

    3. Mose 19

    Ursprung des Kirchenasyls ist das «Heiligtumsasyl», welches infast allen Kulturen existiert. Es war an Tempel, sakrale Gegen-stände und auserwählte Personen gebunden. In der heiligenSphäre waren die Schutzsuchenden sicher. Die Verletzung einessolchen Asyls galt als Frevel und zog göttliche und oft auchweltliche Strafen nach sich. In der hebräischen Bibel flieht Davidvor Saul zum Propheten Samuel nach Rama und der HeerführerJoab vor Salomo in den Tempel von Jerusalem. Im antiken Grie-chenland war das Asylrecht sehr ausgeprägt und wurde mit zu-nehmender Christianisierung auch auf die Kirchen ausgedehnt.Heidnische und christliche Verfolgte flohen nun zum Bischofoder in kirchliche Gebäude. Die neutestamentlichen Werte derGastfreundschaft, Barmherzigkeit und Nächstenliebe verpflich-teten Christen, sich für die Asylsuchenden einzusetzen. DasKonzil von Serdika 343 schrieb dies dann für die Bischöfe fest.Noch 1917 betont das römisch-katholische Kirchenrecht: «DieKirche findet Wohlgefallen am Asylrecht.» Die Rechtsordnungder protestantischen Kirchen kannte kein eigenes Asylrecht.Allerdings galt es als selbstverständlich, dass man Gott mehrgehorcht als den Menschen und Asylsuchenden zu helfen habe.Seit der Aufklärung sah man dann das kirchliche Asylrecht vorallem als Behinderung einer geordneten Rechtspflege. PolitischeBehörden in der Schweiz sehen das bis heute meist ähnlich.Für Gläubige bleibt Jesu Satz «Was ihr einem meiner Geringstengetan habt, habt ihr mir getan» die Richtschnur. Auch und ge-rade beim Umgang mit Asylsuchenden. Die Hilfe für Schutzloseist und bleibt eine Kernkompetenz der Kirchen! Auch sollten wirnie vergessen, dass keiner von uns sicher sein kann, nicht aucheinmal als Flüchtling eine Zuflucht suchen zu müssen.

    Filmtipps

    «Ausgeschafft! Die unglaubliche Geschichte des Stanley VanTha»: Dokumentarfilm 53’ von Irene Marty – «Sans-Papiers»:Dokumentarfilm 52’ von Andreas Hoessli, beide Schweiz2006, ab 16 Jahren (auf derselben DVD)«La Forteresse»: Dokumentarfilm 100’ von Fernand Melgar,Schweiz 2008, ab 16 Jahren Bezugsadresse: education21 – Filme für eine Welt,Tel.: 031 321 00 30, www.filmeeinewelt.ch

    Bild: Tageswoche

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    Wir sind aufeinander angewiesen!Definitionen, wer «asylberechtigt» ist, gehen oft an den konkreten Realitäten von Betroffenen vorbei.Wir sollten ihre überaus schwierigen Lebenssituationen sowie ihre guten Beiträge für unser Zusammen-leben sehen.

    HEIDI RUDOLF

    Von wem sprechen wir, wenn wir über die «Asylfrage» nachden-ken? Von weniger als einem Prozent der Wohnbevölkerung –mitgerechnet die anerkannten Flüchtlinge! Jede und jeder vonihnen ist eine einzigartige Person mit ihrem eigenen – oft uner-messlich harten – Schicksal, keine Zahl!

    Wer ist verfolgt?Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) sagt: «Jederhat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu su-

    chen und zu geniessen.» Nur: Darüber, was Verfolgung bedeutet,wird vehement gestritten. Manchmal habe ich das Gefühl, einwirklich Verfolgter ist für gewisse Parteien und Gruppen nur eintoter Verfolgter! Gilt «nur» als verfolgt, wer als Einzelperson von seiner Regierung,den Machthabern, verfolgt wird? Oder auch, wer als Mitgliedeiner ethnischen oder religiösen Gruppe Verfolgung erleidet?Oder wer mit Familie und Nachbarn von Terrorgruppen verfolgtwird? Oder wer verfolgt wird, weil er es wagt, seine nicht aner-kannte Muttersprache zu sprechen? Wie ist es mit Menschen,die vor Krieg, Mord und Vergewaltigung flüchten, deren Kinder

    In Zusammenarbeit mit dem Strasseninspektorat der Stadt Luzern organisiertdie Caritas Luzern Putzequipen mit Asylsuchenden zur Litteringbekämpfung.(Bild: Priska Ketterer)

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    zu Kindersoldaten zwangsrekrutiert werden? Oder Menschen,die wegen ihrer religiösen oder ethnischen Herkunft keine Arbeitbekommen oder vertrieben werden? Verfolgung zu definieren istnicht so einfach.

    1. Beispiel: Sarat aus Sri LankaSarat hat in seiner Heimat ein Studium abgeschlossen, hatteeine gute Arbeit. Plötzlich wird er verhaftet und im Gefängnis ge-foltert. Die Familie wird unter Druck gesetzt, sich von ihm zu dis-tanzieren, wenn sie nicht auch ins Gefängnis kommen will. Wasist geschehen? Der junge Mann, singhalesischer Buddhist, hattesich für tamilische Hindus eingesetzt und das sri-lankische Mili-tär für seine Gewaltaktionen der tamilischen Zivilbevölkerunggegenüber kritisiert. Heute ist er in der Schweiz, als Asylbewerber ohne Status, ohneArbeit, ohne Sicherheit, bleiben zu dürfen. Ob er hier eine Zukunfthat, weiss er nicht. Ist er ein Verfolgter? Und wäre er mit seinerguten Ausbildung, mit der er viel für die kulturelle Integration –nicht nur seiner Landsleute – tut, nicht eine grosse Bereicherungund Chance für uns? Sollten wir diese nicht wahrnehmen?

    2. Beispiel: Junge Männer aus SomaliaEtliche Junge Männer aus Somalia flohen allein, andere mit ihrenFamilien. In ihrer Heimat – einst kolonial dreigeteilt von England,Frankreich und Italien – herrscht seit 20 Jahren Krieg. In zweiJahren sind 260000 Menschen (!) allein an Hunger und Unterer-nährung gestorben. Das Meer vor der Küste ist von Fischereiflot-ten aus Europa leergefischt worden. Das Küstengebiet ist voneuropäischem Chemiemüll übersät, der Tausende krank macht.Zehntausende starben im Krieg, darunter viele Kindersoldaten.Es gibt keine Regierung, die durchgreifen könnte gegen die isla-mistischen Rebellen. Es gibt kaum Arbeit, keine Sicherheit, keinefunktionierenden Institutionen. Frauen, Männer und Kinder flie-hen in grosser Zahl in Nachbarländer, andere versuchen mit klei-nen Booten übers Meer nach Europa zu kommen. Viele sterbendabei. Andere landen hier, zwar ohne Angst um Leib und Leben,aber ohne Zukunft. Ihr Status in der Schweiz erlaubt es ihnennicht, ein wirklich zukunftsfähiges Leben aufzubauen.

    3. Beispiel: Zwei somalische Frauen mit ihren KindernIn einem Deutschkurs für (somalische, kurdische, sri-lankische)Frauen waren zwei somalische Frauen, die allein mit ihren Kin-dern hier sind. Ihre Männer hatten ihnen die Flucht in die Sicher-heit ermöglicht. Für alle reichte das Geld nicht. Einer der Männerist inzwischen hier. Die Familie aber muss von Sozialhilfe leben,weil der Mann mit seiner Bewilligung zwei Jahre lang nicht arbei-ten darf! Aus Sicht verschiedener Gruppen und Parteien heisstes dann: Diese «Sozialschmarotzer» sollen endlich arbeiten! Derandere Mann ist auf der Flucht von Rebellen erschossen wor-den. Die Frau bleibt mit den Kindern allein in der Schweiz. Auchsie ohne Arbeit, weil sonst niemand die Kinder versorgt.

    4. Beispiel: Hassan, Mohamed, AliHassan, Mohamed und Ali leben alleine hier; alle drei sind 24-jäh-rig. Sie erzählen, dass sie in ihrer Heimat 20 Jahre nur Krieg er-lebten: «Unser Leben bestand nur aus Angst, Schrecken undermordeten Angehörigen.» Vier Jahre sind sie hier, haben denStatus von «vorläufig Aufgenommenen». Sie dürfen arbeiten,müssen die Arbeit aber selber suchen. Mit ihrer F-Bewilligung

    rennen sie jedoch auch für einfachste Arbeiten an. Arbeitgeberwollen eine B-Bewilligung, um sicher zu sein, dass sie bleibendürfen – und sie verlangen mehr Deutschkenntnisse. Sie müss-ten Deutsch lernen, sie müssten arbeiten – aber ohne Arbeit keinDeutschkurs, ohne Arbeit keine Ausbildung, die für die Zukunftjunger Leute notwendig wäre. Sie wollen arbeiten, die Sprachelernen und sich ausbilden. «Ich möchte die Pflege von alten Leu-ten lernen, für Menschen da sein», so Hassan. Und wie er ge-braucht würde! Aber «das Pferd beisst sich immer wieder selbstin den Schwanz». Gleichzeitig sind sie den Kommentaren auf derStrasse ausgeliefert, weil sie den ganzen Tag rumlaufen, statt zuarbeiten. Diese Perspektivenlosigkeit wird zu einer neuen Trau-matisierung von schon Gewalttraumatisierten.

    VerfoIgung neu definierenBei der Definition von Verfolgung dürfen wir nicht zurücklehnenauf die Menschenrechtserklärung von 1948. Viele Kriege sindheute innerstaatlich, verursacht durch Diktaturen, Terrorgruppen,selbsternannte Machthaber. Unser Verständnis von Verfolgungmuss sich diesen neuen Situationen anpassen! Das geltendeschweizerische Asylgesetz wird der Situation von aus Bedräng-nis Geflüchteten ebenfalls nicht gerecht, gelten doch nach der11. Revision Desertation und Kriegsdienstverweigerung nichtmehr als Asylgrund. Wer in Kriegszeiten oder im Kampf mit Ter-rorgruppen seine Nachbarn nicht töten will, hat kein Anrecht aufAufnahme bei uns! Für viele aber ist noch bedrängender, dasskein Asylantrag mehr auf Schweizer Botschaften gestellt werdenkann. Dies bedeutet, dass sie auf teure Schlepper angewiesensind und auf lebensbedrohenden Pfaden eine Lebensinselsuchen müssen (in kleinen Booten, versteckt in Kofferräumenund Lastwagen). Dies hat wenig mehr mit Menschenwürde undAchtung vor der Integrität von Menschen in Not zu tun.

    Sich auf Augenhöhe begegnenWas mir vor allem wichtig ist: Die Menschen, die bei uns leben,dürfen nicht mehr unter ständigen Generalverdacht des Miss-brauchs gestellt werden, und sollen nicht mehr jahrelang in einNiemandsland verbannt bleiben. Es braucht dringend mehr anihre Situation angepasste neue Angebote zur sprachlichen undgesellschaftlichen Integration, zur Arbeitsintegration – und damitzur Akzeptanz und Zukunft, vor allem für junge Menschen. Damitleisten wir einen guten Beitrag für die Zukunft unserer Gesell-schaft und unterstützen auch etwas die Entwicklung ihrer Her-kunftsregion. Wir brauchen diese Jugend, nicht als «enthoffnete»Menschen, sondern mit positiven Erfahrungen! Wir sind aufein-ander angewiesen! Wenn sie hier eine echte Zukunft sehen,werden sie sich noch mehr als bis jetzt für unser friedliches Zu-sammenleben engagieren. Wenn wir unsere Augen, Ohren und Herzen respektvoll und ohneArgwohn für sie öffnen, entsteht Vertrauen. Das Kennenlernenund die Kraft, die daraus für uns alle entsteht, durfte ich in denletzten Monaten beglückend erfahren. Und auch, wie viel sie unsmit ihrer Lebenserfahrung schenken können. Haben wir den Mut,als unterschiedliche Menschen uns immer wieder auf Augen-höhe zu begegnen – nehmen wir uns je neu Zeit füreinander!

    Heidi Rudolf ist Mitglied des Katharina-Werks in Basel und Beauftragte

    für die interreligiöse Begegnungs- und Integrationsarbeit. Und sie enga-

    giert sich im Vorstand der WeltWeit-Herausgebergemeinschaft.

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    NOTHILFE

    LIVIA PICHORNER

    Sowohl aus religiöser als auch aus ethnischer Sicht stellt Syrieneinen Flickenteppich dar. Die Mehrheit der Syrer gehört den sun-nitischen Muslimen an. Daneben gibt es Christen, Alawiten,Schiiten und Drusen. Die rund zehn Prozent Christen des Landeslebten bis 2011 in guter Gemeinschaft mit den anderen Religio-nen. Mit besonderem Blick auf Kinder und Jugendliche sind dieSalesianer Don Boscos seit 1948 in Syrien sozial, humanitär undreligiös engagiert. Sie unterhalten ein Jugendgästehaus und sindin der ausserschulischen Jugend- und Bildungsarbeit aktiv. IhreHilfe wird fernab von Ethnie oder Konfession allen zuteil.

    Seit Mitte März 2011 befindet sich Syrien – bekannt für seine reiche Geschichte, Kultur und seinen beispielhaften religiösenPluralismus – in einer tiefen und von brutaler Gewalt geprägten

    Krise. Die Zusammensetzung der syrischen Re-bellen ist komplex: religiöse Fundamentalisten,ausländische Kämpfer, politisch Oppositionellesowie verschiedene ethnische Gruppen sind beteiligt. Bis zum Bürgerkrieg war Syrien ein Zufluchtsort für christliche Flüchtlinge aus demIrak, doch heute sind viele Syrer selber Binnen-vertriebene und Flüchtlinge, die in den Nachbar-ländern Zuflucht suchen. Die Mehrzahl sucht –statt in Flüchtlingslagern – Zuflucht in den Städ-ten, besonders in Damaskus und Aleppo. DerBürgerkrieg bedeutet Unsicherheit, bewaffnetePanzer, zerstörte Häuser, Strassensperren derKriegsparteien, Tote und Verletzte.

    Seit 2012 gibt es in den salesianischen Einrich-tungen in Damaskus, Aleppo und Kafroun einNothilfeprogramm zur Unterstützung von Vertrie-benen und Kriegsopfern. Teils wird auch Unter-kunft zur Verfügung gestellt. Bedürftige Familienerhalten monatlich etwa 180 Franken, womit derBedarf an Nahrung, Medikamenten, Kleidungsowie die Strom- und Wasserrechnung gedecktwerden können. Zusätzlich geben die Salesianerden Jugendlichen und ihren Familien Hoffnung,indem sie nebst Gottesdiensten und geistlichen

    Impulsen auch Gesprächsrunden und Freizeitaktivitäten anbie-ten. Dadurch entsteht eine «Oase des Friedens, des Teilens undder Gastfreundschaft». «Besonders nahe sind die Salesianer Don Boscos den Familiender jungen Menschen, die normalerweise in unser Jugendzen-trum kommen. Sie haben die am schlimmsten betroffenen Fami-lien persönlich besucht und stehen mit ihnen in engem Kontakt,soweit das möglich ist. Ein einfacher Besuch, ein Lächeln, dieVergewisserung, dass wir für sie da sind und sie im Notfall beiuns willkommen sind, hilft oftmals schon», so P. Munir El Rai,Syrer und Provinzial der Salesianer im Nahen Osten. Die Salesianer hoffen auf ein Ende der Gewalt und Dialog zwi-schen den Konfliktparteien, um baldmöglichst zu einem fried-lichen Zusammenleben zurückzufinden. Bis dahin sind die Men-schen in Syrien weiterhin auf finanzielle Unterstützung angewie-sen.

    Hilfe für Bürgerkriegsopfer Die Salesianer Don Boscos helfen Vertriebenen und Kriegsopfern in Syrien.

    Kinder vor kriegsbeschädigten Häusern in Damaskus. (Bild: Carole Alfarah)

    NOTHILFE

    33098SALESIANERDON BOSCOS

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  • Bild: view.stern.de

    BEATRICE EICHMANN-LEUTENEGGER

    Kaum ein anderer zeigte in der Beschreibung von Drittweltlän-dern diese Empathie: Hugo Loetscher (1929–2009), einer derwichtigsten Autoren unseres Landes. Dabei hatte er als beob-achtender Reporter und Schriftsteller begonnen, der sich jedochimmer mehr zum Beteiligten wandelte. Die Hintergründe diesesProzesses zeichnete er im autobiografisch getönten Roman«Der Immune» (1975) nach, der die stadtzürcherische Kindheitmit ihren einfachen Verhältnissen ans Licht hebt. Der Knabesteht zwischen einem Vater, der Alkoholiker ist, und einer Mutter,die sich für die drei Kinder abmüht. Gegenüber dem vernichten-den Satz des Vaters «Ich mache euch alle fertig und dann hinter-her mich» kann sich der Sohn nur wappnen, wenn er sich miteiner gewissen Immunität ausstattet, die ihn vor den Ausbrüchendes Alkoholikers schützt.

    Das kurze Leben der kleinen FatimaIm Nordosten Brasiliens traf der Schweizer Autor Hugo Loetscher auf ein totes Mädchen und schrieb einberührendes Buch.

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    Später erkennt er, der inzwischen Immune, dass ein solchseelisches Abseits einer Amputation gleichkommt, auchwenn man sich auf diese Weise mit den Brutalitäten desLebens besser arrangiert. Nun will er empfinden und dieSchmerzpunkte der Existenz nicht mehr ausschalten.Loetschers Reiseberichte zehren daher nicht vom Ober-flächenreiz des Exotischen, sondern sie tauchen in fremdeGeschichten ein und lassen sich von ihnen bewegen.Lateinamerika ist für diesen Autor eine Neubegegnung mitdem Kulturraum der Indios und Schwarzen, mit ihren Über-lieferungen und Riten. In seinem Brasilien-Buch «Wunder-welt», das Kenner für eines seiner besten Werke halten,wendet er sich der Lebenswelt der Armen in ihren Bara-ckensiedlungen am Rand der Stadt Canindé zu.

    Vater nimmt den Kindersarg undtanzt, feiert ein Lebewesen, dem einLeben erspart geblieben.

    Im Mittelpunkt aber steht ein kaum fünfjähriges Mädchen: dietote Fatima. Für einen Sarg, in den man sie hätte betten können,hat das Geld nicht gereicht. Dafür fand der Vater, ein Taglöhnermit sieben Kindern, eine Kiste, in der man Sardinenbüchsentransportiert hatte. Ein Fotograf wurde bestellt, der die Gruppemit der kleinen Toten, ihren Eltern und Geschwistern im Bild fest-halten sollte. Danach bewegte sich der Trauerzug zum Friedhof,wo der Totengräber als Dank, dass er das Loch unter dem Baumausgehoben hatte, eine Tabakwurst erhielt.

    «Als sich die Gruppe näherte, schlenderte der Fremde an sie heran. Erstellte fest, dass das Kistchen mit Krepppapier geschmückt war und dasses keinen Deckel hatte, und ich, der Fremde, sah: das Kistchen war einSarg, und darin lagst du, Fatima.»

    ERZÄHLT

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    ERZÄHLT

    Nun beginnt der Autor, der sich als «der Fremde» eingeführt hat,mit der toten Fatima zu sprechen. In seinem Monolog überlegter, wie Fatimas Zukunft ausgesehen hätte, wenn sie am Lebengeblieben wäre:

    «Ob die Jahre gut oder schlecht gewesen wären, wie immer sie sich ab-gelöst hätten, eines, Fatima, wärst du mit Bestimmtheit geworden, eineWasserträgerin. Du wärst eine dieser Trägerinnen geworden, die in ihrenKrügen und Kübeln, in ihren Kesseln und Kanistern unermüdlich undunentwegt ein paar Liter Wasser dorthin bringen, wo man es nötig hat.»

    Woran aber ist Fatima gestorben, eines der vielen Kinder, die imNordosten Brasiliens das fünfte Altersjahr nicht überleben? Kei-ner kann die Krankheit genau benennen. Fest steht für die Ange-hörigen nur, dass Fatima ein «Dürre-Kind» gewesen ist und sichin seinem Bauch Wasser ansammelte.

    «Die Pfütze wurde zu einer Lache, wo man hätte Wasser schöpfen kön-nen. So sehr man auf den Bauch drückte, das Wasser blieb; es stieg, alswäre dein Bauch ein Stauweiher, der vorsorgen will, und das Staubeckenwurde so schwer, dass die Beine es nicht mehr tragen mochten.»

    In der Heilmittelpraxis, auf die man vertraut, offenbart sich derseit Generationen überlieferte Glaube an Magie. Soll man demKind Schnaps einflössen oder den Staub eines verbrannten Kat-zenohrs auf seinen Körper streuen? Soll man mit einem Rauten-zweig das Gift aus dem Körper schlagen oder der Kranken einenSud aus Tollkirschen und Zwiebeln verabreichen? Soll man Räu-cherkörner anzünden und das Kind sechsmal um die Hütte tra-gen? Als die Familie endlich das medizinische Ambulatoriumaufsucht und der an der Universität ausgebildete Arzt Tablettenverschreibt, fehlt der Glaube an deren Wirkung:

    «Ihr werdet sehen. Diese Tabletten und Pillen, die sind aus fremder Erdegemacht und aus Steinen von weither gemahlen. Das ist nichts für unser-einen, die wir die Krankheiten von hier haben und die wir von hier vonder Welt gehen. Das ist für jene, die an reichen Dingen sterben und nichtwie wir an armen.»

    Die Tante möchte für Fatima ein Totenhemd nähen, aber sie fin-det in ihren zerfledderten Illustrierten kein Schnittmuster; auchreicht der Stoff nur für die Vorderseite. Einst ist diese Tante wie

    so viele abgewandert, nach Fortaleza oder Recife, und als eineder wenigen wieder zurückgekommen. Der Onkel aber blieb inder Stadt und schlug sich zu den Schwerverbrechern, weil er nurso zweimal täglich im Gefängnis eine Mahlzeit erhielt. Nicht um-sonst herrschte im Nordosten Brasiliens früher der Brauch,

    «dass der Vater den Kindersarg in die Arme nimmt und zu tanzen beginntund alle andern in die Hände klatschen, singend und lachend, weil ein Lebewesen gefeiert wird, dem ein Leben erspart geblieben ist.»

    Und wer trotzdem das Erwachsenenalter erreicht, versucht mitreichlich Zuckerrohrschnaps zu überleben, jenem Getränk, daseinst für die Sklaven aus Afrika gebraut wurde, damit sie die Ar-beit aushielten. «Gebt uns unsere tägliche Cachaça, diese Bett-decke der Armen», flehen die Männer noch immer, «wie sollenwir die Arbeit aushalten? Wie sollen wir es aushalten ohne Ar-beit? Wir haben ein Recht auf unser Sklavengebräu.» Denn nochlange ist gemäss Hugo Loetscher «die Legende der Zukunft»nicht zu Ende erzählt:

    «von einem Arbeiter, der Arbeit hat und für die Arbeit eine Arbeitszeit. Dereinen Lohn kriegt, der auch ausbezahlt wird. Ein Lohn, der dafür reicht,dass auch einmal Fleisch auf den Tisch kommt, die Kinder Milch trinkenund in die Schule gehen. Der nicht bestraft wird, wenn er krank wird odereinen Unfall hat. Der nicht schon mit vierzig Jahren ein verbrauchterMann ist.»

    «Wunderwelt»: Der mehrdeutige Titel des Buches zielt ironischauf die Wunderwelt der Technik und Statistik, die in den Städtenwuchert und in deren Amtsstellen Fatimas Familie bloss eine ab-strakte Grösse darstellt. Er meint ebenso die betäubende Wir-kung des Zuckerrohrschnapses wie auch jenen Glauben, dersowohl dem Amulett wie dem Rosenkranz einen Platz gestattet.Der kleinen Fatima aus einer der Lehmhütten aber hat Hugo Loetscher eine Gestalt gegeben, um am Einzelbeispiel aufzuzei-gen, was es bedeutet, in diesem Landstrich arm zu sein.

    Hugo Loetscher, «Wunderwelt. Eine brasilianische Begegnung».

    Deutsches Taschenbuch, 2004 (Erstausgabe: 1983)

    Canindé im Nordosten Brasiliens zählt heute etwa 74000 Einwohner,von denen die Hälfte in kleineren Ansiedlungen im Landes-innern wohnt. Die Stadt ist in ganz Brasilien als Pilgerstättebekannt, wo der Hl. Franz von Assisi verehrt wird. Das Klimadieser nordöstlichen Region (Sertão) ist heiss und trocken;Regen fällt n