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1 Elementare Teilchen Vom antiken Atomismus zu den Atomen der Physiker Rudolf Klein Berlingen, 10.9.2014 Ist die Materie diskret oder kontinuierlich? Die Natur ist von einer überwältigenden Vielfalt. Die Biosphäre besteht aus einer riesigen Zahl unterschiedlicher Exemplare an Tieren und Pflanzen, die durch ständiges Werden und Vergehen gekennzeichnet sind. In der unbelebten Natur finden sich viele verschiedene Mate- rialien, und der Kosmos scheint durch die stete Wiederkehr der Erscheinungen am Himmel ewig zu sein. So jedenfalls muss die Wahrnehmung der Menschen gewesen sein, die in grauer Vorzeit begannen, diese Vielfalt zu realisieren. Belegt sind Überlegungen griechischer Philosophen zu dieser Problematik, beginnend in der Zeit vor fast 2500 Jahren. Eine der Grundfragen war: Kann alles Materielle beliebig in Teile zerlegt werden? Kann ein beliebig kleiner Teil, z.B. eines Steins, nochmals geteilt werden? Dann wäre die Materie kontinuierlich. Oder hört dieser Prozess des immer weiter Teilens ir- gendwann auf? Wenn das zutrifft, besteht die Materie aus kleinsten, nicht weiter teilbaren, elementaren Korpuskeln; sie wäre diskret. Das griechische Wort für nicht-teilbar lautet a- tomos, woraus unsere Bezeichnung Atom entstand. Diese zweite Sicht der Dinge, wonach alles Materielle aus kleinsten, nicht weiter teilbaren Atomen besteht, wird als antiker Ato- mismus bezeichnet. In der Antike existierten zwei konkurrierende Schulen der Naturphilosophie. Der Atomismus wurde von Leukipp und seinem Schüler Demokrit (460-400 v.Chr.) begründet. Das Gegenteil, die Lehre von der kontinuierlichen Materie, wurde insbesondere von Aristoteles vertreten. Er war Anhänger der Lehre von den vier Elementen, wonach alle Materie aus unterschiedlichen Gemischen der Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer besteht. Die beiden ersten sind schwer. Damit war gemeint, dass sie in sich die Tendenz tragen, dem Zentrum der Erde, in dem man sich das Zentrum des Kosmos dachte, zuzustreben. Die beiden anderen, Luft und Feuer, dagegen sind leicht, d.h. sie besitzen die entgegengesetzte Tendenz, sie streben weg vom Zentrum des Kosmos. Nach dieser Hypothese ist ein Stein schwerer als ein gleich großes Stück Holz, weil der Stein fast ausschließlich aus dem schweren Element Erde besteht, wäh- rend sich im Holz ein größerer Anteil der leichten Elemente befindet. Ein anderer wichtiger Aspekt der Lehre des Aristoteles ist, dass der ganze Raum erfüllt ist, zumindest mit den leich- ten Elementen; ein Vakuum, ein Teil des Raums, in dem sich nichts befindet, gibt es nicht. Das Nicht-Seiende, und das wäre ein Vakuum, wurde von Platon und Aristoteles abgelehnt. Bis in die frühe Neuzeit sprachen die Gelehrten vom horror vacui, der Abscheu der Natur vor der Leere.

Elementare Teilchen Vom antiken Atomismus zu den Atomen ... · Aspekt der Lehre des Aristoteles ist, dass der ganze Raum erfüllt ist, zumindest mit den leich- ten Elementen; ein

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Elementare Teilchen

Vom antiken Atomismus zu den Atomen der Physiker

Rudolf Klein

Berlingen, 10.9.2014

Ist die Materie diskret oder kontinuierlich?

Die Natur ist von einer überwältigenden Vielfalt. Die Biosphäre besteht aus einer riesigen Zahl unterschiedlicher Exemplare an Tieren und Pflanzen, die durch ständiges Werden und Vergehen gekennzeichnet sind. In der unbelebten Natur finden sich viele verschiedene Mate-rialien, und der Kosmos scheint durch die stete Wiederkehr der Erscheinungen am Himmel ewig zu sein. So jedenfalls muss die Wahrnehmung der Menschen gewesen sein, die in grauer Vorzeit begannen, diese Vielfalt zu realisieren.

Belegt sind Überlegungen griechischer Philosophen zu dieser Problematik, beginnend in der Zeit vor fast 2500 Jahren. Eine der Grundfragen war: Kann alles Materielle beliebig in Teile zerlegt werden? Kann ein beliebig kleiner Teil, z.B. eines Steins, nochmals geteilt werden? Dann wäre die Materie kontinuierlich. Oder hört dieser Prozess des immer weiter Teilens ir-gendwann auf? Wenn das zutrifft, besteht die Materie aus kleinsten, nicht weiter teilbaren, elementaren Korpuskeln; sie wäre diskret. Das griechische Wort für nicht-teilbar lautet a-tomos, woraus unsere Bezeichnung Atom entstand. Diese zweite Sicht der Dinge, wonach alles Materielle aus kleinsten, nicht weiter teilbaren Atomen besteht, wird als antiker Ato-mismus bezeichnet.

In der Antike existierten zwei konkurrierende Schulen der Naturphilosophie. Der Atomismus wurde von Leukipp und seinem Schüler Demokrit (460-400 v.Chr.) begründet. Das Gegenteil, die Lehre von der kontinuierlichen Materie, wurde insbesondere von Aristoteles vertreten. Er war Anhänger der Lehre von den vier Elementen, wonach alle Materie aus unterschiedlichen Gemischen der Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer besteht. Die beiden ersten sind schwer. Damit war gemeint, dass sie in sich die Tendenz tragen, dem Zentrum der Erde, in dem man sich das Zentrum des Kosmos dachte, zuzustreben. Die beiden anderen, Luft und Feuer, dagegen sind leicht, d.h. sie besitzen die entgegengesetzte Tendenz, sie streben weg vom Zentrum des Kosmos. Nach dieser Hypothese ist ein Stein schwerer als ein gleich großes Stück Holz, weil der Stein fast ausschließlich aus dem schweren Element Erde besteht, wäh-rend sich im Holz ein größerer Anteil der leichten Elemente befindet. Ein anderer wichtiger Aspekt der Lehre des Aristoteles ist, dass der ganze Raum erfüllt ist, zumindest mit den leich-ten Elementen; ein Vakuum, ein Teil des Raums, in dem sich nichts befindet, gibt es nicht. Das Nicht-Seiende, und das wäre ein Vakuum, wurde von Platon und Aristoteles abgelehnt. Bis in die frühe Neuzeit sprachen die Gelehrten vom horror vacui, der Abscheu der Natur vor der Leere.

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Ganz anders dagegen vertritt der Atomismus die Auffassung, dass es nur Atome gibt, die sich durch den ansonsten leeren Raum bewegen. Es gehört zu den faszinierenden Merkmalen der antiken Naturphilosophien, dass sie ganzheitliche Lehren sind, die Naturlehre, also Physik, mit Erkenntnislehre und Ethik, also der Verhaltenslehre, verbinden. Würde sich die Philoso-phie des Demokrit allein auf seine Hypothese von der Existenz der Atome reduzieren, so wäre das im Kontext der Wissenschaftsgeschichte zwar eine erwähnenswerte Tatsache, die aller-dings nicht auf experimentellen Beweisen basierte. Erst die ganzheitliche Theorie, die mit dem Atomismus verbunden ist, macht sie unter allgemeiner kulturhistorischer Betrachtung so interessant und macht es verständlich, weshalb es mindestens bis zur Zeit der Renaissance dauerte, um diese antiken Vorstellungen wieder in das Bewusstsein der Gelehrten zurück zu bringen. Es ist daher angebracht, auf diese Aspekte etwas einzugehen.

Antiker Atomismus

Demokrit lebte im fünften vorchristlichen Jahrhundert und sein bedeutendster Nachfolger Epikur (341 – 270 v. Chr.) knapp 150 Jahre später. Von ihren Schriften sind nur Fragmente erhalten; sie werden jedoch von späteren Philosophen zitiert und kommentiert, wodurch As-pekte ihrer Lehren indirekt überliefert sind. Die umfassendste Darstellung des antiken Ato-mismus stammt von Epikurs wohl wichtigstem antiken Anhänger, dem römischen Dichter und Philosophen Lukrez (ca. 95 – ca. 55 v. Chr.), der im ersten vorchristlichen Jahrhundert lebte. Auch dessen grandioses Lehrgedicht, das aus ca. 7800 Versen besteht, war verschollen und wurde erst von einem Teilnehmer am Konstanzer Konzil nach 1500 Jahren wieder ent-deckt. Doch zu dieser speziellen Geschichte später.

Epikur entwickelte die auf Demokrit zurückgehenden atomistischen Vorstellungen zu einem philosophischen Gesamtbild, das seit seinen Anfängen zwischen Anhängern und Gegnern polarisierend wirkte. Das sollte über viele Jahrhunderte so bleiben. Er war ein Zeitgenosse Alexander des Großen und erlebte die Niederlage Athens gegen die Eroberung durch die Ma-kedonier. Als Athen wieder zur Demokratie zurückkehren konnte, gründete Epikur dort eine Schule, die bis in die Zeit des 2. Jh. n. Chr. fortbestand und z.B. durch den gelehrten Kaiser Marc Aurel gefördert wurde. Es war die Schule des Epikureismus. Am Eingang zu dem Ver-sammlungsort der Epikureer wurde der Gast mit der Inschrift begrüßt: „Tritt ein, Fremder! Ein freundlicher Gastgeber wartet dir auf mit Brot und mit Wasser im Überfluss, denn hier werden deine Begierden nicht gereizt, sondern gestillt.“ Das klingt nach einer ganz auf das diesseitige Leben konzentrierten Philosophie, und genau das ist es, was rund 250 Jahre später Lukrez beschreibt.

Zu einem umfassenden Bild von der Welt hat wohl Epikur die Hypothesen Demokrits entwi-ckelt, und einige der wichtigsten Lehrsätze der epikureischen Schule sind die folgenden:

Jegliche Materie (belebt oder unbelebt) besteht aus unsichtbaren, nicht-teilbaren Teilchen (Atome).

Die Atome sind ewig, aber jedes Objekt im Universum ist vergänglich. Alles Beobachtbare ist nur flüchtig: Atome eines bereits vergangenen Objekts mischen sich neu. Daher gibt es keine Schöpfung und keine endgültige Zerstörung. Dazu heißt es bei Lukrez: „Und so können die zerstörenden Kräfte niemals den endgültigen Sieg erringen, nie das Seiende auf immer ver-

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nichten; noch können die Bewegungen, die Leben erzeugen und Wachstum, die geschaffenen Dinge auf ewig erhalten. Es waltet Krieg seit Anbeginn der Zeiten, ein stets unentschiedener Kampf zwischen den Elementen, bald hier, bald da sind die lebensspenden Kräfte im Vorteil, bald hier, bald da unterliegen sie auch, und Totenklage mischt sich in den Schrei der Neuge-borenen, die eben erst das Licht der Welt erblicken; niemals folgt die Nacht dem Tag, und keine Morgendämmerung der Nacht, ohne dass sie nicht Kindergeschrei vernähmen, das ver-mischt ist mit dem Jammer, der schrill tönend Tod und schwarzes Begräbnis begleitet“.

Es gibt im unendlich grossen Kosmos unendlich viele Atome. Aber es existieren nur endlich viele Atomarten, die sich in Größe und Gestalt unterscheiden. Die Atome bewegen sich in einer unendlichen Leere (Vakuum).

Es wird nicht behauptet, die Gesetze der Materie zu kennen; die Atomisten sind jedoch über-zeugt, dass es solche Gesetze gibt und dass sie von Menschen aufgespürt werden können. Das erinnert stark an Galileis „Buch von der Natur“. Aber Galilei geht davon aus, dass Gott das Buch von der Natur so wie auch das Buch von der Offenbarung diktiert habe. Galilei argu-mentiert, dass Gott den Menschen mit einem Intellekt ausgestattet habe, der es ihm ermögli-che, die Gesetze der Natur zu erkennen. Das ist bei den antiken Atomisten anders, sie bemü-hen nicht die Götter.

Die Atome sind nicht geschaffen. Was als Ordnung oder Unordnung wahrgenommen wird, folgt keinem göttlichen Plan. Bei Lukrez heißt es dazu: „Doch weil unzählige Atome seit ewigen Zeiten von Stößen durchs Universum hin und her geschleudert werden, sich dabei auf zahllose Weisen verändern, haben sie jede Art der Bewegung und Verbindung erprobt, sind so wohl auch in jenen Gestaltungen gekommen, deren unser Universum zu seiner Entstehung bedurfte.“ Damit hat das Sein weder Ziel noch Zweck; Werden und Vergehen werden allein durch den Zufall bestimmt.

Die sich chaotisch durch die Leere bewegenden Atome stoßen aufeinander und können sich dabei verbinden, müssen es aber nicht. Dadurch entstehen die sichtbaren Objekte, die aber auch wieder vergehen: Die Natur experimentiert ständig. Es gibt keinen großen Plan; viel-mehr „schafft sich das Geschaffene seine Funktion erst selbst“. Augen und Zunge wurden nicht geschaffen, um zu sehen und zu schmecken, sondern in dem sie sich bildeten, ermög-lichten sie den Geschöpfen zu überleben und ihre Art zu erhalten. Das sind Gedanken, die stark an Darwins Evolutionstheorie erinnern.

Menschen sind nicht einzigartig; ihre Art kann auch wieder aussterben. Damit haben sie kei-nen privilegierten Platz. Auch die Seele ist sterblich; auch sie besteht aus Atomen, die nach dem Tod ihren Verband untereinander lösen. Daher gibt kein Leben nach dem Tod; das irdi-sche Leben ist alles, was Menschen haben.

Der Glaube an Götter entsteht durch Ängste vor einer ungewissen Zukunft und dem Wunsch nach vollkommener Sicherheit.

Als Konsequenz aus dieser Weltsicht folgen als höchstes Ziel menschlichen Lebens die Stei-gerung des Genusses und die Verringerung des Leidens. Das Streben nach Glück für sich

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selbst und die Mitmenschen ist der höchste ethische Zweck des Lebens. Der Dienst am Staat und das Lob der Götter und weltlichen Herrscher sind sekundär.

Damit sind einige der wichtigsten Aussagen der epikureischen Lehre genannt. Sie stellen eine strenge materialistische Auffassung der Welt dar; neben Atomen und Leere ist für nichts an-deres Platz. Es ist klar, dass dieses Bild der Welt auf heftige Ablehnung bei all denen traf, die an Vorsehung und die Macht von Göttern glaubten. Deshalb wurde Lukrez schon in der Zeit vor der Zeitenwende kritisiert, und nach dem Entstehen des Christentums wurden die atomis-tischen Lehren heftig bekämpft. Die Gründe sind offensichtlich: Es gibt kein Leben nach dem Tod, und daher ist die Vorstellung eines Jüngsten Gerichts sinnlos. Noch zu Galileis Zeiten, also in der ersten Hälfte des 17. Jh. gab es Auseinandersetzungen über die Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi. Dieses Dogma der römisch-katholischen Theologie ist mit der aristotelischen Unterscheidung von Akzidenz, d.h. den Eigenschaften, und Sub-stanz der Materie verträglich. Für den Menschen mit seinen Sinnen wahrnehmbar sind nur die Akzidenzien, also Geschmack und Geruch des Brotes, nicht aber die Substanz. Diese mit der aristotelischen Physik vereinbare Interpretation der Wandlung von Brot und Wein war beim Glauben an den Atomismus nicht aufrecht zu halten.

Dieser Streit zwischen Theologen und Atomisten fand erst im 16.Jh. statt, nachdem die Lehre Epikurs breiteren Kreisen bekannt geworden war. Dazu trug die Entdeckung des Werks von Lukrez wesentlich bei, und der Buchdruck verbreitete die gefundene Schrift. Von der Exis-tenz des brillanten Lehrgedichts wusste man im ausgehenden Mittelalter nur durch Erwäh-nungen bei anderen römischen Schriftstellern und vor allem durch die Ablehnung des Ato-mismus durch die christlichen Kirchenväter. Um 1300 begann in Italien der Humanismus. Einer der ersten war wohl Petrarca. Die Anhänger dieser Bewegung und Denkschule waren glühende Verehrer des alten römischen Schrifttums, und so setzte eine regelrechte Jagd nach solchen Texten ein. Die Suche erstreckte sich vor allem auf die Klosterbibliotheken, in denen nicht nur christliche Bücher immer aufs Neue abgeschrieben wurden. Geschrieben wurde auf Pergament, und das war rar und teuer. Aber Pergament hat keine unendliche Lebensdauer; nicht nur der Zahn der Zeit, sondern auch die Zähne von Mäusen führten zur Zerstörung der alten Pergament-Rollen und Codices. Deshalb wurden in klösterlichen Scriptorien einmal vorhandene Schriften immer wieder abgeschrieben. Und so konnte ihr Inhalt die eineinhalb Jahrtausende seit der Antike überliefert werden.

Poggio Bracciolini findet De rerum natura

Einer der bedeutendsten Humanisten, der einige der wichtigsten Werke der römischen Antike wieder entdeckte, war Poggio Bracciolini (1380-1459). Er war Sekretär mehrerer Päpste und kam mit seinem Dienstherren Papst Johannes XXIII im Jahr 1414 zum Konzil nach Konstanz. Im Mai 1415 wurde dieser Papst abgesetzt, und Poggio wurde „arbeitslos“. In dieser Zeit zog er, teils mit einem Humanisten-Kollegen, teils allein durch die Klöster der Umgebung, so z.B. nach St. Gallen. Dort fand er 1416 eine Kopie des bedeutendsten Werks über antike Architek-tur von Vitruv. Dieser Fund war jedoch nicht besonders spektakulär, denn andere Kopien wa-ren bereits bekannt. Dann unternahm er eine größere Reise nach Norden. Vermutlich im Klos-ter Fulda, vielleicht auch im Elsass, der exakte Ort ist nicht überliefert, fand er dann das Werk De rerum natura (von der Natur der Dinge) des Lukrez. Die Geschichte Poggios, das Auffin-

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den von De rerum natura und die Bedeutung dieses Werks für die Renaissance ist der Inhalt des sehr lesenswerten Buches von Stephen Greenblatt mit dem deutschen Titel „Die Wende – wie die Renaissance begann“. Der Originaltitel „The swerve – how the world became mo-dern“ unterstreicht noch deutlicher den großen Einfluss von Lukrez und damit der Lehre des Epikur für die Gelehrten der frühen Neuzeit. Der antike Atomismus, der trotz der großen Wi-derstände, die ihm das frühe Christentum entgegengesetzt hatte, wurde nun einer breiteren Schicht zugänglich, und er beinhaltet Gedanken, die für die Entwicklung des Zeitalters der wissenschaftlichen Revolution und letztlich auch der Aufklärung wichtig wurden. Die Unab-hängigkeitserklärung der Vereinigen Staaten von Amerika ist im Geiste der Aufklärung for-muliert. Einer ihrer Mitverfasser war Präsident Thomas Jefferson, und in seiner Bibliothek fand man mehrere Exemplare von De rerum natura.

Doch zurück zur Renaissance in Italien. Durch die Beschäftigung mit antiken Texten ist diese Zeit in vieler Hinsicht durch neues Denken gekennzeichnet. In der Malerei z.B. entstanden vorher nicht bekannte Sichtweisen auf Mensch und Natur. Es bildeten sich die Stadtrepubli-ken, in denen Kunst und Wissenschaft gefördert wurden, und die Architektur zu den Bauten führte, die wir heute bewundern. Dazu waren neue Entwicklungen in Ingenieurstechniken notwendig. Beispiele sind die Kuppel des Doms in Florenz von Brunelleschi, der Transport des 360 t schweren Obelisken zu seinem heutigen Ort auf dem Petersplatz, aber auch der Wiederaufbau und die Erweiterung antiker Wasserversorgungen, der Bau von Kanälen, etc. In der Naturphilosophie hingen noch lange viele Gelehrte an Aristoteles, aber allmählich deutete sich eine Trennung von Wissenschaft und Theologie an. Mehr noch, langsam kamen Zweifel an den überlieferten Hypothesen auf. Von großer Bedeutung ist, dass damit begonnen wurde, die Voraussagen antiker Theorien experimentell zu hinterfragen. In der Astronomie waren es die umfangreichen genauen Messungen Tycho de Brahes, die Kepler nach 1600 zu den ellip-tischen Planetenbahnen brachten, und die etwa gleichzeitig durchgeführten Fallversuche von Galilei ergaben erste quantitative Resultate über Bewegungen makroskopischer Körper, die dann am Ende des 17. Jhd. von Newton in eine mathematische Form gegossen wurden. In der frühen Neuzeit erkannte man langsam, dass man in der Naturlehre Experimente machen konn-te, aus denen physikalische Gesetzmäßigkeiten folgten. Gleichzeitig erkannte man aber auch, dass für andere Bereiche eines allgemeinen Philosophiegebäudes wie Ethik und Religion sol-che Vorgehensweisen nicht möglich sind. Das bedeutete für den antiken Atomismus, über den man ja jetzt ausführlich informiert war, dass die Vorstellung vom Aufbau alles Materiellen aus Atomen vielleicht experimentell überprüft werden könnte, dass aber all die anderen Fol-gerungen Epikurs über das Nicht-Materielle jenseits solcher Überprüfungen liegen; sie waren nicht Gegenstand der Naturlehre.

Das Vakuum existiert!

Wie bereits erwähnt, spielten Bauten von Kanälen und Fontänen eine gewisse Rolle. Dazu musste man Wasser pumpen. Dabei wurde festgestellt, dass Wasser aus einem Brunnen mit einer Saugpumpe nicht höher als etwa 10 m gepumpt werden kann. Weshalb ist das so? Diese Frage brachte Torricelli auf die Idee für ein folgenreiches Experiment. Er war während der letzten drei Monate vor dem Tod Galileis dessen letzter Assistent und wurde sein Nachfolger als Hofmathematiker bei den Medici in Florenz. Im Jahr 1644 erfand er, was wir heute Baro-

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meter nennen. Er nahm ein über 10 m langes Rohr, füllte es mit Wasser und schloss es an beiden Enden. Dann stellte er das Rohr senkrecht in einen mit Wasser gefüllten Behälter und öffnete den unteren, im Wasser stehenden Verschluss des Rohrs (s. Abb.1). Er beobachtete einen gewissen Ausfluss des Wassers aus dem Rohr, aber nur so lange, wie der Wasserstand im Rohr fast 10 m höher als derjenige im Behälter war. Der Versuch wurde dann mit Queck-silber wiederholt. Dann ist der Höhenunterschied nur noch 76 cm, weil Quecksilber fast 14fach schwerer als Wasser ist. Torricelli deutete das Ergebnis richtig: die Luft der Atmo-sphäre drückt mit ihrem Gewicht auf die Flüssigkeitsoberfläche des offenen Behälters und mit dem gleichen Gewicht drückt die Quecksilbersäule. Die beiden Gewichte halten sich im

 

Abbildung  1  Bei  dem  zunächst  an  beiden  Enden  geschlossenen  Rohr  (rechts)  wird  der  untere  Verschluss  geöffnet  (rechts).  Wird  Quecksilber  verwendet  und  ist  das  Rohr  ca.  1  m  lang  oder  länger,  steht  der  Flüssigkeitsspiegel  nach  Öffnen  76  cm  höher  als  im  Behälter.

Gleichgewicht die Waage.

Wie konnte man das Resultat beweisen? Hier kommt ein französischer Zeitgenosse ins Spiel, der Mathematiker und Theologe Blaise Pascal (1623 – 62). Er schickte seinen Schwager mit einem Torricelli-Rohr auf einen 1000 m hohen Berg, wo er fand, dass die Quecksilbersäule um über 7 cm niedriger war. Also hatte der Luftdruck abgenommen. Das Prinzip von Baro-meter und Höhenmesser war erfunden.

Wichtiger für unsere Geschichte ist die Frage, die damals heftig und kontrovers diskutiert wurde, was befindet sich in dem oberen Teil der geschlossenen Glasröhre, in der ursprünglich die Flüssigkeit war? Torricelli und seine Anhänger behaupteten, darin befinde sich nichts, d.h. das sei Vakuum. Kurze Zeit später entwickelte Otto von Guericke (1602 – 86) eine Pumpe, mit der aus einem geschlossenen Gefäß Luft herausgepumpt werden konnte. Von Guericke war Jurist und Festungsbauer und wurde Bürgermeister von Magdeburg. Durch die von ihm gebauten Magdeburger Halbkugeln und den mit ihnen ausgeführten spektakulären Experi-menten wurde er berühmt. Es handelt sich um zwei große Halbkugeln aus Kupfer, die dicht aufeinander schließen, und aus denen die Luft abgepumpt werden konnte. Der Druck der um-gebenden Luft der Atmosphäre ist dann so groß, dass selbst Pferde die Halbkugeln nicht von-einander trennen können. Dieses Experiment wurde 1654 auf dem Reichstag in Regensburg gezeigt.

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Mit diesen Experimenten von Torricelli, Pascal und von Guericke war gezeigt, dass es das Vakuum, von dem schon Demokrit, Epikur und Lukrez in ihrer Lehre vom Atomismus ge-sprochen hatten, tatsächlich gibt, und dass man es sogar herstellen kann. Platon und Aristote-les, die die Existenz eines Vakuums ablehnten, waren widerlegt.

Erste systematische Experimente mit Gasen

Die Pumpe, mit der man Luft aus einem Gefäß entfernen kann, diente sehr bald als Hilfsmittel für wissenschaftliche Untersuchungen von Gasen. Robert Boyle (1627 – 91) war der jüngste Sohn des reichsten Mannes in England und hatte alle Möglichkeiten, als Privatgelehrter in London wissenschaftlich zu arbeiten. Er untersuchte, wie eine Kerze langsam aufhört zu brennen und wie das Ticken einer Uhr nicht mehr zu hören ist, wenn die Luft evakuiert wird. Damit war gezeigt, dass die Luft etwas enthalten muss, was für den Brennvorgang wichtig ist; heute wissen wir, dass das Sauerstoff ist. Und es war auch gezeigt, dass man für die Wahr-nehmung des Tickens der Uhr, also für die Fortpflanzung von Schall, Luft (oder ein anderes Gas) benötigt.

Für die Entwicklung der Physik waren weitere Experimente von Boyle und anderen wichtig. Sie wussten jetzt, wie man auf kontrollierte Weise die Menge eines Gases in einem Gefäß verändern kann, wie man das Volumen einer Gasmenge durch Druck verändern kann und wie das Volumen einer Gasmenge von der Temperatur abhängt. Diese Zusammenhänge zwischen Druck, Volumen und Temperatur eines Gases gehören auch heute noch zum Lehrstoff von Physikern, Chemikern und Ingenieuren. Sie sind als sog. Boylesche Gasgesetze bekannt und bilden z.B. die Grundlage für das Funktionieren von Dampfmaschinen.

Qualitativ sind uns diese Phänomene aus dem Alltag bestens vertraut: Nehmen wir eine mit Luft gefüllte Flasche; wenn wir sie in die Sonne legen, also die Temperatur erhöhen, steigt der Druck, und wenn die Flasche aus Plastik ist, bläht sie sich auf, d.h. auch das Volumen nimmt zu.

Wie sollte man diese Phänomene erklären? Boyle wirkte in der Mitte des 17.Jh., einer Zeit, in der die Alchemie allmählich zur Chemie wurde. Seit der Antike hatte man viele Versuche zur Umwandlung von in der Natur vorkommenden Materialien unternommen. So ist Bronze eine Legierung aus 90% Kupfer und 10% Zinn, ein Material, das viel härter als Kupfer ist und eine ganze Periode der Menschheitsgeschichte, die Bronzezeit, geprägt hat. D.h. es gibt Stoffe wie Kupfer und Zinn (heute nennt man sie chemische Elemente), die jedes für sich bestimmte Eigenschaften haben, aus denen man durch Mischen oder chemische Reaktionen neue Stoffe erhält, die andere Eigenschaften besitzen.

Während die Alchimisten weitgehend eine Geheimwissenschaft, umgeben von einer mysti-sche Aura, betrieben und z.B. Gold aus Blei herzustellen versuchten, postulierte Boyle ganz im Sinne des antiken Atomismus, das alle Materie aus Teilchen besteht, die sich durch Größe und Form unterscheiden. Liegt nur eine Sorte dieser Teilchen vor, ist das ein chemisches Element, also z.B. Kupfer oder Sauerstoff. Zusätzlich können sich nach Boyle aber manche Sorten dieser Teilchen miteinander verbinden und einen neuen Stoff bilden. Damit war die antike Hypothese von den Atomen neu belebt, aber natürlich noch nicht bewiesen.

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In der Folgezeit fragte man sich, ob diese Hypothese einfache Erklärungen für bestimmte ex-perimentelle Beobachtungen liefern könnte. Einer der ersten, der diese Hypothese in der Mitte des 18. Jh. aufgriff, war der Basler Gelehrte Daniel Bernoulli. Er nahm an, dass die Luft aus kleinsten Korpuskeln besteht, die im Gefäß herumsausen, und der Druck im Gefäß durch das Aufprallen auf die Wände entsteht. Nimmt man dann noch an, dass die Geschwindigkeit die-ser Teilchen steigt, wenn das Gas eine höhere Temperatur besitzt, kann man zwanglos erklä-ren, dass der Druck bei Temperaturerhöhung zunimmt. Damit war 1738 eine Erklärung der Boyleschen Gasgesetze durch Eigenschaften der kleinsten Bausteine des Gases gegeben.

Dieses Vorgehen ist typisch für das Gebiet der Atomphysik. Atome kann man nicht sehen. Man muss daher ihre Existenz und ihre Eigenschaften mit indirekten Methoden erschließen. D.h. man stellt Hypothesen auf, so wie Boyle das tat, und prüft, ob die Annahmen über die Eigenschaften der unsichtbaren Teilchen zu Ergebnissen führen, die mit Experimenten über-einstimmen.

Die Atome der Chemiker

Wichtig für die weitere Entwicklung der Atomhypothese waren Ergebnisse, die man der Chemie zurechnen muss. Wenn zwei Elemente miteinander reagieren, um eine Verbindung zu bilden, bleibt von den Ausgangssubstanzen nur dann nichts übrig, wenn die Mengenverhält-nisse „richtig“ gewählt werden. So kann sich Zinn auf genau zwei Arten mit Sauerstoff ver-binden: 100 g Zinn verbinden sich mit 13,5 g Sauerstoff zu Zinnoxid oder mit 27 g Sauerstoff (also der doppelten Menge) zu Zinndioxid. Wählt man die Ausgangsstoffe in anderen Ge-wichtsverhältnissen, bleibt von einem von ihnen ein Rest übrig.

Dieses Ergebnis lässt sich so erklären, dass 100 g Zinn aus einer gewissen (unbekannten) An-zahl von Zinnatomen und 13,5 g Sauerstoff aus der gleichen Anzahl von Sauerstoffatomen bestehen. Jedes Zinn-Atom verbindet sich dann genau mit einem Sauerstoffatom zu einem Zinnoxid–Molekül. Im zweiten Fall, der doppelten Menge Sauerstoff, verbindet sich jedes Zinn-Atom mit genau zwei Sauerstoffatomen. Man erkennt weiter: wenn sich 100 g Zinn mit 13,5 g Sauerstoff verbinden und in dem entstehenden Zinnoxid jeweils ein Zinn-Atom mit einem Sauerstoffatom verbunden ist, müssen 100 g Zinn gleich viele Atome enthalten wie 13,5 g Sauerstoff. Das bedeutet aber, dass ein Zinn-Atom deutlich schwerer ist, als ein Sauer-stoffatom. D.h. Atome verschiedener Elemente unterscheiden sich durch ihre Masse. Auf die-se Weise konnte man die seinerzeit bekannten Elemente nach ihren Massen ordnen. Als leich-testes Element fand man Wasserstoff. Setzt man dessen Masse gleich Eins, erhält man z.B. für Sauerstoff die Masse 16. Das schwerste natürlich vorkommende Element ist Uran; es ist 238mal schwerer als ein Wasserstoffatom.

Die Atome der Physiker

Durch die Untersuchungen einer Vielzahl von Reaktionen hatten die Chemiker im Laufe des 19.Jh. den Atombegriff weitgehend etabliert. In der Physik war jedoch die Existenz von Ato-men nach wie vor umstritten; angesehene Gelehrte wie Mach und Ostwald lehnten sie ab. Das entscheidende Experiment, das die Physiker überzeugte, wurde erst im ersten Jahrzehnt des 20. Jh. ausgeführt, also vor gut 100 Jahren.

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Worum handelte es sich? Der englische Botaniker Robert Brown hatte 1827 über Beobach-tungen berichtet, bei denen er Pflanzenpollen in Wasser unter einem Mikroskop untersuchte. Er beobachtete eine sog. Zitterbewegung oder einen Zufallsweg. Was man darunter versteht, kann durch folgendes Modell illustriert werden: Eine völlig orientierungslose Person bewegt sich auf einem großen Platz, in dem sie während einer gewissen Zeit in eine Richtung läuft, dann stehen bleibt, um danach in eine andere zufällig gewählte Richtung weiterzulaufen, usw.

 

Abbildung  2  Drei  Beispiele  für  Zufallswege.  

Das Resultat ist in Abb. 2 dargestellt. Die von Brown gemachten Beobachtungen waren wäh-rend der nächsten fast 80 Jahre nicht erklärbar bis sich 1905 Einstein damit beschäftigte. Er nahm an, dass das Wasser, in dem sich die im Mikroskop sichtbaren Pollenbestandteile so unregelmäßig bewegen, eine riesige Ansammlung von Wassermolekülen ist. Sie bewegen sich so ungefähr wie die Gas-Atome der Luft; da aber Wasser viel dichter als Luft ist, stoßen die Wassermoleküle dauernd gegeneinander, aber auch gegen die im Wasser vorhandenen Pollen. Letztere sind viel größer als die Wassermoleküle, denn sie sind im Lichtmikroskop zu sehen, während es die Wassermoleküle nicht sind. Mal stoßen mehr Moleküle von links als von rechts, mal mehr von unten als von oben, und im nächsten Moment ist es vielleicht um-gekehrt. Das ist etwa so, als ob sich ein großer Ball von 3 m Durchmesser gerade oberhalb einer dichten Menschenmenge befindet und jeder versucht, den Ball mit der Faust zu stoßen. Einstein berechnete, ausgehend von diesem Modell, wie sich ein Teilchen, das noch im Mik-roskop zu sehen ist, unter dem Einfluss der sehr vielen Stöße durch die Wassermoleküle be-wegen sollte. Diese Vorhersagen wurden sehr bald durch den Franzosen Jean Perrin experi-mentell vollständig bestätigt. Die in Abb. 2 gezeigten Positionen von mikroskopischen Teil-chen stammen aus seiner Publikation. Auch an diesem Beispiel erkennt man die für die Welt der Atome typische Vorgehensweise: man kann die Atome nicht sehen und muss daher auf ihre Existenz und ihre Eigenschaften durch indirekte Effekte schliessen.

Radioaktivität: Atome sind teilbar

Mit der Analyse der Brownschen Bewegung war die Atom-Hypothese in der Physik akzep-tiert. Aber die Vorstellung, dass die Atome die unteilbaren (a-tomos) Bausteine der Materie

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sind, war kurz vorher widerlegt worden. Der Franzose Becquerel hatte 1896 gefunden, dass Uransalze auf Fotoplatten zu Schwärzungen führen; die Radioaktivität war entdeckt worden. Er und Marie und Pierre Curie zeigten, dass aus Uransalzen neue Teilchen und elektromagne-tische Strahlung austreten, die berühmten α-, β- und γ-Strahlen (s. Abb.3). Damit waren Ato-me doch teilbar, sie waren nicht mehr die elementaren Teilchen; es war ein Meilenstein der Atomphysik, der bereits 1903 durch Nobelpreise an die drei Wissenschaftler anerkannt wurde. Es stellte sich bald heraus, dass die α-Strahlen massive Partikel sind, viermal schwerer als ein Wasserstoffatom. D.h. Uranatome können spontan, ohne äußere Einwirkung, zerfallen. Die β- Strahlen waren Elektronen, die kurz davor auf ganz andere Weise entdeckt worden waren. Ihre Masse ist etwa 2000fach kleiner als die eines Wasserstoffatoms, und sie sind elektrisch geladen. Da die Atome als Ganzes elektrisch neutral sind, müssen die elektrisch negativ gela-denen Elektronen durch positive Ladungen im Atom kompensiert werden.

 

Abbildung  3  Die  aus  dem  radioaktiven  Präparat  austretenden  Strahlen  verhalten  sich  in  einem  Magnetfeld,  das  senkrecht  zur  Bildebene  gerichtet   ist,  verschieden.  α-­‐Strahlen  und  β-­‐Strahlen  werden   in  entgegengesetzte  Richtungen  abgelenkt,  woraus  man  schliesst,  das  α-­‐Teilchen  und  β-­‐Teilchen  entgegengesetzte  Ladungen  tragen.  

Wie sind die Ladungen in den Atomen verteilt? Zur Beantwortung dieser Frage wie auch vie-len späteren aus der Kern- und Hochenergiephysik dienten und dienen Streuexperimente. D.h. man schießt mit einer bekannten Sorte von Teilchen auf das zu untersuchende Objekt und schaut sich an, was mit den Geschossen passiert. Dazu ein Vergleich: Wenn man mit einem Gewehr auf einen Kirschbaum und anschließend auf einen Apfelbaum schießt, und wenn auf beiden Bäumen gleich viele Früchte hängen, wird man mehr Äpfel als Kirschen treffen, weil Äpfel größer als Kirschen sind. Wären die Früchte Stahlkugeln, würden hinter dem Apfel-baum weniger Geschosse einfach geradeaus fliegen. D.h. man lernt aus der Analyse der Ge-schoßbahnen etwas über die Größe und andere Eigenschaften der beschossenen Objekte.

Um 1910 wurde diese Streumethode von Rutherford angewendet, um Aufschlüsse über die Struktur der Atome zu finden. Er schoss α-Teilchen auf Gold- und Platin- Folien und unter-suchte, wie sie durch die Folie gestreut werden. In Metallen wie Gold und Platin sind die Atome dicht gepackt, und die Folien hatten eine Dicke von ca. 1000 Atomen. Das Ergebnis der Experimente war sehr überraschend: Nur ca. ein α-Teilchen von 100 000 wurde von einer geraden Bahn durch die Folien abgelenkt. Daraus musste man schließen, dass das Innere eines Atoms extrem leer ist. Die genaue Analyse der Ablenkungen der relativ wenigen von der Ge-

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radeausbahn abweichenden Teilchen ergab, das 99,9% der Masse im Atom in einem sehr kleinen sog. Atomkern konzentriert ist. Dazu ein Größenvergleich: Wäre ein Atom so groß wie ein Fußballstadion, wäre der Atomkern eine 1 cm dicke Kugel am Mittelpunkt des Spiel-feldes. Es zeigte sich weiter, dass dieser winzige Kern Träger der positiven Ladung ist, und die Größe dieser Ladung konnte aus den Streuexperimenten bestimmt werden. So ist z.B. ein Kohlenstoffatom 12mal schwerer als ein Wasserstoffatom. Der Kern wird von 6 Elektronen umgeben. In dem Analogbild des Fussballstadions schwirren also die 6 Elektonen irgendwo im Stadion um den zentimetergrossen Kern im Mittelpunkt. Bei den schweren Elementen gibt es zwar mehr Elektronen, aber die Atome sind immer noch extrem leer. So ist ein Goldatom 197mal schwerer als das Wasserstoffatom, und die Zahl der Elektronen beträgt 79. Die Elekt-ronen sind vermutlich punktförmig. Später stellte man experimentell fest, dass sie nicht grös-ser als der milliardste Teil eines milliardstel Meters sein können.

Vor gut 100 Jahren waren also die Atome nicht mehr die „elementaren“ Teilchen. Nach da-maliger Kenntnis bestanden sie aus dem winzigen positiv geladenen Kern und den diesen Kern umgebenden Elektronen, die im Modell des Fußballstadions bis auf die oberen Zuschau-erränge verteilt sind. Auch die Kerne konnten nicht als „elementar“ angesehen werden, denn die Radioaktivität hatte ja gezeigt, dass massive Teilchen, die α-Strahlen, ausgesendet werden können. Und die mussten aus dem Kern kommen, da dort praktisch die gesamte Masse verei-nigt ist.

Der Teilchenzoo und sein Ordnungsprinzip

Die α-Teilchen, die beim radioaktiven Zerfall auftreten, sind die Kerne von Helium-Atomen. Helium ist das zweitleichteste Element. Wie erwähnt, ist Wasserstoff das leichteste Atom; sein Kern ist ein einfach-positiv geladenes Teilchen, das sog. Proton, das von einem negativ geladenen Elektron umgeben ist. Der Helium-Kern ist vierfach schwerer als das Proton. Die-ser Kern besteht jedoch nicht aus vier Protonen, sondern nur aus zwei und zusätzlich aus zwei Neutronen. Wie der Name sagt, sind diese Teilchen neutral; sie wurden nach 1930 entdeckt und sind praktisch gleich schwer wie die Protonen.

Damit gab es in den 30er Jahren einen recht befriedigenden Abschluss der Kernphysik. Die Atome waren aufgebaut aus dem Kern und die den Kern in relativ großer Entfernung umge-benden Elektronen. Der Kern selbst besteht aus Protonen und Neutronen. Dazu kannte man aus der Höhenstrahlung noch eine Teilchensorte, die man als µ-Mesonen oder Müonen be-zeichnete. Diese Situation hielt nicht lange an, denn man fand insbesondere durch Experimen-te mit Teilchenbeschleunigern, in denen Teilchen mit sehr hohen Energien auf andere ge-schossen werden, neue Teilchen. Es entstand so ein regelrechter „Teilchenzoo“, und es ergab sich die naheliegende Frage, ob all diese Teilchen elementar sind. Ist die Natur wirklich so kompliziert aufgebaut, dass man zu ihrer Beschreibung so viele elementare Teilchen benötigt? In den 60er Jahren suchte man Ordnung in den Zoo zu bringen, in dem man hypothetisch an-nahm, dass es ein paar wenige wirklich elementare Teilchen gibt, aus denen die vielen be-kannten Teilchen aufgebaut sind. Auch Proton und Neutron sollten verschiedene Kombinatio-nen dieser hypothetischen Bausteine sein.

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Einige Jahre später war es dann tatsächlich möglich, experimentell zu zeigen, dass Proton und Neutron, also die Bestandteile der Atomkerne, aus noch kleineren Teilchen zusammengesetzt sind, den sog. Quarks. Diese Forschungen sind Gegenstand der sog. Hochenergiephysik, die den Einsatz großer Geräte erfordert, von denen im nächsten Vortrag die Rede sein wird. Es geht hier nicht darum, die Hochenergie- oder Elementarteilchenphysik darzustellen; dazu braucht man einige Semester eines ernsthaften Physikstudiums. Vielmehr ging es darum zu zeigen, welche Wege die Idee einer aus kleinsten, nicht weiter teilbaren Bausteinen aufgebau-te Materie durch 2500 Jahre hindurch genommen hat.

Die Beschränkung der Naturlehre auf das sinnlich Erfassbare

Im Rückblick auf die Geschichte des Atombegriffs sind einige der damaligen Hypothesen zu bestaunen, denn sie sind überraschend modern. Ebenso bestaunen muss man die Tatsache, dass ein so umfassendes materialistisches Weltbild wie jenes der Epikureer auf der Basis nicht überprüfter Hypothesen formuliert werden konnte. Das war in anderen Gebieten der Naturleh-re nicht so: Bei der Beschreibung der Planetenbewegungen in einem erdzentrierten Kosmos war die antike Astronomie durchaus in der Lage, auf der Basis von Hypothesen mit Hilfe ma-thematischer Methoden Vorhersagen über Planetenpositionen mit beachtlicher Präzision zu machen. Dieser Unterschied zwischen antiker Astronomie und antikem Atomismus lag wohl daran, dass Sterne einfach zu beobachten sind, nicht jedoch die Atome.

Die Bedeutung der Notwendigkeit, Hypothesen empirisch zu überprüfen entwickelte sich erst in der frühen Neuzeit, als Glauben und Wissen sich voneinander zu trennen begannen. Die Naturphilosophie löste sich von anderen Disziplinen der Philosophie, bei denen die Überprü-fung von Hypothesen durch experimentelle Untersuchungen nicht in gleicher Weise wie in den Naturwissenschaften möglich ist. Seit dieser Zeit gilt das Experiment als Entscheidung über die Richtigkeit einer Hypothese. Sie dient, in der Regel unter Anwendung mathemati-scher Methoden, zur planvollen Durchführung von Experimenten, indem sie Vorhersagen für deren Resultate macht. Findet man Übereinstimmung, wird der Hypothese Wahrheitsgehalt zugeschrieben; andernfalls wird sie verworfen. Erst die Beschreibung vieler Daten auf der Basis einer Hypothese ist Wissenschaft; die Daten für sich sind es nicht, und die Hypothesen ohne experimentelle Bestätigung ebenfalls nicht. Der Mathematiker und Physiker Henri Poin-caré hat diese Sicht vor gut 100 Jahren so formuliert: Wissenschaft ist aus Tatsachen gebaut wie ein Haus aus Steinen. Aber die Sammlung von Tatsachen ist genau so wenig Wissen-schaft wie ein Haufen Steine ein Haus ist. Dieses Selbstverständnis der Physik zeigt deutlich die Grenzen der Naturwissenschaften: Ihre Gegenstände sind das mit den Sinnen Erfassbare; über das Transzendente macht sie keine Aussagen. Damit ist die moderne Physik, was den Gültigkeitsbereich ihrer Aussagen betrifft, weniger anspruchsvoll als die Lehre der Epikureer.