1
Tages-Anzeiger – Montag, 19. April 2010 29 Kultur & Gesellschaft The Cleanest Race Von Brian R. Myers. Melville House, Brooklyn 2010. 208 S., ca. 20 Fr. Mihaela Ursuleasa nimmt die Musik ins Visier, schleicht sich an und packt blitzschnell zu. Foto: PD Eine Katze hinter den Tasten Die Pianistin Mihaela Ursuleasa gehört zu den originellsten Musikerinnen ihrer Generation. Am kommenden Mittwoch spielt und spricht sie in Zürich. und mit Alberto Ginasteras Sonate Nr. 1 ein Werk, das erst allmählich den Weg ins Repertoire findet. Ich habe keine Angst vor Vergleichen, scheint sie mit dieser Auswahl zu sagen, aber ich spiele trotzdem, was ich will. Während sich etwa ein Martin Stadtfeld aus Prinzip nur die ganz berühmte Klavierliteratur vornimmt und sich andere junge Musi- ker bewusst eine Nische suchen, mag sie sich kein anderes Image zulegen als das einer quicklebendigen Pianistin. Darin ähnelt sie ein wenig der Geige- rin Patricia Kopatchinskaja, oder der Cellistin Sol Gabetta. Mit beiden spielt sie zusammen, im Duo oder auch im Trio. Dass alle drei leidenschaftlich gern ko- chen, mag ein Zufall sein – und sagt doch etwas aus über die Art, wie sie ihr Leben und die Kunst anpacken und geniessen. Bei Ursuleasa, deren Eltern in Kneipen auftraten, gehörten Musik, Essen und Trinken schon immer zusammen. Wie vertraut ihr die Stimmungen und Klänge ihrer Kindheit geblieben sind, zeigt sie im letzten Stück ihrer CD. «Veloce, quasi una toccata» ist der dritte Satz aus Paul Constantinescus Suite überschrieben, er klingt mal nach Prokofjew, mal nach Ro- ma-Musik, und Ursuleasa spielt ihn un- heimlich schnell und unheimlich sinn- lich. Mehr davon, denkt man. Und mehr davon – nämlich alle drei Sätze dieser Suite – gibt es bei ihrem Zürcher Auftritt. Soirée classique im Zürcher Kaufleuten, Mi, 21. April, 20 Uhr. Im Anschluss an die Musik (Werke von Schubert und Constantinescu) spricht TA-Redakto- rin Susanne Kübler mit der Pianistin. Mihaela Ursuleasa: Piano & Forte (Berlin Classics). Von Susanne Kübler Am Anfang war der Drill. Mihaela Ursu- leasa, geboren 1978 im rumänischen Brasov, Tochter eines Roma-Jazzpianis- ten und einer musikalischen moldawi- schen Mutter, war ein Wunderkind. Und sie hatte eine Lehrerin, die Klavierspie- len als Leistungssport verstand. Erklärt wurde nichts, wie Ursuleasa einmal sagte: «Sie sagte nur: Spiel so!» Acht bis zehn Stunden am Tag verbrachte die kleine Mihaela am Klavier, schon früh begann sie mit Konzertreisen. Es war die Mutter, die merkte, dass diese Ausbildung nicht das Richtige war für ihre Tochter. Und dazu kam Claudio Abbado, der dem damals zwölfjährigen Mädchen riet, die Wunderkind-Karriere abzubrechen und ganz normal Klavier zu studieren. Mihaela Ursuleasa tat es in Wien, wo sie seither lebt. Und fing an, sich mit dem Thema Interpretation aus- einanderzusetzen. Eigene Sicht aufs Werk Inzwischen klingt ihr Spiel nach vielem – nur nicht nach Drill. Der hat vielleicht noch gewisse Nachwirkungen, etwa in der phänomenalen Technik. Ursuleasa kann mit den Tönen machen, was sie will, und so schnell sie will. Aber sie nutzt diese Fähigkeit nicht für eine Vir- tuosen-Show, sondern um ihre eigene und oft auch eigenwillige Sicht auf die Werke zu vermitteln. In Konzerten hat sie damit schon seit längerem Furore gemacht, nun hat sie ihre Debüt-CD herausgebracht – und darauf vieles von der Vitalität ihrer Live- auftritte konservieren können. Gera- dezu gespenstisch wirken etwa die Uni- sono-Passagen in Brahms’ Intermezzo op. 117/3, wobei man kaum auf Anhieb sagen könnte, warum. Vielleicht, weil aus den Tönen immer auch die Haltung klingt, mit der sie gespielt werden. Etwas Katzenartiges hat dieses Spiel; Ursuleasa nimmt die Musik ins Visier, schleicht sich an, packt blitzschnell zu. Ein enormer Gestaltungswille steckt in diesen Interpretationen, und noch vor ein paar Jahren hat er mitunter dazu geführt, dass vor lauter spannender De- tails ein Werk als Ganzes in den Hinter- grund rückte. Inzwischen hat Ursuleasa neben der Nah- auch die Übersicht über ihr Repertoire. Über Beethovens «32 Va- riationen» WoO 80 etwa, in denen sie nicht nur die atmosphärischen Extreme erkundet, sondern auch eine Geschichte erzählt dabei. Mit Ravels «Gaspard de la nuit» erreicht Ursuleasa dann einen wei- teren Meilenstein der Klavierliteratur – Nachrichten Offene Tür Zürcher Kunsthaus verzeichnet 5000 Eintritte Der Tag der offenen Tür, den das Zür- cher Kunsthaus aus Anlass seines 100. Geburtstags am vergangenen Samstag durchgeführt hat, war ein voller Erfolg. 5000 Besucher und Besucherinnen wollten einen Blick hinter die Kulissen werfen. Führungen, musikalische Dar- bietungen, Diskussionen und Kurzfilme erlaubten eine Auseinandersetzung mit der Geschichte und der Zukunft des Hauses und der Sammlung. (TA) Gestorben Sotigui Kouyaté ist in Paris gestorben Der aus vielen Produktionen mit Peter Brook bekannt gewordene, in der Schweiz lebende malische Schauspieler Sotigui Kouyaté ist am Samstag in Paris im Alter von 74 Jahren gestorben. Im Vorjahr war er bei der 59. Berlinale für seine Rolle in dem Drama «London Ri- ver» mit einem Silbernen Bären als bes- ter Darsteller geehrt worden. Kouyaté, der in den vergangenen Jahren in der Schweiz und in Frankreich lebte, hatte zunächst eine professionelle Fussballer- karriere eingeschlagen und erst danach für Theater und Film als Schauspieler gearbeitet. In Peter Brooks Produktio- nen spielte er etwa in «Mahabharata», «Der Sturm», «Qui est là», «Antigone», «Hamlet» oder «Tierno Bokar». Dane- ben drehte er Filme wie «IP5» von Jean- Jacques Beineix. (SDA) Die Mär vom kindlichen Volk in der Sowjetunion und in China habe die Propaganda den Diktator nie mit dem Lebensstandard verknüpft. In der Sowjetunion lebten die Men- schen in Parallel-Realitäten. Am Arbeits- platz gaben sie sich linientreu, am Kü- chentisch distanzierten sie sich vom Re- gime. In Nordkorea existiere diese Tren- nung nicht, meint Myers. Und macht des- halb keinen Unterschied zwischen der Propaganda und dem Denken der Leute. Er glaubt auch nicht, dass Bluejeans wie in Ostmitteleuropa das Regime schwä- chen könnten. Selbst das faschistische Japan sei wild auf Hollywood-Filme ge- wesen. Andrerseits versuchen christli- che Gruppen, den Norden zu infiltrie- ren. Und wir wissen nicht, wie sehr der Zwang zur ökonomischen Eigeninitia- tive heute die Propaganda erschüttert. Myers verzichtet auf Szenarien, wie sich die reinste Rasse der Welt verhal- ten würde, wenn das Regime kollabiert. Vernunft sei im paranoiden Nationalis- mus nicht vorgesehen. Gefeiert würden dagegen die rohen rassischen Instinkte. Regime helfen, eine Rebellion zu ver- hindern. Gegen Mütter lehne man sich viel weniger auf. Nordkorea wird oft als letzte Bastion des Stalinismus bezeichnet. Das ist ab- surd. Nach innen operierte die Propa- ganda nie mit dem Marxismus-Leninis- mus, sie appellierte stets an die Rassen- reinheit. Keine Schrift Kim Il-sungs ver- rate die geringste Ahnung von Marxis- mus, stellt Myers fest. Bräute aus Südostasien Moderater bediente sich einst auch Süd- koreas Militärdiktatur des koreanischen Rassismus, der im Süden durchaus wei- terschwelt – und zuweilen sogar eine Klammer zwischen den beiden Koreas bildet. Myers berichtet vom Pausenge- spräch zweier Generäle während inner- koreanischer Verhandlungen im Mai 2006. Der Nordkoreaner hatte gehört, im Süden würden viele Bauern Bräute aus Südostasien heiraten. Er war ent- setzt, weil die koreanische Rasse da- durch ihre einmalige Reinheit verliere. Sein Kollege aus dem Süden winkte ab, das sei nur ein Tropfen Tinte im Han- Fluss. Worauf der Nordkoreaner ent- gegnete, angesichts der überragenden Schönheit des Landes dürfe man nicht einmal einen Tropfen erlauben. Nordkorea ist vermutlich isolierter als alle anderen Staaten. Dennoch wis- sen heute auch die Nordkoreaner, dass es ihren Vettern im Süden wirtschaft- lich besser geht. Das gefährde die Dikta- tur indes nicht, glaubt Myers. Anders als ten, er ist ein parareligiöser Mythos. Wie der Kaiserkult in Japan. Nordkoreaner sind nach ihrer Propa- ganda denn auch nicht intellektuell oder physisch überlegen, sondern moralisch: Tugendhaft geboren, seien sie eine reine Kinderrasse, unverdor- ben von Buddhismus, Konfuzianismus, Christentum und Schamanismus. Myers nennt das auch Staatsinfantilismus. Die- ses natürliche Volk, unschuldig und ver- letzlich wie Kinder, möchte in der bö- sen Welt nur für sich in Frieden leben, stattdessen wird es ständig von aussen beleidigt, bedroht und verletzt, vor allem von den Amerikanern. So recht- fertigt das Regime die Isolation. Der 1994 verstorbene Kim Il-sung wurde auch nie als übermännliche Vaterfigur dargestellt, wie etwa Stalin, sein Sohn Kim Jong-il schon gar nicht. Die Propaganda macht beide bis heute zu mütterlichen, fast hermaphroditen Elternfiguren, gerade männlich genug, damit sie ihr kindliches Volk glaubwür- dig zu schützen vermögen, schreibt My- ers, aber so mütterlich, dass sie es sym- bolisch nähren können. Auf vielen Bil- dern halten die Kims ein Kind oder so- gar einen Soldaten an ihre Brust, oft im Schnee, ein zusätzliches Symbol für Reinheit. Anders als Stalin oder Mao werden die Kims auch nie als Asketen oder grosse Geister gezeigt. Dass die Propaganda den verstorbenen Grossen Führer (Kim Il-sung) und heute den ge- liebten Führer (Kim Jong-il) nie als Väter dargestellt hat, dürfte, so Myers, dem Der amerikanische Professor Brian R. Myers geht in «The Cleanest Race» hart mit dem Selbstbild Nordkoreas ins Gericht. Von Christoph Neidhart Die Nordkoreaner halten sich für die reinste Rasse der Welt, dies sei ihre Ideo- logie, nicht der Marxismus. Gelernt hätten sie das völkische Denken von den Japanern, ihren Kolonialherren. Auch Nippon habe seine Überlegenheit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ras- sisch begründet. Dies schreibt Brian R. Myers, Professor für International Stu- dies im südkoreanischen Busan, in sei- nem neuen Buch «The Cleanest Race». Parareligiöser Mythos Die Japaner erklärten das koreanische Volk nach einem Aufstand 1919 kurzer- hand zur Parallel-Rasse, die vom selben Urahnen abstamme wie sie selbst. Nord- korea hat dieses japanische Rasse-Kon- zept nach seiner Befreiung 1945 beibe- halten, es warf bloss die Japaner aus der gemeinsamen Rasse hinaus. An die Stelle von Kaiser Hirohito, der gütigen Elternfigur, rückte der Diktator Kim Il-sung, der Nordkorea von 1948 bis 1994 regierte. Und nach seinem Tod 1994 sein Sohn Kim Jong-il, der heutige Diktator. Der Personenkult um ihn behauptet keine übertriebenen Realitä- ten, etwa übermenschliche Fähigkei- Elektrokunst aus China In Biel zeigen Künstler aus China und der Schweiz derzeit ihre Reflexionen über die elektronische Welt. Von Paulina Szczesniak Chinesische Computerhacker, so heisst es, sind momentan die besten der Welt. Scheinbar mühelos knacken sie die Netze fremder Regierungen, und sogar die Rechner von Barack Obama und dem Dalai Lama sind nicht vor ihnen sicher. Vor diesem Hintergrund scheint es durchaus sinnvoll, dass man hierzu- lande das Know-how der Elektronik- experten aus dem Land des Lächelns anzapfen will. Der Grund, warum im Bieler Centre Pasquart derzeit Elektrokunst aus China bewundert werden kann, ist jedoch ein anderer: Als Teil der Ausstellung Time- lapse, welche im Rahmen des von Pro Helvetia lancierten Kulturaustausch- projektes «Swiss Chinese Cultural Explo- rations» zustande gekommen ist, wer- den die Werke vergleichbaren hiesigen Kreationen zur Seite gestellt. Die Festplatte lebt Aufgrund der Tatsache, dass ein schwei- zerisch-chinesischer Dialog nicht nur einer zwischen zwei Kontinenten, son- dern immer auch einer zwischen ver- schiedenen Zeitzonen ist, untersuchen die beteiligten Künstler die Eigenheiten der einzig möglichen gemeinsamen Schnittstelle: der elektronischen Welt. Jin Jiangbo etwa illustriert den Kollaps des menschlichen Gehirnes angesichts des endlosen medialen Informations- flusses, indem er eine lebensgrosse Wachsfigur vor unzähligen Computer- bildschirmen erschöpft zusammenbre- chen lässt. Die Grenzen des elektronischen Gedächtnisses hingegen lotet Valentina Vuksic aus: Indem sie kaputte Compu- terfestplatten ans Stromnetz an- schliesst, verhilft sie diesen gewisser- massen zu neuem Leben, welches sich in ruckartigen, von der individuellen Geschichte der Festplatte abhängigen Bewegungsmustern niederschlägt. Die dabei erzeugten Geräusche wiederum mischt sie zu eigenwilligen Audiokom- positionen und erzeugt so gleichsam ein maschinelles Requiem. Mit Beiträgen, deren oftmals komplexer theoretischer Hintergrund in nicht unerheblichem Masse zum Werkverständnis beiträgt, ist Timelapse eine anspruchsvolle, aber lohnende Schau – mit völkerverbinden- dem Bonus. Bis 30. Mai

Eine Katze hinter den Tasten - soireeclassique.ch · una toccata» ist der dritte Satz aus Paul Constantinescus Suite überschrieben, er klingt mal nach Prokofjew, mal nach Ro-ma-Musik,

  • Upload
    others

  • View
    3

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Eine Katze hinter den Tasten - soireeclassique.ch · una toccata» ist der dritte Satz aus Paul Constantinescus Suite überschrieben, er klingt mal nach Prokofjew, mal nach Ro-ma-Musik,

Tages-Anzeiger – Montag, 19. April 2010 29

Kultur & Gesellschaft

The Cleanest RaceVon Brian R. Myers.Melville House,Brooklyn 2010.

208 S., ca. 20 Fr.

Mihaela Ursuleasa nimmt die Musik ins Visier, schleicht sich an und packt blitzschnell zu. Foto: PD

Eine Katze hinter den TastenDie Pianistin Mihaela Ursuleasa gehört zu den originellsten Musikerinnen ihrer Generation.

Am kommenden Mittwoch spielt und spricht sie in Zürich.

und mit Alberto Ginasteras Sonate Nr. 1ein Werk, das erst allmählich den Wegins Repertoire findet. Ich habe keineAngst vor Vergleichen, scheint sie mitdieser Auswahl zu sagen, aber ich spieletrotzdem, was ich will. Während sichetwa ein Martin Stadtfeld aus Prinzipnur die ganz berühmte Klavierliteraturvornimmt und sich andere junge Musi-ker bewusst eine Nische suchen, mag siesich kein anderes Image zulegen als daseiner quicklebendigen Pianistin.

Darin ähnelt sie ein wenig der Geige-rin Patricia Kopatchinskaja, oder der

Cellistin Sol Gabetta. Mit beiden spielt siezusammen, im Duo oder auch im Trio.Dass alle drei leidenschaftlich gern ko-chen, mag ein Zufall sein – und sagt dochetwas aus über die Art, wie sie ihr Lebenund die Kunst anpacken und geniessen.Bei Ursuleasa, deren Eltern in Kneipenauftraten, gehörten Musik, Essen undTrinken schon immer zusammen. Wievertraut ihr die Stimmungen und Klängeihrer Kindheit geblieben sind, zeigt sieim letzten Stück ihrer CD. «Veloce, quasiuna toccata» ist der dritte Satz aus PaulConstantinescus Suite überschrieben, er

klingt mal nach Prokofjew, mal nach Ro-ma-Musik, und Ursuleasa spielt ihn un-heimlich schnell und unheimlich sinn-lich. Mehr davon, denkt man. Und mehrdavon – nämlich alle drei Sätze dieserSuite – gibt es bei ihrem Zürcher Auftritt.

Soirée classique im Zürcher Kaufleuten,Mi, 21. April, 20 Uhr. Im Anschluss andie Musik (Werke von Schubert undConstantinescu) spricht TA-Redakto-rin Susanne Kübler mit der Pianistin.Mihaela Ursuleasa: Piano & Forte(Berlin Classics).

Von Susanne KüblerAm Anfang war der Drill. Mihaela Ursu-leasa, geboren 1978 im rumänischenBrasov, Tochter eines Roma-Jazzpianis-ten und einer musikalischen moldawi-schen Mutter, war ein Wunderkind. Undsie hatte eine Lehrerin, die Klavierspie-len als Leistungssport verstand. Erklärtwurde nichts, wie Ursuleasa einmalsagte: «Sie sagte nur: Spiel so!» Acht biszehn Stunden am Tag verbrachte diekleine Mihaela am Klavier, schon frühbegann sie mit Konzertreisen.

Es war die Mutter, die merkte, dassdiese Ausbildung nicht das Richtige warfür ihre Tochter. Und dazu kam ClaudioAbbado, der dem damals zwölfjährigenMädchen riet, die Wunderkind-Karriereabzubrechen und ganz normal Klavierzu studieren. Mihaela Ursuleasa tat es inWien, wo sie seither lebt. Und fing an,sich mit dem Thema Interpretation aus-einanderzusetzen.

Eigene Sicht aufs WerkInzwischen klingt ihr Spiel nach vielem– nur nicht nach Drill. Der hat vielleichtnoch gewisse Nachwirkungen, etwa inder phänomenalen Technik. Ursuleasakann mit den Tönen machen, was siewill, und so schnell sie will. Aber sienutzt diese Fähigkeit nicht für eine Vir-tuosen-Show, sondern um ihre eigeneund oft auch eigenwillige Sicht auf dieWerke zu vermitteln.

In Konzerten hat sie damit schon seitlängerem Furore gemacht, nun hat sieihre Debüt-CD herausgebracht – unddarauf vieles von der Vitalität ihrer Live-auftritte konservieren können. Gera-dezu gespenstisch wirken etwa die Uni-sono-Passagen in Brahms’ Intermezzoop. 117/3, wobei man kaum auf Anhiebsagen könnte, warum. Vielleicht, weilaus den Tönen immer auch die Haltungklingt, mit der sie gespielt werden. EtwasKatzenartiges hat dieses Spiel; Ursuleasanimmt die Musik ins Visier, schleicht sichan, packt blitzschnell zu.

Ein enormer Gestaltungswille stecktin diesen Interpretationen, und nochvor ein paar Jahren hat er mitunter dazugeführt, dass vor lauter spannender De-tails ein Werk als Ganzes in den Hinter-grund rückte. Inzwischen hat Ursuleasaneben der Nah- auch die Übersicht überihr Repertoire. Über Beethovens «32 Va-riationen» WoO 80 etwa, in denen sienicht nur die atmosphärischen Extremeerkundet, sondern auch eine Geschichteerzählt dabei. Mit Ravels «Gaspard de lanuit» erreicht Ursuleasa dann einen wei-teren Meilenstein der Klavierliteratur –

Nachrichten

Offene Tür

Zürcher Kunsthausverzeichnet 5000 Eintritte

Der Tag der offenen Tür, den das Zür-cher Kunsthaus aus Anlass seines 100.Geburtstags am vergangenen Samstagdurchgeführt hat, war ein voller Erfolg.5000 Besucher und Besucherinnenwollten einen Blick hinter die Kulissenwerfen. Führungen, musikalische Dar-bietungen, Diskussionen und Kurzfilmeerlaubten eine Auseinandersetzung mitder Geschichte und der Zukunft desHauses und der Sammlung. (TA)

Gestorben

Sotigui Kouyaté ist in Parisgestorben

Der aus vielen Produktionen mit PeterBrook bekannt gewordene, in derSchweiz lebende malische SchauspielerSotigui Kouyaté ist am Samstag in Parisim Alter von 74 Jahren gestorben. ImVorjahr war er bei der 59. Berlinale fürseine Rolle in dem Drama «London Ri-ver» mit einem Silbernen Bären als bes-ter Darsteller geehrt worden. Kouyaté,der in den vergangenen Jahren in derSchweiz und in Frankreich lebte, hattezunächst eine professionelle Fussballer-karriere eingeschlagen und erst danachfür Theater und Film als Schauspielergearbeitet. In Peter Brooks Produktio-nen spielte er etwa in «Mahabharata»,«Der Sturm», «Qui est là», «Antigone»,«Hamlet» oder «Tierno Bokar». Dane-ben drehte er Filme wie «IP5» von Jean-Jacques Beineix. (SDA)

Die Mär vom kindlichen Volk

in der Sowjetunion und in China habedie Propaganda den Diktator nie mitdem Lebensstandard verknüpft.

In der Sowjetunion lebten die Men-schen in Parallel-Realitäten. Am Arbeits-platz gaben sie sich linientreu, am Kü-chentisch distanzierten sie sich vom Re-gime. In Nordkorea existiere diese Tren-nung nicht, meint Myers. Und macht des-halb keinen Unterschied zwischen derPropaganda und dem Denken der Leute.Er glaubt auch nicht, dass Bluejeans wiein Ostmitteleuropa das Regime schwä-chen könnten. Selbst das faschistischeJapan sei wild auf Hollywood-Filme ge-wesen. Andrerseits versuchen christli-che Gruppen, den Norden zu infiltrie-ren. Und wir wissen nicht, wie sehr derZwang zur ökonomischen Eigeninitia-tive heute die Propaganda erschüttert.

Myers verzichtet auf Szenarien, wiesich die reinste Rasse der Welt verhal-ten würde, wenn das Regime kollabiert.Vernunft sei im paranoiden Nationalis-mus nicht vorgesehen. Gefeiert würdendagegen die rohen rassischen Instinkte.

Regime helfen, eine Rebellion zu ver-hindern. Gegen Mütter lehne man sichviel weniger auf.

Nordkorea wird oft als letzte Bastiondes Stalinismus bezeichnet. Das ist ab-surd. Nach innen operierte die Propa-ganda nie mit dem Marxismus-Leninis-mus, sie appellierte stets an die Rassen-reinheit. Keine Schrift Kim Il-sungs ver-rate die geringste Ahnung von Marxis-mus, stellt Myers fest.

Bräute aus SüdostasienModerater bediente sich einst auch Süd-koreas Militärdiktatur des koreanischenRassismus, der im Süden durchaus wei-terschwelt – und zuweilen sogar eineKlammer zwischen den beiden Koreasbildet. Myers berichtet vom Pausenge-spräch zweier Generäle während inner-koreanischer Verhandlungen im Mai2006. Der Nordkoreaner hatte gehört,im Süden würden viele Bauern Bräuteaus Südostasien heiraten. Er war ent-setzt, weil die koreanische Rasse da-durch ihre einmalige Reinheit verliere.Sein Kollege aus dem Süden winkte ab,das sei nur ein Tropfen Tinte im Han-Fluss. Worauf der Nordkoreaner ent-gegnete, angesichts der überragendenSchönheit des Landes dürfe man nichteinmal einen Tropfen erlauben.

Nordkorea ist vermutlich isolierterals alle anderen Staaten. Dennoch wis-sen heute auch die Nordkoreaner, dasses ihren Vettern im Süden wirtschaft-lich besser geht. Das gefährde die Dikta-tur indes nicht, glaubt Myers. Anders als

ten, er ist ein parareligiöser Mythos.Wie der Kaiserkult in Japan.

Nordkoreaner sind nach ihrer Propa-ganda denn auch nicht intellektuelloder physisch überlegen, sondernmoralisch: Tugendhaft geboren, seiensie eine reine Kinderrasse, unverdor-ben von Buddhismus, Konfuzianismus,Christentum und Schamanismus. Myersnennt das auch Staatsinfantilismus. Die-ses natürliche Volk, unschuldig und ver-letzlich wie Kinder, möchte in der bö-sen Welt nur für sich in Frieden leben,stattdessen wird es ständig von aussenbeleidigt, bedroht und verletzt, vorallem von den Amerikanern. So recht-fertigt das Regime die Isolation.

Der 1994 verstorbene Kim Il-sungwurde auch nie als übermännlicheVaterfigur dargestellt, wie etwa Stalin,sein Sohn Kim Jong-il schon gar nicht.Die Propaganda macht beide bis heutezu mütterlichen, fast hermaphroditenElternfiguren, gerade männlich genug,damit sie ihr kindliches Volk glaubwür-dig zu schützen vermögen, schreibt My-ers, aber so mütterlich, dass sie es sym-bolisch nähren können. Auf vielen Bil-dern halten die Kims ein Kind oder so-gar einen Soldaten an ihre Brust, oft imSchnee, ein zusätzliches Symbol fürReinheit. Anders als Stalin oder Maowerden die Kims auch nie als Asketenoder grosse Geister gezeigt. Dass diePropaganda den verstorbenen GrossenFührer (Kim Il-sung) und heute den ge-liebten Führer (Kim Jong-il) nie als Väterdargestellt hat, dürfte, so Myers, dem

Der amerikanische ProfessorBrian R. Myers geht in «TheCleanest Race» hart mit demSelbstbild Nordkoreas insGericht.

Von Christoph NeidhartDie Nordkoreaner halten sich für diereinste Rasse der Welt, dies sei ihre Ideo-logie, nicht der Marxismus. Gelernthätten sie das völkische Denken von denJapanern, ihren Kolonialherren. AuchNippon habe seine Überlegenheit biszum Ende des Zweiten Weltkriegs ras-sisch begründet. Dies schreibt Brian R.Myers, Professor für International Stu-dies im südkoreanischen Busan, in sei-nem neuen Buch «The Cleanest Race».

Parareligiöser MythosDie Japaner erklärten das koreanischeVolk nach einem Aufstand 1919 kurzer-hand zur Parallel-Rasse, die vom selbenUrahnen abstamme wie sie selbst. Nord-korea hat dieses japanische Rasse-Kon-zept nach seiner Befreiung 1945 beibe-halten, es warf bloss die Japaner aus dergemeinsamen Rasse hinaus. An dieStelle von Kaiser Hirohito, der gütigenElternfigur, rückte der Diktator KimIl-sung, der Nordkorea von 1948 bis1994 regierte. Und nach seinem Tod1994 sein Sohn Kim Jong-il, der heutigeDiktator. Der Personenkult um ihnbehauptet keine übertriebenen Realitä-ten, etwa übermenschliche Fähigkei-

Elektrokunst

aus China

In Biel zeigen Künstler ausChina und der Schweizderzeit ihre Reflexionenüber die elektronische Welt.

Von Paulina SzczesniakChinesische Computerhacker, so heisstes, sind momentan die besten der Welt.Scheinbar mühelos knacken sie dieNetze fremder Regierungen, und sogardie Rechner von Barack Obama unddem Dalai Lama sind nicht vor ihnensicher. Vor diesem Hintergrund scheintes durchaus sinnvoll, dass man hierzu-lande das Know-how der Elektronik-experten aus dem Land des Lächelnsanzapfen will.

Der Grund, warum im Bieler CentrePasquart derzeit Elektrokunst aus Chinabewundert werden kann, ist jedoch einanderer: Als Teil der Ausstellung Time-lapse, welche im Rahmen des von ProHelvetia lancierten Kulturaustausch-projektes «Swiss Chinese Cultural Explo-rations» zustande gekommen ist, wer-den die Werke vergleichbaren hiesigenKreationen zur Seite gestellt.

Die Festplatte lebtAufgrund der Tatsache, dass ein schwei-zerisch-chinesischer Dialog nicht nureiner zwischen zwei Kontinenten, son-dern immer auch einer zwischen ver-schiedenen Zeitzonen ist, untersuchendie beteiligten Künstler die Eigenheitender einzig möglichen gemeinsamenSchnittstelle: der elektronischen Welt.Jin Jiangbo etwa illustriert den Kollapsdes menschlichen Gehirnes angesichtsdes endlosen medialen Informations-flusses, indem er eine lebensgrosseWachsfigur vor unzähligen Computer-bildschirmen erschöpft zusammenbre-chen lässt.

Die Grenzen des elektronischenGedächtnisses hingegen lotet ValentinaVuksic aus: Indem sie kaputte Compu-terfestplatten ans Stromnetz an-schliesst, verhilft sie diesen gewisser-massen zu neuem Leben, welches sichin ruckartigen, von der individuellenGeschichte der Festplatte abhängigenBewegungsmustern niederschlägt. Diedabei erzeugten Geräusche wiederummischt sie zu eigenwilligen Audiokom-positionen und erzeugt so gleichsam einmaschinelles Requiem. Mit Beiträgen,deren oftmals komplexer theoretischerHintergrund in nicht unerheblichemMasse zum Werkverständnis beiträgt,ist Timelapse eine anspruchsvolle, aberlohnende Schau – mit völkerverbinden-dem Bonus.

Bis 30. Mai