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– 36 – Ingenieurspiegel 1 | 2019
Fast alle Systeme befinden sich im Wandel und der Trend der digitalen Transformation liefert uns viele neue Dienste und digitale Services. Technologisch beruhen diese auf einer heute überall verfügbaren Konnektivität sowie auf softwareintensiven, miniaturisierten und eingebetteten Systemen, welche einerseits eine schnelle Verarbeitung, Übertragung und Speicherung von Information ermöglichen und andererseits auch menschliche Akteure über neuartige Schnittstellen immersiv in die digitale Welt integrieren.
Cyber-physische Systeme von Systemen (CPSoS)
Kennzeichnend für so genannte Systeme von Systemen (SoS, Systems of Systems), welche aus räumlich verteilten und lose miteinander gekoppelten Subsystemen bestehen, ist die Vernetzung und der intensive und weitreichende Austausch von Daten und Information [1]. Charakteristisch für cyberphysische Systeme (CPS) ist die innige Verschmelzung der realen mit der digitalen Welt [2] (Cyberspace). Der Wandel heutiger Luftfahrtsysteme stellt eine für die Entwicklung herausfordernde Mischung aus CPS und SoS dar, die als cyberphysisches System von Systemen (CPSoS) bezeichnet wird. Das Modelbased Systems Engineering (siehe Bild 1, Mitte) soll die Entwicklung, Dokumentation, Analyse und das Management von Systemen und CPSoS besser beherrschbar machen. Das Lufttransportsystem ist weltweit verteilt und besteht aus vielen teilautonomen Subsystemen, welche dezentral kontrolliert und gesteuert werden. Diese bilden lose gekoppelt ein SoS, welches kontinuierlich
Digitale Transformation – Systeme in der Luftfahrt im Wandel
betrieben wird und sich stetig weiterentwickelt. Dienste und digitale Services nutzen im Sinne eines CPS die mit den physischen Prozessen einhergehenden digital kommunizierten Informationen und stellen diese interessierten Nutzern über Schnittstellen zur Verfügung.
Datenanalyse und künst-lich intelligente Systeme
Nutzer können dabei auch technische Systeme sein, welche Daten analysieren und für das maschinelle Lernen verwenden, um so zu künstlich intelligenten Systemen zu kommen. In der Luftfahrt nutzen viele verschiedene interagierende Prozesse und Services komplexe CPSoS. Zu nennen sind hier beispielsweise die Reiseprozesse
der Passagiere [3,4], der Flughafenbetrieb [5], das Luftverkehrsmanagement, die Betriebsabläufe der Fluggesellschaften am Boden und in der Luft [68], die Luftfrachttransportkette [9], der Wartungs und Instandhaltungsbetrieb (MRO, Maintenance, Repair & Overhaul) sowie viele angrenzende Prozesse und Dienstleistungen und Services vor und nach dem Flug. Die Disziplin Data Analytics Systems Design widmet sich den Architekturen für die Datenanalyse und das maschinelle Lernen bis hin zur Nutzung von künstlicher Intelligenz. Hiermit sollen künftig Fragestellungen und Probleme automatisiert oder sogar autonomisiert lösbar sein, was allerdings in der Luftfahrt hohe Herausforderungen hinsichtlich der Deter
miniertheit und Kontrolle von Systemen mit sich bringt.
Sichere Systeme in der Luftfahrt
Der Trend, immer mehr und neue Systemfunktionen durch Software zu realisieren, stellt bei CPSoS einerseits eine Stärke (nämlich die Anpassbarkeit an neue Aufgaben, ohne physische Komponenten zu tauschen) und zugleich eine Schwäche (wegen der Veränderbarkeit durch Angreifer) dar. Seit Anbeginn der kommerziellen Luftfahrt vor gut einhundert Jahren ist diese extrem durch Sicherheit geprägt und von der International Civil Aviation Organization (ICAO) weltweit reglementiert. Sicherheit betrifft hierbei sowohl strukturelle Aspekte von
Bild 1: Künftige Ausprägungen von Systemen in der Luftfahrt und für deren Entwicklung und Betrieb erforderlichen Disziplinen: Model-based Systems Engineering muss die Handhabung cyber-physischer Systeme von Systemen (CPSoS) beherrschbar machen. Die extensive Nutzung des Cyberspace bedarf eines guten Systems Security Engineering. Data Analytics System Design liefert geeignete Architekturen, um die Datenanalyse und das maschinelle Lernen für künstliche Intelligenz im Lufttransport nutzbar zu machen.
Systemen und deren Architekturen als auch die innerhalb der Systeme dynamisch ablaufenden Prozesse und das Systemverhalten. In einem komplexen CPSoS können sich auf höheren Organisationsebenen unvorhersehbar und ganz spontan unerwartete Strukturen und neue Funktionen herausbilden. Die digitale Transformation befördert heute solche unerwarteten Phänomene. Eine derartige Emergenz, d.h. die unerwartete Entstehung von etwas Neuem, steht der klassisch deterministischen Entwicklung und dem zuverlässigen und kontrollierten Betrieb sicherheitskritischer Systeme in der Luftfahrt grundsätzlich entgegen. Weiterhin ist die Vermeidung unvertretbarer Risiken, d.h. die relative Gefahrenfreiheit, in der Luftfahrt oberstes Gebot und gilt für den Bereich der Betriebssicherheit (Safety) und gleichzeitig auch für die Angriffssicherheit (Security). Jedoch schafft heute insbesondere die Öffnung und Nutzung des Cyberspace – gleichsam der Büchse der Pandora – für die Luftfahrt unmittelbare Herausforderungen für die Security und mittelbar auch für die Safety des Gesamtsystems. Das so genannte Systems Security Engineering ist daher bei digital kommunizierenden und softwareintensiven Luftfahrtsystemen eine entscheidende Disziplin für den sicheren Entwurf und Betrieb eines CPSoS.
CPSoS in der Luftfahrt – Was uns die Zukunft bringt
Trotz der für die Luftfahrt vielen neuen Risiken aus dem Cyberspace kann sich die Branche dem raschen technologischen Wandel und der Digitalisierung heute nicht mehr entziehen. Aufgrund einer inzwischen am Boden und in der Luft verfügbaren Konnektivität dürfen in der Luftfahrt die mit der Datenkommunikation und Datenanalyse verbundenen Möglichkeiten maschinellen Lernens,
neuer Betriebs, Produktions und Wartungsstrategien, sowie neuer Wertschöpfungsnetzwerke nicht ungenutzt bleiben. Im Zuge der digitalen Transformation werden sich Systeme – nicht nur in der Luftfahrt – künftig als CPS, SoS oder als eine Mischung daraus, d.h. als CPSoS, darstellen. Diese Systeme erlauben unter anderem eine (Teil) Automatisierung von Handlungssequenzen, welche vorher, beispielsweise durch das Kabinenpersonal, manuell durchgeführt werden mussten. Das Anschalten und Vorbereiten der Flugzeugküche setzt sich aus mehreren Schritten zusammen, welche auf Teilautomatisierung geprüft werden können. Trotz der aktuellen Strömungen hin zu einer Vollautomatisierung wie beim Trend zum Smart Home oder gar zur Autonomisierung, sollte hierbei immer der Umsetzungs und Wartungsaufwand einer angestrebten Lösung geprüft werden, da dieser speziell bei sicherheitsrelevanten Handlungen der Flugzeugbesatzung hoch ausfallen kann. Die digitale Transformation erfasst jedoch nicht nur die Ebene des Fluggeräts und der Flugzeugsysteme [8] sondern das gesamte Lufttransportsystem [4]. Ähnlich unserer Gesellschaft werden sich auch technische Systeme künftig durch Kommunikation besser organisieren können. Eine aktive Gestaltung und Optimierung wäre vielleicht auch ohne Zutun des Menschen denkbar, wenn maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz eine eigene Führungsrolle übernehmen würden. Jedoch sollte es der mit diesen technischen Systemen interagierende Mensch bleiben, welcher die finale Entscheidungshoheit behält. Dabei ist es nicht ganz einfach zu definieren, was Hoheit über eine Entscheidung eigentlich meint: Ist dies beispielsweise das manuelle Abschalten eines Systems durch den Menschen bei Überschreitung der maximalen elektrischen Leistungsaufnahme, das deter
ministische Abschalten durch einen vom Menschen eingebauten Sicherungsautomaten, oder das Abschalten durch ein selbst lernendes, künstlich intelligentes System, für welches der Mensch die Lernregeln entwickelt und festgelegt hat?
Oliver C. Eichmann, M.Sc.,Fabian Giertzsch, M.Sc., Prof. Dr. rer. nat. Ralf God, Institut für Flugzeug-Kabinen systeme, Technische Universität Hamburg, www.tuhh.de/fks
[1] INCOSE. Systems Engineering Handbook: A Guide for System Life Cycle Processes and Activities, version 3.2.2. San Diego, CA, USA: International Council on Systems Engineering (INCOSE), INCOSETP200300203.2.2, 2012.
[2] Manfred Broy, CyberPhysical Systems: Innovation durch softwareintensive eingebettete Systeme, Springer, Berlin, 2010.
[3] Vorhaben DiProPax!, Digitale und sichere Prozesse in der Kabine für den Passagier und die Besatzung, gefördert vom BMWi, LuFo V1, FKZ 20K1302.
[4] Vorhaben PaxToken, Müheloses Reisen und smarte Sicherheit mittels eines digitalen Prozessschlüssels, gefördert vom BMWi, LuFo V3, FKZ 20K1703.
[5] Vorhaben KomKab, Teilvorhaben: Digitaler Ramp Agent, gefördert vom BMWi, LuFo V2, FKZ 20K1505.
[6] Vorhaben SIMKAB, Teilvorhaben: Authentifizierung und Benutzerrollen als Teilaspekt des Kabinenmanagementsystems, gefördert vom BMWi, LuFo IV3, FKZ 20K0805.
[7] Vorhaben ConCabInO, Teilvorhaben: Spezifikation und Integration cyberphysischer Betriebs und Geschäftsprozesse, gefördert vom BMWi, LuFo V2, FKZ 20K1510.
[8] Beitrag zum Vorhaben iCabin, Die intelligente Kabine – vernetzte Informationen
von hochentwickelten Kabinensystemen zu einem Gesamtzustandsbild für neue innovative digitale Fluggast, Flugbegleiter und AirlineDienstleistungen, gefördert vom BMWi, LuFo V3, FKZ 20X1702.
[9] Vorhaben SiLuFra, Sichere LuftfrachtTransportkette: Konzepte, Strategien und Technologien für sichere und effiziente LuftfrachtTransportketten, gefördert vom BMBF, SIFO, FKZ 13N12729.