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Dies ist eine Leseprobe von Klett-Cotta. Dieses Buch und unser gesamtes Programm finden Sie unter www-klett-cotta.de
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ERNST JÜNGER – SÄMTLICHE WERKE

Tagebücher I-VIIIBand 1 Der Erste WeltkriegBand 2 Strahlungen IBand 3 Strahlungen IIBand 4 Strahlungen IIIBand 5 Strahlungen IVBand 6 Strahlungen VBand 7 Strahlungen VI, VIIBand 8 Reisetagebücher

Essays I-IXBand 9 Betrachtungen zur ZeitBand 10 Der ArbeiterBand 11 Das Abenteuerliche HerzBand 12 Subtile JagdenBand 13 AnnäherungenBand 14 Fassungen IBand 15 Fassungen IIBand 16 Fassungen IIIBand 17 Ad hoc

Erzählende Schriften I-IVBand 18 ErzählungenBand 19 HeliopolisBand 20 EumeswilBand 21 Die Zwille

SupplementBand 22 Späte Arbeiten – Aus dem Nachlaß

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Ernst Jünger

Sämtliche Werke 15Essays VII

Klett-Cotta

Fassungen II

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Klett-Cottawww.klett-cotta.de© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart Alle Rechte vorbehaltenPrinted in GermanyReihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg, unterVerwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, BerlinGesetzt von pagina, TübingenGedruckt und gebunden von cpi books, LeckISBN 978-3-608-96315-1

Die 22 Bände der Sämtlichen Werke, die zwischen 1978 und 2003 bei Klett-Cotta erschienen sind (1–18: 1978–1983; Supplemente 19–22: 1999–2003), enthalten Ernst Jüngers Fassung letzter Hand. Ihr folgt diese Taschenbuchausgabe in Seiten- wie Zeilenumbruch. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die posthum erschienenen Supplement bände integriert. Der vorliegende Band entspricht Band 13 der gebundenen Ausgabe.

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FASSUNGEN II

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INHALT

Am Kieselstrand

Drei Kiesel

Fassungen

Zur Offenbarung Johannis

Das Spanische Mondhorn

Typus, Name, GestaltVom Typus

Von der Gestalt

Prometheus – von der Physik belehrt?

GrenzgängeMythos und Wissenschaft

Grenzgänge

Entsprechungen

Korrespondenz und Gesetz

Charaktere

Notizen

Sinn und Bedeutung

Ein Figurenspiel

Zahlen und GötterErster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

TräumeTräume

In Ormens Revier

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Skurrile Ausflüge

In Totenhäusern

Aus den Pariser Nachtstücken

Spiegelbild

Über Sprache und Stil

Autor und Autorschaft

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AM KIESELSTRAND

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er stausgabe

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Es gibt Werkzeuge, Organe, Gegenstände, die niemals dieBestimmung finden, die ihrer Anlage entspricht.

Ein Rettungsring auf einem großen Schiff kann jahrelangdie Fahrt begleiten, indem er an der Reling befestigt bleibt.Er wird dann ausgemustert, ohne daß jemals ein Ertrinken-der sich mit ihm gürtete. So reisen Tausende von Rettungs-ringen auf allen Meeren und treten niemals in ihre Bestim-mung ein. Deshalb wird man die Rettungsringe nicht ab-schaffen. Der eine, der beim Schiffbruch wirklich rettet, gibtallen anderen den Sinn.

Hier muß man fragen: Gibt dieser eine den anderen in derTat den Sinn? Oder ist Sinn nicht etwa in alle eingefaltet undwird durch jenen, der in den Ernstfall eintritt, nur entwickelt,bestätigt, ausgelöst? Wir streifen eine alte Streitfrage.

Das Beispiel steht für viele andere. Der Embryo trägt Lun-gen, obwohl er ihrer nicht bedarf. Sie sind auf sein zukünfti-ges Leben angelegt und überflüssig für den, der tot geborenwird. Der schwimmt als kleiner Leichnam in der Flut.

Der erste Atemzug, der erste Schrei des Schmerzes entfal-tet das Organ, das nun erfüllt wird: seine Bestimmung, jaüberhaupt sein Dasein wird erkannt. In jedem Alter, in je-dem Stand gibt es Organe, die nie enthüllt werden und diekein Anatom entdeckt. Darauf beruht die Unvollkommen-heit, doch auch die Ahnung, daß Vollkommenheit besteht.

Zahllose Blüten werden nie bestäubt, zahllose Samenkör-ner fallen auf tauben Grund. Die ganze Welt des Unbefrie-digten, des Unbefreiten, des Unerlösten gehört hierher, undmit ihr die der Erfüllungen.

Auch wo nur einer in die Brautkammer eintritt, feiern vieleam Feste mit. Die auf die Zeit und auf die Einzelnen verteilteFeier ist nur ein Sinnbild zeitloser Einheit, zeitloser Wirk-lichkeit. Hinter dem Vorhang ruhen die Bilder, auf die jedeHochzeit sich bezieht. Dort findet die höhere Vermählungstatt. Der Sinn der Lust und auch der Leiden wird in der Sub-

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stanz erkannt. Das ahnen die Geschöpfe, und diese Ahnungschwingt im Summen der Schwärme, im Jubel der Feste mit.

Weiterhin ist es möglich, daß uns als Betrachtern gewisseGegenstände und Organe rätselhaft bleiben, indem ihre Be-stimmung, der Sinn, auf den hin sie geformt sind, sich unsererErfahrung und Vorstellung entziehen. In diesem Falle wirduns der Gegenstand dennoch nicht gänzlich sinnlos vorkom-men. Wir nehmen an ihm eine Handschrift, eine Formen-sprache wahr, die wir nicht deuten können, obgleich wirmerken, daß sie nach Regeln gebildet ist und einen sinnvol-len Text umschließen muß. Da unser Verständnis nicht zu-reicht, das im Offensichtlichen Verborgene zu erfassen,bleibt eine Lücke, und in dieser Lücke siedeln sich Gefühlean. Furcht, Ärger, Staunen, Spott, Neugier, Bewunderung,Verehrung treten an Stelle des Begreifens ein.

Es wäre denkbar, daß ein Gewehr in Regionen verschlagenwürde, in denen man das Schießpulver und seine Wirkungennicht kennt. Es könnte, umgekehrt, auch ein Bewohner jenerRegionen bei uns auftauchen und durch eine Waffensamm-lung geführt werden. Er würde dort Pistolen, Flinten, Kano-nen in ihren mannigfaltigen Modellen und Entwicklungsfor-men sehen, ohne jedoch die Absicht zu erraten, die hinterdiesem Werkzeug sich verbirgt. Immerhin würde ihm einegewisse Gemeinsamkeit des Stiles auffallen. Er würde diesenInstrumenten vielleicht sogar einen Namen geben, eine Be-zeichnung, anklingend an Dinge der ihm bekannten Welt.Der Name würde notwendig weniger treffend sein, weil ersich nicht auf den Gebrauch beziehen könnte wie unsereAusdrücke. Die ersten Weißen, die eine Ananas erblickten,sprachen sie als »Tannenzapfen« an. Die Reste der Belemni-ten, ausgestorbener Meerestiere, wurden Jahrhunderte hin-durch als »Donnerkeile« in den Sammlungen gezeigt. Dieersten Europäer wurden in Mexiko als »weiße Götter«, inChina als »weiße Teufel« angesehen.

Dabei ist noch ein anderer, wichtiger Umstand zu berück-

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sichtigen – der nämlich, daß die Bestimmung eines Gegen-standes, die Absicht, in welcher er erdacht ist, sich auch aufandere Weise als durch das bloße Verständnis dem Betrach-ter mitteilen kann. Zur Kenntnis des Zweckes gehört Erfah-rung und Einsicht in die Teile der Konstruktion. Der Sinn da-gegen vermittelt sich eher durch den Anblick des Ganzen,auf eine Weise, die außerhalb der zeitlichen Entwicklung undihrer Mechanik liegt. Ein Künstler könnte in unserer Maschi-nenwelt einen Sinn entdecken, der unabhängig von ihrenZwecken und Funktionen wahrgenommen wird. Ein solchesSchaubild könnte nicht nur ebenso wahr und ebenso richtigsein wie jede andere Erklärung, sondern es könnte auch un-serer Welt und unserem Leben etwas Fehlendes, Ergänzen-des, Erlösendes hinzufügen.

Auf ähnliche Weise würde angesichts der Feuerwaffenwahrscheinlich der Geist erraten, daß er Instrumenten, dieFurcht einflößen sollen, gegenübersteht. In einem Arsenalbegegnet man ja nicht nur anderen Formen, sondern esherrscht auch eine andere Stimmung als in einer Gemälde-sammlung oder in einem Lustgarten. Es ist daher leicht mög-lich, daß sich eines empfänglichen Beobachters der Eindruckbemächtigt, an einem Ort zu weilen, dessen Einzelheiten aufzielende, überlegte Gewaltanwendung hinweisen. Darüberhinaus kann sich ihm eine die Einzelheiten beherrschendeStimmung mitteilen. Sollte er etwa aus alten Mythenländernkommen, so könnte er wähnen, in einem Heiligtum zu wei-len, dessen Wände mit Weihgeschenken für Nimrod oderAres behangen sind.

Es wäre auch möglich, daß sich unseres Fremdlings einUnbehagen beim Anblick dieser Formen bemächtigen würde– die Ahnung eines Unheils, das mit ihrer Existenz verbun-den ist. In diesem Sinne läßt Ariost in seinem Gesange dasnoch unerfundene Gewehr erscheinen als Vorzeichen desUnterganges der Ritterzeit. Ein solches Unbehagen würdemagische Züge tragen, aber gerade deshalb feiner die Quelleder Gefahr bezeichnen, die ja nur für den groben Blick im In-strumentarium liegt.

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Wenn nun sein Schicksal unseren Fremdling in einen krie-gerischen Vorgang verwickelte, dann würde ihm die wach-sende Bedrohung auch dadurch deutlich werden, daß dieZahl der Feuerwaffen in seinem Umkreis zunähme. Er würdesie vielleicht als Ursache der Unruhe ansehen – als magi-sche Stäbe, die Angst ausstrahlen, wie in den alten Zeiten dasSzepter königliche Macht.

Nehmen wir an, der Fremdling fiele, wenn nun die Waffenins Spiel träten. Er hörte noch den Schuß und sähe das Feuer,das aus dem Rohre bricht. Das wäre der Anblick, der nichtnur zahllose Primitive, sondern auch kultivierte Völker wiedie Mexikaner mit Staunen erfüllte, als sie dem weißen Mannbegegneten. Und dieses Staunen brach ohne Zweifel ihrenWiderstand gründlicher als Waffengewalt. Mit Recht, dennes erfaßte die Region der Macht, die hinter den Waffen sichverbirgt und die sie vorschiebt als Organe, die den Willenausführen. Die stärksten Waffen werden nur gezeigt.

Der Fremdling und der Soldat, der ihn erlegte, haben aufzwei verschiedenen Linien den Punkt erreicht, an dem siesich begegneten. Doch waren es eben Linien, Einschnitte indas Ganze dieser Welt.

Ein Buch ist dazu geschaffen, daß es gelesen wird. Dennochsind Bücher denkbar, die niemals ihren Leser finden, wie dasin Ideogrammen gedruckte Werk eines chinesischen Weisenin einer abendländischen Bücherei. Ein solches Werk ver-harrt in einem unerlösten Zustand, der zugleich geheimnis-volle, hieroglyphische Züge trägt.

Ein europäisches Buch könnte durch einen Zufall in einUrwalddorf geraten, in dem niemand lesen und schreibenkann. Dort würde es vielleicht Ärgernis erregen und ver-brannt werden. Es könnte auch Furcht erwecken; dann wür-de es als Fetisch verehrt und aufbewahrt.

Diese Verehrung richtet sich nicht auf den Inhalt, da essich auch um ein Kochbuch oder um einen Roman von Zolahandeln kann. Sie wird nicht durch die Lesart, sondern, wieim Falle des Gewehres, durch den magischen Charakter des

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Gegenstandes bestimmt – hier durch die Buchstaben, hinterdenen in der Tat ein großes Geheimnis sich verbirgt, das un-abhängig ist von ihrem praktischen Gebrauch. Die Ehrfurchtvor den Texten schwindet vielmehr im gleichen Maß, in demdie Leser zunehmen.

Es wäre auch möglich, daß es eine Bibel war, die auf dieseWeise zum Anlaß der Verehrung wurde – auf eine Weiseübrigens, die auch bei uns Entsprechungen besitzt. Das Buchgälte dann als heiliger Gegenstand, vielleicht auch als Ora-kel, unabhängig von seinen Inhalten. Wenn nun durch einenanderen Zufall ein Missionar in jenes Dorf käme, würde dasBuch zum Werkzeug der Unterweisung werden, während zu-gleich die primitive Ehrfurcht sich erhielte, ja wohl noch Un-tergründe abgäbe, auf denen sich der heilige Text erhöhte,der nunmehr lesbar geworden ist.

Wir hätten hier auch einen der Fälle, in denen ein heiligesBuch auf wundersame Weise gefunden wird, wie sie in derGeschichte der Sekten nicht selten sind. Was hinsichtlich desKochbuches ein Kuriosum geblieben wäre, das tritt hier inden Rang des Wunders ein. Wunderbar und damit wunderfä-hig ist alles, was über bloße Zwecke, die bloße Funktion hin-aus ins Unberechenbare, zur tieferen Bestimmung führt. Da-mit verändern sich die Wertungen. Es wird belanglos, ob essich bei dieser Bibel um einen Abzug von Millionen oder umeine Inkunabel gehandelt hat. Sie trat wie jener Rettungsringin die Bestimmung ein. Ein billiger Farbdruck kann wunder-fähig werden und damit größere Wirkungen auslösen als einMeisterwerk.

Dasselbe gilt von den Menschen; die Gleichheit lebt in ih-rem wunderbaren Kern. Die Tropfen steigen aus dem stetsgleichen Brunnen auf und glänzen in der Zeit. Dann kehrensie zum Überfluß zurück. Jeder ist wunderbar.

Ein Arzt in einem unserer Krankenhäuser – weiß er, daß esnur eine Heilung, nämlich die Wunderheilung, gibt und daßer dort, wo er heilt, mit oder trotz seiner Wissenschaft an ei-nem Wunder Anteil hat?

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Wenn man den alten Vergleich des Staates mit einemSchiffe wiederholen will, dann sind die scharfen Köpfe aufdem Verdeck und im Maschinensaal zu Haus. Sie kennenaber die Ladung nicht. Wo sie zur Herrschaft kommen, ver-legt die Last sich auf die Aufbauten. In dieser Lage gibt eszwei Möglichkeiten: entweder das Schiff wird kentern, oderder Schwerpunkt wird unter Wasser zurückverlegt. Diezweite Möglichkeit ist vorzuziehen, und sei es auf Kostender Aufbauten. Sie kann nicht durch Intelligenz allein ver-wirklicht werden, und daher kommt es, daß wir heute Ent-wicklungen erleben, die im Widerspruch zu den Voraussagender besten Köpfe stehen. Deswegen ist auch die klassischePhilosophie zur Lagebeurteilung ebensowenig fähig wie dieklassische Physik zur Bewältigung des mechanischen Teilesunserer Aufgaben.

In Städten der Zukunft wird vielleicht die cartesianischeZitadelle erhalten bleiben als Ort, an dem sich der Geist er-gehen und Maße studieren kann. Heute erschrecken die Ge-dankenhüllen, denen man auf beiden Hemisphären Vereh-rung zollen sieht. Sie gleichen den abgelegten Prunkunifor-men, die man an Gold- und Sklavenküsten wiedertrifft.

»Sie kennen die Ladung nicht« – das will nicht sagen, daßnicht genaue Vorstellungen bestehen. Alles Berechenbarewird schärfer vermessen als jemals, und doch gleicht dieserZugriff jenem, mit welchem ein Physiker alter Schule einStück Materie erfaßt. Er wägt den Kiesel, ohne zu ahnen,daß dieser, in seiner Urkraft angewendet, Städte zerstören,Seuchen heilen kann. Das würde für ihn zu den Wundernzählen, in deren Verachtung er erzogen ist. Tieferes Wissenwürde einem Schlüssel gleichen, Kammern eröffnend, vorderen Fülle er erschrickt. Vielleicht verschlösse er die Türewie vor einem zu starken Traum.

Goliath wird immer gefällt durch einen Kieselstein. Dage-gen bleibt der Stein der Weisen ein Kiesel in des TorenHand. Wenn der Prophet mit seinem Stabe an den Steinschlägt, springt Wasser des Lebens aus ihm hervor, und dasin Wüsten, wo Karawanen verdursteten.

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In einer Welt, in der das Wasser fehlte, würden die Formenvon Fischen und anderen Meerestieren Staunen hervorrufen.Man würde sie jedoch erklären können, da der menschlicheGeist um Theorien nie verlegen ist. Eine Erscheinung hat im-mer zahllose Analogien – es hängt vom Stil ab, welche her-angezogen wird.

Ein Geologe, auf der Sohle eines versiegten Meeres Ver-steinerungen sammelnd, würde wahrscheinlich alle zumSchwimmen und Tauchen geschaffenen Organe auf das Flie-gen und Schweben hin umdeuten. Die Flossen würden ihn alskurze Flügel ansprechen und die Medusen als eine Art vonFallschirmen. Es würde ihm dabei nicht entgehen, daß starkeAbweichungen vom Stil der Luftwelt obwalten. Er würde siedurch epochale Theorien aufhellen – etwa indem er die Or-gane als primitive Stufen der Flugwerkzeuge ausdeutete. Erkönnte aber auch auf Veränderungen der Umwelt schließen,indem er annähme, daß sich das spezifische Gewicht der Luftinzwischen verminderte. Das wären die Unterschiede derAuffassungen von Darwin und Lamarck. Die zweite Theoriewürde der Wirklichkeit recht nahe kommen; dabei ist zu be-denken, daß es Fliegende Fische gibt. Das wäre das »fehlen-de Glied«.

Nur an das Wasser würde man in jener Welt nicht den-ken; es läge außerhalb der Erfahrung, jenseits einer gläser-nen Wand. Der Geist gleicht einer Fliege, die in einer Fla-sche gefangen ist und sich im Besitz eines unbegrenzten Ho-rizontes wähnt.

Versetzen wir uns in die Lage eines farbenblinden Fremd-lings, der in eine unserer Städte verbannt würde. Er nähmedie Farbenwelt nur wahr als eine Mannigfaltigkeit von grau-en Tönungen. Sie könnten einem hohen Bedürfnis nach Har-monie genügen, wie eine Zeichnung genügen kann. Falls die-ser Fremdling die Entzückensrufe der Menge vernähme,wenn der Pfauenhahn sein Rad entfaltet oder ein Feuerwerk,ein Regenbogen sie bezaubert, so würde er nicht ohne Anteilbleiben; er würde das Schauspiel als Grisaille in erlesenen

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Schattierungen genießen und dürfte sagen: »Das ist schön«.Und dennoch fehlte ihm das Element.

Als Eingeweihte werden wir versucht sein, uns über diesenFremdling aus den Nebelreichen zu belustigen. Doch sindwir in der gleichen Lage, selbst im Genusse der höchstenFarbenpracht. Die Farbe ist flüchtiger Abglanz, ist nur dasFühlhorn einer unsichtbaren Welt. Und wie der Farbenblindeim Grau die Farbe, so ahnen wir in den Farben: der Sinnen-welt verborgene Quellen der Harmonie. Dort wird der Re-genbogen im Wunderbaren gleich, im Gleichen wunderbar.

Das Leben sollte durch Grade, durch Vorhänge der Täu-schung führen wie durch Pforten, die immer bedeutungsvol-lere Zeichen schmücken, zu immer tieferem Erstaunen undgrößerer Heiterkeit. Umarmung ist Gottesdienst.

Der Farbenblinde könnte den Spieß umkehren und behaup-ten, daß die Farbe Täuschung und er der eigentlich Sehendesei. Tatsächlich handelt es sich um Zahlenunterschiede, ummeßbare Schwingungen. Will man das Phänomen auf logi-sche Werte bringen, dann stören die Farben nur. Die Farben-lehre ist eines der großen Felder, auf denen Ziffern und Bil-der um den Rang streiten.

In einer Welt, in der die Farbenblinden den Ton angäben,würde das Grau vorherrschen. Sie würde eine Welt des Gei-stes sein, mit viel Bewegung und noch mehr Schmerz. DieBlumengärten, die Gemäldegalerien, die Kirchenfenster wür-den in Verfall kommen. Die Augenmenschen würden zu-nächst geduldet und dann verfolgt werden. Das wäre der Ab-schluß des Unterganges der Bildwelt, der früh begonnen hat.Thukydides ist bereits Zeichner, verglichen mit Herodot.

Dagegen würden neue Reiche entdeckt werden. In derMusik würden die rhythmischen Einheiten auf Kosten dermelodischen hervortreten, in den bildenden Künsten die Li-nien und überhaupt die geistigeren Elemente, im Leben undin der Landschaft die Kurven, in der Bewegung sich entfal-tend oder ruhend als Schlüssel mathematischer, physikali-scher und kosmischer Geheimnisse. Kurven und Formeln

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würden zum Mysterium der Wissenden wie frühen Priester-schaften die Hieroglyphenschrift. Der Tanz, die Licht- undSchattenspiele, Ballistik auf den verschiedensten Gebieten,Bewegung in jeder Richtung und in jedem Sinne würden ob-walten und in den Spitzen sich in Macht und Genüsse um-wandeln.

Noch würde manches rätselhaft erscheinen, wie etwa derUmstand, daß der Stier, wenn man ihm ein bestimmtes Tuchzeigt, in Raserei gerät. An solche Säume könnte sich eineneue Mystik ansetzen.

In sich geschlossen, sind solche Welten ebenso möglich,wie das Leben der Fliege in der Flasche möglich ist. Es gibtauch Höhlen, die nur von augenlosen Tieren bewohnt wer-den. Im Sinne höheren Lichtes mag das in der Weltraumhöh-le ähnlich sein. Der Irrtum, der Mangel liegt dann im Ganzenund führt Verkehrsunfälle größten Ausmaßes herbei. Manhat die kosmischen Signale nicht erkannt. Den Katastrophenfolgt die Suche nach den Schuldigen. Die Farbenblinden kla-gen sich gegenseitig an. Wie sollten sie die Fehlerquelle fin-den, die jenseits ihrer Optik liegt? Doch werden ihre Stim-men sich gegen den vereinen, der im Besitz der unge-schwächten Sehkraft ist.

Man könnte eine Katze in Räumen aufziehen, in denen eskeine Mäuse gibt und wo man sie mit Milch und Brei ernährt.Sie wird dann nicht wissen, wozu ihr Zähne und Krallen ver-liehen sind. Dennoch wird sich in ihren Spielen, in ihrenTräumen die Sehnsucht nach dem Opfer spiegeln, das ihrfehlt.

Vor allem wird man nicht verhindern können, daß sie sichSymbole schafft. Und diese Symbole – ein Schatten, einStückchen Garn, ein Wollknäuel – werden oft einer Mausrecht ähnlich sehen.

Wir können uns wiederum einen Beobachter vorstellen,etwa einen Knaben, der seinerseits nie eine Maus gesehenhat. Trotzdem wird ihm das Spiel der Katze nicht gänzlichsinnlos scheinen, da es in seinem bewegten und zierlichen

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Gebaren Züge trägt, die sich selbst genügen – das besteZeichen dafür ist, daß sie Heiterkeit hervorrufen. Indessenwürde der Knabe, wenn ihm Kenntnis der Maus gegebenwäre, wissen, daß es sich hier nicht lediglich um Spiele ohnetieferen Inhalt handelt, sondern daß sie auf eine Wirklichkeit,auf einen Ernstfall, auf eine Erlösung bezogen sind.

Der Knabe könnte auch einen weniger aufgeschlossenenCharakter haben; es könnten Anlagen zum amusischen,rechthaberischen, pedantischen Wesen in ihm verborgensein. In diesem Falle würden ihn die Spiele der Katze nichteinmal ästhetisch ansprechen. Sie würden ihm sinnlos vor-kommen. Er würde sich also abwenden oder das Tier sogarzüchtigen.

Wir wollen uns einen dritten Beobachter vorstellen, derKatze und Maus aus sicherer Erfahrung kennt. Da ihm be-kannt ist, was die Katze, ohne es zu wissen, mit ihrem Spiel-zeug meint, wird er ihr Spiel begreifen, und auch den Irrtumsowohl des heiteren wie des pedantischen Knaben wird erdurchschauen. Er sieht auch, daß der heitere Knabe dichteram Kern ist als der logische.

Wenn dieser Mann intelligent ist, wird seine Wahrneh-mung von einer gewissen Befriedigung begleitet sein. Er hattatsächlich, indem er die Maus als fehlendes Glied in dieGleichung setzte, eine Lücke geschlossen und damit alleMißverständnisse deutlich gemacht. Besitzt er pädagogischeNeigungen, so kann er der Katze die Maus geben oder auchvorenthalten, er kann die Knaben zoologisch belehren undso fort. Auf alle Fälle ergibt sich ein abgeschlossenes, positi-ves und in sich begründetes Bild der Vorgänge.

Nichts hindert uns, noch einen vierten Beobachter anzuneh-men, einen Weisen, dem weitere Probleme sich aufdrängen.Er könnte fragen, ob denn die Kette notwendig mit dem klu-gen Manne abschließt oder ob nicht auch der beobachtetwird, wie er die Knaben und wie die Knaben die Katze beob-achten. Das Spielzeug der Katze hat jenseits des Spieles ei-nen zwar unbekannten, doch realen Gegenstand. Wie, wenn

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auch die Beweglichkeit und Kraft des Geistes, der diesesSpiel durchschaut und es mit Überlegenheit genießt – wennauch sie erst vollen Sinn besäßen in Hinsicht auf einen unbe-kannten Gegenstand?

In diesem Falle, wird sich der Weise sagen, enthalten diesichtbaren Vorgänge über das Erfahrbare hinaus noch etwasanderes und damit Stoff der höheren Belehrung und pädago-gische Potenz. Vielleicht liegt gerade darin der Grund oderselbst die Absicht, aus der sie vorgeführt werden – in derman sie erlebt. Dann müßte man die Lehrer, die uns in dieserRichtung die Augen schärfen, als Väter ehren, ihnen alsSpendern dankbar sein.

Die Ansicht des Weisen unterscheidet sich also von derdes Wissenden. Sie unterscheidet sich so sehr, daß der Wis-sende nicht einmal begreifen wird, wovon der Weise spricht.Der Weise dagegen versteht den Wissenden. Das ist ein Zei-chen dafür, daß er auf der Stufenleiter der Betrachter denhöheren Rang einnimmt.

Es dürfte ein Philanthrop sein, der der Katze den Anblickder Maus entzogen hat. Man könnte einen Stand der Dingeannehmen, in dem es viele Katzen gibt, die niemals eineMaus gesehen, doch einige darunter, die davon gehört haben.Darüber hinaus könnte eine besonders günstig aspektierteKatze vielleicht sogar Erfahrungen mit Mäusen gehabt ha-ben. Es versteht sich, daß solche Erfahrungen unmittelbareMacht verleihen würden; sie würden der Sehnsucht ein Zielgeben. Selbst die Annahme, selbst der Verdacht, daß solcheErfahrungen bestünden, würde Machtstellungen im Katzen-reich anbahnen. An der Spitze des Katzenreiches stände dieeine, die gesehen hat. Sie würde durch jene, die gehört ha-ben, die Masse führen, die weder gehört noch gesehen hat.

In einer Gesellschaft, die nur aus Männern bestände undin der man niemals Kunde erhalten hätte, daß es Frauen gibt,würde auch jede Vorstellung fehlen von der Ergänzung, aufdie das männliche Wesen mit seinen geistigen und physi-schen Organen angelegt ist. Es würde gleichwohl ein starker

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Eros lebendig sein, zwar ohne Aussicht auf Erfüllung, aberals Kraft, als Sehnsucht vielleicht noch stärker als in unsererWelt.

Notwendig würde diese Sehnsucht sich auf Männer rich-ten – man würde das männliche Wesen sublimieren undvielleicht glauben, daß es Halbgötter gäbe, in deren Umkreissich ein höchstes und unbekanntes Glück eröffnete. Dagegenwürde keine Phantasie, kein Wunschbild und keine Wissen-schaft zur Einsicht in den Plan gelangen, nach dem das Weibgebildet ist. Hier könnte nur das Wunder wirken – gleichder Erscheinung der Eva, wie Adam sie, aus dem Schlaf er-wachend, sah.

Wen hätte nicht einmal das Gefühl erfaßt, daß auch sein Le-ben auf eine unbekannte Erfüllung wartet – auf eine Ergän-zung, die es abrundet? Die Welt erscheint uns unvollkom-men, oft grausam, fast immer ungerecht. Doch könnten unse-re Ideale, unser Urteilen und Richten nicht jenen Spielengleichen, mit denen die Katze sich begnügt? Wir kennen dieandere Seite nicht, doch dringen Ahnungen des ungeheurenReichtums wie Schatten in unsere Sinnenwelt. Die Zeit hatetwas Sinnloses, Gestelltes; es könnte einen Zusatz geben,der sie aus diesem Bann erlöst. Die Zeit ist Bühne, doch hin-ter den Kulissen verwandeln wir uns in uns selbst.

Umgekehrt dürfen wir schließen, daß, wo Sehnsucht be-steht, sie auf eine vielleicht ferne und unsichtbare, vielleichtauch in der Zeit versagte, Erfüllung gerichtet ist. Hierher ge-hört das Feld des Glaubens, der Religionen – es gleicht denVorgärten von Schlössern, die kein menschlicher Fuß betre-ten, kein menschliches Auge gesehen hat. Doch wäre es un-sinnig, anzunehmen, daß dieser Sehnsucht, der stärksten, diewir kennen, die Erlösung fehlt. Nur geht es uns hier wie derKatze, die nie von Mäusen, oder wie den Männern, die nievon Frauen hörten: wir schaffen uns die Fetische und Idealenach unseren Maßstäben. Wir zeichnen das Bild der Über-welten nach menschlichen, das heißt: nach zeitlichen Bauplä-nen. Darauf beruht der Zusatz des Absurden, der unseren

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Religionen anhaftet und der oft überwiegt. Es sind Beschrei-bungen von Blinden, die die Welt des Lichtes ahnen, da des-sen Wärme sie berührt. Doch da sie das Ganz-Andere nichterraten können, vermuten sie sublime Formen der Dunkel-heit.

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DREI KIESEL

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Die mythische Genauigkeit ist eine andere als die geschicht-liche. Sie ist ihr entgegengesetzt, insofern sie nicht auf Ein-deutigkeit, sondern auf Mehrdeutigkeit der Daten beruht.Die historische Person wird durch eine Herkunft, eine Ge-schichte, ein Ende bestimmt. Die mythische Figur dagegenkann mehrere Väter, mehrere Lebensläufe haben, kann zu-gleich Gott und Mensch, zugleich gestorben und lebend sein,und jeder Widerspruch, soweit er echt ist, wird sie in ihrerGenauigkeit erhöhen. Sie wird geschwächt, gefesselt durchhistorische Festlegung. Ihr Ausweis liegt darin, daß sie ausdem Zeitlosen wiederkehrt.

Wo eine historische Person in den Mythos eintritt, wieAlexander als Sohn des Jupiter Ammon, verschwimmt ihrbewußter Umriß zugunsten unsichtbarer Macht. Herrschaft,vor allem erbliche Herrschaft, kann nur auf mythischen Wur-zeln blühen und Frucht tragen. Darauf beruht der Anspruchdes Gottesgnadentums, der für den Fürsten, aber auch für je-den Vater, jeden Meister, für jeden, den ein Amt ziert, unent-behrlich ist, soweit er sich nicht rein auf Leistung und Kündi-gung beruft. Das gleiche gilt für die Sakramente: zur legalenEindeutigkeit muß ein Unbestimmtes, die zeitlose Weihe desMysteriums, hinzutreten, wie sie der Staat von sich aus nichtgewähren kann. Will er darauf verzichten, so muß er entwe-der die Kündigung erleichtern oder an die Stelle der Weiheden Zwang setzen. Das ist der Unterschied der beiden Sy-steme, zwischen denen wir die Wahl haben, wenn wir demVerzicht zustimmen. Beide sind kurzlebig und können nur imSchrecken endigen.

Die mythenbildende Kraft des Menschen ist mythischeKraft. Sie hat mit seiner historischen Größe oder seinemCharakter nichts zu schaffen, sondern ist etwas, das mit ihmund in ihm wiederkehrt. Zeitloses leuchtet in ihm auf.

Noch im Geschichtlichen dagegen bewegt sich die anek-dotenbildende Kraft, die starke Menschen und Einrichtungen

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auszeichnet. In ihr tritt nicht das Unbestimmte, sondern dasGeprägte, tritt der Charakter deutlicher hervor. Die Anekdo-te braucht nicht wahr zu sein; ihr Wert liegt weniger in derBegebenheit als darin, daß sie sich über das Episodische er-hebt. Sie formt das Mögliche in gleichnishafter Weise ausund schärft noch die Konturen, die der Mythos verschwim-men läßt. Das ist der Unterschied des Lichtes bei Plutarchund bei Herodot. Das Anekdotische kann in die Fabel absin-ken; man findet immer Ränder, an denen das Ungereimte dasMögliche zu überwuchern scheint. Dagegen gibt es bis in un-sere Tage Menschen, um die sich die Anekdoten ranken wieEfeu um einen alten Turm. In ihnen, etwa in zugleich starkenund witzigen Greisen, kann sich ein ganzes Volk genießen;es dichtet an ihrem Leben mit.

Eine der großen Bühnen für die mythischen Figuren istder Traum. Daher gehören zu seinen Elementen das Unbe-stimmte, das Vieldeutige, die Wiederkehr. Das Zeitlose anihm wird daran deutlich, daß seine Bildwelt uralten und zu-gleich zukünftigen Schichten angehören kann. Der Traum istdaher ein Mittel nicht nur der Schicksalsdeutung, sondernauch der Schicksalsformung, sei es durch die Berührung deseigenen Wesenskernes, sei es durch mantische Schau. Vomhier gewonnenen Wissen wird man freilich nie Wesensände-rung erhoffen dürfen, sondern im besten Falle Selbstverwirk-lichung. Doch zählt auch Heilung zu den Formen dieser Ver-wirklichung.

Das Mythische ruht unter dem Persönlichen und ist nochstärker als Schicksalsmacht. Hinter dem Schicksal taucht einAnderes und Unbestimmtes auf, dem gegenüber die PersonGefäß wird, das sich köstlich füllen, doch auch zerspringenkann. Das gleiche Unfaßliche steht hinter dem Dichter, ihmungeheure Macht verleihend, und gibt dem Werk die Dauer,der die Zeit nicht Abbruch leisten wird.

Mythische Zeit ist Zeit im Sinn der Genesis. Ein Tag istwie tausend Jahre, und tausend Jahre sind wie ein Tag. DasStreben der Textkritik ist die Verwandlung von mythischer,von heiliger Geschichte in bloße Historie. Das entspricht der

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subalternen Traumdeutung und überhaupt dem Hang derZeit nach eindeutiger Wissenschaft. Aber nicht umsonst sindvier Evangelien genauer und überzeugender als eins.

Unmittelbare und künstlerische Imagination. Anläßlich desVersuches, ein Schlangenhaupt nachzuzeichnen, das ich imTraume sah.

Die Imagination, wie sie im Traum oder auch während dermüßigen Betrachtung sich entfaltet, hat eine Fruchtbarkeit,die keine bewußte Anstrengung erreicht. So formen sichWolken, alte Mauern, das Moos auf Dächern zu Gebilden,die den Schauenden selbst überraschen durch ihre Dichte,ihre Trächtigkeit.

Das ist die Schau der unmittelbaren, naiven Imagination.Sie wirkt in jedem Menschen, sei es im Fieber, sei es im Rau-sche, sei es in Augenblicken der Schwäche, des Zwielichts,der Dämmerung.

Demgegenüber kommt auch das Höchste, was der Künst-ler ersinnen mag, aus zweiter Hand, ist mittelbare Imagina-tion. Mit anderen Worten: wir dürfen im Nächstbesten tiefe-re Genialität vermuten, als sie das Kunstwerk mitteilen kann.Das läßt sich auch so ausdrücken: der Mensch lebt als Ge-schöpf aus erster, als Schöpfer aus zweiter Hand.

Wir können die mittelbare Imagination Erfindung nennen,Erfindungskraft. Der Geist erfindet nichts, was nicht im Uni-versum ist; sein Werk bleibt Stückwerk, bleibt Anordnung.

Das Wunderbare am Kunstwerk ist, daß die mittelbareImagination der unmittelbaren so dicht aufliegt, daß diesedurchleuchtet. Bei der Betrachtung solcher Werke umwehtuns ein Hauch des Kindlichen und Märchenhaften, der wil-den Fruchtbarkeit, des großen Auftrages. Der Künstler istdann noch etwas mehr als Künstler; er spricht nicht nur ausmittelbarer: aus ihm und durch ihn spricht unmittelbare Ima-gination.

Ähnliche Kräfte wohnen dem Körper inne; die Heilkraftist seine Genialität. Was dort unmittelbar am Werk ist, dasüberbietet spielend die höchste Anstrengung der Kunst.

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Heilkunst bleibt immer mittelbare Imagination. Sie wird derGenialität am nächsten kommen, wenn sie der Dichtung äh-nelt, die wir erwähnten: indem sie den Organen so dicht auf-liegt, daß deren unmittelbare Imagination durchleuchtet.

Die mittelbare Imagination kann Richtschnur geben nurfür meßbare Ziele und Entfernungen. Wer das begriffen hat,wird auch die Urteile verachten, die der Geist mit ihrer Hilfeüber Bestimmung und Schicksal des Menschen fällt. Armseli-ge Propheten, die wissen wollen, was nach dem Tode seinwird, und dümmer sind als der Scarabaeus, der seine Kugelrollt.

Ist es ein Zufall, daß die Hyäne in den Lichtkreis der Lager-feuer tritt? Früher sah man den Typus nur vereinzelt, in denvergitterten Gehegen der Irrenhäuser und Gefängnisse. Jetztsind die Schranken gefallen, und das heulende Winseln, daseinst nur die Jäger am Rand der Wildnis hörten, umkreist unsmit frohlockender Gier. Geier und Hyänen – sie kommen,wenn Adler und Löwen gegangen sind.

Was hilft es, daß man hin und wieder eine der Bestien inder Dunkelheit erlegt, auf Gängen, bei denen kein Ruhm zuernten ist? Daß sie so nahe kommen, so furchtbar werden,Gedanken und Träume von Millionen durch ihre Gegenwartzersetzen – das liegt nicht in ihrer Macht. Sie kommen, weilsie beschworen werden: Der Aashauch der Beute zieht siean.

Noch sieht man die Gleichheit der großen Schlächternicht. Man sieht nur ihre Masken, das heißt: die Ideen, derensie sich bedienen und die ihnen Vorwände zum Morde sind.Vaterland, Menschheit, Freiheit – das alles hat schon Stim-mung zum Massenmord gemacht.

Man muß nicht nur Ideen, man muß auch Typen sehen.Dann wird man erkennen, daß diese Massenschlächter selbstphysiognomisch sich ähnlich sind. Überall ist das beunruhig-te, angeekelte und ewig witternde Gesicht. Bald hat man denEindruck, daß schlechte Gerüche sie peinigen, dann wiederverzerrt ein dämonisches Frohlocken ihre Züge, ein düsterer

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Glanz. Wer das sieht, der ahnt auch, was im Inneren derSchaubuden vor sich geht, gleichviel wie sie angestrichensind.

Wer seine Maße der Politik entnimmt, wird nie das Schau-spiel erfassen, das hier geboten wird. All diese Geister habenein Ziel, das sie verbündet; sie arbeiten sich in die Hand. Siefühlen sich verpflichtet, nachzuweisen, daß der Menschnichts ist und daß ihm nichts innewohnt, was ihn von der Ma-terie unterscheiden kann. Den Nachweis suchen sie mit gro-ßer List, dann wieder mit offen mörderischer Wut zu führen;Millionen müssen dafür ihr Blut lassen.

Hier geht es nicht mehr um Macht-, es geht um Heilsfra-gen, um vorbestimmte Ränge, die der Macht verschlossensind. Daher die Angst der Gewalthaber. Sie können Millio-nen zwingen, doch nicht den Einen, der in sich den Tod be-zwungen hat. Er stellt die Würde des Menschen wieder her.Dann ändert sich der Sinn der Blutaltäre; die Schändungdiente nur dazu, den Glanz der Wahrheit zu erhöhen.

Das ist der Albdruck der Tyrannen: daß ihr Opfer auf-steigt in eine Freiheit, die ihnen unzugänglich ist, und daß es,indem sie es zu vernichten wähnen, entschwindet in Räume,in denen die Folter ihre Macht verliert. Und der Angsttraumder Henker ist dieser: daß ihr Opfer sich wieder belebt. Daßdas nicht sein soll: darauf richtet sich die Anstrengung derWissenschaft.

Das große Thema der Geschichte heißt Auferstehung,denn der Mensch ist nicht nur ein politisches Wesen – er istauch ein Wesen, das eine Hoffnung, ein Schimmer von Ewig-keit belebt. Auch Pflanzen und Tiere sind vom Ewigendurchwaltet; dicht unter dem Schleier ihrer Blüten, ihrerSpiele beginnt das Unvergängliche. Doch steigt es nicht inihre Freiheit auf. Im Menschen sind die drei großen Zweigeder Weisheit, der Kunst, der Religion entfaltet, die alle einund demselben zustreben. In ihnen kommt zum Ausdruck,daß er nicht rein aus Instinkt und nach Notwendigkeit ver-fährt. Ein Strahl des Unvergänglichen ist in ihn eingefallen;das unterscheidet auch seine Liebe von allen anderen.

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Es ist im Grunde eine kleine Bühne, auf der die Menschen-geschichte spielt – nicht größer als der Marktplatz eineralten Stadt. Hier herrschen Furcht und Zittern, es wird derTriumph des Todes aufgeführt. Man sieht, wie er mit seinenGroßtrabanten die Welt bezwingt. Das ist das Thema desSchauspiels, zu dem die Fackeln leuchten; Zähne und Kral-len, ein Arsenal von fürchterlichen Waffen beherrscht dieWelt.

Woher kommt dann die Lichtflut, die das alles in Spukverwandelt, während ein großes Erwachen, mächtige Heiter-keit die Welt erfüllt? Daß nach der Nacht ein Morgen, daßnach dem Winter ein Frühling obsiegt: das sind nur Hinweiseim großen Anschauungsunterricht. Wo Schrecken regiert,herrscht mindere Wirklichkeit. Und immer wieder fällt Lichtin die Labyrinthe und sprengt Gitter und Riegel auf.

Natur- und Weltgeschichte sind zwei Mysterienspiele,doch hat es nichts zu sagen, ob man die Namen der Sterneund Reiche kennt, die in ihnen auftreten. Sie sinken mit derVorstellung dahin. Auch Sonnen sind nur die Zeiger einerunsichtbaren Uhr. Kein Fernrohr entschleiert deren Gang.

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