6
WTO Wirtschaftsdienst 2009 • 8 534 I m Titel dieses Beitrags liegt mit voller Absicht eine Ambivalenz. Soll hier untersucht werden, welchen Beitrag die WTO zur Bekämpfung der globalen Wirt- schaftskrise leistet? Oder soll angedeutet werden, dass sich die WTO selbst in einer Krise befindet? Die Antwort ist: Hier geht es um beides. Beide Fragen und auch ihre Wechselwirkungen sind Gegenstand dieses Beitrags. Ausgangspunkt und Leitmotiv ist die gegen- wärtige Lage in der Weltwirtschaft, die – initial ange- stoßen durch den Zusammenbruch der spekulativen Blase am US-Immobilienmarkt – in einer Folge von gi- gantischen Dominoeffekten in eine tiefe Krise gestürzt ist. Ihr Verlaufspfad ist gesäumt von Opfern und Kol- lateralgeschädigten. Sie hat mächtige Investmentban- ken zu Pennystocks degradiert und Weltunternehmen in die Insolvenz getrieben. Zu den Gewinnern der Krise gehört z.B. der Weltwährungsfonds (IWF), dem noch vor wenigen Jahren die Existenzberechtigung abge- sprochen wurde, dessen Finanzmittel aber nun mehr als verdreifacht werden und der – mit einer Fülle neuer Aufgaben ausgestattet – eine führende Rolle bei der Bewältigung der Weltfinanzkrise übernimmt. Zu den großen Verlierern der Krise gehört dagegen die Welt- handelsorganisation (WTO). Seit Ausbruch der Krise verlaufen die Kraftlinien der weltweiten Wirtschafts- politik an ihrem Sitz in Genf vorbei. Fragen der Welt- handelspolitik werden im bilateralen Kontakt zwischen Regierungen entschieden, die WTO wurde in die Rolle des Zuschauers gedrängt. Mühsam erarbeitete Stan- dards der Welthandelsordnung für freien und fairen Marktzugang werden im Subventionswettlauf der Staaten beiseite geschoben. Martin Klein, Dmitry Kamenev Die WTO in der Krise Die Finanzmarktkrise hat gravierende Auswirkungen auf Weltwirtschaft und Welthandel. Aber auch die internationalen Organisationen sind von der Krise betroffen: Der Internationale Währungsfonds IWF und die Weltbank erleben als Retter in der Not einen Aufschwung. Von der Welthandelsorganisation WTO hört man – trotz massiver Verstöße gegen ihren Subventionskodex – eher wenig. Prof. Dr. Martin Klein, 56, lehrt Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Martin-Luther- Universität Halle-Wittenberg; Dmitry Kamenev, 25, von der Staatlichen Universität St. Peters- burg ist Bundeskanzler-Stipendiat an der Martin- Luther-Universität mit den Forschungsgebieten Welthandelsorganisation und Deutsch-Russi- sche Wirtschaftsbeziehungen. Was ist hier schiefgegangen? Krisenzeiten der Welt- wirtschaft sollten für die internationalen Wirtschaftsor- ganisationen doch Zeiten des Aufschwungs sein. Sind es nicht gerade die schwierigen Zeiten, für die wir sol- che Organisationen brauchen? Warum gelingt es also der WTO nicht, ähnlich wie dem IWF in der Krise ihre Bedeutung unter Beweis zu stellen? Diese Fragen wol- len wir in diesem Beitrag kurz anschneiden und nach Antworten suchen. Diese münden dann in Vorschläge dahingehend, wie die Aufgaben der WTO neu definiert werden könnten, damit sie in Zukunft eine gesicherte und sinnvolle Position im Gefüge der Weltwirtschafts- organisationen einnehmen kann. Von der Finanzkrise zur Krise der Welthandelsorganisation Die Krise nahm ihren Anfang im Finanzsystem der führenden Volkswirtschaften. Gerade die Länder mit den am höchsten entwickelten Finanzmärkten ver- zeichneten die schärfsten Einbrüche, während viele Entwicklungsländer anfänglich noch verschont blie- ben. Doch mit einiger Verzögerung ist nun auch ein starker Rückgang der Finanzierungsflüsse von den rei- chen in die armen Länder zu verzeichnen. Abbildung 1 illustriert dies, wobei die zugrundeliegenden Zahlen die Veränderung der Gesamtforderungen aus Wertpapier- anlagen und Krediten gegenüber sogenannten Emer- ging Markets wiedergeben. Die jährlichen Mittelwerte folgen bis 2007 einem kontinuierlichen Aufwärtstrend. Im Verlauf des Jahres 2008 brechen sie aber drama- tisch ein, wobei der Verlauf in der zweiten Hälfte des Jahres nahelegt, dass sich der Abwärtstrend auch 2009 fortsetzt. Dem Rückgang der Finanzströme innerhalb der In- dustrieländer und zwischen Industrie- und Entwick- lungsländern folgt nun ein Einbruch des Welthandels. Zuerst und quantitativ besonders fühlbar betrifft dies den Handel der Industrieländer, die mit ihren Produk- ten den wertmäßig größten Teil des Welthandels be- streiten. Doch die Finanzkrise hat auch den Außen- handel der Entwicklungs- und Schwellenländer massiv DOI: 10.1007/s10273-009-0964-1

Die WTO in der Krise

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Die WTO in der Krise

WTO

Wirtschaftsdienst 2009 • 8534

Im Titel dieses Beitrags liegt mit voller Absicht eine Ambivalenz. Soll hier untersucht werden, welchen

Beitrag die WTO zur Bekämpfung der globalen Wirt-schaftskrise leistet? Oder soll angedeutet werden, dass sich die WTO selbst in einer Krise befi ndet? Die Antwort ist: Hier geht es um beides. Beide Fragen und auch ihre Wechselwirkungen sind Gegenstand dieses Beitrags. Ausgangspunkt und Leitmotiv ist die gegen-wärtige Lage in der Weltwirtschaft, die – initial ange-stoßen durch den Zusammenbruch der spekulativen Blase am US-Immobilienmarkt – in einer Folge von gi-gantischen Dominoeffekten in eine tiefe Krise gestürzt ist. Ihr Verlaufspfad ist gesäumt von Opfern und Kol-lateralgeschädigten. Sie hat mächtige Investmentban-ken zu Pennystocks degradiert und Weltunternehmen in die Insolvenz getrieben. Zu den Gewinnern der Krise gehört z.B. der Weltwährungsfonds (IWF), dem noch vor wenigen Jahren die Existenzberechtigung abge-sprochen wurde, dessen Finanzmittel aber nun mehr als verdreifacht werden und der – mit einer Fülle neuer Aufgaben ausgestattet – eine führende Rolle bei der Bewältigung der Weltfi nanzkrise übernimmt. Zu den großen Verlierern der Krise gehört dagegen die Welt-handelsorganisation (WTO). Seit Ausbruch der Krise verlaufen die Kraftlinien der weltweiten Wirtschafts-politik an ihrem Sitz in Genf vorbei. Fragen der Welt-handelspolitik werden im bilateralen Kontakt zwischen Regierungen entschieden, die WTO wurde in die Rolle des Zuschauers gedrängt. Mühsam erarbeitete Stan-dards der Welthandelsordnung für freien und fairen Marktzugang werden im Subventionswettlauf der Staaten beiseite geschoben.

Martin Klein, Dmitry Kamenev

Die WTO in der KriseDie Finanzmarktkrise hat gravierende Auswirkungen auf Weltwirtschaft und Welthandel.

Aber auch die internationalen Organisationen sind von der Krise betroffen: Der Internationale Währungsfonds IWF und die Weltbank erleben als Retter in der Not einen Aufschwung. Von der Welthandelsorganisation WTO hört man – trotz massiver Verstöße

gegen ihren Subventionskodex – eher wenig.

Prof. Dr. Martin Klein, 56, lehrt Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Dmitry Kamenev, 25, von der Staatlichen Universität St. Peters-burg ist Bundeskanzler-Stipendiat an der Martin-Luther-Universität mit den Forschungsgebieten Welthandelsorganisation und Deutsch-Russi-sche Wirtschaftsbeziehungen.

Was ist hier schiefgegangen? Krisenzeiten der Welt-wirtschaft sollten für die internationalen Wirtschaftsor-ganisationen doch Zeiten des Aufschwungs sein. Sind es nicht gerade die schwierigen Zeiten, für die wir sol-che Organisationen brauchen? Warum gelingt es also der WTO nicht, ähnlich wie dem IWF in der Krise ihre Bedeutung unter Beweis zu stellen? Diese Fragen wol-len wir in diesem Beitrag kurz anschneiden und nach Antworten suchen. Diese münden dann in Vorschläge dahingehend, wie die Aufgaben der WTO neu defi niert werden könnten, damit sie in Zukunft eine gesicherte und sinnvolle Position im Gefüge der Weltwirtschafts-organisationen einnehmen kann.

Von der Finanzkrise zur Krise der Welthandelsorganisation

Die Krise nahm ihren Anfang im Finanzsystem der führenden Volkswirtschaften. Gerade die Länder mit den am höchsten entwickelten Finanzmärkten ver-zeichneten die schärfsten Einbrüche, während viele Entwicklungsländer anfänglich noch verschont blie-ben. Doch mit einiger Verzögerung ist nun auch ein starker Rückgang der Finanzierungsfl üsse von den rei-chen in die armen Länder zu verzeichnen. Abbildung 1 illustriert dies, wobei die zugrundeliegenden Zahlen die Veränderung der Gesamtforderungen aus Wertpapier-anlagen und Krediten gegenüber sogenannten Emer-ging Markets wiedergeben. Die jährlichen Mittelwerte folgen bis 2007 einem kontinuierlichen Aufwärtstrend. Im Verlauf des Jahres 2008 brechen sie aber drama-tisch ein, wobei der Verlauf in der zweiten Hälfte des Jahres nahelegt, dass sich der Abwärtstrend auch 2009 fortsetzt.

Dem Rückgang der Finanzströme innerhalb der In-dustrieländer und zwischen Industrie- und Entwick-lungsländern folgt nun ein Einbruch des Welthandels. Zuerst und quantitativ besonders fühlbar betrifft dies den Handel der Industrieländer, die mit ihren Produk-ten den wertmäßig größten Teil des Welthandels be-streiten. Doch die Finanzkrise hat auch den Außen-handel der Entwicklungs- und Schwellenländer massiv

DOI: 10.1007/s10273-009-0964-1

Page 2: Die WTO in der Krise

Wirtschaftsdienst 2009 • 8

WTO

535

unter Druck gebracht. Charakteristisch für diese Län-der ist, dass sie unter chronischer Devisenknappheit leiden. Zur Finanzierung ihrer Importe benötigen sie Mindestbestände an Währungsreserven, bestehend aus den großen Währungen US-Dollar, Euro, Pfund Sterling und Yen, die den Großteil der Umsätze an den internationalen Devisenmärkten ausmachen. Doch es sind genau die Finanzmärkte dieser Großwährungen, an denen die Krise sich am stärksten zeigt. Neben Li-quiditätsknappheit und einer gefährlich geschrumpf-ten Eigenkapitaldecke bei vielen Finanzinstituten trägt auch eine deutlich gesteigerte Risikoaversion dazu bei, die Kreditgewährung an periphere Länder der Welt-wirtschaft zu bremsen. Die Finanzkrise hat dadurch die Liquiditätsknappheit in den Entwicklungsländern dramatisch verschärft und zu einem Rückgang des Nord-Süd-Handels geführt. Dies ist der wichtigste Grund dafür, dass die G20 auf ihrem Londoner Gipfel vom April dem IWF eine massive Ausweitung seiner Finanzierungsmittel gewährt hat und ihm gleichzeitig grünes Licht für eine neue Kreditfazilität – die Flexible Credit Line (FCL) – gegeben hat, die weitgehend frei von restriktiver Konditionalität ist. Die Mitgliedsländer der G20 haben erkannt, dass eine reichliche Versor-gung mit internationaler Liquidität eine Grundvoraus-setzung zur Bewältigung der Weltwirtschaftskrise ist.

Mit der Stärkung des IWF und der Aufstockung der globalen Liquidität handeln die Mitgliedsländer der G20 auch im wohlverstandenen eigenen Interesse, denn sie tragen damit auch zur Finanzierung ihrer ei-genen Exporte bei. Investitionsgüter und industrielle Vorprodukte sind für viele Entwicklungs- und Schwel-

lenländer die wichtigsten Importprodukte. Ohne diese Importe, für die sie keine heimischen Substitute ha-ben, ist ihre Wirtschaft nicht funktionsfähig; ohne sie sind sie insbesondere nicht in der Lage, ihre eigenen Exportprodukte herzustellen. Es ist wohl dieses Junk-tim zwischen Finanzierung, internationaler Liquidität und Handel, das dazu beiträgt, dass der Welthandel derzeit seinen stärksten und vor allem schärfsten Ein-bruch seit dem Weltkrieg erlebt. Abbildung 2 zeigt, dass in nur zwei Quartalen am Ende des Jahres 2008 die Hälfte aller Zuwächse des Welthandels seit 2004 verloren ging. Traditionelle Überschussländer wie et-wa Japan weisen plötzlich Leistungsbilanzdefi zite aus, weil ihre Exporte wegbrechen. Auch die Bundesrepu-blik erlebt bei ihren Exporten mit einem Rückgang von 29% von April 2008 bis April 2009 den stärksten Ein-bruch der Nachkriegszeit.1

Die Krise an den Weltfi nanzmärkten ist also end-gültig zur Krise des Welthandels geworden. Doch wo bleibt in dieser dramatischen Lage die Welthandels-organisation? Erfährt sie eine ähnliche Aufwertung wie der IWF? Werden ihr neue Aufgabenbereiche und neue Machtmittel zur Erreichung ihres größeren Aufga-benportfolios zugewiesen? Davon ist derzeit nichts zu spüren. Parallel zum Abschwung des Welthandels ver-sinkt die WTO in die Bedeutungslosigkeit. Sicher, der Generaldirektor der WTO wird weiterhin zusammen mit den Direktoren der anderen internationalen Spit-zenorganisationen zu den Treffen der G20 eingeladen. Auch fehlt es nicht an Bekundungen seitens wichtiger

1 Vgl. dazu Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung Nr. 213 vom 9.6.2009, www.destatis.de.

Abbildung 2Entwicklung des Welthandels

(in Mrd. US-$)

Q u e l l e : IWF. Q u e l l e : WTO.

Abbildung 1 Wertpapier- und Kreditfl üsse in Emerging Markets

(in Mrd. US-$)

Page 3: Die WTO in der Krise

WTO

Wirtschaftsdienst 2009 • 8536

Verhandlungsführer der G20, die Doha-Runde noch in diesem Jahr zu einem erfolgreichen Abschluss brin-gen zu wollen – so zuletzt Angela Merkel und Nicolas Sarkozy in einem gemeinsam verfassten Artikel. Doch faktisch laufen die wichtigen Entscheidungen an der WTO vorbei. Nirgendwo zeigt sich dies deutlicher als bei den großen Rettungsaktionen in Europa und den USA für Banken und Industrieunternehmen.

Staatliche Garantien, Kredite und Beteiligungen lau-fen in praktisch allen Fällen auf eine Subventionierung nationaler Unternehmen hinaus, die unter normalen Umständen im Rahmen der WTO zu Widerständen führen müsste. Der Subventionskodex der WTO bietet den Mitgliedsländern die Handhabe, sämtliche Sub-ventionen bei der WTO einzuklagen, um sie auf Kon-formität mit dem Welthandelsrecht zu überprüfen. Man müsste von daher in einer Welt, in der Subventionen um sich greifen, eine Zunahme der WTO-Streitfälle er-warten. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Streitfälle befi nden sich nach einem kurzen Aufschwung in den ersten Jahren nach Gründung der WTO auf einem ab-wärts verlaufenden Trend, der auch im laufenden Jahr 2009 anhält (vgl. dazu Abbildung 3). In den ersten fünf Monaten des laufenden Jahres wurden lediglich fünf Streitfälle registriert. Und sie behandeln keine großen Themen, wie etwa die Subventionen im Banken- und Industriebereich auf beiden Seiten des Atlantiks oder die Buy-American-Klausel des riesigen Konjunktur-pakets der neuen US-Administration. Die Streitfälle betreffen Hühner und Rinder und ähnliche kleinere Probleme abseits vom Hauptstrom des Welthandels. Man kann deshalb mit Fug und Recht konstatieren:

Anstatt sich einzumischen, wird die WTO an den Rand gedrängt.

Gründe für die Marginalisierung der WTO

Anders als IWF und Weltbank ist die WTO keine Finanzorganisation. Ihr Kompetenzbereich sind die Spielregeln des Welthandels. Ihre Arbeit ruht auf der Basis von fünf Grundprinzipien:

Nichtdiskriminierung,1.

Reziprozität, 2.

bindende und durchsetzbare Verpfl ichtungen,3.

Transparenz und 4.

Sicherheitsventile. 5.

Nichtdiskriminierung umfasst die bekannten Prinzi-pien der Meistbegünstigung und Inländerbehandlung; Reziprozität bezeichnet das Prinzip des ausgegliche-nen Gebens und Nehmens von Konzessionen im Rah-men der multilateralen Verhandlungen unter den WTO-Mitgliedern. Auch die bindenden und durchsetzbaren Verpfl ichtungen gehören in diesen Rahmen; sie kon-kretisieren sich u.a. in den Zollbindungen, die Länder eingehen, und insbesondere in der Einklagbarkeit aller Verpfl ichtungen beim Schiedsgericht der WTO. Trans-parenz in der Außenhandelspolitik ist eine Grundvor-aussetzung für geordnete Handelsbeziehungen. Die Sicherheitsventile schließlich sind gewollt, um den Mitgliedsländern in begrenztem Ausmaß und im ord-nungspolitischen Rahmen der WTO einen rechtlich abgesicherten Protektionismus zu ermöglichen. Sie sollen sich bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die ihren Ursprung im Bereich des Außenhandels haben, schützen können. Diese eingebaute Flexibilität soll verhindern, dass bei Schwierigkeiten gleich die ge-samte Welthandelsordnung zum Einsturz kommt.

Durchdrungen werden diese fünf Grundprinzipien von einer stillschweigenden Übereinkunft zwischen den Mitgliedsländern. Anders als IWF und Weltbank ist die WTO eine sogenannte Member-driven Orga-nization: „The WTO is a rules-based, member-driven organization – all decisions are made by the member governments, and the rules are the outcome of negoti-ations among members.“2 Gemäß diesem ungeschrie-benen Gesetz wird die WTO von der tagtäglichen ak-tiven Einmischung ihrer Mitgliedsländer in ihre Arbeit getragen und geprägt. Die Mitglieder setzen die Agen-da und treffen die Entscheidungen, das Sekretariat der WTO arbeitet ihnen zu.

2 Vgl. WTO: The WTO. Information about the institution, URL: http://www.wto.org/english/thewto_e/thewto_e.htm.

Abbildung 3Jährliche Zahl der Streitfälle vor dem

WTO-Schiedsgericht

Anmerkung: Die Zahl für das Jahr 2009 umfasst Streitfälle bis Mai.

Q u e l l e : WTO.

Page 4: Die WTO in der Krise

Wirtschaftsdienst 2009 • 8

WTO

537

Bei rein formaler Betrachtung sind die Verhältnis-se damit bei der WTO nicht anders als bei IWF und Weltbank. Doch bei materialer Betrachtung sind Un-terschiede nicht zu übersehen. Die Regeln, von denen in dem obigen Zitat die Rede ist, werden von Mitglie-dern für (oder gegen) andere Mitglieder gemacht; nie kommt das Sekretariat in die Lage, besser Bescheid zu wissen, einen Vorsprung an Informationen oder Know-how gegenüber den Mitgliedsländern zu haben. Die „Mitglieder-Getriebenheit” der WTO führt damit zur Machtlosigkeit der WTO als Organisation gegen-über ihren Mitgliedern.

Ein Beispiel dazu liefert ein WTO-interner Bericht, über den Anfang Februar 2009 in verschiedenen Inter-netquellen berichtet wurde, ohne dass die Nachricht von den großen Tageszeitungen oder Nachrichten-diensten aufgenommen wurde. Er enthielt u.a. eine Zu-sammenstellung der protektionistischen Maßnahmen, die verschiedene Mitglieder der WTO im Zuge der eskalierenden weltweiten Wirtschaftskrise eingesetzt hatten. Die Zusammenstellung war vom Sekretariat der WTO weitgehend aus Pressemeldungen(!) erstellt worden.3 Die weltweite Wirtschaftskrise zeigt sich also auf zwei Arten in der Welthandelspolitik: Die protek-tionistischen Tendenzen nehmen zu, die Bereitschaft dies bei der WTO öffentlich anzuzeigen bzw. einzukla-gen nimmt ab, da es sich um Parallelverhalten handelt. Zwischen den Mitgliedern herrscht Burgfrieden: Nie-mand klagt den anderen an, da niemand selbst ange-klagt werden will. Die WTO wird einfach umgangen.

Hier zeigt sich das Problem der mitgliedergetrie-benen WTO im Vergleich zu IWF und Weltbank: Diese könnten nie in vergleichbarer Weise marginalisiert wer-den, da sie in ihrem jeweiligen Arbeitsbereich einen Informations- und Kompetenzvorsprung besitzen und kritische Koordinationsaufgaben wahrnehmen. Ihre Mitglieder sind deshalb buchstäblich auf sie angewie-sen. Aktuelle Beispiele sind

1. das vor kurzem beendete Treffen der Finanzminis-ter der G8, bei dem der IWF aufgefordert wurde, bei der Gestaltung einer koordinierten Exit-Stra-tegie beim erwarteten Ausklingen der Finanzkrise mitzuwirken,4 und

3 Vgl. dazu Report of the Secretary-General of the WTO on the fi nan-cial and economic crisis and trade-related developments, 22. Februar 2009, URL: http://www.eyeofdubai.com/v1/news/newsdetail-28060.htm.

4 Die Exit-Strategie soll insbesondere der kontrollierten und koor-dinierten Rücknahme der gigantischen Expansionsmaßnahmen im geld- und fi skalpolitischen Bereich dienen. Vgl. dazu IMF Survey: IMF Asked to Aid G-8 With Exit Strategies For Crisis Policies, 13. Juni 2009, URL: http://www.imf.org/external/pubs/ft/survey/so/2009/NE-W061309A.htm.

2. der Beschluss des US-Kongresses zur fi nanziellen und inhaltlichen Unterstützung des IWF.5

Selbst die USA haben sich also zu der Einsicht durchgerungen, dass eine Stärkung des IWF in ihrem eigenen Interesse ist.6

WTO kümmert sich um Kleinigkeiten

Die WTO dagegen, statt sich um die großen Proble-me zu kümmern, versinkt in Kleinigkeiten. Ein tragiko-misches Beispiel aus der Vergangenheit ist der Streit-fall um die Klassifi zierung der peruanischen Sardine, Sardinops sagax sagax.7 Die Europäische Kommissi-on hatte entschieden, dass dieser Speisefi sch nicht als Sardine klassifi ziert werden durfte und deshalb, nach der europäischen Marktordnung, in Europa nicht als Sardine – z.B. als „Ölsardine” – in den Handel kom-men durfte. Solches stand nur der im Mittelmeer, im Schwarzen Meer und im Nordostatlantik heimischen Sardina pilchardus walbaum offen. Das Schiedsge-richt der WTO entschied diesen Streitfall im Zuge einer Auslegung bzw. Präzisierung des WTO-Abkommens über technische Handelshemmnisse zu Gunsten Pe-rus. Seither dürfen peruanische Sardinen in der Euro-päischen Union unter dem Label „sardinenartige Pro-dukte” (sardine-type products) vermarktet werden.

Streitfälle wie dieser mögen zwar einen humoristi-schen Beigeschmack haben, doch hinter den Kulissen geht es hart zur Sache. Und es geht um mehr als nur um Sardinen. Die WTO war bei diesem Fall u.a. auch Austragungsort eines Proxy-Kampfes zwischen Mit-gliedsländern der Europäischen Union. Zwar haben diese ihre Kompetenz für Fragen des internationa-len Handels an die Europäische Kommission abge-geben, doch hindert sie dies nicht daran, in anderen Gremien und in anderen Gruppierungen Politiken zu befördern, die der offi ziellen Handelspolitik der Euro-päischen Union zuwiderlaufen. So fi ndet man auf den Webseiten des britischen Entwicklungsministeriums (Department for International Development, DFID) die ausführliche Beschreibung eines Projekts, bei dem die britische Regierung der peruanischen Regierung Rechtshilfe gegen die Europäische Union im Rahmen

5 IMF Survey: U.S. Congress Vote Marks Big Step for IMF Reform, Funding, 18. Juni 2009, URL: http://www.imf.org/external/pubs/ft/sur-vey/so/2009/NEW061809A.htm.

6 Henning schreibt dazu: „The fundamental rationale for US support for the IMF remains valid and has been dramatically bolstered by the present crisis.“ Vgl. C. R. H e n n i n g : US Interests and the Internati-onal Monetary Fund, Petersen Institute for International Economics, Policy Brief Nr. PB09-12, Juni 2009, S. 3.

7 Informationen zum Sardinen-Streitfall gibt z.B. H. H a u s e r : The Sardines Case and the Potential of the TBT Agreement, WTO News Nr. 8, April 2003, URL: http://www.siaw.unisg.ch/org/siaw/web.nsf/SysWebRessources/wton8epdf/$FILE/wton8e.pdf.

Page 5: Die WTO in der Krise

WTO

Wirtschaftsdienst 2009 • 8538

des Sar dinenstreits gab.8 Und die Niederlage der Eu-ropäischen Union vor dem Schiedsgericht der WTO wird dabei ausdrücklich als Erfolg der britischen Ent-wicklungspolitik herausgestellt. Eine Organisation, die derart mit den inneren Widersprüchen ihrer Mitglieder beschäftigt ist, hat natürlich Schwierigkeiten, in Kri-senzeiten zu einer einheitlichen Position zu fi nden.

Streit über Zollsenkungsrunde

Betrachten wir ein Beispiel aus einem anderen Ar-beitsbereich der WTO, aus der Zollpolitik. Die Sen-kung der Zölle und insbesondere eine deutliche Re-duzierung der Spitzenzölle war und ist erklärtes Anlie-gen der Verhandlungen im Rahmen der sogenannten NAMA-Verhandlungen,9 die im Zuge der Doha-Runde geführt werden.10 Einzelne Länder können Tausende von unterschiedlichen Importzöllen für die verschiede-nen Produkte des Außenhandels haben. In der Kom-bination mit mehr als 150 Mitgliedsländern ergibt sich eine nicht mehr beherrschbare Komplexität der Zollin-formation. Zur Reduktion der Komplexität verwendet die WTO seit längerer Zeit Zollsenkungsformeln. Der gegenwärtige Standard ist die sogenannte Schweizer Formel:

t1 = at0 /( a + t0 )

Dabei bezeichnen t0 bzw. t1 den alten bzw. neuen Zollsatz, während a ein Koeffi zient ist, der effektiv den neuen Höchstzollsatz festlegt. Die Komplexitäts-reduktion ergibt sich daraus, dass nur dieser für alle Zollsätze gemeinsame Koeffi zient Gegenstand der Verhandlungen ist. Ergeben diese für ein Land einen Koeffi zienten von z.B. 8 (bzw. 20), dann liegen dort alle Zölle am Ende der Senkungsrunde unter 8% (bzw. un-ter 20%). Genau dies sind die Koeffi zienten, die beim letzten Stand der NAMA-Verhandlungen festgelegt wurden: Für Industrieländer 8, für Entwicklungsländer 20, um diesen die WTO-übliche gesonderte Behand-lung (special and differential treatment) zuteil werden zu lassen. Doch dieser Kompromiss stößt in Entwick-lungsländern zunehmend auf Widerstand. Die vorge-sehenen Zollsenkungen führen dort zu öffentlichen Polemiken eines Ausmaßes, das aus Sicht der Indust-rieländer schwer nachzuvollziehen ist. Die Behauptung

8 Department for International Development (DFID): Q. When is a Sar-dine not a Sardine? A. When the European Community says it’s not, URL: http://www2.dfi d.gov.uk/casestudies/fi les/south-america/peru-sardines.asp.

9 NAMA steht für Non-Agricultural Market Access. Vgl. dazu WTO: A simple guide — NAMA Negotiations, URL: http://www.wto.org/eng-lish/tratop_e/markacc_e/nama_negotiations_e.htm.

10 Zur Doha-Runde, vgl. R. J. L a n g h a m m e r : Doha ohne Ende: Woran krankt die Welthandelsrunde?, in: Wirtschaftswissenschaftli-ches Studium, 2007, Nr. 36, Bd. 11, S. 567-572.

steht im Raum, die Zollsenkungsformel sei die Formel für das Scheitern der NAMA-Verhandlungen.11 Die mächtigen Welthandelsnationen halten zwar weiterhin am Acquis des bisherigen Verhandlungsstandes fest, doch de facto sind sie schon längst dabei, sich anders zu orientieren. Auch hier wird die WTO umgangen. Bi-laterale und plurilaterale Abkommen werden gezielt eingesetzt, um bei den wichtigsten Wirtschaftspart-nern besseren Marktzugang zu erzielen. Dabei werden neben tarifären auch nichttarifäre Handelshemmnisse angegangen, ergänzt durch sektorale Zollabbauinitiati-ven. Das Ergebnis ist, dass die multilateralen Verhand-lungen auf der Ebene der WTO marginalisiert werden. Sie schaden zwar nicht, doch sie bringen immer weni-ger Nutzen. Die wichtigen Aktivitäten in der Welthan-delspolitik fi nden anderswo statt.

Wege aus der Krise

Um gestärkt aus der Krise hervorzugehen, muss die WTO nicht neu erfunden werden. Einige wenige, aber grundsätzliche Justierungen könnten hinreichen, um sie auf einen besseren – will heißen: zukunftsträchti-gen – Kurs zu bringen. Diese Justierungen sollten ge-tragen sein von zwei zentralen Grundsätzen:

Die WTO muss krisentauglich werden.•

Die WTO muss mit ihrer Arbeit wieder in Kernberei-• che der Welthandelsbeziehungen vordringen.

Beides ist unerlässlich, damit die WTO ihr Gewicht unter den großen internationalen Wirtschaftsorganisa-tionen wahren kann. Dies wird ihr nur dann gelingen, wenn sie in Krisensituationen nicht marginalisiert wird, was wiederum erfordert, dass sie nicht ausschließ-lich mit Marginalien befasst ist. Die Wirtschaftskrise wird zur Schlüsselerfahrung der postindustriellen Ge-sellschaft. In den USA bewirkt sie eine fundamentale Neugestaltung der Finanzmarktregulierung, wobei ein erklärtes Ziel darin besteht, dass der Regierung Instru-mente an die Hand gegeben werden, mit denen sie im Krisenfall angemessen reagieren kann. In Deutschland erhält die Krise in Gestalt der Begriffsschöpfung „au-ßergewöhnliche Notsituationen“ sogar Verfassungs-rang. Die großen internationalen Wirtschaftsorganisa-tionen können sich dieser Entwicklung nicht verschlie-ßen. Sie müssen krisentauglich werden.

Die konkreten Folgerungen aus diesen allgemeinen Grundsätzen können nicht ex cathedra verordnet wer-den, sie müssen Ergebnis einer politischen Debatte zwischen den betroffenen Akteuren sein. Doch selbst

11 Vgl. M. R a j a : WTO’s formula for failure, in: Asia Times online, 29. Mai 2008, URL: http://www.atimes.com/atimes/Asian_Economy/JE29Dk01.html.

Page 6: Die WTO in der Krise

Wirtschaftsdienst 2009 • 8

WTO

539

im begrenzten Rahmen des vorliegenden Beitrags las-sen sich drei zentrale Folgerungen identifi zieren:

Kooperation• : Die WTO muss ihre Kooperation mit den Bretton-Woods-Organisationen IWF und Welt-bank stärken, denn nur gemeinsam mit diesen kann sie ihre Bedeutung wahren. Die Zusammenarbeit sollte auch neue Bereiche erschließen, darunter ins-besondere die Finanzsektoren der Mitgliedsländer.12 Als regelorientierte Organisation könnte die WTO hier die fi nanziell und ökonomisch orientierte Arbeit von IWF und Weltbank komplementär ergänzen. Doch sie müsste dafür aus den juristischen Kleinigkeiten herauskommen und sich wieder größeren ökonomi-schen Problemen zuwenden.

Unabhängigkeit• : Die Mitgliedsländer der WTO müs-sen erkennen, dass es in ihrem eigenen Interesse liegt, der WTO mehr Spielraum für selbständige Ent-scheidungen einzuräumen. Unter anderem könnte daran gedacht werden, die Fähigkeit der WTO, ex of-fi cio tätig zu werden, zu stärken. Dabei müssten die Mitglieder in Kauf nehmen, dass sich das Gewicht des Sekretariats im Vergleich zu dem der Mitglieder erhöht. Doch ohne dies ist für die WTO eine Koope-ration auf Augenhöhe mit den anderen großen inter-nationalen Wirtschaftsorganisationen nicht möglich.

Ambitionen• : Die WTO sollte ihre Ziele höher ste-cken, oder besser: Es ist Sache der Mitgliedsländer, der WTO höhere Ziele vorzugeben. Große zukunfts-weisende Themen der Welthandelsbeziehungen, darunter insbesondere Berücksichtigung von Wett-bewerbsfragen in der Welthandelsordnung, sollten wieder aufgenommen werden. Die Konzentrations-tendenzen, die zumindest in den Industrieländern als Folge der Wirtschaftskrise unübersehbar sind, machen dies besonders wünschenswert. Auch in diesem Bereich könnte die WTO Aufgaben ausfüllen, die nicht im Kompetenzbereich der Bretton-Woods-Organisationen liegen und die deshalb bisher brach-liegen.

All dies sind große Aufgaben, die in dem vorliegen-den Artikel nur angerissen werden konnten. Doch die Stärkung der WTO ist eine ernste Aufgabe. Ihr Absin-ken in die Bedeutungslosigkeit würde Jahrzehnte des Fortschritts in der Welthandelsordnung gefährden. Die Stärkung der WTO erfordert aber mehr als eine pro Forma Beendigung der Doha-Runde. Sie erfordert neue Ideen und bei den Mitgliedsländern die Bereit-schaft, über den nationalen Tellerrand hinauszuschau-en.

12 Vgl. International Monetary Fund: The IMF and the World Trade Or-ganization. A Factsheet, 2008, URL: http://www.imf.org/external/np/exr/facts/imfwto.htm.