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DER BÜRGER IM STAAT 54. Jahrgang Heft 4 2004 Die neuen Kriege

Die neuen Kriege - Zeitschrift DER BÜRGER & STAAT · Eine Welt voller neuer Kriege? 185 Peter Lock ... Trotz dieser offensichtlichen Kennzeichen ist die These vom Wandel der Kriegsformen

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DER BÜRGER IM STAAT

54. Jahrgang Heft 4 2004

Die neuen Kriege

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DER BÜRGERIM STAAT

54. Jahrgang Heft 4 2004

Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg

Redaktion:Siegfried FrechRedaktionsassistenz:Barbara BollingerStafflenbergstraße 38, 70184 StuttgartFax (0711) [email protected]@lpb.bwl.de

Inhaltsverzeichnis

Die neuen Kriege

Herfried MünklerDie neuen Kriege 179

Volker MatthiesEine Welt voller neuer Kriege? 185

Peter LockÖkonomie der neuen Kriege 191

Sven ChojnackiGewaltakteure und Gewaltmärkte: Wandel der Kriegsformen? 197

Paul RussmannKindersoldaten 205

Catherine GötzeHumanitäre Hilfe – Das Dilemma der Hilfsorganisationen 210

Peter I. TrummerGenozid: Lehren aus dem 20. Jahrhundert und Herausforderungenfür das 21. Jahrhundert 217

Christian Büttner / Magdalena KladzinskiKrieg und Medien – Zwischen Information, Inszenierung und Zensur 223

Aus unserer Arbeit 229

Buchbesprechungen 230

Einzelbestellungen und Abonnements bei der Landeszentrale (bitte schriftlich)

Impressum: Seite 229

Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel mit dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte Kunden-Nr. an.

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Die neuen Kriege

KINDERSOLDATEN GEHÖREN ZU DEN AKTEUREN DER NEUEN KRIEGE. DER EINSATZ VON KINDERSOLDATEN FOLGT DER LOGIK PRIVATISIERTER, ENTSTAATLICHTER KRIEGE: KINDERSOLDATEN

SIND KOSTENGÜNSTIG, LEICHT REKRUTIERBAR UND „EFFIZIENT“ EINSETZBAR. picture alliance / dpa

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– nur wenige wissenschaftliche Fachbegriffewurden so schnell von einer breiten Öffent-lichkeit aufgegriffen wie der von den „neuenKriegen“. Der von Mary Kaldor in einer Studieüber die Kriege im ehemaligen Jugoslawien ver-wendete Begriff, als Gegenüberstellung zu den „alten“ zwischenstaatlichen Kriegen gemeint,verdankt seine Karriere im deutschsprachigenRaum nicht zuletzt dem im September 2002 er-schienenen Buch „Die neuen Kriege“ von Her-fried Münkler. Ihm kommt das Verdienst zu, einewissenschaftliche Kontroverse über Begriffe, Typen und Erklärungsansätze des Krieges unterveränderten (welt)politischen Rahmenbedin-gungen auf den Weg gebracht zu haben. Schonbald nach Erscheinen des Buches entwickeltesich eine kontroverse Debatte über den Gestalt-wandel kriegerischer Gewalt, die sich auch indieser Ausgabe der Zeitschrift „Der Bürger imStaat“ widerspiegelt. Die Debatte über die „neuen Kriege“ ist ein Indizfür den Formenwandel bewaffneter Gewalt. Esgibt Aspekte kriegerischer Auseinandersetzun-gen, die in den Kriegen zu Zeiten des Ost-West-Konflikts weniger deutlich in Erscheinung tra-ten. Der erste Golfkrieg, die Zerfallskriege Ju-goslawiens und vor allem die Kriege in Afrika of-fenbarten eine neue Erscheinungsform und bisdahin unbekannte Grammatik des Krieges.Neben zentral geführten Kampfverbänden gibtes in Kriegen und Konflikten der letzten Jahrevermehrt dezentral und auf eigene Rechnungoperierende Gewaltakteure. Die Finanzierungder Kriege erfolgt einerseits durch Plünderungund Ausbeutung der lokalen Bevölkerung und inverstärktem Maße durch die Erpressung vonHilfsorganisationen. Andererseits erfolgt dieRessourcen- und Geldbeschaffung über Märkte,auf denen die Trennlinien zwischen legalen, in-formellen und kriminellen Sektoren der Ökono-mie verwischt werden. Allen diesen Kriegen istgemeinsam, dass die jeweiligen Kriegswirt-schaften in hohem Maße in die globale Waren-und Finanzzirkulation eingebunden sind. DieGewaltakteure, die auf eben diesen Gewalt-märkten tätig sind, verfolgen eher ökonomischeMotive als ideologische Interessen. Der Formenwandel des Krieges hat gravierendeAuswirkungen auf die Zivilbevölkerung. Durchbrutale Exzesse der Gewaltanwendung wird siein das Kriegsgeschehen einbezogen. Die eindeu-tige Trennlinie zwischen Zivilisten und Kombat-tanten löst sich auf. Dazu gehört unter anderemdie systematische Zwangsrekrutierung von Kin-dern und Jugendlichen.

Der Wandel der Kriegsformen, die Ökonomie derneuen Kriege und die Missachtung von völ-kerrechtlichen und humanitären Grundsätzenwerfen – auch und gerade vor dem Hintergrundgescheiterter UN-Operationen – Fragen nachden Reaktionsmöglichkeiten der internationa-len Staatengemeinschaft und nach angemesse-nen Formen humanitärer Hilfe auf. Die neuen Kriege spielen sich an den Rändernder Wohlstandszonen, hauptsächlich in der sogenannten Dritten Welt, ab. Unsere Wahrneh-mung aktueller Kriege und Konflikte wird daherentscheidend von den Medien geprägt. Unterdem Zwang hoher Einschaltquoten folgt dieKriegsberichterstattung häufig den medialenSpielregeln einer dramatischen Inszenierung.Krieg wird publikumswirksam als „Abenteuer fürdas Auge“ inszeniert, bedient somit vorschnellInteressen und weckt Emotionen. Die medialeDarstellung des weltweiten Kriegsgeschehensprovoziert stets die Frage, wie es um das Ver-hältnis von Information, Inszenierung und Zen-sur in der Berichterstattung bestellt ist.Trotz dieser offensichtlichen Kennzeichen ist dieThese vom Wandel der Kriegsformen in der Kon-flikt- und Friedensforschung umstritten. Der mitdem Ende des Ost-West-Konfliktes verknüpfteGestaltwandel des Krieges ist – einigen Konflikt-und Friedensforschern zufolge – keineswegs sodeutlich, wie unterstellt wird. Ist dieser Gestalt-wandel also im Grunde ein altes Thema: die An-passung des „Chamäleon Krieg“ (Clausewitz) anveränderte politische, soziale und ökonomischeBedingungen? Kritische Stimmen mahnen des-halb auch an, dass die gegenwärtige Debatteüber die neuen Kriege den Blick auf notwendigeDiskussionen über Konflikt- und Krisenpräven-tion verstellt. Konflikt- und Friedensforschungsollte sich nicht nur um den Formenwandel krie-gerischer Gewalt kümmern, sondern auch fürfriedens- und sicherheitspolitische Konsequen-zen sensibilisieren.Die Autorinnen und Autoren wollen mit ihrenBeiträgen detaillierte Informationen vermitteln,zur Versachlichung der Diskussion beitragenund Fakten bereitstellen, die für das Verständnisdes komplexen Themas wichtig sind. Allen Auto-rinnen und Autoren sowie meinem Kollegen Peter Trummer, der mit fachlichem Rat zum Entstehen dieses Heftes beigetragen hat, sei andieser Stelle gedankt. Dank gebührt auch demSchwabenverlag für die stets gute und effizienteZusammenarbeit.

Siegfried Frech

Die neuen Kriege

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moderner Industrie- und Dienstleistungsge-sellschaften. Beides zusammengenommenhatte zur Folge, dass zwischenstaatlicheKriege in jedem Fall mehr kosteten als ein-brachten und deswegen ihre Attraktivität alsChance zur gewaltsamen Vergrößerung undBereicherung von Staaten wie als politischerProblemlöser verloren hatten. Doch auch daswar keine unbedingt neue Erkenntnis: Schonam Ende des 19. Jahrhunderts waren so unter-schiedliche Beobachter, wie der preußischeGeneralstabschef Helmuth von Moltke, derpolnische Bankier und Publizist Johann vonBloch und der deutsch-englische Industrielleund Revolutionär Friedrich Engels zu dem Ergebnis gelangt, ein in Europa ausgetragenerKrieg werde ungeheuere Erschütterungen zurFolge haben und die soziale und politischeOrdnung des Kontinents tiefgreifend um-wälzen.

FRIEDENSPOLITISCHE FORTSCHRITTE IN EUROPA …

Im Ersten Weltkrieg trat dann genau dies ein,und in gewisser Hinsicht war Europa bis in die1990er-Jahre hinein damit beschäftigt, dieFolgen dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhun-derts“ wegzuräumen und zu bearbeiten. Damitsich so etwas wie der Erste Weltkrieg nichtwiederholen könne, haben die Europäer nachdem Zweiten Weltkrieg eine Reihe von Vorkeh-rungen getroffen, die von der Montanunionund der Europäischen Wirtschaftsgemein-schaft (EWG), also der Entflechtung politischerund wirtschaftlicher Grenzen, bis zur Konfe-renz für Sicherheit und Zusammenarbeit inEuropa (KSZE) reichten. Mit der Weiterent-wicklung der EG zur Europäischen Union (EU),deren Osterweiterung und der Umwandlungder KSZE in die OSZE wurden diese Siche-

EINE TRÜGERISCHE HOFFNUNG

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts hattesich die Erwartung verbreitet, dass Krieg undKriegsdrohung von nun an der Vergangenheitangehören würden, die Menschheit den altenTraum vom dauerhaften, wenn nicht ewigenFrieden verwirklichen werde und schon kurz-fristig eine beachtliche Friedensdividendedurch die Senkung der Militärausgaben einge-strichen werden könne. Diese Erwartungschloss an die Prognosen zahlreicher Gesell-schaftstheoretiker an, von Auguste Comte biszu Joseph Schumpeter, die die Orientierung anKrieg und Militär als Disposition einer Elite be-griffen, die mit dem Vordringen von Industrieund Kapitalismus allmählich verschwindenwerde. Auch Immanuel Kants Schrift „Zumewigen Frieden“ fußt auf der Vorstellung, dassder Geist des Handels und der Geist des Krie-ges auf Dauer nicht zusammen bestehen kön-nen. Nach der Blockierung dieser Entwicklungdurch Nationalismus und Totalitarismus wür-den nunmehr, so die von Vielen Anfang der1990er-Jahre gehegte Erwartung, die Ent-wicklungstendenzen zum Tragen kommen, dieden Krieg zum Verschwinden brächten.1

Aber diese Erwartung trog. Was zu Ende ging,war die Ära des klassischen zwischenstaatli-chen Krieges, nicht des Krieges generell. Vorallem infolge der technologischen Entwick-lung waren Staatenkriege unführbar gewor-den – einerseits infolge der Vernichtungskraftvon Nuklearwaffen und andererseits infolgeder dramatisch gestiegenen Verletzlichkeit

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KRIEGE HABEN IHRE GESTALT FUNDAMENTAL VERÄNDERT

Die neuen KriegeHERFRIED MÜNKLER

Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktesverbreitete sich die trügerische Erwar-tung, dass Kriege der Vergangenheit an-gehören würden. Die Ära des klassi-schen zwischenstaatlichen Krieges gingzwar zu Ende und in Europa zeitigtenfriedenspolitische Fortschritte der letz-ten 50 Jahre ihre Wirkung. Jedoch ließsich dieses europäische „Erfolgsmodell“nicht globalisieren. Der erste Golfkrieg,die Zerfallskriege Jugoslawiens und vorallem die Kriege in Afrika offenbarteneine neue Erscheinungsform und bis da-hin unbekannte Grammatik des Krieges.Besonders an den Rändern der Wohl-standszonen hat sich der Kreis von Ak-teuren, die zur Kriegführung fähig sind,dramatisch ausgeweitet. Der Gestalt-wandel des Krieges ist durch eine krimi-nelle Gewaltökonomie, durch verän-derte Gewaltmotive, brutale Gewalt-strategien und durch zahlreiche privateGewaltakteure charakterisiert. Geradedas Zusammenspiel dieser Merkmalelässt sich an drei Typen des Krieges, diedas 21. Jahrhundert bestimmen werden,verdeutlichen: Ressourcenkriege, Pazifi-zierungskriege und terroristisch moti-vierte Verwüstungskriege. Red.

EXPERTEN SUCHEN IN

EINEM MASSENGRAB IN

BOSNIEN NACH OPFERN.UNTER DEN OPFERN

WAREN NACH ANGABEN

AUCH FRAUEN UND

KINDER. DIE JUGOSLAWI-SCHEN ZERFALLSKRIEGE

HABEN DAS VERTRAUEN

IN DIE FRIEDENSPOLI-TISCHEN FORTSCHRITTE

EUROPAS ZUTIEFST

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rungssysteme von den Bedingungen des Kal-ten Krieges unabhängig und bilden seitdemdie Grundtextur der politischen und wirt-schaftlichen Ordnung Europas. Diese kann miteiniger Sicherheit versprechen, dass der Kriegkein politisches Instrument europäischer Poli-tik mehr sein wird. Bereits zu Beginn der1990er-Jahre haben die europäischen Staatendurch die Senkung ihrer Verteidigungsausga-ben eine beachtliche Friedensdividende einge-strichen.

… LASSEN SICH NICHT GLOBALISIEREN

Aber die europäische Entwicklung hat sichnicht globalisieren lassen, ja sie hat nicht ein-mal ganz Europa erfasst, sondern dessen süd-östliche Flanke, den Balkan, ausgespart. Mitteder 1990er-Jahre spätestens war die Erwar-tung verflogen, das Ende des Ost-West-Kon-flikts werde auch das Ende des Krieges einlei-ten. Inzwischen nämlich hatte eine Reihe vonKriegen stattgefunden, die allesamt keineKriege im klassischen Sinn, aber doch Kriegemit großer Gewaltintensität und weitreichen-den Folgen waren.2 Als erstes ist der Golfkriegvon 1990/91 zu nennen, bei dem irakischeTruppen Kuwait besetzten, der besetzte Staatdann durch den Irak annektiert wurde undschließlich eine amerikanisch geführte Mili-tärkoalition mit UN-Mandat Kuwait befreiteund das alte Regime wieder einsetzte. Alszweites zu nennen sind die jugoslawischenZerfallskriege, von denen der Krieg um Slowe-nien am kürzesten und unblutigsten war, derKrieg zwischen Serbien und Kroatien bereitsvon Massakern und ethnischen Säuberungenbegleitet war und der Bosnienkrieg schließlichzu einem Exzess der Gewaltanwendung vor al-lem gegen die Zivilbevölkerung wurde, der dasVertrauen in die friedenspolitischen Fort-schritte Europas zutiefst erschütterte. Vor al-lem zeigte Bosnien die Grenzen der europäi-schen Zuversicht, die Anwendung militäri-scher Gewalt lasse sich grundsätzlich durchdiplomatische Verhandlungen und finanzielleAnreize ersetzen. Es waren schließlich ameri-kanische Luftbombardements, die den Bos-nienkrieg beendeten. Um eine Wiederholungder bosnischen Gräuel im Kosovo zu vermei-den, entschloss sich die NATO zu einer bis da-hin beispiellosen militärischen Intervention,bei der durch ein mehrwöchiges Bombarde-ment militärischer und infrastruktureller Zieledie serbische Armee und Polizei zum Rückzugaus dem Kosovo gezwungen und dieses in einProtektorat der NATO bzw. EU verwandeltwurde. Als drittes schließlich sind – freilich nurals Beispiel für viele weitere – die Kriege in So-malia und Ruanda zu nennen, wobei in Soma-lia eine UN-mandatierte Militärinterventionden Bürgerkrieg nicht beenden konnte, son-dern dramatisch scheiterte, während in Ru-anda das Ausbleiben einer Militärintervention

der UN oder der OAU (Organisation der Afrika-nischen Einheit) einem Massaker freien Laufließ, dem knapp eine Million Menschen zumOpfer fielen.

DER KRIEG HAT SEINEERSCHEINUNGSFORM GEÄNDERT

Der Krieg war mit dem Ende des Ost-West-Konflikts also nicht verschwunden, sondernhatte nur seine Erscheinungsform gewechselt.Clausewitz hat in seinem Buch „Vom Kriege“den Krieg als ein Chamäleon bezeichnet, dassich fortgesetzt seinen Umweltbedingungenanpasst.3 In diesem Sinne ist auch die Ent-staatlichung eine Anpassung des Krieges anveränderte Umweltbedingungen. An die Stelledes Krieges zwischen regulären Armeen, diesich gegenseitig niederzuringen suchten, umden politischen Willen der Gegenseite wehrloszu machen und zur Kapitulation zu zwingen,ist ein diffuses Gemisch unterschiedlicher Ge-waltakteure getreten, das von Interventions-kräften mit dem Mandat internationaler Orga-nisationen bis zu lokalen Warlords reicht, de-nen es um die Sicherung von Macht und Ein-fluss innerhalb eines begrenzten Gebietesgeht. Folgenreich daran ist, dass sich die klas-sische Trennlinie zwischen Staaten- und Bür-gerkrieg, zwischenstaatlichen Kriegen und mitGewalt ausgetragenen innergesellschaftlichenKonflikten aufgelöst hat und beide Kriegsty-pen zunehmend diffundieren. Gleichzeitig hatdie militärische Gewalt durch die Entsendungmultinationaler Streitkräfte mit dem Auftragder Friedenserzwingung eine normative Legi-timierung erhalten, die Krieg und Polizeiaktioneinander so sehr angenähert hat, dass beideoft kaum noch voneinander zu unterscheidensind. Dieser „Verpolizeilichung“ des Krieges

steht seine Deregulierung gegenüber, undzwar dergestalt, dass in zunehmendem MaßeAkteure in das Kriegsgeschehen eintreten, diesich weder um die Bestimmungen der HaagerLandkriegsordnung noch die der Genfer Kon-ventionen scheren, sondern ihre Operations-fähigkeit gerade daraus gewinnen, dass siesich asymmetrischer Kampfweisen bedienen:Sie ziehen die Zivilbevölkerung in die Kampf-handlungen hinein, indem sie diese als De-ckung und logistisches Rückgrat benutzenoder sie machen eben diese Zivilbevölkerungzum Hauptziel ihrer Angriffe. Der Terrorismusals eine globale Strategie ist der vorläufigeEndpunkt einer Entwicklung, in deren Verlaufsich der Krieg aus einer Konfrontation profes-sioneller Militärapparate in eine Abfolge vonals Zivilisten getarnten Kämpfern an Zivilistenveranstalteten Massakern verwandelt hat. Diewichtigste Errungenschaft des Kriegsvölker-rechts, die Unterscheidung zwischen Kombat-tanten und Nicht-Kombattanten, ist damithinfällig geworden.

MILITÄRISCHE REVOLUTIONENVERÄNDERN DIE KRIEGFÜHRUNG

Die skizzierten Entwicklungen waren für ei-nige Beobachter des Kriegsgeschehens Grundgenug, von prinzipiell neuen Formen derKriegführung und demgemäß dann von neuenKriegen zu sprechen.4 In der Militär- undKriegsgeschichte ist schon früher immer wie-der von militärischen Revolutionen die Redegewesen: So wurden etwa militärorganisatori-sche wie militärtechnologische Innovationenzum Anlass genommen, von einer grundle-genden Umwälzung der Kriegführung zu spre-chen, etwa im 16. Jahrhundert, als durch denzunehmenden Einsatz von Artillerie im Bela-

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HERFRIED MÜNKLER

EIN US-SOLDAT BEOBACHTET IN BAJI (IRAK) VON EINEM

GELÄNDEFAHRZEUG AUS DIE UMGEBUNG. AUFGRUND

DER MILITÄRISCH-TECHNOLOGISCHEN ÜBERLEGENHEIT

SIND DIE USA DIE EINZIGE MACHT, DIE IM GLOBALEN

RAHMEN NOCH KRIEGFÜHRUNGSFÄHIG SIND.picture alliance / dpa

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gerungskrieg, bald aber auch in der offenenFeldschlacht, zunächst der Festungsbau unddann die Gefechtsaufstellung der Heeregrundlegend verändert wurde.5 Die viel be-schworene „Revolution in Military Affairs“ amAusgang des 20. Jahrhunderts, also die Ein-führung so genannter intelligenter Waffen,die Optimierung der Treffsicherheit von Dis-tanzwaffen sowie die Beschleunigung des In-formationsflusses auf dem Gefechtsfeld durchden Einsatz der Mikroelektronik hat den USAeine Überlegenheit verschafft, die den Ent-wicklungsschüben der Military Revolution amBeginn der Neuzeit mindestens vergleichbarist. Neue Kriege meint aber mehr als nur eineVeränderung des Militärwesens und der Krieg-führung, sondern bezieht auch die politischenund sozialen Rahmenbedingungen, unter de-nen Armeen aufgestellt und Kriege geführtwerden, in den Fokus der Aufmerksamkeit mitein.Tatsächlich ist beides, Kriegführung und poli-tisch-soziale Ordnung, sinnvollerweise nichtvoneinander zu trennen, wiewohl es in derForschung immer wieder voneinander ge-trennt behandelt worden ist. So hat die Re-volutionierung des Militärwesens in der Frü-hen Neuzeit auch die politischen Rahmen-bedingungen der Kriegführung fundamentalverändert. Durch den zunehmenden Gebrauchder Artillerie, die damit verbundene Entwer-tung von Burgen und Stadtmauern und denBau großer Festungsanlagen, schließlich denZwang über alle drei Waffengattungen, Infan-terie, Kavallerie und Artillerie, zu verfügen, umsie in die Schlacht in verbundener Fechtweisezum Einsatz zu bringen, kam es zu einer ge-waltigen Verteuerung des Kriegswesens, in de-ren Gefolge der Staat, aber eigentlich auch nurder größere Territorialstaat, zum Monopolis-ten der Kriegführung aufstieg. Die zahllosen

substaatlichen und quasi-privaten Akteure,die zuvor das Kriegsgebiet bevölkert hatten,vom Feudalritter bis zum geschäftstüchtigenKriegsunternehmer, dem Condottiere, ver-schwanden aus dem Kriegswesen oder wur-den mitverstaatlicht. Es war, um mit Max We-ber zu sprechen, die Trennung von Produzentund Produktionsmittel, die zur Verstaatli-chung des Kriegswesens in der Frühen Neuzeitgeführt hatte: Die neuen Waffen waren zuteuer, als dass sie ein Einzelner sich hätte leis-ten können, um mit ihnen seinem LehnsherrnGefolgschaft zu leisten oder auf den Rekrutie-rungsplätzen zu erscheinen und seine Leis-tung für die Dauer eines Krieges gegen Hand-geld und Sold zur Verfügung zu stellen. Oben-drein mussten die Truppen für die neuen Ge-fechtsformationen gedrillt werden, und daswar nicht möglich, wenn sie erst mit Kriegsbe-ginn unter Vertrag genommen wurden. Siemussten kaserniert und diszipliniert werden,und die Kleidung, die sie trugen, sowie dieWaffen, die sie führten, waren nicht länger ihrEigentum, sondern das des Staates. So wurdeder Staat zum Herrn des Krieges, und die Ju-risten in seinem Gefolge haben diese Entwick-lung in rechtliche Formen gegossen.

MILITÄRTECHNOLOGISCHEÜBERLEGENHEIT DER USA

In dem, was als neue Kriege bezeichnet wor-den ist, lässt sich in mancher Hinsicht eineFortsetzung dieser Entwicklung, in andererdagegen deren Umkehrung und Rückgängig-machung beobachten. Die bereits erwähnteRevolution in Military Affairs, aus der sich diemilitärische Überlegenheit der USA auch undgerade im Bereich der konventionellen Krieg-führung entwickelt hat, setzt den Prozess derEinschränkung kriegführungsfähiger Akteuredurch Verteuerung des Kriegsgeräts fort. Tat-sächlich sind die USA die einzige Macht, die imglobalen Rahmen noch kriegführungsfähigsind. Bis zu Beginn der 1990er-Jahre ist diestendenziell auch die Sowjetunion gewesen,aber da sie nicht mehr die Ressourcen aufzu-bringen vermochte, die für die mikroelektroni-sche Aufrüstung ihrer Streitkräfte erforderlichwaren, schied sie als ernst zu nehmender Kon-kurrent der USA aus. Zum Symbol dieses Aus-scheidens wurde der Verlauf des Golfkriegesvon 1991, als es den amerikanischen Truppenbinnen 48 Stunden gelang, die mit sowjeti-schem Material ausgerüstete und nach sow-jetischer Strategie geführte irakische Armeezu zerschlagen, ohne dabei größere Verlustehinnehmen zu müssen. Von da an war auchden Marschällen in Moskau klar, dass sich dieUSA militärisch in einer eigenen Liga beweg-ten. Die einzigen, die ihnen von ihren techno-logischen Fähigkeiten und ihren wirtschaftli-chen Ressourcen dorthin folgen könnten, sinddie (West-)Europäer, aber die haben politischkeinerlei Interesse daran, in einen Rüstungs-wettlauf mit den USA einzutreten. Die globaleInterventionspolitik der USA, von der Karibiküber den Balkan bis nach Zentralasien, stütztsich auf ihre militärtechnologische Überlegen-heit und den Umstand, dass sie dabei mit kei-nem gleichartigen, d.h. symmetrischen Kon-trahenten rechnen müssen.

KRIEGE AN DEN RÄNDERN DERWOHLSTANDSZONEN

Gleichzeitig aber hat seit den 1980er-Jahrenauch eine gegenteilige Entwicklung einge-setzt: In den zahllosen Kriegen an den Rändernder Wohlstandszonen wird nicht teures, war-tungsintensives und nur von hoch qualifizier-ten Spezialisten zu bedienendes Großgeräteingesetzt, sondern diese Kriege werden mitbilligen, tendenziell von jedermann und jeder-frau zu bedienenden Waffen geführt: automa-tischen Gewehren, Landminen, leichten Rake-tenwerfern und schließlich Pick-ups als Trans-port- und schnelles Gefechtsfahrzeug in ei-nem. Auch das Personal, mit dem diese Kriegegeführt werden, besteht in der Regel nicht ausprofessionalisierten Soldaten, sondern aus ei-lends rekrutierten Kriegern, verschiedentlichgar Kindern, für die der Krieg zu einer Art Le-bensunterhalt und Form des Prestigegewinnsgeworden ist. Diese Kriege sind für die, die sieführen, relativ billig, und dadurch hat sich derKreis der kriegführungsfähigen Parteien dra-matisch vergrößert. Oftmals genügen nur einpaar Millionen Dollar, um einen Krieg zu be-ginnen, und dieses Geld kann von Emigranten-gemeinden, größeren Wirtschaftsunterneh-men, verdeckt agierenden Nachbarstaaten,Clanführern und schließlich als Gewaltunter-nehmer auftretenden Privatleuten leicht auf-gebracht werden. Die Schwelle der Kriegfüh-rungsfähigkeit ist dadurch in einer Weise ab-gesenkt worden, dass sie von zahllosen Grup-pierungen überschritten werden kann.Die Entwicklung der letzten zwei Jahrzehntebietet somit ein verwirrendes, zutiefst wider-sprüchliches Bild. Auf der einen Seite ist derKreis der kriegführungsfähigen Akteure weitereingeschränkt worden, wobei in manchen Be-reichen nur noch die USA übrig geblieben sind,während er sich auf der anderen Seite drama-tisch ausgeweitet hat. Einerseits ist es zu einerweiteren Verrechtlichung des Gebrauchs krie-gerischer Gewalt gekommen, und andererseitsist in vielen Kriegen die Gestalt des Soldatendurch die eines Kriegers abgelöst worden, dersich weder dem Ethos der Ritterlichkeit nochden Bestimmungen des Kriegsvölkerrechts ver-pflichtet fühlt, sondern Gewalt in der Form an-wendet, wie sie ihm gerade zweckmäßig undzielführend erscheint. So haben sich schließlichweltpolitische Regionen herausgebildet, in de-nen der Krieg kein ernstlich in Erwägung gezo-genes Instrument der Politik mehr darstellt, wiein Europa etwa, und andererseits große Gebiete,in denen im Gefolge von Staatszerfall der Kriegendemisch geworden ist und die Perspektive ei-nes Friedensschlusses aufgrund der Vielzahl deram Krieg beteiligten Akteure, ihrer organisato-rischen Diffusität und schließlich der Verbin-dung von Kriegsökonomie mit internationalerKriminalität nicht besteht. Viele der neuenKriege dauern nicht Monate oder auch Jahre,sondern Jahrzehnte.

TRIFFT DIE KRITIK DEN KERN DES PROBLEMS?

Von den Kritikern des Begriffs der neuenKriege ist sehr bald eingewandt worden, dassvieles von dem, was hier als neu etikettiert

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Die neuen Kriege

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werde, so neu gar nicht sei, sondern eigentlichimmer schon als ein Begleiter des Kriegsge-schehens beobachtet werden könne. Außer-dem sei der Gegenbegriff der alten Kriege zueuropazentrisch und lasse die außereuropäi-sche Kriegführung der europäischen Kolonial-mächte außer Betracht. Schließlich ist geltendgemacht worden, Begriff und Konzept derneuen Kriege widmeten der fortbestehendennuklearen Bedrohung zu wenig Aufmerksam-keit und überschätzten die weltpolitische Be-deutung des Terrorismus. Auch wird die Be-fürchtung geäußert, der Begriff der neuenKriege befördere eine Anthropologisierung desKriegskonzepts, bei der man hinter die Vorstel-lung einer politischen Lenkung des Krieges zu-rückfalle und nur noch einzelne Phänomenedes Krieges in den Blick nehme.6

An diesen Einwänden ist im Detail sicherlichvieles richtig und unbestreitbar. Freilich tref-fen sie als Einwände selten das Konzept derneuen Kriege als Ganzes, sondern immer nureinzelne Autoren und andere gar nicht. Ins-gesamt verfehlen sie jedoch den Kern desProblems. Über der Aufzählung von Detailsund der Abarbeitung von Statistiken schaffensie es selten, sich auf die zentrale Frage zukonzentrieren: Hat sich das Modell, nach demKriege geführt werden, geändert oder nicht?Kann das Modell der – zugegebenermaßen –europäischen Kriege, die auf einer prinzipiel-len Symmetrie zwischen den Akteuren beruh-ten und diese Symmetrie für die ethische wierechtliche Regulierung des Krieges nutzten,noch plausibel zur Beschreibung und Analyseder gegenwärtigen Kriege angewandt werdenoder nicht? Diese Frage ist mit Ja oder Nein zubeantworten. Details und statistische Datengeben Aufschluss über die Varianz eines Mo-dells, nicht aber über den Modellwechsel.

FUNDIERTE URTEILE BENÖTIGENMODELLTHEORETISCHE ANNAHMEN

Aber ist die Frage des Kriegsmodells überhauptvon Relevanz? Allerdings, und zwar ganz ent-scheidend, da das Modell über die Kreativität,Rationalität und Legitimität des strategischenHandelns der Akteure entscheidet. Nur inner-halb modelltheoretischer Annahmen kann einAgieren als kreativ oder herkömmlich, eine mitGewaltanwendung verbundene Perspektive alsrational oder irrational und schließlich ein Ent-schluss als legitim oder illegitim bzw. legal oderillegal bewertet werden. Ohne diesen modell-theoretischen Rahmen lassen sich weder einEntschluss noch eine Perspektive noch einAgieren angemessen beurteilen – außer siewerden einem allen kulturellen Prägungen undpolitischen Konstellationen überhobenen mo-ralischen Urteil unterworfen. Das ist natürlichmöglich, aber für eine politikwissenschaftlicheAnalyse wenig produktiv, weil Urteile dieser Artin der Regel feststehen. Außerdem sind sie ohneweitere Kenntnis der spezifischen Umständeund Rahmenbedingungen möglich. Es sind Ur-teile, bei deren Zustandekommen Wissenschaftin der Regel nicht erforderlich ist. Wissen-schaftlich fundierte Urteile sind nur auf derGrundlage modelltheoretischer Annahmenmöglich: ob es sich um symmetrische oderasymmetrische Kriege handelt,7 von welcher

Art die gegeneinander kämpfenden Akteuresind, welches die maximalen Zwecke sind, diesie verfolgen können, usw. Der Begriff derneuen Kriege besagt, dass es hier und vor allemhier zu einer grundlegenden Veränderung ge-kommen ist. Um mit Clausewitz zu sprechen:Die Grammatik des Krieges hat sich fundamen-tal geändert, er wird also nach anderen Regelngeneriert als früher.

DIE GRAMMATIK DES KRIEGES HAT SICH VERÄNDERT

Aber sind diese anderen Generierungsregelnnicht in den außereuropäischen Kriegen schonimmer zur Anwendung gekommen? Das istwohl unbestreitbar, aber dennoch gab das eu-ropäische Modell in Amerika wie Asien Perspek-tive und Rhythmus der politischen wie militä-rischen Entwicklung vor. Selbst Staaten, die ihreUnabhängigkeit in einem Partisanenkrieg er-kämpft hatten, stellten Streitkräfte nach euro-päischem Vorbild auf. Die Aufnahme in denKreis der honorigen Staaten erfolgte auf der Ba-sis tendenzieller Verteidigungsfähigkeit nachdem europäischen Modell. Die Verwandlungvon Partisanengruppen in reguläre Streitkräfteund die Transformation von Untergrundkämp-fern in Soldaten zeigt, dass mit dem Eintritt indie volle Staatlichkeit die asymmetrischen Ur-sprünge des neuen Staates zum Verschwindengebracht und der Anspruch auf reziproke Aner-kennung durch die Fähigkeit zu symmetrischerKriegführung unterstrichen werden sollte. Offenbar hat diese Anerkennungsperspektiveheute ihre prägende Kraft verloren, denn kaumeiner der zahlreichen Warlords in den halbpri-vatisierten Kriegen an der Peripherie der Wohl-standszonen ist bestrebt, die zeitweilige Kont-rolle, die er über ein Gebiet zum Zweckeökonomischer Ausbeutung hergestellt hat, ineine staatliche Ordnung zu verwandeln, undauch die netzwerkartig organisierten Terror-gruppen unternehmen keine erkennbaren An-strengungen, die Gestalt territorial fixierterStaatlichkeit anzunehmen. Mit gutem Grundim Übrigen, denn dann wären sie ein leicht zubezwingender Gegner für die Mächte, denen siein entterritorialisierter, nichtstaatlicher Gestalterheblichen Schaden zufügen können. Die ge-legentlich zu hörende Auffassung, es handelesich bei den neuen Kriegen um Staatsbildungs-kriege, wie sie auch im Europa des 16. und 17.Jahrhunderts stattgefunden haben, steht da-rum auf schwachen Beinen. Eher schon handeltes sich um Staatszerfallskriege. Die Ausbrei-tung der neuen Kriege und der Anstieg zerfal-lender Staaten gehen jedenfalls miteinanderHand in Hand.

DAS ENTSCHEIDEND NEUE AN DENNEUEN KRIEGEN

Das entscheidend Neue an den neuen Kriegenist das Zusammenkommen mehrerer Faktoren,die für sich genommen oft gar nicht so neusind, die aber in ihrer Kombination zu einerdrastischen Veränderung nicht nur des Kriegs-geschehens, sondern auch der Wahrnehmungvon Bedrohungen führen. Asymmetrie und dieReaktion der Asymmetrierung sind nicht neu:Wahrscheinlich ist kriegsgeschichtlich asym-metrische Kriegführung sehr viel öfter anzu-treffen als symmetrische Kriege.8 Auch dasAuftreten substaatlicher bzw. semiprivaterKriegsakteure ist nicht neu, sondern in der Ge-schichte des Krieges immer wieder anzutref-fen. Die italienischen Condottieri des 15. und16. Jahrhunderts sind die wohl bekanntestenRepräsentanten dessen in Europa, und der

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HERFRIED MÜNKLER

KINDER SPIELEN AUF EINEM BAUM IM FLÜCHTLINGSLAGER

NYARASHISHI NAHE DER GRENZE ZU ZAIRE. NACH DEM

BÜRGERKRIEG IN RUANDA, IN DESSEN VERLAUF INNER-HALB VON 100 TAGEN 800.000 MENSCHEN GETÖTET

WURDEN, SCHÄTZTE DIE UN DIE ZAHL DER FLÜCHTLINGE

INNERHALB UND AUSSERHALB DES LANDES AUF 1,5 MIL-LIONEN. EIN MERKMAL DER NEUEN KRIEGE IST DIE SYS-TEMATISCHE GEWALTANWENDUNG GEGEN DIE ZIVILBEVÖL-KERUNG UND EINE POLITIK ETHNISCHER VERTREIBUNG.picture alliance / dpa

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Dreißigjährige Krieg war ein Krieg, in demdiese privatökonomischen Interessen an derFortführung des Krieges erheblichen Einflusserlangt hatten.9 Auch das dritte Merkmal derneuen Kriege, die Entmilitarisierung der Ge-waltorganisation und die Konzentration aufnichtmilitärische Ziele bei Anwendung nicht-militärischer Methoden ist ebenfalls nicht neu.Bereits die Assyrer, namentlich TiglatpileserIII., haben sich beim Aufbau und der Sicherungihres Reichs aller Methoden der Verbreitungdes Schreckens und der „ethnischen Säube-rungen“ bedient. Neu war eher, dass es zeit-weilig gelungen ist, die Kriegführung von sys-tematischer Gewaltanwendung gegen die Zivilbevölkerung und einer Politik systemati-scher ethnischer Vertreibung freizuhalten.Diese Konzentration der Gewalt auf das Mili-tärische ist kennzeichnend für das Kriegsmo-dell, das sich in Europa unter den Bedingun-

gen des Westfälischen Systems10 entwickelthat. Im 20. Jahrhundert ist jedoch die Binde-kraft dieses Systems erodiert. Die ersten gro-ßen Bevölkerungsverschiebungen fanden amAnfang des 20. Jahrhunderts auf dem Balkanund in Kleinasien statt.11

Das entscheidend Neue an den neuen Kriegenist also das Zusammentreffen dieser drei Ent-wicklungen bei einer gleichzeitigen drasti-schen Abschwächung der Präge- und Orien-tierungskraft des klassischen Kriegsmodells.Das heißt nicht, dass dem Modell des klassi-schen zwischenstaatlichen Krieges nachge-trauert werden soll. Dieser Krieg hatte schonvor seiner Blockierung durch die Atombombeeine solche Intensität an Zerstörungskraftentwickelt, dass er für hochentwickelte In-dustriestaaten nicht mehr führbar war, jeden-falls in der Konfrontation untereinander, alsoals symmetrischer Krieg. Das hatte bereits derErste Weltkrieg, vor allem aber der ZweiteWeltkrieg gezeigt. Die klassischen Staaten-kriege, die auch nach 1945 noch geführt wur-den, waren Kriege an der Peripherie der Wohl-standszonen, in denen Staaten gegeneinanderkämpfen, die ohne die Lieferung von Waffenund Material aus den fortgeschrittenen In-dustrieländern nicht kriegführungsfähig ge-wesen wären. Sie hatten dementsprechendauch nicht die hochgradige Verletzlichkeitfortgeschrittener Industriestaaten und ver-fügten nicht über eine eigene Industrie, dieauf Waffenproduktion und Kriegswirtschafthätte umgestellt werden können. Die ver-heerenden Folgen zwischenstaatlicher Kriegenach der industriellen Revolution kamen hieralso nur bedingt zum Tragen. Was von diesenKriegen blieb, waren die große Zahl von Gefal-lenen und Verwundeten, also eine Delle im de-mographischen Aufbau der Gesellschaft, unddie riesigen Schuldenlasten. Die letzten dieserklassischen zwischenstaatlichen Kriege warendie Kriege zwischen dem Irak und Iran (1980-1988) sowie zwischen Äthiopien und Eritrea.Im Gegensatz zu den Partisanenkriegen in derEpoche der Entkolonialisierung haben diesesymmetrischen Kriege nur begrenzte Auswir-kungen auf die internationale Ordnung ge-habt: Es wurden Grenzen verschoben oder be-stätigt, mehr nicht. Sieht man vom Ersten undZweiten Weltkrieg einmal ab, die auch nur inbegrenztem Sinn als symmetrische Kriegeklassifiziert werden können, so haben klassi-sche Staatenkriege eher konservative Effektefür die internationale Ordnung; buchstäblichumwälzende Effekte haben dagegen asymme-trische Kriege;12 In ihnen kommen nicht nurvöllig neue Akteure ins Spiel, sondern es wer-den auch die Normen und Regeln der beste-henden Ordnung angegriffen und aufgelöst.

DIE GESCHICHTE DES KRIEGES ISTKEINESWEGS AM ENDE

Die Ära des klassischen Staatenkrieges dürftezu Ende gegangen sein. Aber die Geschichte desKrieges ist damit keineswegs zu Ende. Das be-sagt das Theorem der neuen Kriege. Dass es vie-les von dem, was diese neuen Kriege kennzeich-net, bereits in der Vergangenheit gegeben hat,ist kein Einwand gegen den Begriff der neuenKriege. Die meisten Elemente der nach 1648 in

Europa gepflegten Kriegführung hatte es eben-falls schon lange davor gegeben. Es war dieKombination dieser Faktoren, ihre Prägekraftfür alle an dem System Beteiligten und schließ-lich die von dieser Kombination ausgehendeNorm- und Regelbildung, die damals zu einerneuen Form des Krieges geführt hat. Undselbstverständlich ist der Westfälische Friedenvon 1648 nur das Symbol dieses Wandels, dermehrere Jahrzehnte in Anspruch genommenhat. Die Veränderungen waren oft unmerklich,weil eher untergründig. Aber am Ende dieserEntwicklung hatte der Krieg eine andere Gestaltangenommen. In ähnlicher Form spielen sichauch die gegenwärtigen Veränderungen ab. Einverbreiteter Vorwurf gegen die, die mit dem Be-griff der neuen Kriege arbeiten, lautet, sie wür-den die Veränderungen überzeichnen. Das magsein, aber genau dies ist erforderlich, wenn mandiese Veränderungen frühzeitig (bzw. politischrechtzeitig) wahrnehmen will. Wissenschaftkann nicht darin bestehen, eine Veränderungerst dann zu konstatieren, wenn sich ein jedermit ihr bereits arrangiert hat.

RESSOURCENKRIEGE AN DER PERIPHERIE

Lassen sich auf der Grundlage des Theoremsder neuen Kriege prognostische Aussagen be-züglich der Kriege des 21. Jahrhunderts for-mulieren? Es dürften drei Typen des Kriegessein, die das Gewaltgeschehen des neuenJahrhunderts bestimmen werden:13 Zunächstsind die Ressourcenkriege zu nennen, die vorallem an der Peripherie der Wohlstandszonenstattfinden und in denen, wie man dies seitden 1990er-Jahren beobachten kann, sub-staatliche bzw. semiprivate Kriegsakteure ge-geneinander um die Kontrolle rohstoffreicherGebiete und der in ihnen lebenden Bevölke-rung kämpfen. Der Zweck dieser Kriege ist dieKapitalisierung leicht auszubeutender Roh-stoffvorkommen, ihr Ziel die militärische Kon-trolle des Territoriums, in dem diese Rohstoffe,von Erdöl und Diamanten bis zu Edelmetallenund Tropenhölzern, zu finden sind. Das Mitteldazu besteht zumeist in der Errichtung einesSchreckensregimes über die Bevölkerung, dieals möglicher Konkurrent um die aus den Roh-stoffen bezogenen Renteneinkommen ausge-schaltet und deren Arbeitskraft in eine zusätz-liche Einkommensquelle der Bewaffneten ver-wandelt werden soll. In diesen Kriegen wirdvor allem Wasser eine große Bedeutung alsstrategische Ressource erlangen, weniger frei-lich im Hinblick auf den Austausch mit derOECD-Welt denn als Kontroll- und Beherr-schungsmittel gegenüber der Bevölkerung inder Region. Diese Ressourcenkriege finanzie-ren sich durch so genannte offene Kriegs-ökonomien, also ihre Verknüpfung mit den Ka-pital- und Warenströmen der Weltwirtschaft.Die Folge dessen ist, dass diese Kriege nicht in-folge wirtschaftlicher Erschöpfung zu Endegehen bzw. die an ihnen Beteiligten mit wach-sender Erschöpfung friedensbereit werden,sondern der auf kleiner Flamme geführte Krieg(low intensity war) selbst das ökonomischeSchwungrad darstellt. Die Beteiligten brau-chen den Krieg, um im Geschäft zu bleiben,und das ist auch der Grund, warum dieseKriege so lange dauern und es nahezu unmög-

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Die neuen Kriege

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lich ist, sie durch einen Friedensschluss zu be-enden. Bis auf weiteres dürfte der Kongo da-für das wichtigste Beispiel bleiben.Weil diese Kriege ihre Energie aus der Verbin-dung mit der Weltwirtschaft ziehen, wird esauch immer wieder Versuche internationalerOrganisationen geben, sie durch die Verhän-gung von Wirtschaftssanktionen auszutrock-nen. Diese Sanktionen werden jedoch nur einebeschränkte Wirkung haben: Zunächst, weildie Kriegsakteure längst enge Verbindungenzur internationalen Kriminalität aufgebauthaben und Rohstoffe wie Kapital über die Ka-näle der Schattenglobalisierung transportie-ren, so dass Sanktionsregimes sie kaum tref-fen. Sollte dies doch der Fall sein, so sorgen dieWarlords dafür, dass die Folgen dieser Sank-tionen vor allem die örtliche Zivilbevölkerungtreffen, worüber sie anschließend die Welt-presse berichten lassen. Die meisten der Sank-tionsregimes geraten auf diese Weise unter sogroßen moralischen Druck, dass sie mit Aus-nahmeregelungen durchlöchert werden unddamit ihren Zweck, die ökonomische Aus-trocknung des Krieges, verfehlen. Die Ressour-cenkriege gehen dann unbeschränkt weiter.Obendrein können sich die regionalen War-lords dadurch politische Legitimität verschaf-fen, dass sie ethnische, religiöse oder kultu-relle Trennlinien in dem von ihnen kontrollier-ten Gebiet nutzen, um ihre Gewaltanwendungals Befreiungs- oder Widerstandskrieg darzu-stellen.

PAZIFIZIERUNGSKRIEGE

Diese ideologische Aufladung von Ressour-cenkriegen, gelegentlich aber auch das Inte-resse an der strategischen Kontrolle dieserRessourcen ist der Grund dafür, warum sichimmer wieder Mächte aus der Wohlstands-zone, an ihrer Spitze die USA, verschiedentlichin Ressourcenkriege einmischen und sie zu be-enden bzw. einer Seite zum Sieg zu verhelfenversuchen. Diese Interventionen, die auch dieAbrüstung eines Kriegsakteurs oder die Ver-hinderung der Proliferation von Atomwaffenzum Ziel haben können, sind zusammenfas-send als Pazifizierungskriege zu bezeichnen.Bei diesen militärischen Interventionen spie-len geostrategische, wirtschaftliche und hu-manitäre Motivationen ineinander, wobei oftnicht zu entscheiden ist, welcher dieser Fak-toren ausschlaggebend für die Interventions-entscheidung ist. Das Problem dieser Interven-tionen ist jedoch, dass sie nur von kurzerDauer sein und nach Möglichkeit die interve-nierenden Mächte keine größeren Opfer kos-ten dürfen. Das time lag zwischen langenRessourcen- und kurzen Pazifizierungskriegenist eine der Ursachen dafür, warum diese In-terventionen selten von einem nachhaltigenErfolg gekrönt sind. In vielen Fällen handelt essich ohnehin um ein Nachgeben gegenüber einem von NGOs und Medien erzeugten mo-ralischen Druck, der über Berichte von hu-manitären Katastrophen hergestellt wird. ImGrundsatz dürften die postheroischen Gesell-schaften Westeuropas aber dazu neigen, dieRessourcenkriege sich selbst zu überlassenund nur deren Folgen mit humanitären Hilfs-leistungen zu lindern.

VERWÜSTUNGSKRIEGE GEGEN DEN NORDEN

In den im Gefolge solcher Kriege entstande-nen Regionen zerfallener Staatlichkeit nistensich freilich Gruppierungen ein, die eine zunehmende strategische Angriffsfähigkeitgegenüber den Wohlstandszonen der OECD-Welt entwickeln und eine neue Form von Ver-wüstungskrieg gegen den reichen Norden be-ginnen. Das Mittel, dessen sie sich dabei bedie-nen, ist der Terrorismus.14 Im Unterschied zumPartisanenkrieg als einer der herkömmlichenFormen asymmetrischer Kriegführung ist derTerrorismus in der Lage, die Gewalt bis weit in das Territorium des angegriffenen Gegnershineinzutragen. Ist der Partisanenkrieg dieprinzipiell defensive Variante einer Asymme-trierung des Krieges aus der Position desSchwächeren heraus, so ist der Terrorismus alspolitisch-militärische Strategie zumindest inder Lage, offensiv zu agieren, und da er aufdiese Weise zuletzt beachtliche Effekte erzielthat, wird man davon ausgehen müssen, dassdies in Zukunft in erhöhtem Maße der Fall seinwird. Der Partisanenkrieg ist von der Unter-stützung der kleinen, verstreut operieren-den Gruppen durch die Zivilbevölkerung des Operationsgebiets abhängig, die ihre Logistikübernimmt und ihnen Deckung gewährt. Par-tisanenkriege sind nur führbar, wenn die Gue-rilleros sich auf die Unterstützung durch dieMehrheit der Bevölkerung verlassen können.Partisanen können nur dort operieren, wo siediesen Rückhalt haben. Wo sie ihn nicht habenoder aufgrund eigener Fehler bzw. des Ge-schicks der Gegenseite verlieren, verlieren sieauch den Krieg. Das ist bei Terroristen nichtder Fall: Sie haben die Unterstützung von Seiten der Bevölkerung des Operationsgebietsdurch die Nutzung der zivilen Infrastrukturdes angegriffenen Landes ersetzt. Die Vo-raussetzung dafür ist die strikte Beachtungder Klandestinitätsregeln. Fluglinien, Mas-sentransportmittel, Kommunikationssysteme,Massenmedien und Urlaubszentren sind für

die Terroristen zugleich Mittel und Ziele desAngriffs geworden. Was sie aber eigentlich an-greifen, ist die labile psychische Infrastrukturvor allem der westlichen Welt, über die sie denpolitischen Willen des angegriffenen Landesermatten und erschöpfen wollen. Dabei setzensie vor allem auf die psychischen Effekte derGewalt, also den Schrecken, der umso intensi-ver verbreitet wird, je größer die medialeDichte des angegriffenen Landes ist. Ziel die-ser Gewaltstrategie ist der ökonomische Scha-den, der durch die Erzeugung von Schreckenbewirkt wird, also die wirtschaftliche Verwüs-tung des Angegriffenen, und wenn diese einfür ihn nicht mehr zu ertragendes Maß er-reicht hat, wird er, so das terroristische Kalkül,einlenken und beigeben. In diesem Sinne istauch der religiös motivierte Terrorismus eineStrategie der Gewalt, die eine der Kriegsfor-men des 21. Jahrhunderts darstellen wird.

ANMERKUNGEN1 Dazu ausführlich Münkler, H.: Ist Krieg abschaffbar? –Ein Blick auf die Herausforderungen und Möglichkeitendes 21. Jahrhunderts. In: Wegner, B.: Wie Kriege enden.Wege zum Frieden von der Antike bis zur Gegenwart. Pa-derborn u.a. 2000, S. 347–375.2 Eine zusammenfassende, auch statistisch aufbereiteteDarstellung dieser Entwicklung findet sich bei Schreiber,W.: Die Kriege in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundertsund danach. In: Das Kriegsgeschehen 2000. Hrsg. von Th.Rabehl und W. Schreiber. Opladen 2001, S. 11–46.3 Clausewitz, C. von: Vom Kriege. 19. Aufl., hrsg. von W.Hahlweg. Bonn 1980, S. 212.4 Exemplarisch sind zu nennen Creveld, M. van: Die Zu-kunft des Krieges. München 1998; Kaldor, M.: Neue undalte Kriege. Frankfurt am Main 2000; Münkler, H.: Dieneuen Kriege. Reinbek bei Hamburg 2002.5 Vgl. Parker, G.: Die militärische Revolution. Die Kriegs-kunst und der Aufstieg des Westens. Frankfurt am Main/New York 1990.6 Mit unterschiedlicher Akzentuierung ist diese Kritikvorgetragen worden von Gantzel, K.J.: Neue Kriege?Neue Kämpfer? Arbeitspapier 2/2002 der Forschungs-stelle Kriege, Rüstung und Entwicklung der UniversitätHamburg; Knöbl, W.: Krieg, „neue Kriege“ und Terror:Sozialwissenschaftliche Analysen und „Deutungen“ deraktuellen weltpolitischen Lage. In: Soziologische Revue,27. Jg., 2004, S. 186-200; Kahl, M./Teusch, U.: Sind die„neuen Kriege“ wirklich neu? In: Leviathan, 32. Jg., 2004,Heft 3, S. 382-401; Chojnacki, S.: Wandel der Kriegsfor-men – Ein kritischer Literaturbericht. In: ebd., S. 402–424.Dagegen eher zustimmend Heupel, M./Zangl, B.: Von „al-ten“ und „neuen“ Kriegen – Zum Gestaltwandel kriegeri-scher Gewalt. In: Politische Vierteljahresschrift, 45. Jg.,2004, Heft 3, S. 346–369.7 Dazu Münkler, H.: Symmetrische und asymmetrischeKriege. In: Merkur, 58. Jg., 2004, Heft 8, S. 649–6598 Dazu Schröfl, J./Pankratz, Th. (Hrsg.): AsymmetrischeKriegführung – ein neues Phänomen der internationalenPolitik? Baden-Baden 2004.9 Dazu ausführlich Münkler: Die neuen Kriege (vgl. Fuß-note 4), S. 59ff.10 Als Westfälisches System wird die politische Ordnungbezeichnet, die sich in Europa nach dem Frieden vonMünster und Osnabrück, dem so genannten Westfäli-schen Frieden, entwickelt hat. Diese Ordnung ist dadurchgekennzeichnet, dass die Staaten nicht nur die rechtli-chen Monopolisten des Krieges, sondern auch die fakti-schen Monopolisten der Kriegführungsfähigkeit sind.11 Dazu Diner, D.: Das Jahrhundert verstehen. Eine uni-versalhistorische Deutung. München 1999, S. 195ff.12 Eine ausführliche Auseinandersetzung damit findetsich bei Daase, C.: Kleine Kriege – große Wirkung. Wieunkonventionelle Kriegführung die internationale Politikverändert. Baden-Baden 1999.13 Vgl. hierzu und zum folgenden Münkler, H.: Kriege im 21. Jahrhundert. In: Reiter, E. (Hrsg.): Jahrbuch für in-ternationale Sicherheitspolitik 2003. Hamburg u.a. 2003,S. 83–97.14 Vgl. hierzu und zum folgenden Münkler, H.: Clause-witz und die neuen Kriege. Über Terrorismus, Partisanen-krieg und die Ökonomie der Gewalt. In: Heitmeyer, H./Soeffner, H.-G. (Hrsg.): Gewalt. Entwicklungen, Struktu-ren, Analyseprobleme. Frankfurt am Main 2004, S. 362–380, sowie ders.: Ältere und jüngere Formen des Terroris-mus. Strategie und Organisationsstruktur. In: Weidenfeld,W. (Hrsg.): Herausforderung Terrorismus. Wiesbaden2004, S. 29–43.

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HERFRIED MÜNKLER

UNSER AUTOR

Prof. Dr. HerfriedMünkler, geb. 1951in Friedberg/Hes-sen, studierte Poli-tikwissenschaft,Germanistik undPhilosophie inFrankfurt am Main.Seit 1992 hat Her-fried Münkler eineProfessur für denLehrbereich „Theo-

rie der Politik“ an der Humboldt-Universitätzu Berlin inne. Seit Dezember 1992 ist erMitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Zur Zeit hater eine Forschungsprofessur am Wissen-schaftszentrum zu Berlin (WZB) inne. DerBegriff „neue Kriege“ verdankt seine Karriereim deutschsprachigen Raum nicht zuletzt dem im September 2002 erschienen Buch„Die neuen Kriege“ von Herfried Münkler.

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spezialisten, die sich intensiv mit einzelnenKriegen beschäftigten und ebenso Konfliktfor-scher, die, nicht zuletzt unter dem Eindruckdes Biafra/Nigeria-Krieges 1967–1970, so ge-nannte „ethnische Konflikte“ zum Gegenstandihrer Forschungen machten. Auch widmetensich Strategieforscher und Vertreter der Dis-ziplin Internationale Beziehungen einzelnen„Krisenherden der Weltpolitik“ sowie weltpoli-tisch brisanten anti-kolonialen Befreiungs-kämpfen und sozialrevolutionären Guerilla-kriegen (unter anderem dem Koreakrieg, derKongo- und Kubakrise, dem Nahostkonfliktsowie dem Indochina- und Algerienkrieg). Da-bei wurde bereits sehr frühzeitig die Proble-matik des innerstaatlichen oder Bürgerkriegs(„internal war“) thematisiert (Eckstein 1964;Rosenau 1964). In den 70er- und 80er-Jahrenwandten sich weitere Wissenschaftler der Be-standsaufnahme und Analyse gegenwärtigerKriege zu. Hierzu trugen vor allem die Ver-schärfung des Ost-West-Konflikts („NeuerKalter Krieg“), die mit diesem verbundenen„Stellvertreterkriege“ und „Regionalkonflikte“in der Dritten Welt sowie die akuten Kriegezwischen Iran und Irak („Erster Golfkrieg“), Argentinien und Großbritannien um die Falk-lands/Malwinen, im Libanon, im südlichenAfrika, am Horn von Afrika, in Südostasien undin Zentralamerika bei. Nunmehr wurden ins-besondere die Kriege in der „Dritten Welt“ zueinem prominenten Untersuchungsgegen-stand (z. B. Khan/Matthies 1981; Matthies1988; Gantzel 1988; Senghaas 1989). Etliche

dieser Studien zu Kriegen in der Ära des Ost-West-Konflikts thematisierten bereits mancheder Problemaspekte, die später unter der Rub-rik „neue Kriege“ besondere Beachtung fan-den: unter anderem die empirische Dominanzvon Bürgerkriegen, die irreguläre Kriegfüh-rung nicht-staatlicher Akteure, deren ökono-mische Basis und internationale Kontexte, dergezielte Gewalteinsatz gegen die Zivilbevölke-rung und das Phänomen der Kindersoldaten (siehe Heuser 2005 und für Afrika Ellis 2003).

DIE „WIEDERENTDECKUNG“ DES KRIEGES

Das Ende des Ost-West-Konflikts machte dannin Teilen der Öffentlichkeit und auch der Wis-senschaft zunächst einer gewissen Friedens-euphorie Platz. Doch unter dem Eindruck nichtrechtzeitig verhüteter gewaltsamer Staatszer-fallsprozesse, Bürgerkriege und Völkermordewie in Jugoslawien, Somalia und Ruandaschwanden die Hoffnungen auf eine welt-weite „Friedensdividende“ rasch dahin. Insbe-sondere die Rückkehr des Krieges nach Europain Gestalt der Balkankriege hatte mit seinerSchockwirkung ein immenses Interesse derÖffentlichkeit und der Wissenschaft an denKriegen der Gegenwart zur Folge. Der optimis-tische Ruf „Nie wieder Krieg!“ machte der pes-simistischen Frage „Immer wieder Krieg?“Platz. Im Kontext einer veränderten Wahrneh-mungslogik und Interessenlage nach demEnde des Ost-West-Konflikts kam es nun

BESCHÄFTIGUNG MIT DEM PHÄNOMENKRIEG IST NICHTS NEUES

„Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- undFeiertagen, als ein Gespräch von Krieg undKriegsgeschrei“, so heißt es bei Goethe im„Faust“. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat manden Eindruck, als beherrsche das Gerede vonKrieg und Kriegsgeschrei bereits die alltäglicheKommunikation. Hierzu gehört auch die Redevon den neuen Kriegen und die seit dem 11. Sep-tember 2001 intensivierte massenmediale Be-richterstattung über terroristische Anschläge.Selbst Teile der Friedens- und Konfliktfor-schung sind offenkundig der „unheimlichenFaszination des Krieges“ (Stefan Zweig) erlegen,da sie sich mittlerweile mehr mit dem Krieg alsmit ihrem eigentlichen Gegenstand, dem Frie-den, zu befassen scheinen. Wie ist dies nun zuerklären? Denn die Beschäftigung mit dem Phä-nomen des Krieges ist ja keineswegs neu.Seit vielen Jahrzehnten schon befassten sichetliche Wissenschaftler mit der empirischenBestandsaufnahme und analytischen Erfas-sung der Kriege nach dem Ende des ZweitenWeltkrieges (als „Pionierforscher“ seien hierIstvan Kende und nachfolgend die unter Lei-tung von Klaus Jürgen Gantzel stehenden Mit-arbeiter der „Hamburger ArbeitsgemeinschaftKriegsursachenforschung“/AKUF genannt). Inden 50er- und 60er-Jahren gab es Regional-

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DER VERNACHLÄSSIGTE BLICK AUF DEN FRIEDEN

Eine Welt voller neuer Kriege?VOLKER MATTHIES

Obwohl die Beschäftigung mit dem Phä-nomen Krieg nicht neu ist, hat man denEindruck, dass das „Gerede von Krieg undKriegsgeschrei“ (Goethe) die öffentlicheund akademische Kommunikation be-herrscht. Nicht zuletzt die Rückkehr desKrieges nach Europa in Gestalt der Bal-kankriege hat zu einer „Wiederentde-ckung“ des Krieges beigetragen. VolkerMatthies resümiert in einer kritischen Be-standsaufnahme die Debatte über neueKriege und kommt zu dem Schluss, dassder Gestaltwandel des Krieges im Grun-de ein altes Thema ist: die Anpassung des„Chamäleon Krieg“ (Clausewitz) an neu-artige politische, soziale und ökonomi-sche Bedingungen. Die gegenwärtigeDiskussion über neue Kriege verstellt je-doch den Blick auf notwendige Debat-ten über Gewalt-, Konflikt- und Krisen-prävention sowie über die Beendigungder Kriege und Friedenskonsolidierung. Volker Matthies plädiert deshalb, demNicht-Krieg und damit der Friedensursa-chenforschung (wieder) größere Auf-merksamkeit zu schenken. Dies meintauch ein Nachdenken darüber, wie denSzenarien der neuen Kriege durch Ge-walt- und Konfliktprävention und durcheine Agenda sicherheits- und friedens-politischer Global Governance wirksamEinhalt geboten werden kann. Red.

EINE ÄLTERE MOSLEMISCHE FRAU MACHT IN DER NÄHE EINES MINEN-WARNSCHILDES AN DER STRASSE NACH STANIC

RIJEKA (50 KM WESTLICH VON TUZLA) EINE KURZE PAUSE UND ATMET TIEF DURCH. IN DER UMGEBUNG DES DORFES

VERLIEF DIE FRONTLINIE ZWISCHEN SERBEN UND MOSLEMS. UNTER DEM EINDRUCK DES KRIEGES IM EHEMALIGEN

JUGOSLAWIEN SCHWANDEN DIE HOFFNUNGEN AUF EINE WELTWEITE „FRIEDENSDIVIDENDE“ NACH DEM ENDE DES OST-WEST-KONFLIKTES. picture alliance / dpa

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gleichsam zu einer „Wiederentdeckung“ desPhänomens „Krieg“ (Pradetto 2004). Allerdingsrückte gegenüber dem empirisch in den Hin-tergrund getretenen „klassischen“ Staaten-krieg nunmehr der innerstaatliche Krieg oder„Bürgerkrieg“ in den Mittelpunkt des öffentli-chen und wissenschaftlichen Interesses. Poli-tikwissenschaftler, Historiker, Soziologen, Eth-nologen und Ökonomen erforschten insbe-sondere seit Mitte der 90er-Jahre Kriege „nie-driger Intensität“, „kleine Kriege“, den Beginnund das Ende von Kriegen, die Eigendynamikvon Bürgerkriegen, „Ordnungen der Gewalt“,„Gewaltmärkte“ und Bürgerkriegsökonomien.Um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundertschließlich machten verschiedene Studien aufeinen sich abzeichnenden fundamentalen his-torischen Formenwandel kriegerischer Gewaltaufmerksam (Creveld bereits 1991!), den sieteilweise auf den Begriff der „neuen Kriege“brachten (vor allem Kaldor 2000; Münkler2002). Dabei war allerdings nicht immer klar,was denn das originär „Neue“ sein sollte. Warder Typus dieser Kriege neu, traten sie zeitlichund regional neu auf, hatten sie neue Ursa-chen, Hintergründe und Entstehungsbedin-gungen, oder wiesen sie besondere, bislangnicht bekannte Merkmale auf? Gemeinsam ist den meisten dieser Studien,dass sie innerstaatliche Kriege thematisieren,deren Grundmerkmale herausstellen und zu-nächst auf die Unterscheidung zu dem als „alt“angesehenen Typ des zwischenstaatlichenKrieges zielen. Das Attribut „neu“ soll dieseKriege von den für eine frühere Epoche typi-schen Kriegsformen abgrenzen. Als wesentli-che Merkmale des behaupteten Formenwan-dels gelten den meisten Autoren vor allem dieEntstaatlichung, Privatisierung, Ökonomisie-rung und Brutalisierung des Krieges. Die seitden terroristischen Anschlägen vom 11. Sep-tember 2001 teilweise erfolgende Verknüp-fung der Debatte über neue Kriege mit der De-batte über den internationalen Terrorismusverlieh der ersteren auch eine erhebliche si-cherheitspolitische Relevanz.

ZUR KRITIK DER REDE VON DEN NEUEN KRIEGEN

Mittlerweile sind wesentliche Punkte der Kritikan der These eines fundamentalen Formen-wandels kriegerischer Gewalt bekannt undkonzise zusammengefasst. Hier sollen sie unter Anlehnung an einige aktuelle kritischeBestandsaufnahmen der Debatte über neueKriege (Chojnacki 2004; Kahl/Teusch 2004;Pradetto 2004) nochmals kurz und bündig ab-gehandelt werden:

Als ein Hauptmerkmal der neuen Kriege wirdderen Entstaatlichung und Privatisierung an-geführt. Die Staaten hätten ihr „Monopol derKriegsgewalt“ verloren und seien nicht längerdie „Herren des Krieges“ (Münkler). Demgegen-über sei ein wesentliches Element der neuenKriege die wachsende Beteiligung und Zu-nahme nicht-staatlicher Gewaltakteure, eineArt von „Globalisierung privater Gewalt“ in Ge-stalt von Kriegsherren, Gewaltunternehmern,Rebellen, Guerilleros, Banditen, Milizen, Söld-nern, Terroristen und organisierten Kriminellen(Mair 2002). Doch setzt die Rede von der „Ent-staatlichung“ des Krieges ja voraus, dass es vordem Krieg eine durchsetzungsfähige staatlicheZentralgewalt überhaupt gegeben hat. Dies war und ist jedoch für einen erheblichen Teil derStaatenwelt vor allem in den außereuropäi-schen Regionen nicht der Fall. Gleichwohl bliebund bleibt die Staatlichkeit und die Erringungder Staatsmacht ein wichtiger Bezugsrahmenund ein wichtiges Ziel vieler kriegerischer Auseinandersetzungen. Zudem ist zumindest eine Teil-Entstaatlichung und Teil-Privatisie-rung des Krieges alles andere als neu, da diesePhänomene ja den bereits seit 1945 dominan-ten innerstaatlichen Kriegen inhärent waren.Schließlich handelt es sich bei etlichen nicht-staatlichen Gewaltakteuren keineswegs um„neue“ und „private“ Akteure, sondern um auf

traditionalen Strukturen aufsetzende kommu-nitäre („gemeinschaftlich“ verfasste) Akteure(Böge 2004). Andererseits ist heutzutage zu-mindest eine Proliferation und Ausdifferenzie-rung sowie ein erhöhter politischer Stellenwertnicht-staatlicher Akteure unverkennbar;

REDUKTION AUF ÖKONOMIE IST ZWEIFELHAFT

Als ein weiteres Hauptmerkmal der neuenKriege gilt deren Ökonomisierung und impli-zite Entpolitisierung. Denn aus ökonomischerSicht stellen sich diese – in Abwandlung desberühmten Clausewitz-Diktums vom „Kriegals Fortsetzung der Politik mit anderen Mit-teln“ – als eine „Fortsetzung der Ökonomie mit anderen Mitteln“ dar. Sie glichen eherwirtschaftlichen Raubzügen und Formen or-ganisierter Wirtschaftskriminalität als genuinpolitischen Unternehmungen und militäri-schen Feldzügen. Mit anderen Worten: „DerHomo Economicus zieht in den Krieg“ (Cramer2002). Der Krieg gilt als Mittel der ökonomi-schen Reproduktion und der Reichtumsaneig-nung; er wird zum Selbstzweck und Instru-ment ökonomischer Zweckrationalität. Dochwenn auch der kriegsökonomische Blickwinkeldazu beiträgt, die Dynamik mancher gegen-

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VOLKER MATTHIES

„SCHMUTZIGE KRIEGE“ GAB ES SCHON IMMER:DIES GILT INSBESONDERE FÜR DIE EUROPÄISCHEN

KOLONIALKRIEGE, DIE SICH DURCH AUSSERORDENTLICHE

BRUTALITÄT BIS HIN ZUM VÖLKERMORD AUSZEICHNETEN.DIE ABBILDUNG AUS DEM PETIT JOURNAL ILLUSTRIERT

DEN HERERO-AUFSTAND IN DEUTSCH-SÜDWESTAFRIKA

1904/5. SOZIALDARWINISMUS UND RASSISMUS

DIENTEN ALS RECHTFERTIGUNG FÜR EINE KOLONISIERUNG

MIT „FEUER UND SCHWERT“.picture alliance / dpa

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wärtiger Kriege besser zu verstehen, so bleibtdie Reduktion des generellen Kriegsgesche-hens auf wesentlich ökonomische Gesichts-punkte dennoch zweifelhaft. Denn Unklarheitbesteht oft darüber, ob es sich bei den ökono-mischen Interessen von Gewaltakteuren umdie primären Ursachen der Kriege handelt odereher um sekundäre Begleiterscheinungen undFolgen kriegerischer Gewalt. Eine Ausblen-dung der sozialen Dimension von Kriegenwürde zudem wesentliche Gründe ihrer Ent-stehung und Dynamik übersehen. Problema-tisch ist ferner, mit der Entstaatlichung undÖkonomisierung des Krieges zugleich auchdessen Entpolitisierung anzunehmen. Dennselbst wenn die Politik ihrer staatlichen For-men entledigt ist, bilden sich vielfach alterna-tive gesellschaftliche Netzwerke und eigen-ständige Formen von politischer Autorität, Le-gitimität und Machtausübung jenseits über-kommener Staatlichkeit heraus. Insgesamtdürfte daher wohl eine komplexe und dynami-sche Wechselbeziehung zwischen Krieg, Öko-nomie und Politik bestehen.

„SCHMUTZIGE KRIEGE“ GAB ES SCHON IMMER

Als ein zusätzliches Merkmal der neuen Kriegegilt ihre „Regellosigkeit“, „Enthegung“, „Entzi-vilisierung“ oder „Barbarisierung“. Diese Kriegeseien brutaler und grausamer als herkömmlicheKriege und würden selbst Mindestnormen deshumanitären Völkerrechts missachten und dieGewaltanwendung gegen Zivilisten zu einemstrategischen Instrument der Kriegführungmachen. Die klassische Unterscheidung zwi-schen „Kombattanten“ und „Nicht-Kombattan-ten“ sei in den neuen Kriegen aufgehoben.Nicht mehr die offene Entscheidungsschlachtzwischen Kombattanten stünde im Zentrumder Gewaltausübung, sondern die Terrorisie-rung von Zivilisten und das Massaker an der Zi-vilbevölkerung. Doch muss hier angemerktwerden, dass das Regelwerk des humanitärenVölkerrechts für den inneren Krieg schon immereine weitaus geringere Dichte und Durchset-zungsfähigkeit aufwies als für den klassischenStaatenkrieg. Auch kamen schon in früherenKriegen unvorstellbare Grausamkeiten, Kriegs-verbrechen und Massentötungen von Zivilistenund damit gravierende Regelverstöße gegenMindestnormen einer „zivilisierten“ Kriegfüh-rung vor. Dies gilt insbesondere für die euro-päischen Kolonialkriege, die sich durch außer-ordentliche Brutalität bis hin zum Völker-mord auszeichneten. Heidenmission, Sozial-darwinismus und Rassismus dienten als willkommene Legitimationsmuster für eine Ko-lonisierung mit „Feuer und Schwert“. Die Kolo-nialvölker galten moralisch und rechtlich denEuropäern nicht gleichgestellt; europäischeKriegskonventionen wurden hier nicht aner-kannt. Der Krieg der „Zivilisierten“ untereinan-der war an gewisse Regeln gebunden, währendder Kampf gegen die „Wilden“ dagegen alle Mit-tel erlaubte. In der spät- und nachkolonialenÄra galten namentlich Guerilla- und Anti-guerillakriege im Kontext von anti-kolonialenUnabhängigkeits- und sozialrevolutionärenBefreiungskriegen geradezu sprichwörtlich als„schmutzige Kriege“.

ALLZU SCHLICHTE KONTRASTIERUNG

Kritikwürdig ist insgesamt die allzu schlichteKontrastierung idealtypisch stilisierter „alter“und „neuer“ Kriege, die der Vielfalt und denKontinuitäten im vergangenen und gegenwär-tigen Kriegsgeschehen kaum gerecht wird.Doch räumen Vertreter der Rede von den neuenKriegen durchaus begriffliche und sachlicheUnzulänglichkeiten ein, führen diese jedochauf „die unübersichtliche und in einer kohären-ten Begrifflichkeit, geschweige denn Theoriekaum zu erfassende Gemengelage der jünge-ren Entwicklung des Kriegsgeschehens“ zurück(Münkler 2002, 47). Gleichwohl wäre eine sehrviel stärkere typologische Ausdifferenzierungvon „klassischen“ zwischenstaatlichen, „her-kömmlichen“ innerstaatlichen und „neuen“ sub-staatlichen Kriegen sowie vielfältigen Misch-formen kriegerischer Gewalt angebracht. Denndie komplexe Realität des beobachtbaren weltweiten Kriegsgeschehens ist ja geradedurch eine Vielzahl kriegerischer Konflikte undHybridformen gekennzeichnet, die vormo-derne und moderne Gewaltelemente in unter-schiedlichen Kombinationen entlang einer dy-namischen Zeitachse in sich vereinen. Studien,welche durch die komparative Analyse einerAuswahl von Fällen die empirische Evidenzneuer Kriege aufweisen wollen (Heupel/Zangl2003, 2004), weisen zwar in die richtige Rich-tung, stehen jedoch vor dem Problem ihrer Se-lektionskriterien und der Generalisierbarkeitihrer Befunde. Denn die Untersuchung eineranderen Auswahl von Fällen gegenwärtigerKriege würde womöglich zu einem abweichen-den oder gar gegenteiligen Befund kommen.

DAS „CHAMÄLEON KRIEG“

Abschließend kann festgehalten werden, dassder Begriff der „neuen Kriege“ weniger auf einezeitliche (Neu-)Bestimmung von Krieg im engeren Sinne verweist, sondern eher „auf kon-zeptionellen Überlegungen hinsichtlich klassi-fizierbarer neuartiger Elemente des gewalt-samen Konfliktaustrags“ beruht, der vor allemdurch einen qualitativen Wandel auf der Ak-teursebene (Entstaatlichung und Privatisie-rung des Krieges) sowie in der Ablaufdynamik(Verstetigung von Kriegssituationen durch Ge-waltmärkte und Kriegsökonomien) gekenn-zeichnet ist (Chojnacki 2002, 40). Insgesamt of-fenbart sich in der Debatte über neue Kriege die„Neu-Entdeckung“ eines „alten“ Themas: näm-lich des ständigen historischen Wandels undder ständigen Anpassung des „ChamäleonKrieg“ (Clausewitz) an neuartige politische, so-ziale und ökonomische Herausforderungenund Bedingungen. Auf diesem Hintergrund istder Gegenstand und Begriff des Krieges selbstins Gerede gekommen. Verständlicherweisewarf daher Herfried Münkler die Frage auf, obes angesichts der „neuen substaatlichen For-men der Gewalt“ überhaupt noch sinnvoll sei,„am Begriff des Krieges als einer zusammen-fassenden Bezeichnung großräumig organi-sierter Gewalt festzuhalten?“ (Münkler 2002,11). Und Christopher Daase konstatierte: „Derklassische Krieg, wie wir ihn aus der europäi-schen Militärgeschichte kennen, ist im Ver-schwinden begriffen und eine neue Form po-

litischer Gewalt ist im Entstehen, von der nochnicht klar ist, ob sie noch Krieg ist, oder schonetwas anderes, ein gefärbtes Chamäleon oderbereits ein anderes Wesen“ (Daase 2002, 6).

SIND HISTORISCHE ANALOGIEN PLAUSIBEL?

Die vernachlässigte Berücksichtigung ältererkriegshistorischer und ethnologischer Studien,regionalwissenschaftlicher Untersuchungen so-wie empirischer Befunde und Forschungs-stränge der Friedens- und Konfliktforschunghat jedoch in der Debatte über neue Kriegedeutlich zu einer eurozentrischen Verzerrung,unzulässigen Verallgemeinerung und Über-zeichnung des „Neuen“ im gegenwärtigenKriegsgeschehen beigetragen. Problematischerscheinen auch die (von Historikern wie PeterEnglund, Eric Hobsbawm und auch von HerfriedMünkler) herangezogenen Analogien zu derKriegführung und den Verwüstungen des Drei-ßigjährigen Krieges („Rückkehr der Warlords“;„Mutter-Courage-Landschaften“ in Afrika etc.),um Parallelen mit den heutigen „neuen“ Kriegenaufzuweisen. Denn ob diese eurozentrisch ge-prägte historische Analogie, so plausibel sie füreinen deutschen und mitteleuropäischen Be-trachter auch sein mag, tatsächlich hilfreich ist,um heutige Gewaltkonflikte namentlich in au-ßereuropäischen Regionen besser zu verstehen,mag bezweifelt werden. Hier wäre der Blick aufältere, historische Formen der Kriegführung indiesen Regionen selbst (z.B. am Horn von Afrika)womöglich nützlicher (Matthies 2005).Viele der Schlussfolgerungen zum Wandel desKrieges basieren letztlich „doch eher auf Illust-rationen und anekdotischen Evidenzen (...), we-niger auf empirisch und historisch vergleichen-den Analysen (...). Damit wird die These ‚neuer‘Kriege einerseits ohne fundierte empirische Ba-sis verallgemeinert; andererseits werden diffe-renzierbare Gewaltphänomene (Krieg, Terroris-mus) und Teilphänomene (Ökonomisierung,Brutalisierung, Resexualisierung und Asymme-trisierung des Krieges) theoretisch überbewer-tet oder gar fehlinterpretiert. Und angesichtsder empirischen Trends im globalen Kriegsge-schehen (...) wäre es ohnehin verfrüht, ‚alte‘ innerstaatliche Kriege zu vernachlässigen oderzwischenstaatliche Kriege gar als historischesAuslaufmodell anzusehen“ (Chojnacki 2004,418). Der beobachtbaren „Vielfalt von Gewalt-konflikten“ (Kurtenbach/Mehler 2002) wirdhierdurch nicht angemessen Rechnung getra-gen. Deutlich wird insbesondere auch, dass dieeurozentrische Fixierung auf den scheinbar his-torischen „Normalfall“ des zwischenstaatlichenKrieges den Blick auf die universalgeschichtli-che Dominanz des nicht-staatlichen Kriegesund den „europäischen Sonderweg“ in derKriegführung zwischen dem DreißigjährigenKrieg und dem Ersten Weltkrieg, der zumindestin Europa über Jahrhunderte zu einer „histo-risch einmaligen Einhegung des Krieges“ führ-te, lange verstellt hat (Herberg-Rothe 2003).

DAS VERDIENST DER REDE VON DEN NEUEN KRIEGEN

In Teilen ist die Rede von den neuen Kriegenmit ihrer großen Popularität in der Öffentlich-

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keit, in der Politik und im Militär auch ein„deutsches“ Phänomen, das eng mit dem Kon-text „neuer“ Orientierungen in der deutschenAußen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitikverknüpft ist (Brzoska 2004). Bei aller berech-tigten Kritik besteht das Verdienst der Redevon den neuen Kriegen jedoch vor allem darin,eine wissenschaftliche Debatte über die Prob-lematik und einen möglichen Gestaltwandelgegenwärtiger Kriege angestoßen sowie einebreitere Öffentlichkeit für diese Thematik sen-sibilisiert zu haben. Letztendlich sollte es auchgar nicht darum gehen, ob die kontrovers er-örterten Merkmale und Merkmalskombinatio-nen tatsächlich NEU sind oder nicht, sondernWIE sie sind. Denn nur eine realitätsgerechteKenntnis gegenwärtiger Gewaltkonflikte er-möglicht es, angemessene sicherheits- undfriedenspolitische Gegenstrategien zu entwer-fen. Die Entstaatlichung des Krieges hat einebeträchtliche Entwertung herkömmlicher dip-lomatisch-staatlicher Formen der Konfliktbe-arbeitung und Krisenbewältigung zur Folge.Die Ökonomisierung des Krieges verweist aufdie dringende Notwendigkeit einer innovati-ven Entwicklung neuer finanz,- wirtschafts-und entwicklungspolitischer Konzepte und In-strumente. Leider geben die bisherigen Stu-dien zu den neuen Kriegen (abgesehen vonMary Kaldors „kosmopolitischer Alternative”)aber kaum brauchbare Hinweise zur Klärungdieser drängenden Fragen. Im Wesentlichenfinden sich allgemeine Aufrufe zum Erhaltbzw. zur (Wieder-)Herstellung von effektiverStaatlichkeit oder aber Plädoyers für mehroder minder humanitär bzw. interessenpoli-tisch begründete militärische Interventionenin bereits existente Kriege. Die umfangreichenDebatten über Gewalt-, Konflikt- und Krisen-prävention sowie über Kriegsbeendigung undFriedenskonsolidierung hingegen werden bis-lang kaum zur Kenntnis genommen.

VERNACHLÄSSIGTER BLICK AUF NICHT-KRIEG UND FRIEDEN

Dies hat offensichtlich auch damit zu tun, dassPhänomene kriegerischer oder terroristischerGewalt und der Unordnung für die öffentlicheWahrnehmung einen größeren Attraktions-wert haben als deren Gegenteil, der Nicht-Krieg und die geordnete, friedliche Koopera-tion. Die Forschung über Kriege gibt ja eigent-lich nur das „Negativ eines Konflikt-Welt-bildes“ wieder, während die Abbildung vonerhaltenem oder gesicherten Frieden dessen„Positiv-Abzug“ wäre. Doch ist der Nicht-Kriegfür die Kriegsforschung kein relevantes Ereig-nis, denn „nach wie vor werden Konflikte,Kriege und Gewalt als die einzigen Ereignisseverstanden, die operationalisiert werden kön-nen. Frieden wird jedoch weiterhin als ein sta-tistisches Nicht-Ereignis aufgefasst, das nichtoperationalisierbar ist und damit auch nichteiner der Gewaltforschung entsprechendensystematischen und vergleichenden Friedens-ursachenforschung zugänglich wird“ (Rohloff/Schindler 2000, 291). Doch sollte der Frage,warum eigentlich nicht immer und überall aufder Welt gleichermaßen Krieg herrscht, eineweit größere Aufmerksamkeit zuteil werden.Manche Forscher haben daher zu Recht darauf

aufmerksam gemacht, dass die große Mehr-heit aller Länder der Erde „weder in der rotenZone der Kriegsökonomien, noch in der golde-nen Nische der Globalisierungsgewinner lo-kalisiert“ ist, „sondern in einer Grauzone ge-fährdeter Erfolge, fragiler Stabilität und un-abgeschlossener Modernisierungsprozesse“;zudem verdecke die Konzentration der wissen-schaftlichen und öffentlichen Aufmerksam-keit auf chronische Kriegsregionen, exzessiveKrisengesellschaften und gewaltsame Staats-zerfallsprozesse „den Blick auf die Erfolge, dieviele Länder unter schwierigen Bedingungenerzielen konnten“ (Ehrke 2002, 23). Wo, warum und wie formieren sich womöglichüber (West-)Europa und die OECD-Welt hinausneue, eigenständige „Friedenszonen“ und Mus-ter einer friedlichen Koexistenz? Warum ist es in der Welt der EntwicklungsgesellschaftenAsiens, Afrikas und Lateinamerikas sowie in derWelt der postkommunistischen Transforma-tionsländer, die oft pauschal als Zonen derchronischen Gewalt gelten, nicht überallgleichermaßen zu (Bürger-)Krieg und Staats-zerfall gekommen? Warum wurden einige Gesellschaften in der gleichen Region von ver-heerenden Kriegen heimgesucht (wie z.B. El Salvador, Guatemala und Nicaragua in Zentral-amerika; Angola, Mosambik und Kongo im sub-saharischen Afrika) und andere (wie etwa CostaRica oder Botswana und Tanzania) nicht? Wa-rum blieben großflächige Länder mit enormensozialen Spannungen und/oder ethnisch-kul-turellen Zerklüftungen – wie beispielsweiseBrasilien, Indien oder Malaysia (bislang?) vonumfassenden Bürgerkriegen und Staatszer-fallsprozessen verschont? Was macht den „Kitt“aus, der heterogene Gesellschaften trotz viel-fältiger Zerreißproben zusammenhält? Zur Be-antwortung solcher Fragen müssten Aspekteder Legitimations- und Funktionsproblematiknachkolonialer Staaten thematisiert werden,ferner sozio-ökonomische Verteilungsmecha-nismen und kulturelle Identitätsprobleme, Be-stimmungsfaktoren sozialer Integration sowiedie Einbindung von Gesellschaften in Prozesseder Globalisierung. Insgesamt bedürfte es einerregional und typologisch differenzierenden,komparativen friedenswissenschaftlichen Un-tersuchung, die aber bis heute leider kaum inAnsätzen stattgefunden hat (Matthies 1997;Senghaas 2004).

NACHDENKEN ÜBER GEWALT- UNDKONFLIKTPRÄVENTION

Ebenso sollte aus friedenspolitischen Gründenden seit über einem Jahrzehnt anhaltendenDiskursen über die Möglichkeiten und Erfolgs-bedingungen von Gewalt- und Konfliktprä-vention (z.B. Matthies 2000; Hampson/Malone2002; Carment/Schnabel 2003; Lund 2004)sowie von post-konfliktiver Wiederaufbauar-beit, Staaten- und Nationenbildung (z.B. Fer-dowsi/Matthies 2003; Rotberg 2003; Hippler2004) weit mehr Beachtung geschenkt wer-den, bei aller berechtigten Skepsis über die da-bei bislang gewonnenen Erkenntnisse undempirisch nachweisbaren „Erfolge“. Statt wei-tere „neue Kriege“ zu prognostizieren, sollteman sich lieber der schwierigen Aufgabe desNachdenkens darüber unterziehen, wie denn

einem solchen Szenario Einhalt geboten wer-den könnte. Wie lässt sich der gewaltsamenEskalation von Konflikten durch Früherken-nung und tatkräftiges Handeln beizeiten vor-beugen und wie können nach dem Ende vonKriegen wieder einigermaßen trag- und funk-tionsfähige staatliche und gesellschaftlicheStrukturen sowie stabile und friedliche Ver-hältnisse geschaffen werden? Eigentlich istdie Vernachlässigung von Prävention durchdie Politik ein großer öffentlicher Skandal. Ab-gesehen von den Schrecken und Nöten derunmittelbar betroffenen Gesellschaften undMenschen trägt der Bürger und Steuerzahlerin den westlichen Industriegesellschaften dieKosten und Lasten für verpasste Präventions-chancen, zahlt für humanitäre Nothilfe, zu-strömende Flüchtlinge, teure Militäreinsätzeund umfangreiche Wiederaufbauhilfen. Dochsind wesentliche Voraussetzungen für die Prä-vention der politische Wille und die konzeptio-nelle, materielle und instrumentelle Fähigkeitdiverser Akteure zu vorbeugendem Handeln.Der Erfolg von Prävention ist jedoch vor allemauch von den Kontextbedingungen vor Ort ab-hängig, also von den gesellschaftlichen Ver-hältnissen und Konfliktdynamiken in den Kri-senregionen. Im Interesse einer realistischenEinschätzung von Präventionschancen müs-

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VOLKER MATTHIES

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sen daher die Phänomene des Staatszerfalls,neuartiger Kriegsformen sowie transnationa-ler Gewaltmärkte und auch Kriegsökonomienschärfer als bisher in den Blick genommenwerden. Hierzu haben Forschung wie politi-sche Praxis in den letzten Jahren vielfältige Er-kenntnisse zu Konzepten, Ansätzen, Instru-menten und Strategien effektiven präventivenund post-konfliktiven Handelns zusammen-getragen. Beispielsweise gibt es mittlerweiledifferenzierte Vorschläge zur größeren Zielge-nauigkeit und Effektivität von Sanktionen (sogenannte „intelligente Sanktionen“). Zudemwird intensiv über verbesserte Maßnahmenzur „Austrocknung“ von Finanzierungsquellenneuer Kriege sowie zur Stärkung von eigen-ständigen Friedenspotenzialen in den Krisen-gesellschaften selbst nachgedacht. Insbeson-dere sollten namentlich auch weithin unstrit-tige, zumindest tendenzielle „Erfolgsgeschich-ten“ konstruktiver Konfliktbearbeitung wieetwa Südafrika, Mosambik, Mali(-Nord), So-maliland, das Baltikum oder Mazedonien eineweit größere Beachtung und Würdigung er-fahren als bisher.Ähnlich steht es auch mit dem seit Jahren an-haltenden modischen und populären Geredeüber künftige Ressourcen- und insbesondere„Wasserkriege“. Niemand bestreitet, dass Was-

ser zunehmend eine strategische Ressource mithoher Konfliktträchtigkeit werden wird. Dochstatt über „Kriege um Wasser“ zu räsonieren,sollte man lieber darüber nachdenken, wie dersich tatsächlich verschärfenden globalen Was-serkrise konstruktiv, kooperativ und friedens-verträglich zu begegnen wäre: unter anderemdurch ein wirksames Wassermanagement inden Krisenländern, durch den Bau von kleinenBewässerungssystemen, durch die Unterstüt-zung der Bemühungen der internationalen Ge-meinschaft, bis zum Jahre 2015 den Anteil der Weltbevölkerung ohne Zugang zu saube-rem Trinkwasser zu halbieren, sowie durch denAusbau und die Stabilisierung internationalerVerträge und Regime, die zu einer gerechtenNutzung gemeinsamer Wasserressourcen bei-tragen sollen.

KRIEGSFORSCHUNG INFRIEDENSPOLITISCHER ABSICHT

Zweifellos setzt die Suche nach konstruktivenKonfliktbearbeitungsstrategien und Friedens-politiken voraus, dass man eine realistischeKenntnis von den Formen, Ursachen und Dy-namiken gegenwärtiger (und möglichst auchkünftiger) Kriege hat. Insofern ist Kriegsfor-

schung eine wesentliche Voraussetzung fürFriedensforschung. In diesem Sinne ist auchdie derzeitige Debatte über neue Kriege bzw.über einen fundamentalen Formenwandelkriegerischer Gewalt durchaus berechtigt.Doch sollte diese Debatte letztendlich in eineumfassende Friedenserfahrungs- und Frie-densursachenforschung einmünden. Dennwenn Kriegsforschung auch wichtig ist, sobleibt sie dennoch „unzulänglich, wenn die Kernfrage der FRIEDENSURSACHENFOR-SCHUNG (Hervorh. i.O.) beantwortet werdensoll, nämlich welche Rahmenbedingungenund Voraussetzungen für die ‚Architektur‘ ei-nes dauerhaften und stabilen (…) Friedens,also eines Friedens, der sich durch Nachhaltig-keit auszeichnet, erforderlich sind“ (Senghaas2004, 14). Selbst wenn man den Optimismusjener Forscher nicht teilt, die analog zum UN-Milleniums-Programm zur Halbierung der ab-soluten Armut auf der Welt bis zum Jahre2015 auch eine Halbierung der Zahl der Bür-gerkriege auf der Welt für möglich halten, so-fern heute schon friedenspolitisch tatkräftiggehandelt würde (Collier u.a. 2003), so sollteman bei allem nüchternen Realismus die Er-fordernisse und Möglichkeiten einer globalenFriedenspolitik dennoch etwas positiver ein-schätzen, als es die in Teilen dramatisierendeDebatte über neue Kriege tut. Denn mancheProtagonisten der Rede von den neuen Krie-gen „verbinden ihre Analyse mit einer außer-ordentlichen Skepsis, ja mit großem Pessimis-mus in Bezug auf die Chancen einer globalenFriedenspolitik“ (Kahl/Teusch 2004, 401). Diesdeckt sich in starkem Maße mit nach demEnde des Kalten Krieges weit verbreiteten Vor-stellungen und Unterstellungen von „Chaos“,„Anarchie“ und „Unordnung“ in den interna-tionalen Beziehungen. Doch waren und sinddiese Einschätzungen zum Teil übertrieben,empirisch nicht durchgängig fundiert, zu pau-schal und zu wenig raum-zeitlich differen-ziert. Yahya Sadowski entlarvte in seinemBuch von 1998 eindrucksvoll den „Mythos desGlobalen Chaos“. Ein prominentes US-ameri-kanisches Sammelwerk zur konstruktiven Be-arbeitung von Konflikten, dessen erste Auflage1996 noch unter dem negativ akzentuiertenTitel „Global Chaos: Sources of and Responsesto International Conflict“ erschien, brachtedenn auch im Jahre 2001 eine Neuauflage un-ter dem nunmehr positiver akzentuierten Titel„Turbulent Peace: The Challenges of ManagingInternational Conflict“ (Crocker/Hampson/Aall2001) heraus.Angesichts der Rede von den neuen Kriegenwarf der erfahrene KriegsursachenforscherGantzel daher nicht ganz zu Unrecht die Frageauf, ob denn die „Neuentdecker dieser Kriege(…) bewusst oder unbewusst, zumindest unbe-dacht – nicht einer tieferen Strömung zuDiensten sind. Ihre generalisierenden Darstel-

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HUNDERTTAUSENDE FLIEHEN 1999 VOR EINEM NEUEN

KRIEG IN ANGOLA. IN EINEM FLÜCHTLINGSLAGER WER-DEN RUND 27.000 FLÜCHTLINGE VON DER DEUTSCHEN

WELTHUNGERHILFE VERSORGT. LETZTLICH TRAGEN DIE

WESTLICHEN INDUSTRIENATIONEN DIE KOSTEN UND

LASTEN FÜR VERPASSTE PRÄVENTIONSCHANCEN.picture alliance / dpa

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lungen einer unmenschlichen Kriegswelt we-cken diffuse Bedrohungsgefühle, die geeignetsind, einer sich bis in die Privatzonen hinein-fressenden Sicherheitspolitik den Weg zu eb-nen“ (Gantzel 2002, 16). Eine solche Einstel-lung kann dann auch dazu beitragen, den Wil-len zu einer tatkräftigen und konsequentenFriedenspolitik zu lähmen und sich auf einerein den eigenen Sicherheitsinteressen die-nende defensive Grundhaltung zurückzuzie-hen. In den westlichen Gesellschaften werdendie neuen Kriege vielerorts zunehmend als Be-drohung der eigenen Sicherheit wahrgenom-men. Dies hat bereits zu einer Politisierung desentwicklungspolitischen Diskurses sowie zudessen tendenzieller Verschmelzung mit demsicherheitspolitischen Diskurs geführt (Duf-field 2001). Hierzu trägt sicher auch die prob-lematische Verknüpfung der Debatte überneue Kriege mit der Debatte über den transna-tionalen Terrorismus bei.

GLOBAL GOVERNANCE IN DER FRIEDENS-UND SICHERHEITSPOLITIK

Demgegenüber wäre eine Agenda sicherheits-und friedenspolitischer Global Governancevonnöten, die das Prinzip der multilateralenund kollektiven Friedenssicherung gegenübereiner unilateralen und bündnisgestützten In-terventionspolitik verteidigt, die Legitimitätder Entscheidungen des UN-Sicherheitsratsstärkt, alle Weltregionen entschiedener an derinternationalen Kooperation beteiligt, insbe-sondere auch an den Entscheidungen hand-lungsmächtiger globaler Institutionen, und diezugleich ein kooperatives und soziales Globa-lisierungsprojekt verfolgt (Nuscheler/Weller2002, 213). Gerade in einer „Zeit der Düsternis“sollte Friedensforschung daher „als Horizontaufhellende Langzeitaufgabe“ betrieben wer-den (Rittberger 2004, 12). Man sollte auchnicht übersehen, dass einige der in den letztenJahren vielzitierten Prototypen neuer Kriegemittlerweile wieder zu Ende gegangen sindoder zumindest in ihrer Intensität nachgelas-sen haben (u.a. die Balkankriege, die Kriege inAngola, Sierra Leone, Somalia), wenngleichauch nicht unbedingt in jedem Fall mit derPerspektive eines dauerhaften Friedens. Zu-dem hat es allein zwischen 1988 und 1998insgesamt 38 formale Friedensabkommen zurBeendigung von Bürgerkriegen in 33 Länderngegeben, die keineswegs alle als gescheitert zubetrachten sind. Will man also mögliche „Aus-wege aus dem Bürgerkrieg“ in den Blick neh-men, sollte man sich denn auch nicht von alar-mistischen Zeitdiagnosen leiten lassen, son-dern vielmehr über diejenigen Konfliktfälle berichten, „in denen (…) leidliche Lösungengefunden wurden und praktiziert werden“(Schneckener 2002, 9f). Das in der Regel wenigbeachtete beharrliche und oft auch erfolgrei-che Bemühen um konstruktive Konfliktbear-beitung rund um den Globus sollte friedens-politischer Stoff für „inspirierende Geschich-ten“ sein (European Centre for Conflict Pre-vention 1999; WSP 2004). Zudem sollte auchimmer wieder betont werden, dass die neuenKriege ja vornehmlich die Sicherheit und dieWohlfahrt der direkt betroffenen Menschenund Gesellschaften in den Krisengebieten

selbst bedrohen und (abgesehen von terroris-tischen Attacken) kaum die der Menschen inden westlichen Industriegesellschaften. Ehersind es ja Teile eben dieser Gesellschaften, die,wie gerade die neuere Forschung insbeson-dere zu den ökonomischen Dimensionen derneuen Kriege deutlich gemacht hat, etwadurch macht- und interessenpolitische Einmi-schungen und Beteiligungen an der rohstoff-politischen Ausplünderung von Kriegsgebie-ten, auf außerordentlich destruktive Weise zuden Schrecken und Zerstörungen dieser Kriegebeitragen. Dies gilt auch für die langjährigeUnterstützung repressiver Regime und die To-lerierung krass ungerechter Gesellschaftsord-nungen sowie für die mangelnde Konsequenzinternationaler Menschenrechtspolitik ange-sichts dominanter ökonomischer Interessen.Hier friedenspolitisch anzusetzen, wäre dievornehmste Aufgabe einer Kriegsforschung,die sich als Friedensforschung versteht.

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VOLKER MATTHIES

UNSER AUTOR

Prof. Dr. Volker Matthies ist Dozentfür Politische Wis-senschaft an der Führungsakademieder BundeswehrHamburg. Er hat zu-dem eine Honorar-professur für Politi-sche Wissenschaft an der UniversitätHamburg inne.

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Politikwissenschaft, taten sich sehr schwer, fürdiese letztlich unerwartete Entwicklung in derpolitischen Praxis belastbare Erklärungen an-zubieten, die Strategien der Einhegung undPrävention anleiten können.Der internationalen Diskussion weit vorausei-lend hatten Francois Jean und Jean-ChristopheRufin bereits 1996 eine Sammlung von Fallstu-dien unter dem Titel „Ökonomie der Bürger-kriege“3 in Frankreich veröffentlicht, in dem diewirtschaftlichen Abläufe im Verlauf bewaffne-ter Konflikte untersucht wurden. Allen unter-suchten Konflikten war gemeinsam, dass die je-weiligen „Kriegswirtschaften“ in hohem Maßevon ihrer Einbindung in die globale Waren- undFinanzzirkulation abhängig waren, wenngleichauf unterschiedlichste Weise.Etwa zur gleichen Zeit sah die Weltbank ihr ur-eigenes Betätigungsfeld der Entwicklungsför-derung zunehmend durch die zahlreichen be-waffneten Konflikte gefährdet. Sie setzte eineganze Forschungsabteilung unter Leitung vonPaul Collier4 darauf an, die Ursachen dieser

Konflikte zu erforschen. Damit rückte die engeVerknüpfung von Ökonomie und Krieg in denMittelpunkt internationaler Debatten, die derTitel einer Veröffentlichung der Vereinten Na-tionen zugespitzt auf den Punkt brachte: Gieroder sozialer Missstand (als Konfliktursache)?5

Ein zentraler, statistisch vergleichend ermittel-ter Befund Colliers, der große Beachtung fand,besagt, dass die Verfügbarkeit von weltmarkt-tauglichen Ressourcen deutlich die Wahr-scheinlichkeit erhöht, dass es in einem Land zubewaffneten Konflikten kommt, während unteranderem die Hypothese ethnischer Diversivitätals Ursache verworfen wurde.

„NEUE KRIEGE“ UND WIRTSCHAFTLICHEREPRODUKTION

1999 bzw. 2002 schließlich präsentierten MaryKaldor6 und Herfried Münkler7 das Paradigma„neue Kriege“. Sie haben damit eine breite so-zialwissenschaftliche Debatte ausgelöst. Ei-

DER STELLENWERT DER FRAGESTELLUNG

Die verbreiteten Erwartungen, dass das Endedes Kalten Krieges zu einer neuen friedlichereninternationalen Ordnung führen und einemächtige „Friedensdividende“1 zur globalenBekämpfung von Armut freisetzen würde, ha-ben sich nicht erfüllt. Stattdessen setzten dieVereinigten Staaten auf eine Fortschreibungeinseitiger absoluter militärischer Überlegen-heit, während die meisten Staaten weniger fürihre Streitkräfte aufgewendet haben, weil ent-weder die Kassen leer waren oder aber bewussteine Umsteuerung der Staatsausgaben betrie-ben wurde. Zugleich aber werden mit ermüden-der Regelmäßigkeit scheinbar unverständlichbrutal ausgetragene bewaffnete Konflikte2 unddaraus folgende humanitäre Schreckensbilderhautnah in den Medien präsentiert. Überwie-gend handelt es sich dabei um innerstaatlicheKonflikte, die auf niedrigem militärtechnischenNiveau ausgetragen werden. Die Sozialwissen-schaften insgesamt, insbesondere aber die

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SCHATTENGLOBALISIERUNG, ÖKONOMIE UND KRIEG

Ökonomie der neuen KriegePETER LOCK

Allen neuen Kriegen ist gemeinsam, dassdie jeweiligen Kriegswirtschaften in ho-hem Maße in die globale Waren- und Fi-nanzzirkulation eingebunden sind. DieFrage, wie sich die Kontrahenten in sol-chen Konflikten wirtschaftlich reprodu-zieren, kann nur auf dem Hintergrund einer gewandelten Kriegsökonomie be-antwortet werden. Mit dem Ende desKalten Krieges haben sich die Rahmenbe-dingungen für die Parteien bewaffneterKonflikte – vor allem in der so genannten„Dritten Welt“ – grundlegend geändert.Die Polarisierung in Arm und Reich, ge-sellschaftliche Segmentierung, ein tiefgreifender sozialer Wandel und der Zer-fall der staatlichen Ordnungsmacht ha-ben dazu geführt, dass die Akteure derneuen Kriege auf andere und neue For-men der wirtschaftlichen Reproduktionzurückgreifen. Nicht mehr der reguläreSektor der Weltwirtschaft allein ist maß-gebend. Vielmehr bekommt der infor-melle und kriminelle Sektor ein hohes Gewicht für die logistische und wirt-schaftliche Grundlage der Kriegführen-den. Erfolgreiche Kriegsparteien müssenzunächst erfolgreiche „Unternehmer“sein. Dies verlangt von den Akteuren,dass sie sowohl auf regulären als auch aufinformellen und kriminellen MärktenRessourcen anbieten und nachfragen.Wenn die Merkmale der Kriegsökono-mien auch in Staaten, in denen kein Kriegoder militärischer Konflikt herrscht, zukonstatieren sind, so ist dies ein brisantesIndiz für den Gestaltwandel von Gewalt,der sich weit gehend unbeobachtet vonder (Welt)Öffentlichkeit vornehmlich inweniger entwickelten Regionen voll-zieht. Red.

POLIZEIBEAMTE

BEWACHEN IN BOGOTA

BESCHLAGNAHMTES

DROGENGELD. DER

HANDEL MIT ILLEGALEN

DROGEN IST EIN BEISPIEL,WIE SICH IM SCHATTEN

DER GLOBALISIERUNG

WELTWEIT INFORMELLE

UND KRIMINELLE SPHÄREN

ENTWICKELN, DIE DURCH

TAUSCHBEZIEHUNGEN

UND TRANSAKTIONSKETTEN

MIT DER REGULÄREN

ÖKONOMIE IN VERBIN-DUNG STEHEN.picture alliance / dpa

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nigkeit besteht lediglich darüber, dass die fürKriege als typisch erachteten Merkmale, dievor allem im 20. Jahrhundert zu einer Kodifi-zierung im Völkerrecht führten, ganz oder teil-weise in den heutigen bewaffneten Konfliktenfehlen. Das mühsam entwickelte Kriegsvölker-recht wird von den Akteuren systematischmissachtet. Um diese Transformation kriegeri-scher Gewalt deutlich zu machen, spricht manvon „neuen Kriegen“. Trotz aller Beredsamkeitder Debattenteilnehmer verrät jedoch dieKennzeichnung „neu“, dass über den geneti-schen Kode dieser Kriege bislang wenig gesi-cherte Erkenntnisse vorliegen. Er bleibt weitereine der wichtigsten Herausforderungen fürdie sozialwissenschaftliche Forschung.Nicht zuletzt weil einige dieser sehr lange an-dauernden Konflikte offensichtlich fast schonzu einer besonderen Produktionsweise mutiertzu sein scheinen, kommt der Beantwortungder Frage große Bedeutung zu, wie sich dieKontrahenten in solchen Konflikten wirt-schaftlich reproduzieren. Ohne genaue Kennt-nis der Waren- und Geldzirkulation, die zugroßen Teilen der globalen Schattenwirtschaftzuzurechnen ist, sind externe Interventionenund wohlmeinende Hilfsprogramme währendund nach solchen Konflikten zum Scheiternverurteilt. Denn die Gefahr ist groß, dass dieHilfe in die bestehende Zirkulation integriertwird und die kriegs- und schattenwirtschaftli-chen Machtkonstellationen stabilisiert werdenund damit eine Transformation von Gesell-schaft und Wirtschaft unterbleibt.

WANDEL VON KRIEGSÖKONOMIEN IM 20. JAHRHUNDERT

Um nun die Frage nach den Ökonomien „neuerKriege“ zu beantworten, bedarf es zunächst einer knappen Skizze der Veränderungen vonKriegsökonomien im 20. Jahrhundert, um zubestimmen, was denn das Neue an den wirt-schaftlichen Abläufen im Kontext gegenwärti-ger innergesellschaftlicher Kriege ist.Typisch für die meisten Kriegsökonomien des20. Jahrhunderts war eine staatlich gelenkteMobilisierung der Wirtschaft durch massi-ve Forschungsanstrengungen, Intensivierungund Expansion der Produktion unter anderemvermittels Berufstätigkeit von Frauen bis hinzu Zwangsarbeit. Die Eroberung und Inwert-setzung von zusätzlichen Wirtschaftsräumenwar integraler Bestandteil kriegsökonomi-scher Strategien. Das wichtigste Steuerungs-mittel war staatliche Nachfragesteigerung,weshalb man auch von „Kriegskeynesianis-mus“ spricht, der freilich durch mehr oder we-niger massive zentralverwaltungswirtschaftli-che Eingriffe ergänzt wurde. Die Außenwirt-schaft unterlag vollständig staatlichen Kont-rollen.Für die Jahre des Kalten Krieges galt, dass diemeisten Parteien in bewaffneten Konfliktenauf häufig massive materielle Unterstützungund Waffenlieferungen entweder vom Westenoder der Sowjetunion rechnen konnten. DasKriegsgeschehen war weit gehend von diesenRessourcenzuflüssen bestimmt und wenigervon der Leistungsfähigkeit der betreffendenVolkswirtschaften, die häufig im Gefolge desKriegsgeschehens stark zurückging. Da keine

Seite hegemoniale Einflusssphären verlierenwollte, tendierten diese Konflikte dazu, überviele Jahre ohne Entscheidung oder Friedens-schluss geführt zu werden.Lediglich im Konflikt zwischen Israel und denPalästinensern hat dieser Konflikttypus dasEnde des Kalten Krieges überlebt. In diesemKonflikt fahren beide Seiten seit Jahrzehntenunverändert eine wirtschaftlich bedeutsame„Kriegsrente“ in Form von nicht rückzahlungs-pflichtigen Zuflüssen verschiedenster Art ein.Die politischen Machtverhältnisse auf beidenSeiten gründen auf diesen politischen Renten-einkommen. Die Aufrechterhaltung andauern-der Bedrohung garantiert jeweils die Fortset-zung externer Unterstützung. Da in diesemFalle der militärische Sieg einer Seite den Kon-flikt nicht beenden kann, ist eine bilaterale Be-endigung dieser kriegerischen Auseinander-setzung nicht wahrscheinlich.

GEÄNDERTE RAHMENBEDINGUNGEN AM ENDE DES 20. JAHRHUNDERTS

Mit dem Ende des Kalten Krieges änderten sichdie Rahmenbedingungen für die Parteien inbewaffneten Konflikten in der Dritten Weltgrundlegend. Der hegemonialen Interessengeschuldete Zugang zu Waffen und anderenRessourcen fand ein abruptes Ende. An dieStelle einer stillschweigenden Duldung syste-matischer Misswirtschaft aus strategischenInteressen in vielen Entwicklungsländern tratder so genannte „Washingtoner Konsens“, mitdem die wichtigsten Industrienationen eine rigorose Durchsetzung von Strukturanpas-sungsmaßnahmen vereinbarten. Die neolibe-raler Ideologie geschuldete Diagnose lautete,ausufernde Staatsapparate sowie große staat-lich kontrollierte Wirtschaftssektoren und diedamit einher gehende Korruption sind für diewirtschaftliche Misere vor allem in Afrika undLateinamerika verantwortlich. Sie verhindernWettbewerbsfähigkeit auf den internationalenMärkten, die als entscheidender Motor fürEntwicklung ausgemacht wurde.Tatsächlich wurde mit den monetären Dau-menschrauben des Internationalen Wäh-rungsfonds (IWF) und programmatischen An-geboten der Weltbank eine breite Tendenz derÖffnung von Märkten in Ländern der DrittenWelt eingeleitet. Mit den Erlösen der „erzwun-genen“ Privatisierung von staatlichen Unter-nehmen konnte zudem der häufig bevorste-hende Staatsbankrott abgewendet und wiederSchuldendienste geleistet werden. Die als kor-rupt diagnostizierten staatlichen Bürokratienwurden finanziell ausgetrocknet und stark re-duziert. Militär und Polizei waren davonebenso betroffen. International nicht wettbe-werbsfähige Industrien mussten schließen.Subventionen wurden abgebaut, auch und ge-rade im Bereich der Grundversorgung der Be-völkerung, was in vielen Ländern zu massivenProtesten und Unruhen führte.Das als Ergebnis von Strukturanpassungs-maßnahmen erwartete hohe Wirtschafts-wachstum stellte sich nicht ein. In den meis-ten Fällen wuchs die Arbeitslosigkeit. Derlangfristige Trend zur Informalisierung derWirtschaft bei gleichzeitig rasanter Urbanisie-rung beschleunigte sich. Allein in den letzten

zehn Jahren ist die urbane Bevölkerung in derDritten Welt um 36 Prozent gewachsen. DieInternationale Arbeitsorganisation (Interna-tional Labour Organization/ILO) schätzt, dassetwa vier Milliarden Menschen dem informel-len Sektor zuzurechnen sind. Die Zahl der inSlums lebenden Menschen hat eine Milliardeüberschritten. Sie wird nach Schätzungen derVereinten Nationen auf zwei Milliarden bis2030 anwachsen.8 Man kann diese Entwick-lung als Urbanisierung der Armut bezeichnen.In vielen Ländern sichern die Rücküberweisun-gen legaler und illegaler Arbeitsmigranten denLebensunterhalt großer Teile der verarmtenBevölkerung. Sie sind dort inzwischen dergrößte Posten in der Außenwirtschaftsbilanzund übertreffen das Volumen ausländischerInvestitionen und Entwicklungshilfe deutlich.Die Strukturanpassungsprogramme haben denMigrationsdruck weiter erhöht. Daran wirdsich schon allein aufgrund der Altersstrukturnichts ändern, denn zumeist ist über die Hälfteder Bevölkerung unter 25 Jahre alt. Die Mehr-heit dieser Generation wird ohne Chance aufeinen regulären Arbeitsplatz ihr Leben organi-sieren müssen. Sie träumen zwangsläufig vonMigration in die medial allzeit präsente Weltdes Massenkonsums in Industrieländern.

POLARISIERUNG IN ARM UND REICH

Diese globale Entwicklung schlägt sich in einerbeschleunigten Polarisierung der Einkommenzwischen den westlichen Industrienationenund weiten Teilen der Dritten Welt nieder. Die-ser Prozess verdoppelt sich jeweils innergesell-schaftlich. Das Ergebnis ist eine sich weltweitvertiefende gesellschaftliche Segmentierung inArm und Reich. Sie führt zu einem tief greifen-den Wandel sozialer Strukturen, der sich seitdem Ende der weltweiten systemischen Kon-

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kurrenz zwischen West und Ost beschleunigtund die Transformationsländer einschließt. Die gesellschaftliche Kohäsion, die sich ideal-typisch in einem Sozialkontrakt manifestiert,der sich in der Ausbildung von Staatlichkeit, derOrganisation öffentlicher Güter, darunter ins-besondere Sicherheit, niederschlägt, zerfällt indiesem Prozess. Ersatzweise gewinnen sehr un-terschiedliche substaatliche Bezugsgruppen an(über-)lebensstrategischer Bedeutung, die inAbgrenzung zu anderen scharfe ideologischeProfile ihrer Identität entwickeln. Die weltweiten Waren-, Dienstleistungs- undFinanzströme beschleunigen sich und sinddurch eine Gleichzeitigkeit von Globalisierungund Schattenglobalisierung und deren oftsymbiotische Verknüpfung gekennzeichnet.Die Öffnung von Märkten bedingt gleichzeitig,dass landwirtschaftliche Produktion immerstärker auf globale Märkte ausgerichtet wird.Damit wird sozialer Wandel in ländlichen Räu-men beschleunigt, kleinbäuerlich diversifi-zierte Produktionsweisen verschwinden. Diebislang in wirtschaftlichen Krisen Überlebensichernde Elastizität kleinbäuerlicher Lebens-welten geht unwiederbringlich verloren.

ÖKONOMISCHE VORAUSSETZUNGENKRIEGERISCHER GEWALT

Kriegsökonomien, d.h. wirtschaftliche Strate-gien zur Sicherung der für bewaffnete Kampf-handlungen notwendigen Ressourcen, müssensich in dem hier skizzierten sich dynamisch ver-ändernden globalen Umfeld als leistungsfähigerweisen. Das gilt sowohl für die staatliche Seiteals auch für die nicht-staatliche Seite in Kon-flikten. Kriegerische Gewalt, ganz gleich mitwelcher Motivation, kann sich nur dann ent-falten, wenn die Akteure die ökonomischen Voraussetzungen verlässlich schaffen können.

Eine Kriegspartei kann nur dann erfolgreichsein, wenn ihre militärischen Handlungen mitden wirtschaftlichen Reproduktionserforder-nissen der Akteure vereinbar sind.Man kann diese Anforderung so formulieren:Ein General muss ein erfolgreicher Unterneh-mer sein, um ein erfolgreicher General zu sein.Denn Kriegsökonomien sind komplexe Kon-strukte, die den Akteuren abverlangen, sowohlsouverän illegale Geschäfte in der Sphäre derSchattenglobalisierung abzuwickeln als auchauf regulären Märkten zu agieren. Allein dieLogistik militärischer Operationen, auch sol-chen auf niedrigem Niveau, ist auf internatio-nale Warenströme, zum Beispiel Munition, angewiesen. Verlässlichkeit und Vertragssi-cherheit sind dabei unerlässlich. Dies erfordertzuverlässige soziale Kontrolle aller an der Ge-nerierung von Ressourcen und den Trans-aktionen Beteiligten. Die Instrumentalisierungvon Identitätsideologien, die sich typischer-weise im Verlauf von Konflikten radikalisieren,ist ein wirkungsvolles und zugleich wirt-schaftliches Mittel sozialer Kontrolle. Der „Ge-neral-Unternehmer“ als Führer einer Konflikt-partei muss sich daher auch als Agitator be-währen, denn soziale Kontrolle allein auf Basisklientelistischer Korruption führt rasch zur Er-schöpfung der verfügbaren Ressourcen.Auch wenn diese typologische Skizze eher das Profil eines Warlords, eines territorialenKriegsherrn, beschreibt, so ist der Handlungs-rahmen der wie auch immer verfassten politi-schen Führung in geschwächten oder weit ge-hend gescheiterten und meist extrem armenStaaten sehr ähnlich. Meist sind es solche Län-der, in denen gegenwärtig bewaffnete Kon-flikte ausgetragen werden. Informalisierungund Kriminalisierung der Wirtschaft habendort der Staatlichkeit längst die reproduktivenGrundlagen entzogen. Daher muss die Füh-rung der staatlichen Partei in bewaffneten

Konflikten nahezu zwangsläufig auf die glei-chen Methoden zurückgreifen, mit denen sichWarlords typischerweise reproduzieren. DieBühne, auf der Parteien bewaffneter Konflikteum des Überleben willens eine Rolle findenmüssen, ist die Weltwirtschaft.

DREI SEKTOREN DER WELTWIRTSCHAFT

Die Lebenssphären der Hälfte der Weltgesell-schaft sind von Unsicherheit gekennzeichnet.Sie sind weder Teil der regulären Weltwirt-schaft noch haben sie angemessenen Zugangzu öffentlichen Gütern. Dieser Zustand reflek-tiert einen tiefgreifenden sozialen Wandel inder Weltgesellschaft. Er wird bei Fortschrei-bung der gegenwärtigen Rahmenbedingun-gen seinen Höhepunkt erst in zwei oder dreiJahrzehnten erreichen. Diese schattenökono-misch geprägten Lebensräume liegen weit ge-hend außerhalb der Reichweite staatlicherOrdnungsmacht und entwickeln ihre eigenenGewaltordnungen. Sie fungieren als dynami-sche globale Netzwerke und sind damit auchTeil unserer Lebenswirklichkeit. Das breite, alleregulären Preise unterbietende Angebot voninformellen Dienstleistungen und illegalenTransfers ist längst selbstverständlicher Teilunseres Alltags und erhöht unseren Lebens-standard. Im Schatten neoliberaler Regulie-rung der Weltwirtschaft, der Öffnung vonMärkten und monetärer Deregulierung habensich viele rasch wachsende, außerordentlichflexible ökonomische Sphären entfaltet, dieman aufgrund ihrer Reichweiten als Schatten-globalisierung bezeichnen kann. Sie ist omni-präsent, aber von permanenten Tauschbezie-hungen mit der regulären Ökonomie abhän-gig. Augenfällig wird dies am Beispiel derTransaktionsketten im Handel mit illegalenDrogen. Bei der Herausbildung dieser Struktu-ren spielten zunächst Drogen eine Schritt-macherrolle. Inzwischen gibt es kaum mehrein volkswirtschaftliches Segment, in daskeine schattenökonomischen Waren- undDienstleistungsströme reichen.Mit einem vereinfachten heuristischen Modellder Weltwirtschaft lassen sich diese komplexenglobalen Interaktionen beleuchten, die auchKriegsökonomien mit unseren individuellen Le-benssphären verbinden. Dieses Modell geht vondrei asymmetrisch interagierenden Sphärenaus, die sich in unterschiedlichen Mengenver-hältnissen in allen Volkswirtschaften identifi-zieren lassen. Die diffuse Ausbreitung von Ge-waltstrukturen und das Auftreten von bewaff-neten Konflikten in der gegenwärtigen Phaseder Globalisierung wird so nachvollziehbar. Vorallem werden so die Lebenswelten der ausge-schlossenen Hälfte der Weltgesellschaft jenseitsvon Staatlichkeit und neoliberalen Wachstums-apologien in die Analyse einbezogen.

DIE REGULÄRE SPHÄRE GLOBALERÖKONOMIE

Die reguläre Sphäre der globalen Ökonomie istdurch rechtliche Ordnungen gekennzeichnet,die Transaktionen für alle Marktteilnehmer be-rechenbar machen. Es besteht ein Sozialkon-trakt aufgrund dessen Steuern zur Reproduk-

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Ökonomie der neuen Kriege

KINDER UND JUNGE

MÄNNER BETRACHTEN DAS

ANGEBOT AN AUTOMATI-SCHEN WAFFEN AUF EINEM

MARKT IN MOGADISCHU,DEM GRÖSSTEN WAFFEN-MARKT IN AFRIKA. DA DIE

WARLORDS MITTLERWEILE

WAFFEN MIT GROSSER

REICHWEITE BEVORZUGEN,IST EINE AK 47 BEREITS

FÜR 200 US-DOLLAR ZU

HABEN. DIE LOGISTIK DER

NEUEN KRIEGE IST AUF

INTERNATIONALE WAREN-STRÖME, ZUM BEISPIEL

MUNITION UND WAFFEN,ANGEWIESEN.picture alliance / dpa

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tion von Staatlichkeit gezahlt werden. Aller-dings nimmt die Steuerleistung als Folge welt-weiter Standortkonkurrenz teilweise stark ab.Die Wachstumsraten der regulären Ökono-mien halten global nicht Schritt mit demWachstum der Weltbevölkerung im erwerbs-fähigen Alter und der sich daraus ergebendenzusätzlichen Nachfrage nach Arbeit. Gleich-wohl findet mit den Ausgeschlossenen einmassiver, jedoch ungleicher Tausch statt, amsichtbarsten mit illegalen Dienstleistungen.Die inzwischen allgemeine Akzeptanz dieserSchwarzarbeit, bei der illegale Migrantinneneine große, stetig wachsende Rolle spielen,hebt den Wohlstand in der regulären Sphäre.Alle regulären Ökonomien sind an ihren Rän-dern weit offen für Korruption und profitable,aber wirtschaftskriminelle Transaktionen.

DIE INFORMELLEN SPHÄREN

In den informellen Sphären der Wirtschaftgelten rechtsstaatliche Regeln nur sehr be-grenzt; die Versorgung mit öffentlichen Gü-tern, darunter Sicherheit, erfolgt unzurei-chend bis überhaupt nicht. Akteure, die un-kontrolliert Gewalt anwenden und so mit einiger Glaubwürdigkeit drohen können, kon-kurrieren mit rudimentären Ansätzen kommu-nitärer Selbstorganisation, um das lokale bzw.territoriale Gewaltmonopol. Die Bildung und Verstärkung von Identitätsgruppen (Klan, Her-kunftsort, Religion bzw. Sekten, Ethnie, Ju-gendbanden u.a.m.) als Überlebensressourcetransformieren die informellen Sphären zu ei-nem Konglomerat von oft hermetisch vonein-ander abgeschotteten sozialen Zellen. Die Be-teiligung an der Reproduktion von Staatlich-keit durch Zahlung von Steuern ist denkbargering. Entsprechend ist weltweit die Bevölke-rungsmehrheit völlig unzureichend mit öf-fentlichen Gütern, wie Schulen, Gesundheitund Infrastrukturen, versorgt. Denn es gilt,ohne Steuern kein Staat und ohne Staat keineöffentlichen Güter. Außerhalb der Reichweitevon Rechtsstaatlichkeit angesiedelt, sind dieseMenschen sogar permanent gefährdet, vongewaltkriminellen Akteuren kontrolliert undausgebeutet zu werden.

KRIMINELLE SPHÄREN ALS PARASITÄRE GEBILDE

Die Akteure krimineller wirtschaftlicher Betäti-gung schließlich haben sich im Windschattenvon Marktöffnung und Globalisierung ex-pandierende, global vernetzte Zirkulations-sphären geschaffen. Anstelle rechtsstaatlicher Regelungen bilden latente und manifesteGewaltverhältnisse die Geschäftsgrundlage.Steuern zur Reproduktion des Staates werdennicht gezahlt. Bei der kriminellen Sphäre han-delt es sich um ein parasitäres Gebilde, das in-formelle Lebenswelten ausbeutet und aufTausch mit der regulären Ökonomie angewie-sen ist. Kriminelle Akteure agieren zugleich inden informellen und regulären Sphären derWeltwirtschaft. Dies macht eine eindeutige de-finitorische Abgrenzung nicht immer leicht.Dennoch wird das globale „BKP“ (Bruttokrimi-nalprodukt) grob auf inzwischen jährlich 1.500

Milliarden US-Dollar geschätzt, wovon knappdie Hälfte auf Drogengeschäfte entfällt.Aus der Perspektive nationaler Volkswirtschaf-ten betrachtet, sind diese drei Sphären jeweilsin eigenständige globale Zirkulationsprozesseintegriert. Dabei bilden informelle und krimi-nelle Ökonomien insofern den logischen Schat-ten der gegenwärtig die Globalisierung prägen-den neoliberalen Regulationsdoktrin als sie dieausgeschlossene Hälfte der Weltgesellschaftrepräsentieren. Die dynamische Transnationa-lität informeller und krimineller Netzwerke, al-len voran der Drogenökonomie, entzieht sichnotwendig statistischer Erfassung und bleibtdeshalb in Analysen der Weltwirtschaft weitgehend ausgeblendet. Bis zu den Terroran-schlägen in den USA hat man über alles hinweg-gesehen, was die scheinbar heile Welt der vorherrschenden neoliberalen Regulationside-ologie stören könnte. Das hat sich geändert, seitman erkannt hat, dass die Netzwerke der Schat-tenglobalisierung zugleich als Operationsraumvon Terrorgruppen fungieren.Keine Gesellschaft ist von dem Nebeneinanderund der gleichzeitigen Verschränkung staat-lich regulierter, rechtlich geordneter Weltwirt-schaft und schattenwirtschaftlichen transna-tionalen Lebenswelten ausgenommen. Migra-tion dient als Hefe dieser Lebenswelten. Legaleund illegale Migration verdichten und erwei-tern die jeweiligen Operationsräume von Netz-werken. Das Humankapital dieser Netzwerkeist Vertrauen aufgrund von Gruppenidenti-täten. Es schafft kostengünstig die operativenVoraussetzungen für illegale Transaktionen.

KRIEGSÖKONOMIEN IN DERWELTWIRTSCHAFT

In dem beschriebenen weltwirtschaftlichenUmfeld ist es auch für nicht-staatliche Akteurein bewaffneten Konflikten als Anbieter vonmöglicherweise geraubten Waren und Dienst-leistungen, als Erpresser von illegalen Steuernoder als Anbieter krimineller Dienstleistungenmöglich, einerseits die notwendigen Devisen zuerwirtschaften, um auf den internationalenSchwarzmärkten die Versorgung mit dem be-nötigten Kriegsgerät sicherzustellen und ande-rerseits auch eine individuelle Bereicherung derFührungsclique auf Auslandskonten zu ermög-lichen. Voraussetzung ist die verlässliche Kon-trolle eines zugänglichen Territoriums. Siehtman einmal von der Nachfrage nach Waffen ab,unterscheiden sich Kriegsakteure nicht von an-deren Teilnehmern an der dynamischen schat-tenökonomischen Waren- und Geldzirkulation,die keine territorialen Grenzen kennt. Embargo-versuche der Vereinten Nationen oder die Maß-nahmen zur Bekämpfung des Drogenkonsumsauf der Angebotsseite können lediglich die Ri-siken illegaler Ströme und damit aber auchPreise und Gewinnmargen erhöhen. Aber dasZiel einer Unterbindung ist angesichts der Dy-namik der Schattenglobalisierung als Ausdruckgeschwächter oder gänzlich fehlender Reich-weite staatlicher Ordnungsfunktionen unrea-listisch. Die Anstrengungen in den Neunziger-jahren, die UNITA in Angola wirtschaftlich zuisolieren, hatten zur Folge, dass sich das Netzprofitabler illegaler Diamantenvermarktungauf zahlreiche afrikanische Staaten ausdehnte,

deren Staatsoberhäupter die kriegsökonomi-schen Bereicherungschancen wahrnahmenund als Hehler bei Diamantenverkäufen undWaffenlieferungen fungierten.Die Möglichkeit, einen bewaffneten Konfliktauszutragen, hängt vom Zugang zu marktfähi-gen Ressourcen und der Möglichkeit der Aneig-nung finanzieller Ressourcen auf legalem Wegeoder mit kriminellen Mitteln ab. Dies gilt so-wohl für staatliche als auch für nicht-staatlicheKonfliktparteien. In der Literatur zu den Ökono-mien der bewaffneten Konflikte der Gegenwart richtet sich das Augenmerk vor allem auf die nicht-staatliche Seite, die mangels völkerrecht-licher Anerkennung per definitionem illegal,d.h. schattenökonomisch agieren muss.

WICHTIGE REPRODUKTIONSQUELLEN

Als wichtigste Quellen der Reproduktion wer-den die Produktion und Vermarktung von Roh-stoffen, wie Diamanten, Coltan, Edelhölzer,Edelsteine und andere mehr genannt. Gemein-sames Merkmal dieser Güter ist, dass ihre Pro-duktion im Wesentlichen durch wenig qualifi-zierte Arbeitskräfte bewerkstelligt und derExport gewährleistet werden kann. Kapitalin-tensive Produktionsanlagen sind in bewaffne-ten Konflikten schwer zu schützen und würdenbei geringer Luftüberlegenheit bei der erstenGelegenheit zerstört werden. Finanzielle Zu-flüsse unterschiedlicher Art spielen ebenfallseine große Rolle, in erster Linie freiwillige, ge-legentlich aber auch erzwungene Zahlungender Diaspora und gelegentlich von Nachbar-staaten, die ein Interesse entweder an Destabi-lisierung oder aber am Zugriff auf ausbeutbareRessourcen haben. Gemeinhin unterschätztwird der Umfang, in dem humanitäre Hilfe inKonfliktregionen von Kriegsakteuren in Mittelzur Alimentierung des bewaffneten Kampfestransformiert wird. Schließlich eröffnet diemanchmal auch grenzüberschreitende territo-riale Kontrolle den Kriegsparteien umfänglicheEinkommen durch Schmuggel, Menschenhan-del, Kontrolle des Drogenhandels und Organi-sation illegaler Migration. Insgesamt bestehtdie wirtschaftliche Zirkulation vorwiegend ausasymmetrischen Tauschbeziehungen, bei de-nen nicht der Markt, sondern die nachhaltigeDrohung des „General-Unternehmers“ mit Ge-walt die Wertrelationen determiniert. In der Literatur wird selten darauf verwiesen,dass die staatliche Seite in den neuen Kriegenin der Regel geschwächt ist und im Verlauf desKonfliktes weit gehend ihre je bescheideneSteuerbasis verliert. Mangels anderer Mög-lichkeiten muss sie auf die gleichen Verfahrenzur Generierung der benötigten Ressourcensetzen wie die nicht-staatlichen Akteure. Siehat wegen ihres völkerrechtlichen Status da-bei in der Regel größere Möglichkeiten. So ha-ben Regierungen in Afrika private Militärun-ternehmen in ihre Dienste gestellt und alsZahlung unter anderem Lizenzen zur Ausbeu-tung von mineralischen Rohstoffen erteilt.

PRIVATISIERUNG VON SICHERHEIT

Eine weiteres Element in der Gleichung bewaff-neter Konflikte sind Unternehmen, zumeist

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PETER LOCK

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große internationale Konzerne, die ihre Pro-duktionsanlagen durch private Militärunter-nehmen schützen lassen oder aber das nichtoder schlecht bezahlte Militär zum Schutz ihrerAnlagen informell in Sold nehmen. So entste-hen politisch nicht legitimierte Sicherheitsex-klaven zum Beispiel auf Ölfeldern, entlang vonErdölleitungen oder um Bergbaubetriebe. Es isteine Reaktion auf staatliches Versagen, Sicher-heit zu gewährleisten, die ihrerseits die Auflö-sung von Staatlichkeit befördert, weil sie einewichtige wirtschaftliche Aktivität faktisch de-territorialisiert und aus dem nationalen ge-samtwirtschaftlichen Zusammenhang heraus-löst. Dies erschwert die spätere Rekonstruktioneines leistungsfähigen Staates.Die Leistungsfähigkeit von Staatlichkeit als notwendiger Rahmen demokratischer Rechts-staatlichkeit wird durch das jeweilige Mi-schungsverhältnis regulärer, informeller undkrimineller Sphären der Ökonomie bestimmt.Das jeweilige Mischungsverhältnis bestimmtdie soziale Topographie und die Organisations-form von individueller und kollektiver Sicherheitder jeweiligen Gesellschaften. Ein niedriger Anteil des Staates am wirtschaftlichen Aufkom-men und damit schwache Ausprägung staatli-cher Leistungen und gesellschaftliche Polarisie-rung schlagen sich weltweit in aufwändigerKommodifizierung von Sicherheit, Substitutionöffentlicher Sicherheit durch private Dienstleis-tungen und extremer sozialräumlicher gesell-schaftlicher Segmentierung nieder. All dies ma-nifestiert sich in der universellen Ausbreitungvon „Gated Communities“. Das öffentliche GutSicherheit wird zur Ware bzw. zu privatwirt-schaftlicher Dienstleistung, die sich viele nichtleisten können. Daher bedeutet Armut immerauch verstärkte Unsicherheit.Kompensatorisch zum weltweiten Imperativder Reduktion von Staatstätigkeit als Folge derherrschenden Regulationsdoktrin hat sich dieprivate Sicherheitsindustrie zu einer boomen-den Branche entwickelt, die selbst ständig po-

litisch mit dem Ziel agiert, ihre Märkte auszu-dehnen, indem sie Kriminalitätsängste schürt.Aber es gilt dabei zu bedenken, dass die in dieser Branche erbrachten wirtschaftlichenLeistungen nicht zur primären Wohlfahrt der Gesellschaft beitragen. Sie sind ungleich, d.h.einkommensabhängig verteilt, und markierendie Abwesenheit von gesellschaftlicher Kohä-sion. Es handelt sich um hohe wohlfahrtsmin-dernde gesellschaftliche Transaktionskosten.Dies gilt auch für die staatlichen Aufwendun-gen für Sicherheit, wenn die Leistungen aus-schließlich zugunsten sozialer Eliten erbrachtwerden. Dieser Rückzug des Staates schafftOperationsräume für kriminelle territoriale Ge-waltmonopolisten und befördert so die Schaf-fung von Räumen, in denen sich die Schatten-ökonomie dynamisch entwickeln kann.

DIFFUSION BEWAFFNETER KONFLIKTE?

Prüft man nun, ob sich die als typisch kriegs-ökonomisch diagnostizierten Merkmale auchdort beobachten lassen, wo sich nach herr-schender Lesart kein bewaffneter Konflikt er-eignet, so finden sich zahlreiche Länder, dieviele als kriegsökonomisch identifizierte Merk-male aufweisen. Dazu zählen so bedeutendeLänder wie Nigeria, Pakistan, Indonesien, Keniaund andere mehr. Riesige Schattenökonomie,Korruption und illegitime Gewalt als Mittel derRegulation wirtschaftlicher Abläufe sind dortaugenfällig. Die Erhebungen der Weltgesund-heitsorganisation9 über die Zahlen gewaltbe-dingter Todesfälle verweisen darauf, dass indiesen und zahlreichen anderen Ländern diegewaltbedingten Todesraten ähnlich hochoder sogar höher als in Kriegsregionen sind.Selbst in Kolumbien ist nur der kleinere Teil ge-waltbedingter Todesfälle dem bewaffnetenKonflikt zwischen Regierung, einschließlichparamilitärischen Formationen und zwei Gue-rillagruppen zuzurechnen.

Die weltweite Ausbreitung und das Volumender Schattenglobalisierung leisten es prob-lemlos, die ökonomischen Bedarfe von Kriegs-akteuren allerorten in die bestehenden welt-weiten illegalen Waren- und Finanzströme zuassimilieren. Dies gilt auch für die an sichstreng überwachte, auf wenige Länder be-schränkte Fertigung und den Export vonKriegswaffen, zumal der Schwarzmarkt aufgroße überschüssige Altbestände in Ländernmit schwachen staatlichen Kontrollen und dieZusammenarbeit mit korrupten Regierungenin schwachen Staaten zurückgreifen kann. Inder politischen Praxis bedeutet dies, dass dieHoffnungen nicht sehr realistisch sind, alleindurch Embargomaßnahmen, die in der regulä-ren Ökonomie verlässlich überwacht werdenkönnen, bewaffnete Konflikte austrocknen zukönnen.Es drängt sich daher die Frage auf, ob die Dicho-tomie Krieg bzw. bewaffneter Konflikt10 versusAbwesenheit eines bewaffneten Konfliktes nachwie vor eine sinnvolle Unterscheidung ist, wenndas erkenntnisleitende Interesse menschlicheSicherheit für alle Menschen ist. Aus Zentrala-merika wird übereinstimmend berichtet, dassdie gewaltbedingten Todesraten nach Beendi-gung der bewaffneten Konflikte gleich geblie-ben oder sogar angestiegen sind. Die entspre-chenden Raten in und um Megastädte wie Riode Janeiro, Sao Paulo, Mexiko City, Johannes-burg, Durban, Mumbai und viele andere mehrsind mit bewaffneten Konflikten vergleichbar.Allein aufgrund der Daten der Weltgesundheits-behörde zu den gewaltbedingten Todesratenmuss man die Hypothese verwerfen, dass aus-schließlich Kriege hohe Raten verursachen.In ähnliche Richtung zielt auch eine For-schungsnotiz der Weltbank, die lokale Kon-flikte in Indonesien zum Gegenstand hat.11 Sienimmt die über das ganze Land verbreitetehohe und gewalttätige Konfliktivität zum An-lass, die Frage zu stellen, ob die Forschungenunter Leitung von Collier (s.o.) über die „Kon-

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Ökonomie der neuen Kriege

IM RÜCKSPIEGEL EINES

FAHRZEUGES WERDEN IN

GUATEMALA STADT EIN

POLIZIST MIT ABSPERRBAND

UND EINE ZUGEDECKTE LEICHE

REFLEKTIERT. NACH ANGABEN

DER POLIZEI OPERIEREN

DERZEIT ETWA 435 GANGS

IN GUATEMALA, DENEN RUND

80.000 JUGENDLICHE ANGE-HÖREN. DIE GEWALTBEDINGTEN

TODESRATEN SIND MIT DENEN

BEWAFFNETER KONFLIKTE

VERGLEICHBAR UND MITHIN

EIN INDIZ FÜR DIE DIFFUSION

VON GEWALT.picture alliance / dpa

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fliktfalle“, deren Ausgangspunkt die dicho-tomische Unterscheidung von bewaffnetemKonflikt und „Frieden“ war, nicht dringend er-gänzt werden müssten. Es wird vorgeschlagen,vergleichende Studien über weltweit zu beob-achtende niedrigschwellige lokale gewalttäti-gen Konflikte anzustellen. Denn diese Konflik-te werden zunehmend ebenso wie bewaffneteKonflikte als massive Störung des zentralenGeschäftsfeldes der Weltbank, der Entwick-lungsförderung, wahrgenommen. Menschli-che Sicherheit wird möglicherweise durchdiese gewalttätigen Konflikte in weit größe-rem Maße gefährdet, als dies im Rampenlichtder internationalen Aufmerksamkeit stehendeKriege tun.

WIE IST DIE DIFFUSION VON GEWALT ZU ERKLÄREN?

Es bieten sich verschiedene Hypothesen zurErklärung dieser beobachteten breiten Diffu-sion von Gewalt an. Einerseits könnte ein Zu-sammenhang zwischen der offensichtlichenDiffusion von Gewalt und Regulierungserfor-dernissen in der Sphäre der Schattenglobali-sierung bestehen, die implodierte Staatlichkeitund Verlust des staatlichen Monopols legiti-mer Gewalt anzeigt. Andererseits gibt es Un-tersuchungen zu den Gewaltformen auf loka-ler Ebene, die eher soziale Anomie in den Zo-nen weltweiter Armutsapartheid als Ursachefür die hohe Gewalttätigkeit vermuten.Der „General-Unternehmer“ oder Warlord gehtin der Regel mit der Ressource Gewalt zur Re-gulierung seiner Kriegsökonomie sparsam um,um zu vermeiden, dass die sensiblen Tausch-sphären, die ihn mit dem Weltmarkt verbinden,in das Fadenkreuz staatlicher Aufmerksamkeitgeraten. Gleiches gilt für die organisierte Kri-minalität allgemein. Allerdings trifft auch zu,dass unkontrollierte Eskalation von Gewalt ge-radezu typisch für niedrigschwellige militäri-sche Konfrontationen ist. Das Konfliktgesche-hen verselbstständigt sich regelmäßig und istdann nicht mehr in politische oder wirtschaft-liche Zielsetzungen der Konfliktakteure einge-bunden. Das ist unter anderem auf die Rah-menbedingungen in den meist wirtschaftlichunterentwickelten Kriegsgebieten zurückzu-führen. Ideologische Radikalisierung und Kindersoldaten kompensieren den Mangel anleistungsfähigen Waffen und ausgebildetenSoldaten.Ebenso sind Gewalthandlungen in den schat-tenökonomisch strukturierten Zonen nichtnotwendig der Durchsetzung ökonomischerZiele geschuldet. Angesichts der Perspektivlo-sigkeit, mit der junge Menschen in weiten Tei-len der Dritten Welt leben müssen, verlierensoziale Normen und bestehende informelleAutoritäten an verhaltenssteuernder Wirkung.Nichtige Konflikte eskalieren in Gewalt undmünden zum Beispiel in nächtliche Schieße-reien zwischen jungen Männern typischer-weise an Wochenenden, die man in den Ar-menvierteln brasilianischer Metropolen regis-triert hat. Es sind Manifestationen situativerGewalt, die den Verlust sozialer Kontrolledurch akzeptierte Normen anzeigen.

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PETER LOCK

UNSER AUTOR

Dr. Peter Lock, Stu-dium der Soziologieund Volkswirt-schaft, Auslands-tätigkeit in Latein-amerika, ab 1972an der Forschungs-stelle der Vereini-gung DeutscherWissenschaftler(VDW), Forschungund Lehre an den

Universitäten Hamburg, Berlin und Kassel,Beratungstätigkeiten im Rahmen der Verein-ten Nationen; derzeit Koordinator der Euro-pean Association for Research on Transfor-mation e.V. und freier Sozialwissenschaftler;Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Mili-tär und Gesellschaft, Rüstungsökonomie.

SCHLUSSFOLGERUNGEN

Die hier angestellten Überlegungen zur Öko-nomie neuer Kriege verweisen auf eine engeVerschränkung der militärischen Parameterbewaffneter Konflikte mit den jeweiligen wirt-schaftlichen Reproduktionsbedingungen, de-nen die Akteure unterliegen und die die Para-meter ihrer militärischen Operationen bestim-men. Dennoch sind die externen Einflussmög-lichkeiten auf bewaffnete Konflikte vermittelswirtschaftlicher Sanktionen begrenzt, da diekriegswirtschaftlichen Ressourcen überwie-gend in schattenwirtschaftlichen Sphären er-wirtschaftet werden, die sich ungeachtet be-stehender Grenzen durch hohe Flexibilität undlogistische Leistungsfähigkeit auszeichnen.Außerdem gibt es viele Indizien dafür, dasssich sozialstrukturell bedingt gegenwärtig eintief greifender Formenwandel des Einsatzesvon Gewalt zur Durchsetzung politischer undwirtschaftlicher Ziele vollzieht. Zunächst fälltauf, dass bewaffnete Konflikte, die in der öf-fentlichen Wahrnehmung als Kriege geführtwerden, überwiegend auf wenig entwickelteLänder beschränkt sind. Das könnte damit zu-sammenhängen, dass moderne, hochgradigarbeitsteilige Lebensformen, die sich in Urba-nisierung und Industrialisierung der Landwirt-schaft niederschlagen, gegenüber Störungender wirtschaftlichen Infrastruktur und damitder Sicherung der Basisversorgung extrem an-fällig geworden sind. Ländliche Räume habenmit der Ausrichtung auf internationale Märkteihre Kapazität als sichere Rückzugsräume, indenen die Bevölkerung im Krisenfall überlebenkann, verloren. In ihren bisherigen Erschei-nungsformen lösen Kriege daher in kürzesterZeit absolute humanitäre Katastrophen aus,die nicht mehr beherrschbar sind. Das gilt fürmoderne Industriestaaten ebenso wie für diemeisten Regionen der Dritten Welt, deren Me-gastädte mit ihren riesigen Armutsgürteln sichbei gestörter Warenzirkulation in kurzer Zeit inInfernen verwandeln.Daraus leitet sich die These ab, dass Kriege nurnoch in Regionen führbar sind, in denen dieModernisierung noch nicht sehr weit fortge-schritten ist und die Gesellschaften sich nochdurch eine hohe Überlebenselastizität aus-

zeichnen. Allerdings können auch die Leistun-gen der humanitären Industrie Kriegführungohne den völligen Exodus der Bevölkerung er-möglichen. Im Falle des Krieges im Irak zumBeispiel hat das Programm „Öl-für-Nahrungs-mittel“ der Vereinten Nationen durch mehr-wöchige Vorabverteilung der Lebensmittelra-tionen an die Bevölkerung diesen kurzen Kriegohne Exodus der Bevölkerung ermöglicht.12

Dieser Sachverhalt bedeutet jedoch keines-wegs, dass Gewalt zur Durchsetzung politi-scher und wirtschaftlicher Ziele abnimmt.Vielmehr nimmt solche Gewalt zunehmenddiffusere Gestalten an und lässt sich nichtmehr als Krieg beschreiben. Die Rolle der Ge-walt bei der Schattenglobalisierung bildet deneinen Pol dieser Diffusion. Der andere wird voninnovativen Doktrinen gebildet, die unter demArbeitstitel „Militärische Operation anders alsKrieg“13 vor allem in den USA entwickelt wer-den und sich in der überproportionalen Aus-weitung von besonderen Truppen (Special For-ces) für verdeckte Operationen zur Durchset-zung von politischen und wirtschaftlichenZielen unterhalb der Schwelle von Krieg nie-derschlagen.

ANMERKUNGEN1 Der UN-Bericht zur menschlichen Entwicklung von1992 (United Nations Development Programm/UNDP:Human Development Report) schätzte, dass in der letz-ten Dekade des 20. Jahrhunderts zehn Billionen DollarFriedensdividende verfügbar würden.2 Diese Wahrnehmung hat freilich die europäischenKriege des 20. Jahrhunderts ausgeblendet, die von derGleichzeitigkeit von Modernität und genozidärer Barba-rei gekennzeichnet waren.3 Eine deutsche Übersetzung der Studie von FrancoisJean und Jean-Christophe Rufin ist 1999 unter dem Ti-tel „Ökonomie der Bürgerkriege“ im Verlag HamburgerEdition erschienen.4 Dieser Forschungsschwerpunkt wurde mit einer pro-grammatischen Studie im vergangenen Jahr abgeschlos-sen. Vgl. World Bank: Breaking the Conflict Trap: CivilWar and Development Policy. Washington, D.C. 2003.5 Mats Beradl/David M. Malone (eds.): Greed and Grie-vance Economic Agendas in Civil Wars. Boulder and Lon-don 2000.6 Mary Kaldor: Alte und neue Kriege. Organisierte Ge-walt im Zeitalter der Globalisierung. Frankfurt am Main1999.7 Herfried Münkler: Die neuen Kriege. Reinbek bei Ham-burg 2002.8 Zahlen laut: United Nations Human Settlements Pro-gramme: The Challenge of Slums. Global Report on Hu-man Settlements 2003. London 2003.9 World Health Organization: World Report on Violenceand Health. Geneva 2002.10 Üblicherweise definiert als Auseinandersetzung umTerritorium oder Regierungsgewalt zwischen bewaffne-ten Formationen, von denen eine Seite den Staat reprä-sentiert und bedingt durch Kampfhandlungen 1.000 Per-sonen in einem Jahr umgekommen sind. Siehe: Stock-holm International Peace Research Institut: SIPRI Year-book 2004. Oxford University Press 2004, S. 144.11 The World Bank: Local Conflict in Indonesia: Incidentsand Patterns. Social Development Notes, No. 19/July2004.12 Die internationale humanitäre Industrie hatte freilichmit einem Exodus der Bevölkerung gerechnet undFlüchtlingslager in den Nachbarländern errichtet, die un-benutzt blieben.13 Military Operations Other Than War (MOOTW).

LITERATURKurtenbach, Sabine/Lock, Peter (Hrsg.): Schattenglobali-sierung, Kriegsökonomien und Inseln der Zivilität. Bonn2004Pugh, Michael/Cooper, Neil: War Economies in a Regio-nal Context. Challenge of Transformation. Boulder, Lon-don 2004 (dort umfassender Nachweis der angelsächsi-schen Literatur zum Thema.)

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ob ökonomische Handlungsrationalitäten undein Wandel von Finanzierungspraktiken quasiautomatisch zu einem Verlust des Politischenam Kriege führen und Indizien für eine „neue“Kriegsform sind. Auf der Folie dieser Debattewird im Fazit für einen systematischeren Um-gang mit dem Wandel der Kriegsformen plä-diert und eine Kriegstypologie vorgestellt, dieam politischen Status der Konfliktakteure an-setzt und „klassische“ Kriegsformen um den Ty-pus des „substaatlichen“ Krieges ergänzt.

Die Frage ist jedoch, ob die Veränderungen aufder Akteursebene und bei den Gewaltmotivenbzw. deren Rahmenbedingungen (Kriegsöko-nomien) die simple Unterscheidung in „alte“und „neue“ Kriege rechtfertigt bzw. inwieweitdiese Dimensionen Bestandteile eines über-greifenden Wandels der Kriegsformen sind. Umeine Antwort zu finden, wird in einem erstenSchritt der Wandel der Gewaltakteure skizziertund der Stellenwert nicht-staatlicher Akteurebewertet. Zweitens wird die These der Ökono-misierung des Krieges einer kritischen Prüfungunterzogen. Im Mittelpunkt steht das Problem,

NICHT-STAATLICHE GEWALTAKTEURE

Dass sich das Akteursspektrum in vielen Krie-gen der Gegenwart erheblich ausgeweitet und ausdifferenziert hat, lässt sich nicht leug-nen. Rein quantitativ hat sich in Räumen be-grenzter Staatlichkeit, insbesondere im sub-saharischen Afrika und in Zentralasien, dieAnzahl gewaltbereiter Konfliktgruppen erhöht.Diese Entwicklung resultiert vor allem aus dermangelhaften Fähigkeit des Staates, Sicher-heits- und Schutzbedürfnisse der Gesellschaft(Schutz vor internen und externen Gefährdun-

gen, Sicherheit der physischen Existenz) hinrei-chend zu befriedigen. Bei Extremfällen desStaatszerfalls oder Staatskollapses verliert derStaat teilweise oder völlig die Kontrolle über dasGewaltmonopol und die damit verbundenenphysischen Zwangsmittel (Zartman 1995; Hol-sti 1996). In den von fehlender Legitimität, Kor-ruption und territorialem Zerfall betroffenenRäumen beschränkt sich dann das rudimentärestaatliche Gewaltmonopol oftmals nur nochauf die Hauptstadt oder einzelne Provinzen,

ZUR LEHRE VON DEN „NEUEN“ KRIEGEN

Die These vom Wandel der Kriegsformen, ins-besondere die Lehre von den „neuen Kriegen“,beruht auf zwei zentralen und miteinander verknüpften empirischen Behauptungen: Zumeinen werden auf vielen Kriegsschauplätzender Gegenwart zunehmend nicht-staatliche,private Akteure für die Eskalation und Versteti-gung von Gewaltkonflikten verantwortlich ge-macht. Vor allem lokale oder regionale Kriegs-herren (Warlords) und private Militär- bzw.Sicherheitsagenturen gelten als Protagonistender Privatisierung und Entstaatlichung desKrieges (Kaldor 1999; Münkler 2002). Zum an-deren wird dieser Akteurswandel in Bezie-hung zur Ökonomisierung des Krieges ge-setzt, erkennbar an der Entstehung und Struk-tur transnationaler Gewaltmärkte und ökono-mischer Handlungslogiken. Die Herausbildung von nicht-staatlichen Gewaltordnungen und global vernetzten Kriegswirtschaftssystementransformiere nicht nur die Gewaltmotive undHandlungslogiken der Konfliktakteure, sondernhabe auch veränderte Gewaltdynamiken zurFolge (vgl. u.a. Elwert 1999; Kaldor 1999). In be-wusster Paraphrasierung von Clausewitz sindfür den Politökonomen David Keen viele heu-tige Kriege gar die „Fortsetzung der Ökonomiemit anderen Mitteln“ (Keen 1998, 11; vgl. auchLock 2001). Auf einen einfachen Nenner ge-bracht, sehen die Vertreter der „neuen Kriege“(Kaldor 1999; Münkler 2002) in diesen Trans-formationsprozessen die Kernelemente desÜbergangs von „alten“ zu „neuen“ Kriegen.

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NEUE KRIEGE ODER SUBSTAATLICHE KRIEGE?

Gewaltakteure und Gewaltmärkte: Wandel der Kriegsformen?SVEN CHOJNACKI

Der gegenwärtig diskutierte Formen-wandel kriegerischer Gewalt beruht aufzwei wichtigen Annahmen: Die Privati-sierung und Entstaatlichung des Kriegeserklärt sich einerseits durch Veränderun-gen auf der Ebene der Gewaltakteureund andererseits durch die Ökonomisie-rung des Krieges. Der Beitrag von SvenChojnacki geht der Frage nach, ob dieseVeränderungen die Unterscheidung in„alte“ und „neue“ Kriege rechtfertigt. Ineinem ersten Schritt wird daher derWandel der Gewaltakteure skizziert undbewertet. Des Weiteren wird die Theseder Ökonomisierung des Krieges einerkritischen Prüfung unterzogen. Auf derFolie dieser Erörterung und Bewertungwird für einen systematischeren Um-gang mit dem Wandel der Kriegsformenplädiert. Im Schlussteil wird sodann eineKriegstypologie vorgestellt, die am poli-tischen Status der Konfliktakteure an-setzt und „klassische“ Kriegsformen umden Typus des „substaatlichen“ Kriegeserweitert. Red.

AUF VIELEN KRIEGS-SCHAUPLÄTZEN WERDEN

ZUNEHMEND NICHT-STAATLICHE AKTEURE

FÜR DIE ESKALATION UND

VERSTETIGUNG VON

GEWALTKONFLIKTEN VER-ANTWORTLICH GEMACHT:KÄMPFER DER AFGHANI-SCHEN NORDALLIANZ,EINE ART POLIZEITRUPPE,FAHREN AUF EINEM

PICK-UP AM 13.11.2001IN KABUL EIN.picture alliance / dpa

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während in weiten Teilen des Landes substaat-liche Akteursgruppen alternative, territorial ab-gegrenzte Gewaltapparate etablieren und auchhoheitliche Aufgaben wahrnehmen. Bei zuneh-mender Fragmentierung politischer Herrschaftwächst der Einfluss von paramilitärischen Einheiten (teilweise abtrünnige Einheiten re-gulärer Truppen) und von lokal oder regionalagierenden Kriegsfürsten, die mit staatlichenGewaltakteuren um die strategische Kontrollevon Territorien, den Zugang zu ökonomischenRessourcen und um politischen Einfluss kon-kurrieren. In vielen Krisenzonen hat zudem dieAkteurskomplexität durch Abspaltungen undinterfraktionelle Kämpfe drastisch zugenom-men (unter anderem in Myanmar, Somalia undder Demokratische Republik Kongo). Das Auf-treten nicht-staatlicher Gewaltakteure und diedamit verbundene fehlende Gewährleistunginterner Sicherheitsfunktionen haben außer-dem dazu geführt, dass vermehrt private Mi-litär- und Sicherheitsfirmen von außen in dasKonfliktgeschehen eingreifen. KommerzielleUnternehmen im internationalen Umfeld bie-ten Sicherheit und militärische Dienstleistun-gen als Ware an (vgl. Leander 2002; Musah/Fayemi 2000; Singer 2003). Für den Trend der Privatisierung von Sicherheitgibt es neben der Unfähigkeit zahlreicher Herr-schaftssysteme, Sicherheitsfunktionen befrie-digend wahrzunehmen, zwei weitere Gründe:Erstens spielt hier der technologische Wandelder Kriegführung hinein (gesteigerter Bedarf anhochqualifizierter Expertise in beratender, aus-führender und logistischer Tätigkeit). Zweitenshat sich mit dem Ende des Ost-West-Konfliktsder Markt für qualifizierte Militärs und verfüg-bare Waffensysteme auf dem privaten Sektorgeöffnet. Das Anwachsen des globalen Marktesfür Sicherheits- und Militärfirmen wird wiede-rum beeinflusst durch das Verhalten westlicherStaaten und internationaler Organisationen(strategische Interessen, Aufrechterhaltung re-lativer Stabilität in Konfliktregionen), die Be-dürfnisse humanitärer Organisationen (Sicher-heit im humanitären Raum) sowie durch dieKalküle multinationaler Konzerne (Sicherheitbeim Ressourcenabbau). Während letztere teil-weise strategische Allianzen mit Gewaltunter-nehmern eingehen und über komplexe Netz-werke mit Sicherheitsfirmen verbunden sind,stellen sich für die Staaten die Fragen, inwie-weit sie selbst durch das Outsourcing von Si-cherheitsfunktionen den Trend der Privatisie-rung verstärken (etwa im Irak) und welchesInteresse sie überhaupt an der Regulierung desprivaten Sicherheitssektors haben.

KINDERSOLDATEN

Eine weitere Akteursgruppe, die als ein Indizfür den Wandel der Kriegsformen herangezo-gen wird (u.a. Münkler 2002), ist die der Kin-dersoldaten. Allerdings handelt es sich bei die-ser Akteursgruppe nicht um unabhängigeKriegsakteure im engeren Sinne, sondern eherum eine Form der Instrumentalisierung durchbestehende Kriegsparteien. Empirisch ist derTrend, Kinder im Krieg einzusetzen, ungebro-chen. Es wird geschätzt, dass 2001 weltweitmehr als 300.000 Kinder und Jugendliche un-ter 18 Jahren in mehr als 30 Kriegsschauplät-

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SVEN CHOJNACKI

zen zum Einsatz kamen (Coalition to Stop theUse of Child Soldiers 2004). Kinder werdenmeist zwangsrekrutiert, in Flüchtlingslagernangeworben oder durch ökonomische Margi-nalisierung ihres sozialen Umfelds zum Ein-satz gezwungen (Hofmann 2004). Dies folgtder Logik privater Gewaltakteure, für die Kin-der eine kostengünstige Ressource darstellen.Sie sind nicht nur leicht „rekrutierbar“, son-dern Dank der großen Verfügbarkeit leichterHandfeuerwaffen auch „effizient“ einsetzbarund mit Hilfe von Drogen leicht kontrollierbar.Tatsächlich „neu“ ist in diesem Zusammen-hang, dass Mädchen zunehmend aktiv inKampfhandlungen eingesetzt werden (Hof-mann 2004).

QUALITATIVER WANDEL DER AKTEURE

Neben den quantitativen Veränderungen istauch ein qualitativer Wandel der Akteure zubeobachten. Dieser betrifft die Vergesellschaf-tungsform der Gewaltakteure, ihre Ziele undihr Konfliktverhalten. Zum einen haben inRäumen begrenzter Staatlichkeit der Staat aufder einen Seite und hierarchisch organisierteRebellenorganisationen auf der anderen Seiteihr „Duopol“ auf die Kriegführung – im Sinneabgrenzbarer, konkurrierender Gewaltappa-rate –verloren. Zum anderen treten Akteureauf, deren Organisations- und Professionali-sierungsgrad ebenso gering ist wie ihre politi-sche Legitimation. Man könnte hier auch voneiner Kommunalisierung des Krieges sprechen.Für die nicht-staatlichen Konfliktparteien ver-liert nicht nur die strategische Orientierungam „regulären“ Krieg an Bedeutung, die nochdie politische und militärische Praxis der „klas-sischen“ Guerillagruppen prägte. Sie unter-scheiden sich von den „klassischen“ Rebellen-

und Sezessionsbewegungen auch darin, dasssie ihre Ziele nicht mehr ausdrücklich an derEroberung des staatlichen Herrschaftsappara-tes – und damit des Gewaltmonopols – bzw.an der Loslösung von bestehenden staatlichenStrukturen ausrichten. Für viele private Ge-waltunternehmer ist staatliche Souveränitätvielmehr eine strategische Ressource nebenanderen. Exemplarisch ist hierfür die Figur desWarlords, der politische, ökonomische und mi-litärische Logiken vereint (Münkler 2002, 161)und Gewalt in gewinnbringend organisierterForm für die Kontrolle von Märkten und sozi-alen Beziehungen einsetzt (Riekenberg 1999,188ff).1 Viele Gruppen bekämpfen sich gegen-seitig, um ihr Überleben als Organisation undden Zugang zu Ressourcenvorkommen, dereine kontinuierliche Gewaltanwendung erstermöglicht, zu sichern. Diese Koexistenz diver-ser Gewaltakteure resultiert letztlich aus denökonomischen Anreizstrukturen, die gewalt-offene Räume bieten. Je schwächer dabei dieStaatsgewalt ist, desto geringer werden auchdie Kosten für die Aufrechterhaltung einerwirksamen Rebellion. So können militärischund politisch eher schwache Konfliktparteienüberleben. Gleichzeitig zeigt sich, dass auchandere Gruppen wie lokale/ethnische Milizen,Selbstverteidigungsgruppen oder Paramilitärs,die im „klassischen“ Krieg eher Instrumentegrößerer staatlicher oder nicht-staatlicher Gewaltorganisationen waren, in Räumen be-grenzter Staatlichkeit weitgehend autonomagieren können. Derart fragmentierte, konkur-rierende und sich überlappende Herrschafts-ansprüche durch staatliche und substaatlicheAkteure sind dann in hohem Maße instabil undstörungsanfällig gegenüber äußeren Einflüs-sen. Die Akteursformationen sind jedoch kei-neswegs per se asymmetrisch, wie Münklernahe legt (2002). Gerade in Konflikträumen, in

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Gewaltakteure und Gewaltmärkte: Wandel der Kriegsformen?

denen staatliche Akteure sukzessive von priva-ten Gruppen verdrängt werden wie in Soma-lia, Liberia, Afghanistan oder der Demokrati-schen Republik Kongo, gleicht sich der Statusder Akteure ebenso an, wie sie über annäherndgleiche Machtressourcen verfügen und For-men von Reziprozität entwickeln (Reno 1998),so dass wir es hier eher mit Symmetrisierungs-prozessen zu tun haben.

AUCH REGULÄRE TRUPPEN VERLIERENIHREN CHARAKTER

Mit den Prozessen der Kommunalisierung undAutonomisierung der Gewalt in Räumen be-grenzter Staatlichkeit verlieren auch die regu-lären Truppen in vielen Gewaltkonflikten ihrenCharakter als legitime Kriegsakteure und kön-nen häufig kaum noch von paramilitärischenoder privaten Kampfeinheiten unterschiedenwerden. Dies trifft in einigen Fällen auch fürstaatliche Interventionsstreitkräfte zu. So wa-ren Truppenteile der ECOWAS-Friedensmis-sion in Liberia zu Beginn der 1990er-Jahreselbst an Gräueltaten gegen die Zivilbevöl-kerung und an Plünderungen beteiligt. Als Konsequenz dieser Entwicklungen verlieren die Zivilisierung und Professionalisierung deskämpfenden Soldaten sowie die Institutionali-sierung des Militärs, die charakteristisch fürdie Verstaatlichung des Krieges waren (Münk-ler 2002), in vielen substaatlichen Kriegen ih-ren Charakter. Die Fragmentierung von Kon-fliktparteien wiederum erschwert die Diffe-renzierung einzelner Gruppen, was vor allemzur schwierigen, mitunter unmöglichen Un-terscheidung zwischen Zivilisten und Kombat-tanten führt. Gleichzeitig wird in vielen ge-genwärtigen Kriegen die Grenzziehung zwi-schen Soldaten/Polizisten und Banditen bzw.

organisierten Kriminellen, die teilweise eine Li-aison eingehen, brüchig. So waren in der west-afrikanischen Krisenregion um Liberia undSierra Leone in den 1990er-Jahren die Gren-zen zwischen staatlich besoldeten Soldatenund kriminellen Gruppen fließend. Letztlich istdies Ausdruck der Auflösung der zivil-militäri-schen Beziehungen, deren Regelung im Sinneder Eindämmung interner Gewalt und legalenAusübung polizeilicher und militärischer Ge-walt als ein „Kernstück des modernen Staates“angesehen werden kann (Daase 1999, 53).

KOMMERZIALISIERUNG VON GEWALTUND SICHERHEIT

Neben der Kommunalisierung des Krieges lässtsich auch eine Kommerzialisierung von Gewaltund Sicherheit beobachten. Beeinflusst wirddieser Prozess ganz wesentlich von modernenSicherheitsagenturen, den „Corporate War-riors“ (Singer 2003), die hochgradig professio-nalisiert, organisiert und legal registriert sind.Dies unterscheidet sie nicht nur von anderenprivaten Gewaltunternehmern wie den War-lords, sondern auch von klassischen Söld-nern.2 Operativ bewegen sich Sicherheits-agenturen entlang einem Spektrum, das vonlegalen Aktivitäten, die kompatibel mit deminternationalen Völkerrecht sind (Unterstüt-zung von Friedensmissionen, Sicherungsauf-gaben bei humanitären Notsituationen), übereine nichtregulierte oder nur schwer erfass-bare Grauzone (militärische Ausbildung, Ent-sendung von „Experten“), bis hin zu eindeutigillegalen Aktivitäten reicht (Beteiligung an be-waffneten Konflikten auf Seiten der Kriegs-parteien oder zur Sicherung der Interessen externer Staaten und multinationaler Unter-nehmen; Waffenverkäufe an Rebellengrup-pen oder lokale Kriegsherren). Entlohnt wer-den Sicherheitsagenturen von den beteiligtenKriegspartien häufig mit Förderlizenzen zumAbbau von wertvollen Ressourcen. So werdensie zugleich Akteure der Kriegsökonomien(siehe unten) – und profitieren von der Ge-waltstruktur ebenso wie sie zu ihrer Verste-tigung beitragen. Dass dann der Einsatz von Militärspezialisten und modernsten Waffen-systemen strategische Bedeutung für militäri-sche und politische Kräfteverhältnisse hat, ist mehr als eine plausible Annahme (vgl. Shearer1998). Darüber hinaus gibt es einen engen Zu-sammenhang zwischen privaten Militärfirmenund der Proliferation von Kleinwaffen in Kon-fliktregionen, was wiederum Einfluss auf denCharakter der Kriegführung hat. Und schließ-lich ist auch der Einsatz von Militärfirmen bzw. Sicherheitsagenturen im Rahmen mi-litärischer Interventionen, multilateraler Frie-densmissionen oder bei der Absicherung hu-

manitärer Hilfsleistungen alles andere als un-problematisch. Der Privatisierung der Kriegs-führung steht hier nämlich – zumindest an-satzweise – eine Teilprivatisierung der Frie-densschaffung bzw. der Friedenssicherung ge-genüber. Besonders sichtbar wurde dieseEntwicklung im letzten Irakkrieg (2003), indem sich das Verhältnis von eigenen Soldatenund angeworbenen Spezialkräften auf Seitender US-amerikanischen Interventionsstreit-macht drastisch zugunsten privater Militär-und Sicherheitsanbieter verändert hat. Eine weitere Dimension des qualitativen Wan-dels von Gewaltakteuren und Gewaltstrate-gien liegt dort vor, wo Interventionsstaatenzur Einhegung inner- und substaatlicher Krie-ge auf „lokale Bodentruppen“ zurückgreifen.So haben sich etwa die USA multinationalerKoalitionen im Kosovokrieg und bei der Be-kämpfung der Taliban in Afghanistan mit derUCK (Kosovo) und der Nordallianz (Afghanis-tan) örtlicher Streitkräfte bedient und diese logistisch unterstützt. So werden die morali-schen und politischen Kosten des Einsatzesvon eigenen Bodentruppen, die gerade in De-mokratien die Debatten über die Entscheidungzum Kriegs- oder Interventionseinsatz mit-bestimmen, reduziert und die militärischen Ri-siken auf nicht-staatliche Gewaltakteure ab-gewälzt. Doch indem einzelne Staaten ausstrategischen Erwägungen heraus auf lokaleKriegsunternehmer oder verstärkt auf privateSicherheitsagenturen setzen, reagieren sie aufdie Herausforderungen der Privatisierung desKrieges ihrerseits mit einer Strategie der Priva-tisierung von Sicherheit.

PRIVATISIERUNG UND ENTSTAATLICHUNGSIND NICHT NEU

Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Di-mensionen des Wandels gibt es keinen Grund,die offensichtlichen Veränderungen in derQuantität und Qualität nicht-staatlicher Ge-waltakteure zu vernachlässigen. Konflikttheo-retisch und friedenspolitisch von Bedeutungsind vor allem die Prozesse der Kommunalisie-rung, Autonomisierung und Kommerzialisie-rung nicht-staatlicher Gewalt, die sich dannauch nicht mehr ausschließlich als gegen-staatliche Gewalt interpretieren lässt. Ein wei-terer Unterschied zum meist recht überschau-baren Akteursspektrum „klassischer“ Anti-Re-gimekriege besteht in den komplexen Interak-tionsmustern zwischen den staatlichen undnicht-staatlichen sowie zwischen lokalen, re-gionalen, transnationalen und internationalenAkteuren. Vor allem in Räumen begrenzterStaatlichkeit steigt die Dichte und der Grad der Informalität transnationaler Beziehungenbzw. die Bedeutung von „Transboundary for-mations“, d.h. Kriegsparteien in gewaltoffenenRäumen begrenzter Staatlichkeit werden zu-nehmend in transnationale Gewaltnetzwerkeintegriert. Die Transnationalisierung und Frag-mentierung vieler Konfliktparteien ist letztlichsowohl ein Resultat als auch ein Verstärker fürMotiv- und Interessenverlagerungen.Auf der anderen Seite ist aber vor voreiligenSchlüssen zu warnen. Erstens ist der Staat inden meisten Kriegen der Gegenwart immernoch ein zentraler und aktiver Akteur (vgl.

EMPIRISCH IST DER TREND, KINDER IN KRIEGEN

EINZUSETZEN, UNGEBROCHEN. ES WIRD GESCHÄTZT,DASS 2004 WELTWEIT MEHR ALS 300.000 KINDER UND

JUGENDLICHE IN MEHR ALS 30 KRIEGSSCHAUPLÄTZEN

ZUM EINSATZ KAMEN. DIE BEIDEN EHEMALIGEN

KINDERSOLDATEN ALEX JOHNSON UND RON TSCHANN

ZEIGEN IHRE KALASCHNIKOW, AUFGENOMMEN AM

19.11.2003 IN MONROVIA. picture alliance / dpa

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Schreiber 2003; Chojnacki 2004). Im heutigeninnerstaatlichen Krieg (Anti-Regimekrieg, Se-zessionskrieg), der nach wie vor der dominanteKriegstyp ist, stehen sich immer ungleich ver-gesellschaftete Akteure gegenüber: ein staatli-cher und mindestens eine nicht-staatlicheKonfliktpartei. Anders formuliert: die Teil-Pri-vatisierung und tendenzielle Entstaatlichungvieler Kriege ist alles andere als neu (Gantzel2002; Matthies 2003). Zweitens unterscheidensich private Gewaltakteure auch untereinander(Interessen, Strategien) und in ihrem Verhältniszu staatlichen Akteuren. Drittens wissen wir,dass die meisten Gewaltakteure, die als Pro-tagonisten und Motoren des Wandels derKriegsformen gelten (Warlords, Söldner, lokaleMilizen, Selbstverteidigungsgruppen, Kinder-soldaten), historisch gesehen keine völligneuen Erscheinungen sind. Während Warlordsschon im chinesischen Bürgerkrieg in der erstenHälfte des 20. Jahrhunderts das Bild des Krie-ges prägten, ist das Söldnertum so alt wie derKrieg selbst und spielte in der Phase der Ent-kolonialisierung eine nicht unerhebliche Rolle.Darüber hinaus sind nicht-staatliche Ge-waltakteure, wie Volker Böge (2003) plausibelargumentiert, nicht allein „neue“ private Ge-waltakteure, sondern auf traditionalen Struk-turen aufbauende kommunitäre Akteure. Undschließlich erhöht die Erosion herrschaftlicherKontrolle zumindest temporär immer das Risikodes Krieges und das Auftauchen privater Ge-waltunternehmer, die dann auch ökonomischeInteressen haben.

DIE POLITISCHE ÖKONOMIE DER GEWALT

Die Entstehung und Verstetigung von Kriegs-ökonomien wird als ein weiterer wesentlicherBeleg für den Wandel der Kriegsformen und fürdie relative Schwäche von alten Erklärungskon-zepten herangezogen (Berdal/Malone 2000, 2).Dahinter stehen im Wesentlichen zwei Argu-mentationslinien. Einerseits wird generell einewirksame Verschiebung im Verhältnis von Po-litik und Ökonomie unterstellt (Kaldor 1999; Lock 2001; Münkler 2002). „Ökonomisierung“verweist dabei auf einen Transformationsvor-gang, bei dem die Anwendung und Aufrechter-haltung von kriegerischer Gewalt zunehmenddem Erwerb, der Sicherung, Produktion, Mobi-lisierung und Verteilung von ökonomischenund politischen Ressourcen und damit den par-tikularen Interessen der Kriegsunternehmer

dient. Andererseits wird ein Wandel der Finan-zierungspraktiken, ein Bedeutungszuwachsökonomisch motivierter Interessengruppen(z.B. multinationale Unternehmen, private Mi-litär- und Sicherheitsfirmen) und damit einForm- und Bedeutungswandel von „Kriegs-wirtschaften“ postuliert: von zentralisierten,territorial begrenzten Gewaltökonomien hin zu offenen, transnational vernetzten Kriegs-wirtschaftssystemen (Jean/Rufin 1999; Kaldor1999; Keen 2000). Im Gegensatz zu den ge-schlossenen und lokal begrenzten Kriegsöko-nomien „klassischer“ Guerilla- oder Wider-standsgruppen, die nur über örtlich begrenzteRessourcen verfügten und im Wesentlichen aufeiner agrarische Subsistenzwirtschaft aufbau-ten (Rufin 1999, 16f.; Münkler 2002, 165f.), bietet der Übergang zu offenen, entgrenztenKriegsökonomien nicht nur einen größeren militärischen Aktionsradius, sondern schafftalternative ökonomische Abschöpfungsquel-len über die Unterstützung finanzstarker Diasporagruppen und den Verkauf von natür-lichen Ressourcen und legalen wie illegalen Gütern an transnationale Netzwerke (Rufin1999, 19ff). Zu den besonders attraktiven Ressourcen zäh-len neben Gold, Diamanten und Kupfer odertropischen Edelhölzern auch strategischeRohstoffe wie Uran oder Kobalt sowie beson-dere Mineralien (etwa Tantalit, das in der Welt-raumtechnologie eingesetzt wird). Ressourcenwie Diamanten sind nicht nur eine Tausch-quelle zwischen Kriegsakteuren und privatenMilitärfirmen, sie leiten auch die ökonomi-schen Interessen der Sicherheitsfirmen selbstan, die hier einen ertragreichen Markt sehen.3

Sowohl für Warlords, Paramilitärs als auch fürherrschende Eliten bietet Ressourcenverfüg-barkeit einen Ausgleich für das Wegbrechenvon Einkünften aus legalen Erwerbsmöglich-keiten einerseits, den Wegfall internationalerMilitärhilfen der bipolaren Systemkonfronta-tion und ihrer abgeleiteten Stellvertreterkriegeder Supermächte andererseits (Rufin 1999).Eine internationale Dimension hat die Unter-stützung durch Diasporagemeinschaften, diefinanzielle Abschöpfung von humanitärenHilfsmitteln sowie der Ressourcenzufluss undWarenaustausch legaler und illegaler Güter.Berichte über den illegalen Abbau und Trans-port wertvoller Rohstoffe (Diamanten-, Dro-genhandel), den Missbrauch humanitärer Hilfeund „Finanzhilfen“ von Diasporagemeinschaf-ten haben nicht nur die öffentliche Aufmerk-

samkeit erhöht, sondern auch das Interesseder Friedens- und Konfliktforschung ge-schärft. Die verschiedenen Formen der Kriegs-finanzierung werden in Abbildung 1 zusam-mengefasst.

RESSOURCEN UND KRIEGSRISIKO

Das Kriegsrisiko dürfte dann dort besondershoch sein, wo Bodenschätze oder andere Gü-ter (wie etwa Tropenholz) besondere Einkom-menschancen versprechen und wo unter-schiedliche Konfliktgruppen um die Ausbeu-tung wertvoller Ressourcen konkurrieren. Die-ser These ist empirisch-systematisch vor allemdie Weltbankgruppe nachgegangen (Collier2000). Sie unterstellen dabei, dass ökonomi-sche Motive der „Gier“ (Greed) sowohl denAusbruch als auch die Dauer innerstaatlicherKriege besser erklären als politische Unzufrie-denheit (Grievance). In einer empirisch-quan-titativen Analyse kommen Collier und Hoeffler(2001, 16f.) zum Ergebnis, dass Indikatoren,die mit günstigen Finanzierungsmöglichkeiten(Rohstoffexport, Diaspora, preiswerte Kämp-fer, Verfügbarkeit von Waffen) und/oder güns-tigen Gefechtsbedingungen (Gebirge, dispa-rate Bevölkerungsdichte) in Zusammenhangstehen, einen deutlich höheren Erklärungs-wert aufweisen als Indikatoren, die klassi-scherweise für die Erklärung des Ausbruchsvon Bürgerkriegen herangezogen werden (un-ter anderem ungleiche Reichtums- oder Land-verteilung, fehlende Partizipation, gesell-schaftliche Polarisierung). Insbesondere einemhohen Primärgutanteil an den Gesamtexpor-ten eines Landes wird eine hohe Erklärungs-kraft zugesprochen (Collier/Hoeffler, 2001;Collier, 2000). Staaten, die wirtschaftlich vonnatürlichen Ressourcen abhängig sind, wärendemzufolge einem erhöhten Kriegs- bzw. Re-bellionsrisiko ausgesetzt. In einem weiterenVergleich der Argumente „Opportunity“ vs.„Grievance“ kommt die Weltbankgruppe zumErgebnis, dass vor allem Ressourcenverfüg-barkeit sowie die Kosten der Rebellion und diemilitärischen Vorteile eine hohe Erklärungs-kraft für das Eintrittsrisiko von Bürgerkriegenbeanspruchen können: „We find that a modelthat focuses on the opportunities for rebellionperforms well, whereas objective indicators of grievance add little explanatory power“(Collier/Hoeffler 2001, 16). Die Erklärungskraftökonomischer Variablen unterlegt Collier mitdem rationalistischen Argument, dass sich Rebellion – als Sezessionen oder gewaltsamerRegimewechsel – dann lohnt, wenn der er-wartbare Nutzen hoch genug ist, und ergänztdies um das Argument, dass greed-motivierteRebellionen auch nicht von Collective-action-Problemen wie dem Trittbrettfahrer- und Ko-ordinationsproblem betroffen sind (Collier2000, 100). Jenseits einzelner empirischer Plausibilität istder Weltbankansatz jedoch methodisch undtheoretisch problematisch, weil er die Entste-hung und Dauer von Kriegen auf die Verfüg-barkeit materieller Ressourcen reduziert undsich eindimensional am Motiv der „Gier“orientiert (siehe zur Kritik Cramer 2002; Ehrke2002; Herbst 2000). Die krude Trennung vonGreed und Grievance beim Weltbankansatz

200

SVEN CHOJNACKI

Form der Kriegsfinanzierung Ressourcen

Abschöpfung von Humankapital Menschenhandel, Sklavenarbeit, Prostitution, Entführungen, Erpressungen

Abschöpfung von Werten Kriegssteuern, Schutzgelder, Plünderung, Raub, Kontrolle vonMärkten

Bodenschätze Gold, Diamanten, Kupfer, Tantalit, Erdöl sowie die Vergabe vonSchürfrechten bzw. Ölexplorationsrechten

Legale und illegale Agrargüter Drogen, Kaffee, Tropenholz etc.

Humanitäre Hilfe internationale humanitäre Hilfe und Entwicklungshilfe (Nahrungsmittelhilfe)

Finanzhilfen ausländische Regierungen, Diaspora (die zugleich auch als Mobilisierungs- und Rekrutierungsbasis dient)

ABBILDUNG 1: FORMEN DER KRIEGSFINANZIERUNG

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übersieht, wie diese Elemente miteinander in-teragieren, insbesondere wie soziale Miss-stände durch Gier manipuliert werden (Cramer2002, 1853; Keen 2000). Das Verhältnis vonGreed und Grievance wie auch die Motivatio-nen der Gewaltanwendung können dann wie-derum ohne einen Bezug auf den Mangel bzw.die Verknappung an physischer und ökonomi-scher Sicherheit in zerfallen(d)en Staatennicht verstanden werden (vgl. Herbst 2000,275; Keen 2000, 35). Verwirft man den Welt-bankansatz dann wiederum nicht völlig, sokommt man ironischerweise zu dem Schluss,dass ökonomische Motive nicht allein ein Phä-nomen „neuer“ Kriege sind, sondern auch in„klassischen“ innerstaatlichen Kriege von pro-minenter Bedeutung sind, da sich das For-schungsdesign Colliers explizit am Konzeptvon Staatlichkeit und herkömmlichen inner-staatlichen Kriegen (Sezession, Regimewech-sel) orientiert. Inwieweit Fragmentierungs-und Desintegrationsprozesse einerseits, Trans-nationalisierungstendenzen andererseits, d.h.

also der Wandel der internen und externenstrukturellen Rahmenbedingungen heutigerGewaltkonflikte, die Kosten-Nutzen-Kalküleder Gewaltunternehmer beeinflussen, wirdnur bedingt oder gar nicht reflektiert.

GEWALTMÄRKTE FOLGEN RATIONALEN KALKÜLEN

Einen eher strukturellen Ansatz, der ähnlichwie die Weltbankgruppe aus einer ökonomi-schen Perspektive heraus argumentiert undvon Zweck-Mittel-Rationalitäten ausgeht, prä-sentiert Elwert (1997, 1999) mit seinem Kon-zept des Gewaltmarkts und der damit verbun-denen Annahme der Kommerzialisierung vonGewalt. Allgemein definiert er Gewaltmärkteals „Bürgerkriege, Kriegsherrensysteme oderRäubertum bezeichnete Konflikte, bei denenunter der Oberfläche weltanschaulicher undmachtpolitischer Ziele oder vorgeblich tradi-tionell bestimmter Kampfverpflichtungen das

ökonomische Motiv des materiellen Profitsdominiert“ (Elwert 1997, 87f.). Mit diesembreiter angelegten Konzept erfasst Elwert ge-nerell gewaltgestützte Ordnungssysteme, diein vielen deformierten Staaten anzutreffensind und die auch nicht zwingend zum Kriegeskalieren müssen. Voraussetzung ist der De-fekt eines staatlichen Gewaltmonopols unddie Entstehung „gewaltoffener“ Räume, in de-nen die Ausübung von Gewalt weder durchtraditionelle Kontexte noch sonstige Einhe-gungs-, Ordnungs- oder Routinemechanis-men reguliert wird. Das Eigentum an Güternoder Dienstleistungen wird nicht freiwillig ge-tauscht, sondern durch Gewalt angeeignet. Ihr Entstehen ist dort besonders wahrschein-lich, wo „gewaltoffene Räume“ auf marktwirt-schaftliche Strukturen treffen. Gehandelt wer-den nicht nur Waren bzw. Güter, sondern auchIdeologien, die dann besonders lukrativ sind,wenn sie zur Gewinnung ausländischer Un-terstützung eingesetzt werden (vgl. dazu auchKaldor 1999). Ähnlich wie auch Keen (1998, 2000) hebt sichElwert (1997, 1999) von der irreführenden an-thropologischen Sichtweise ab, die viele Kriegeder Gegenwart mit Irrationalität gleichsetzt,und geht in seinem Konzept des Gewaltmark-tes von der Zweckrationalität der Gewaltan-wendung aus. Soziologische, ökonomische wiepolitikwissenschaftliche Studien belegen im-mer wieder, dass Gewalt gegen die Zivilbevöl-kerung durchaus rationalen Handlungskalkü-len folgt und den individuellen oder kollektivenInteressen der Ressourcen- und Machtakku-mulation dient (Elwert 1997; Keen 1998; vonTrotha 1999). Theoretisch postuliert Elwert,dass es weniger die ökonomischen Motive perse sind, die das „Neue“ in der Erklärung von Ge-waltkonflikten aufweisen. Vielmehr biete diesePerspektive die systematisch-fundierte Durch-dringung von sich selbst perpetuierendenKriegswirtschaftssystemen jenseits scheinbarchaotischer Bürgerkriegssituationen – zumalauch nur so das Phänomen der extremen Dauerdieser Gewaltkonflikte erklärt werden könne(Elwert 1999, 88). Im Unterschied zur Welt-bankgruppe werden ökonomische Elementedann auch nicht als potenziell erklärungskräf-tigste ursächliche Faktoren konzeptualisiert.Vielmehr argumentiert Elwert, dass mit der zu-nehmenden Dauer von Gewaltkonflikten eineSituation entsteht, die die Akteure zu einer Öko-nomisierung ihrer Handlungslogik verleitetbzw. zwingt (Elwert 1999, 85ff.). Nicht-ökono-mische Konfliktfaktoren wie ethnische Identi-täten werden über den Ansatz der „sekundärenMotivation“ integriert. Dahinter steht die Idee,politische oder kulturelle Identitäten zu mobi-lisieren und zu verstetigen, um so den unge-schützten zyklischen Schwankungen, denengewaltoffene Räume ausgesetzt sind, zu um-gehen. Dieser Ansatz ist jedoch nicht unprob-lematisch, reduziert er doch Identitäten auf den Status symbolischer Ressourcen und ver-einfacht sie im Sinne eines instrumentellen Einsatzes. Weil jedoch neben politischen undideologischen Aspekten auch ethnische undkulturelle Fragen für Gewaltunternehmer im-mer von Relevanz bleiben, schränken diese „diefiktiv unterstellte Freiheit unternehmerischerEntscheidungen von vornherein ein“ (Münkler2002, 163).

201

Gewaltakteure und Gewaltmärkte

DIE GEWALTSAME ANEIGNUNG VON GÜTERN IST BESONDERS DORT WAHRSCHEINLICH, WO „GEWALTOFFENE RÄUME“AUF MARKTWIRTSCHAFTLICHE STRUKTUREN TREFFEN. EIN IRAKISCHER PLÜNDERER, DER EINEN KÜHLSCHRANK TRÄGT, GEHT

IN DEM ARMENVIERTEL SADDAM-CITY IM NORDOSTEN BAGDADS AN EINEM MANN VORBEI, DER AUF EIN ZERRISSENES

BILD DES IRAKISCHEN PRÄSIDENTEN EINSCHLÄGT. AUGENZEUGEN BERICHTETEN, DASS ES ZUM ZEITPUNKT DER AUFNAHME

(9.4.2003) KEINE ZEICHEN EINER PRÄSENZ VON POLIZEI ODER UNIFORMIERTEN MEHR AUF DEN STRAßEN GAB.picture alliance / dpa

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DAS KONZEPT DER WARLORD-POLITIK

Einen alternativen Erklärungsansatz bietet dasKonzept der Warlord-Politik von Reno (1998;2000). In den Mittelpunkt rücken konkurrie-rende Eliten, Militärs und Warlords, für die dieSicherung einer lokal begrenzten Kriegswirt-schaft und die Etablierung netzwerkartiger, in-formeller Politikpraktiken zur einzigen Alter-native wird, Macht- und Legitimitätsverlust zukompensieren. Neben der Reflektion kurzfris-tiger Machtinteressen und der Berücksichti-gung langfristiger Identitäten bezieht Renoauch externe Regierungen und transnationaleKonzerne konzeptionell ein. Seine Überlegun-gen stützen sich auf empirische Analysen zurWarlord-Politik in Liberia, Sierra Leone, Nigeriaund der Demokratischen Republik Kongo(Zaire) und knüpfen mit der Frage, inwieweitdie unterschiedlichen Akteurskonstellationeneinerseits zur Erosion institutioneller Struktu-ren beitragen, andererseits auch von politi-scher Instabilität und Unsicherheit profitie-ren, an die Debatten zu zerfallender bzw. defekter Staatlichkeit an. Kriegsökonomienstehen demzufolge in einer engen Wechselbe-ziehung mit schwachen bzw. zerfallendenStaaten und bieten Gewaltunternehmern wieWarlords oder konkurrierenden Eliten eineKompensation des Machtverlusts. Ganz ähn-lich spricht Riekenberg (1999, 190ff) in diesemZusammenhang auch von Warlordfiguratio-nen, die als außerstaatliche, kriegerisch-so-ziale Systeme jenseits gewohnter Bürger-kriegssysteme auf eine Verstetigung der Ge-waltanwendung für ihre Reproduktion undSelbststabilisierung angewiesen sind, die Her-stellung von Angst und Unsicherheit nutzensowie eine Ökonomisierung des Krieges beigleichzeitigem Ausbau logistischer Ressour-cen und einer Ausdifferenzierung von Kom-munikationssystemen forcieren.4

FÜHREN KRIEGSÖKONOMIEN ZUMVERLUST DES POLITISCHEN?

Vor dem Hintergrund dieser Debatten und Er-kenntnisse ist es unstrittig, dass sich die Fi-nanzierungspraktiken vieler Kriege unter denBedingungen entstaatlichter Räume und un-ter den Vorzeichen der Globalisierung und ih-rer Schattenseiten der transnationalen orga-nisierten Kriminalität verändern (Waffen- undDrogenhandel, illegaler Ressourcenabbau).Kritiker der These „neuer“ Kriege zweifeln auchnicht daran, dass „Gewaltmärkte“ zur Verlän-gerung von Kriegen beitragen und dass es private Gewaltakteure gibt, die bewusst dieKontrolle von Märkten, Ressourcenvorkom-men und Handelsverbindungen anstreben –und auch Motive der „Gier“ zeigen (Gantzel2002; Schlichte 2002). Und schließlich lassensich auch die empirisch-quantitativen Er-kenntnisse der Weltbankgruppe, dass die wirtschaftliche Abhängigkeit von Primär-gütern Opportunitätsstrukturen generieren,die das Gewaltrisiko erhöhen, nicht völlig vonder Hand weisen (Ballentine/Sherman 2003).Problematisch wird die Ökonomisierungstheseerst dann, wenn sie zur neuen Orthodoxie degeneriert oder zu Fehldeutungen verleitet.Fraglich ist insbesondere, ob die Entstehung

und Verstetigung von Kriegsökonomien quasiautomatisch zu einem Verlust des Politischenam Kriege führen, wie einige Autoren und Au-torinnen suggerieren (Münkler 2002; Eppler2002; Heupel/Zangl 2003). Theoretisch beinhalten Kriegsökonomien nichtnur materielle Reproduktionsbedingungenund reflektieren die ökonomischen Interessendiverser Gewaltunternehmer, sie kompensie-ren auch den Macht- und Legitimitätsverlustpolitischer Eliten, verändern Loyalitätsbezie-hungen und produzieren und reproduzierendie sozialen Rahmenbedingungen (Clapham1998; Reno 1998). Gerade in entstaatlichtenRäumen werden Ökonomisierungstendenzenbegleitet von der Herausbildung multiplerMuster von politischer Autorität und netz-werkartiger, informeller politischer Praktiken(Reno 1998, 217ff; Duffield 2001, 175ff). Ge-waltunternehmer tragen, bewusst oder unbe-wusst, zur Institutionalisierung der Gewalteinerseits, zu neuen politischen, sozialen undökonomischen Strukturen jenseits klassischerStaatlichkeit andererseits bei. Zugleich wirddie Transformation herrschaftlicher Struktu-ren und die Steuerung von Gewaltmärktenmeistens begleitet von Prozessen extremer Po-litisierung und Militarisierung ethnischer Ka-tegorien (Kaldor 1999, Kap. 4; Senghaas 2003,133). Damit verwandeln kriegswirtschaftlicheGewaltordnungen zwar die vormals dominie-renden Politikpraktiken, sie bedeuten jedochnicht die Auflösung von politischer Ordnungoder politischen Agenden schlechthin. Auch die Annahme, dass die „Ökonomisie-rung“ des Krieges bzw. die ökonomischen Kal-küle der Kriegsparteien allein für die Perpetu-ierung der Gewalt und die lange Dauer vielerGewaltkonflikte verantwortlich seien, greiftkonflikttheoretisch zu kurz. Zum einen dientdie wiederholte Anwendung der Gewalt immerauch der Verbesserung von Verhandlungsposi-tionen. Zum anderen erhöhen Faktoren wie die Fraktionierungen der Kriegsparteien, dieIntervention staatlicher und nicht-staatlicherGruppierungen (Nachbarstaaten, Großmäch-te, private Sicherheitsfirmen) sowie die Ver-bindungen zu transnationalen kriminellenNetzwerken die ohnehin vorhandene Konflikt-komplexität und damit auch den Grad physi-scher und ökonomischer Unsicherheit. In derKonsequenz erschwert dies sowohl die internepolitische Steuerung als auch externe Ansätzeder Konfliktbearbeitung.

KRIEG, POLITIK UND ÖKONOMIE – EIN KOMPLEXES WECHSELVERHÄLTNIS

Letztlich stehen Krieg, Politik und Ökonomieimmer in einem komplexen Wechselverhältnis,das sich im Konfliktverlauf durchaus ver-ändern kann.5 So wie jeder Krieg seine Kriegs-ökonomie hat, beeinflussen verfügbare Res-sourcen immer auch die Kalküle der Konflikt-akteure. Theoretisch gibt es unterschiedlichePfade bzw. Klassen der Ökonomisierung: (1.)Gewaltkonflikte, die von der „Gier“ einzelnerGewaltunternehmer angefacht werden (z. B.Charles Taylor in Liberia); (2.) eine Variantenicht-ideologischer „Stellvertreterkriege“, indenen externe Interessengruppen (Staaten,multinationale Konzerne) um ökonomische

und strategische Ressourcen konkurrieren (z. B. in Angola oder Nigeria); (3.) im Prozessdes Konfliktes „umkippende“ Handlungslogi-ken (wie in Kolumbien). Beeinflusst wird diessowohl von den Kalkülen und Strategien derKonfliktakteure als auch von den jeweiligenökonomischen, politischen und kulturellenRahmenbedingungen, die spezifische Hand-lungsoptionen gewaltbereiter Akteure ermög-lichen. Beispielsweise schafft Ressourcen-reichtum eine spezifische Motivation für dieAnwendung von Gewalt und die Möglichkeitzur Fortführung von Kämpfen (Aust 2003).6

Darüber hinaus gibt es zum einen Feedbackszwischen der Form materieller Bereicherungund der Logik der Gewaltanwendung. So folgtder Abbau wertvoller Bodenschätze (z. B. vonDiamanten in Sierra Leone oder von Coltan inder Demokratischen Republik Kongo) anderenHandlungslogiken und Zwängen als die Aus-plünderung der Zivilbevölkerung durch maro-dierende Banden, Rebellengruppen oder regu-läre Soldaten. Zum anderen variieren die poli-tischen wie gesellschaftlichen Konsequenzenje nach Art bzw. Quelle der Kriegsfinanzierung.Anstatt dann Ökonomisierung mit Entpoliti-sierung gleichzusetzen, stellt sich empirischstets die Frage, welchen politischen, sozialenund ökonomischen Regeln Gewaltkonfliktefolgen, welche Eigendynamiken sie entfaltenund inwieweit dies eine Überprüfung von In-terventions- und Präventionsstrategien nachsich ziehen muss.7

DER KRIEG WANDELT SICH

Der Krieg wandelt sich – und dies gleich in mehr-facher Hinsicht: Erstens ist Krieg als Institutiondes Konfliktaustrags nicht statisch, sondern dy-namisch mit den Strukturen und dem Wandelinterner und externer gesellschaftlicher Rah-menbedingungen verkoppelt. Damit unterliegter selbst als soziale und politische Praxis vielfäl-tigen, historisch kontingenten Veränderungs-prozessen. Zweitens kann sich ein einzelnerKrieg verändern, indem neue interne oder ex-terne Akteure hinzutreten und/oder sich dieMotive der Konfliktparteien bzw. die Formen der Kriegsfinanzierung verschieben. Drittensschließlich verändern sich auch unsere sozialenwie wissenschaftlichen Deutungen vom Krieg,die die erfahrene Realität bzw. ihren Wandel er-fassen und strukturieren. Auf einen einfachenNenner gebracht: der Wandel des Krieges istmultidimensional und alles andere als unge-wöhnlich. Für die Friedens- und Konfliktfor-schung bedeutet dies die ständige Überprüfungihrer zentralen Parameter.

WIRD DIE AKTUELLE DEBATTE DENVERÄNDERUNGEN GERECHT?

Die populäre Debatte über die „alten“ und„neuen“ Kriege wird den skizzierten Verände-rungen nur bedingt gerecht. Das Etikett „neu“ist besonders trügerisch, weil es suggeriert,dass eine klare zeitliche Bestimmung bzw. Ein-grenzung des Kriegsgeschehens in „alte“ und„neue“ Kriege möglich sei. Zum anderen legt esdie mögliche Fehldeutung nahe, „alte“ Kriegeempirisch wie theoretisch als bedeutungslos

202

SVEN CHOJNACKI

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anzusehen. Angesichts der empirischen Trendsim globalen Kriegsgeschehen (Sarkees et al.2003; Schreiber 2003; Chojnacki 2004) ist eskonflikttheoretisch wie friedenspolitisch je-doch verfrüht, „alte“ innerstaatliche Kriege zuvernachlässigen oder zwischenstaatliche Krie-ge gar als historisches „Auslaufmodell“ anzu-sehen (Münkler 2002; van Creveld 2001).Selbst im 19. Jahrhundert fallen die meis-ten der politischen Gewaltformen außerhalbdes Einzugsbereiches des zwischenstaatlichenKrieges: die Daten des Correlates of War-Pro-jekts für begonnene Kriege in den einzelnenDekaden seit 1816 zeigen, dass innerstaatlicheKriege hier im direkten Vergleich – mit einerAusnahme (1930-39) – immer überwiegen(Sarkees et al. 2003, 61). Der Staat ist zwarnicht mehr der „selbstverständliche Monopo-list des Krieges“ (Münkler 2002, 7ff), faktischwird jedoch die Mehrzahl der Kriege – diessind vor allem Anti-Regime- und Sezessions-kriege – weiterhin konventionell und staats-zentriert geführt. Gegen die These vom „Aus-laufmodell“ spricht auch das Problem, dassGewaltkonflikte, Sicherheitsdilemmata undRüstungsspiralen zwischen den Staaten nachwie vor Probleme regionaler und internationa-ler Politik sind (vor allem im Nahen und Mitt-leren Osten sowie in Südasien). Viele der ge-genwärtige Kriege sind zudem hochgradig in-ternationalisiert, was teilweise (wie in West-und Zentralafrika) zu komplexen regionalenKonfliktsystemen führt (vgl. Debiel 2002).Die These vom übergreifenden Wandel desKrieges sind dann auch methodisch proble-matisch, weil die zugrunde gelegten Kriterienfür die Erfassung „neuer Kriege“ in hohemMaße willkürlich, intersubjektiv nur schwernachvollziehbar und konflikttheoretisch kaumbegründet sind. Dies führt wiederum zu zwei-

felhaften Schlussfolgerungen, weil auf derGrundlage einer unscharfen Begriffsbildungbisher nur eine Zusammenschau anekdoti-scher Einzelfälle vorliegt. Das empirische Ma-terial mag dabei durchaus zur Illustration ein-zelner Thesen dienen, es produziert aber ebennoch keine empirisch triftigen Evidenzen undbietet damit keine Grundlage für die Erfassungglobaler Trends oder für die Identifikationzentraler Wirkungsmechanismen. Die Über-strapazierung und Überpointierung des „Neu-en“ dürfte dabei sowohl auf die veränderteWahrnehmungslogik des globalen Konflikt-geschehens seit dem Ende des Ost-West-Konflikts als auch auf die Aufmerksamkeits-und Attraktivitätsfalle des wissenschaftlichenMarktes zurückzuführen sein. Mary Kaldor(1999) und Herfried Münkler (2002) kommtdabei freilich das Verdienst zu, eine wissen-schaftliche Kontroverse über Begriffe, Typenund Erklärungsansätze des Krieges unter ver-änderten Vorzeichen und Rahmenbedingun-gen auf den Weg gebracht zu haben – undeine breitere Öffentlichkeit für den Formen-wandel kriegerischer Gewalt und die damitverbundenen friedens- und sicherheitspoliti-schen Konsequenzen sensibilisiert zu haben.

SUBSTAATLICHE KRIEGE

Anstatt den hier skizzierten quantitativen undqualitativen Wandel auf der Akteursebene alsein schlichtes Indiz „neuer“ Kriege zu interpre-tieren, stellt sich die Frage, wie die Kriege derGegenwart jenseits der populären Grobunter-scheidung erfasst werden können. Ein Ansatz-punkt, auf den die Kriegsursachenforschungimmer wieder zurückgreift, ist der politischeStatus bzw. die Vergesellschaftungsform der

Gewaltakteure. Dahinter steht die theoreti-sche Annahme, dass Konfliktstrukturen undKriegsformen mit dem Vergesellschaftungs-muster der Akteure zusammenhängen (Daase1999). Wird dementsprechend zur Typologie-bildung explizit am politischen Status der Ak-teure angesetzt, dann ergeben sich aus heuti-ger Sicht nicht zwei, sondern vier Kerntypenkriegerischer Gewalt: ■ zwischenstaatliche Kriege (zwischen min-

destens zwei souveränen Staaten);■ extrastaatliche Kriege (zwischen Staaten

und nicht-staatlichen Akteuren jenseits be-stehender Staatsgrenzen wie bei Dekoloni-sationskriegen);

■ innerstaatliche Kriege (zwischen staatli-chen und nicht-staatlichen Akteuren inner-halb bestehender Grenzen) sowie

■ substaatliche Kriege (zwischen nicht-staat-lichen Gewaltakteuren innerhalb oder jen-seits formaler Staatsgrenzen).

Der vierte Kriegstyp reflektiert die Debatteüber den Formenwandel des Krieges undorientiert sich explizit am Kriterium der Verge-sellschaftungsform der Akteure.8 Er postuliertaber eben keine völlig neue Kriegsform, son-dern ergänzt aus Sicht der Konfliktforschungein fehlendes Puzzleteil in der Kombinationstaatlicher und nicht-staatlicher Akteurskons-tellationen.

203

Gewaltakteure und Gewaltmärkte: Wandel der Kriegsformen?

DIE AUSPLÜNDERUNG DER ZIVILBEVÖLKERUNG DURCH

MARODIERENDE BANDEN, REBELLENGRUPPEN ODER RE-GULÄRE STREITKRÄFTE FOLGT ÖKONOMISCHEN KALKÜLEN

UND HINTERLÄSST TRAUER UND ELEND: DIE FOTOS UND

NAMEN VERMISSTER ELTERN SIND AN GROSSEN TAFELN

IN DEM FLÜCHTLINGSCAMP JAH TONDO IN DER NÄHE

VON MONROVIA ANGEBRACHT (FOTO VOM 14.11.2003).picture alliance / dpa

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Die ökonomische Handlungslogiken und derWandel von Finanzierungspraktiken sind dannnicht allein Phänomene substaatlicher Kriege,sondern sind auch bei den anderen Kriegsty-pen zu beobachten. So wie jeder Krieg seineKriegsökonomie hat, können sich die Formender Finanzierung und die Umfeldbedingungenwandeln. Ökonomische Bereicherungsmotivetragen zwar zur Transformation von einzelnenKriegen und gesellschaftlicher Beziehungenbei, sie führen aber nicht quasi automatisch zueiner Entpolitisierung von Konfliktbeziehun-gen und Ordnungsstrukturen. Der postulierteTrend der Ökonomisierung des Krieges sowiedie damit in Verbindung gebrachten Verände-rungen globaler Rahmenbedingungen (Glo-balisierung, Transnationalisierung) schaffendann nicht nur Anreize für nicht-staatlicheAkteure, sondern auch für Staaten bzw. herr-schende Eliten – die Entwicklungen gehen so-gar teilweise von diesen aus. Die Ökonomisie-rungsthese enthält dann auch theoretischenZündstoff, weil Teile der Konflikt- und Kriegs-ursachenforschung in längst überwunden ge-glaubte monokausale Orthodoxien zurückzu-fallen drohen, indem sie politische wie nor-mative Motive vernachlässigen oder gar aus-blenden. Dabei ist die Systematisierung dervorhandenen Forschungsergebnisse auf die-sem Gebiet genauso defizitär wie die bisheri-gen Erklärungsstränge nicht zu einer Theorieder politischen Ökonomie des Krieges geführthaben. Daher ist auch die Frage völlig offen,wie sich Kriegswirtschaften und Konfliktdy-namiken wechselseitig beeinflussen, welchesdie entscheidenden Kausalmechanismen sind,und inwieweit unterschiedliche Eskalations-prozesse und Pfadabhängigkeiten identifi-ziert werden können. Trotz dieser kritischenBestandsaufnahme, bietet diese Perspektiveeinen durchaus fruchtbaren Ansatzpunkt zum besseren Verständnis von ökonomischenHandlungslogiken und Konfliktdynamiken jen-seits scheinbar chaotischer Bürgerkriegssitua-tionen (Elwert 1999, 88; Matthies 2003, 244).Für die zukünftige Forschung bedeutet diesdann vor allem, die Wechselbeziehung vonÖkonomisierungstendenzen und De- wie Re-politisierungsprozessen (etwa in Kolumbien,Liberia, Angola oder Afghanistan) stärker un-ter die Lupe zu nehmen und theoretisch in denGriff zu bekommen. Notwendig sind dazu inZukunft sowohl ein Blick auf die Mikroebene,die Aufschluss über die interne Logik vonHandlungszusammenhängen und Entschei-dungsprozessen gibt, als auch komparativeStudien zum Wandel des Verhältnisses vonKrieg, Politik und Ökonomie. In dem Maße, wiedann das Politische nicht verworfen werdenkann, ist keineswegs sicher, dass die Tage desClausewitzschen Kriegsverständnisses gezähltsind.

ANMERKUNGEN1 Gegenüber klassischen Warlords haben sich die Gewalt-unternehmer der Gegenwart dann ebenso modernisiert,wie sie sich von den sozio-ökonomischen und politischenAusgangsbedingungen emanzipiert haben (Münkler 2002,172f.; Riekenberg 1999).2 Der klassische „Glücksritter“ ist jedoch keine ausge-storbene Spezies, wie die Kriegsschauplätze auf dem Bal-kan, in Zentralasien und in Afrika belegen. Die Umfeld-bedingungen und Organisationsstrukturen haben sich je-doch fundamental geändert.

3 Die im Sammelband von Musah und Fayemi (2000)zusammengestellten Fallstudien zu Angola, Sierra Leoneund zur Demokratischen Republik Kongo „indicate a clearand consistent correlation between the activities of themercenaries outfits and the rising fortunes of mineralprospecting and distribution corporations in these war-torn countries“ (Musah/Fayemi 2000, 24).4 Riekenberg grenzt Warlordfigurationen bewusst vonherkömmlichen Bürgerkriegen (Guerilla- und Anti-Re-gime-Kriege) ab, die dadurch gekennzeichnet sind, dasswenigstens zwei Gruppen unvereinbare Machtansprüchehaben (1999, 194f.). Warlordgebilde dagegen treten ide-altypisch an die Stelle von Staatlichkeit oder neben denStaat (Riekenberg 1999, 195).5 Dass die Beziehung von Politik und Ökonomie allesandere als natürlich ist, zeigt Cater (2003) an den Fallbei-spielen Angola, Sierra Leone und Zaire/DemokratischeRepublik Kongo.6 Empirisch-vergleichende Studien belegen, dass vonden natürlichen Ressourcen insbesondere die Verfügbar-keit über Diamanten und Drogen (Opium) für private Ge-waltunternehmer attraktiv ist und mit der Entstehung wieauch Verstetigung von Gewaltkonflikten verbunden wer-den kann (Ross 2003).7 Nach wie vor mangelt es dabei an Hypothesen undAnalysen zur Wechselbeziehung zwischen ökonomischen,politischen und kulturellen Faktoren einerseits, zum Zu-sammenhang von Kriegsökonomien und Konfliktdynami-ken andererseits.8 Die Vergesellschaftungsmuster und Akteurskonstella-tionen lassen sich hier nicht mehr auf den Staat und mehroder weniger gut organisierte Rebellengruppen reduzie-ren. Im Mittelpunkt steht vielmehr ein disparates Spek-trum unterschiedlicher quasi-staatlicher, substaatlicherund transnationaler Gewaltakteure.

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SVEN CHOJNACKI

UNSER AUTOR

Dr. Sven Chojnacki ist wissenschaftlicherMitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlinfür Sozialforschung (WZB) und Lehrbeauf-tragter an der Freien Universität Berlin. SeinLehr- und Forschungsinteresse gilt den In-ternationalen Beziehungen, insbesondereder Konflikt- und Kriegsursachenforschungsowie regionaler und globaler Sicherheitspo-litik. Ein aktueller Schwerpunkt liegt auf demvon der Deutschen Stiftung Friedensfor-schung (DSF) geförderten Projekt „Neue For-men der Gewalt im internationalen System“.

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WAS SIND KINDERSOLDATEN?

Als Kindersoldaten werden alle Jungen undMädchen bezeichnet, die (1.) jünger als 18Jahre alt sind und die (2.) innerhalb von Ar-meen oder bewaffneten Gruppierungen so-wohl militärisch als auch zivil eingesetzt werden. Das internationale KinderhilfswerkUNICEF schätzt, dass weltweit 300.000 Kinderals Soldaten missbraucht werden. Mädchenwie Jungen sind in den Streitkräften und be-waffneten Oppositionsgruppen von mehr als36 Ländern als Soldaten im Kampfeinsatz. InBirma soll ein Viertel der 350.000 Mann star-ken Regierungstruppen unter 18 Jahre alt sein. Es gibt die „Kleinen Bienen“ in Kolum-bien und die „Babybrigaden“ auf Sri Lanka,Charles Taylors gefürchtete „Small Boys“ in Li-beria. Allein auf dem afrikanischen Kontinentkämpfen über 120.000 Kinder, vor allem in Angola, Burundi, der Demokratischen RepublikKongo, in Elfenbeinküste, Liberia, Ruanda,Sierra Leone, Sudan und Uganda. In der De-mokratischen Republik Kongo werden bis zu30.000 Kinder für den Kriegseinsatz miss-braucht. Einige Milizen im Osten des Landesbestehen bis zu 60 Prozent aus Kindern (vgl.:www.unicef.de).Darüber hinaus gibt es Kindersoldaten in Af-ghanistan, Indonesien, Birma, Nepal, auf denPhilippinen, sowie in Israel und in den Palästi-nensergebieten. Noch immer sind etwa 6.000Soldaten der britischen Streitkräfte minder-jährig. Und auch im Irak starben, wie schon imErsten Golfkrieg und im Falklandkrieg, 17-jäh-rige englische Jungen an der Front. Weltweiterhalten Millionen Kinder militärisches Trai-ning und werden in Jugendbewegungen und

Schulen indoktriniert (vgl. Global Report onChild Soldiers 2001).Wie viele Kindersoldaten es wirklich gibt, dievon Rebellenverbänden, Milizen oder Privatar-meen ins Feuer geschickt werden, lässt sichkaum feststellen. Einerseits registrieren vieleKriegsherren (Warlords) 14- oder 15-jährigeRekruten nicht gesondert, da sie diese als„Selbstverständlichkeit“ betrachten. Anderer-seits leugnen Regierungen und Rebellenbe-wegungen, dass sie überhaupt Kindersoldatenrekrutieren. Viele der heute erwachsenen Sol-daten wurden schon als Kinder eingezogen.Olara Otonnu, Sonderbeauftragter des UN-Generalsekretärs für den Arbeits- und Aufga-benbereich „Kinder in bewaffneten Konflikten“schätzt, dass zwischen 1990 und 2000 zweiMillionen Kindersoldaten gefallen sind. SechsMillionen Kindersoldaten seien zu Invaliden ge-worden, über zehn Millionen Kinder hättenschwere seelische Schäden erlitten.

WANN WERDEN KINDERSOLDATENEINGESETZT?

Je länger sich ein bewaffneter Konflikt hinzieht,umso wahrscheinlicher ist es, dass Kinder anihm aktiv teilnehmen. Für die meisten Kriege giltdie Faustregel: Je länger ein Krieg dauert, destomehr Kinder werden rekrutiert. Je mehr Kinderrekrutiert werden, um so jünger werden die Kin-der. Nicht selten kommt es zu einem „Wettlauf“der Kriegsparteien bei der Rekrutierung von Kin-dern: Die Kinder werden nicht nur eingezogen,weil eine Kriegspartei die Kinder für den Kampfbraucht, sondern auch, um dem Gegner zuvor-zukommen (vgl. www.kindersoldaten.de).

Philippe war sieben. Oder acht. Jedenfalls hol-ten sie ihn, als der Journalist Jens Voigt imZentralgefängnis von Kigali nach dem jüngs-ten Kriegsverbrecher fragte. Man schob ihnvor eine Kamera, die Gefängniswärter riefen:„Cheese“. Aber Philippe lächelte nicht.

„Warum bist du hier, fragte der Dolmetscher.Ich habe Menschen getötet.Wie viele?Ich weiß nicht, sechs oder acht.Womit hast du sie umgebracht?Mit dem Buschmesser oder mit Knüppeln,meist mit dem Messer. Ich war der Anführer.Wen hast du getötet?Solche, die kleiner waren als ich. Die Großenwurden von den Erwachsenen getötet. Zwei-mal durfte ich mithelfen.Mithelfen?Beim Zerhacken, mit dem Buschmesser.Warum hast du getötet?Die Großen haben es mir gesagt.“

(Voigt 2000)

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KINDERSOLDATEN ALS AKTEURE DER NEUEN KRIEGE

KindersoldatenPAUL RUSSMANN

Kindersoldaten wurden schon im Drei-ßigjährigen Krieg, im Mittelalter und im Zweiten Weltkrieg eingesetzt. Docherst seit Anfang der 90er-Jahre des letz-ten Jahrhunderts werden ihre Problemevon Hilfsorganisationen, Medien und in der Forschung stärker beachtet. Kin-dersoldaten gehören zu den Akteurender so genannten neuen Kriege. Der Einsatz von Kindersoldaten als Kriegs-akteure folgt der Logik privatisierter, entstaatlichter Kriege: Kinder(soldaten)sind kostengünstig, leicht rekrutierbar,„effizient“ einsetzbar und ohne größereProbleme kontrollierbar. Paul Russmannschildert in seinem Beitrag die Lebens-bedingungen und den Kriegsalltag deroftmals zwangsrekrutierten Kinder undJugendlichen. Gerade die körperlichenund seelischen Auswirkungen erschwe-ren die Rehabilitation dieser Kinder inbefriedeten Gesellschaften. Aufgezeigtwird auch, wie schwierig es auf interna-tionaler Ebene ist, den Einsatz von Kin-dersoldaten zu ächten. Red.

JUGENDLICHE MILIZIONÄRE FAHREN MIT EINEM PICKUP

AN DIE FRONT IM NORDOSTEN LIBERIAS (27.8.2003).DER SONDERBEAUFTRAGTE DER UN FÜR DEN

ARBEITSBEREICH „KINDER IN BEWAFFNETEN KONFLIKTEN“SCHÄTZT, DASS ZWISCHEN 1990 UND 2000 ZWEI

MILLIONEN KINDERSOLDATEN GEFALLEN SIND.SECHS MILLIONEN KINDERSOLDATEN SEIEN ZU

INVALIDEN GEWORDEN, ZEHN MILLIONEN HÄTTEN

SCHWERE SEELISCHE SCHÄDEN ERLITTEN.picture alliance / dpa

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WIE WERDEN KINDERSOLDATENEINGESETZT?

Während viele Kinder direkt an der Frontkämpfen müssen, arbeiten andere als Spione,Boten, Wächter, Träger, Diener oder werden alsSexsklaven missbraucht. Kinder müssen Minenverlegen und räumen. Man zwingt sie, Grau-samkeiten zu begehen, oftmals sogar gegendie eigene Familie und Nachbarschaften. Diemeisten Kindersoldaten werden in der Armeekörperlich misshandelt. In Extremfällen wer-den sie in den Selbstmord getrieben oderselbst zu Mördern, wenn sie die Misshandlun-gen nicht länger ertragen können. Auch wenn die meisten Kindersoldaten imDurchschnitt 15 Jahre alt sind, wird vereinzeltüber erst siebenjährige Kinder berichtet, diesich an Kämpfen beteiligt haben. Die Interna-tionale Arbeitsorganisation (International La-bour Organization/ILO) berichtete, dass Kindermit Ästen und Stöcken die Straßen fegen mus-sten, um Minen zu entdecken oder zur Explo-sion zu bringen. Sobald die Kinder stark genug sind, um Sturm-gewehre oder halbautomatische Waffen zubedienen (normalerweise mit zehn Jahren),werden sie als Frontkämpfer eingesetzt. Einehemaliger Kindersoldat aus Burundi erzählt:„Wir verbrachten schlaflose Nächte mit demWarten auf den Feind. Meine erste Aufgabewar es, eine Lampe für die älteren Rebellen zutragen. Später wurde mir gezeigt, wie manHandgranaten einsetzt. Etwa nach einem Mo-nat trug ich ein AK-47, danach bekam ich so-gar ein deutsches G-3“ (Global Report on ChildSoldiers 2001).

KLEINWAFFEN – PERFEKTE WAFFEN FÜR KINDERHÄNDE

Auch wenn zwölfjährige Trommler die Truppenim amerikanischen Bürgerkrieg in die Schlachtführten und Admiral Nelson seine Karriere alsSchiffsjunge auf einem Kriegsschiff begann –erst im zwanzigsten Jahrhundert konnten Kin-der zu gefürchteten Soldaten werden. Vor derErfindung des Schießpulvers wäre es ohne-hin vollkommen unsinnig gewesen, Kinder indie Schlacht zu schicken: Mit dem erstenSchwertstreich hätte ein Ritter noch das ge-schickteste Kind umgebracht. Auch die frühenGewehre waren zu schwer und unhandlich fürKinder. Doch die nahezu rückstoßfreie M-16der Amerikaner und die AK-47 der Sowjets, diemit ihrem Aluminiumgehäuse nicht mehr alsdrei Kilogramm wiegen, sind mit ihren 600Schuss pro Minute selbst in der Hand einesuntrainierten, unterernährten Mädchens einetödliche Waffe (Rühle 2003). Viele Kleinwaffenpassen perfekt in Kinderhände, und schonAchtjährige können automatische Waffen ab-feuern. Die Handhabung der Kleinwaffen ist inkürzester Zeit erlernbar, sie sind „kinderleicht“zu bedienen und zu transportieren. Kleinwaf-fen wie die russische Kalaschnikow AK 47 oderdas deutsche G-3-Gewehr lassen sich prob-lemlos warten, reparieren und nachladen undsind deshalb geeignet, von Kindern und Ju-gendlichen als Tötungswaffe benutzt zu wer-den (Bangert 2004). Weltweit sind schät-zungsweise zwischen 500 und 800 Millionen

Kleinwaffen, hauptsächlich Maschinengeweh-re und Pistolen, im Umlauf.

WIE WERDEN KINDER REKRUTIERT?

Es gibt verschiedene Formen, Kinder zu rekru-tieren:

■ Rekrutierung über die Wehrpflicht: In vie-len Ländern gibt es eine allgemeine Wehr-pflicht. In manchen Ländern beginnt dieWehrpflicht bereits im Alter unter 18 Jah-ren. Damit sind die Rekrutierten laut UNI-CEF Kindersoldaten.

■ Die Zwangsrekrutierung: Zwangsrekrutie-rung bedeutet, Menschen gegen ihren Wil-len zum „Waffendienst“ zu zwingen. In vie-len Kriegsgebieten werden Kinder mit vor-gehaltener Waffe gezwungen, sich einerBürgerkriegspartei (Rebellen, Paramilitärs,Guerillaeinheiten) anzuschließen. Es han-delt sich also um Entführungen. Weit ver-breitet waren oder sind Zwangsrekrutie-rungen im Norden Ugandas, im Kongo, inSierra Leone, Angola und Kolumbien.

■ Freiwilligkeit: Nicht immer werden Kinder-soldaten zwangsrekrutiert. Manche Kinderschließen sich freiwillig einer der bewaff-neten Gruppen an.

WIE „FREIWILLIG“ IST FREIWILLIG?

Die Studie „Jugendliche – Warum sie Soldatwerden“ (2004), die von terre des hommes undder Quäker-Hilfe Stiftung in Auftrag gegebenwurde, stellt fest, dass auch die Freiwilligkeitvon Jugendlichen, die weder verschleppt nochzwangsrekrutiert werden, oft keine ist. Es gibtkeine eindeutigen Erklärungen, warum Heran-wachsende freiwillig in die bewaffneten Grup-pen gehen. Die meisten Jugendlichen befindensich in einer Situation, die ihnen kaum eineandere Möglichkeit lässt. Der wichtigste Fak-tor ist der Krieg selbst. Ein weiterer Grund istArmut. Oft herrscht in den KriegsgebietenHunger, da Ernten vernichtet und Vorräte ge-plündert werden. In der Truppe hoffen die Kin-der, dass sie etwas zu essen bekommen undvor Feinden beschützt werden. Andere Gründe für eine „freiwillige“ Rekrutie-rung sind eine fehlende Schul- und/oder Be-rufsausbildung sowie fehlende Arbeits- undEinkommensmöglichkeiten. Kinder ohne Fa-milien sind besonders gefährdet, eingezogenzu werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob sieständig oder nur zeitweise von ihrer Familiegetrennt sind. Andererseits werden Kinderauch von manchen Familien ermutigt, sich di-rekt oder indirekt am bewaffneten Kampf zubeteiligen. Von Kindern, die aus Militärfamilienstammen (ob aus regulären Streitkräften oderbewaffneten Gruppen) wird die Beteiligungmöglicherweise erwartet, ohne dass sie in be-sonderer Weise von der Familie dazu gedrängtwerden.Manche Mädchen hingegen wollen Gleich-wertigkeit mit ihren Brüdern beweisen undmelden sich deshalb. Die meisten Kinder su-chen Schutz und Unterstützung bei den be-waffneten Gruppen, weil sie, ihre Eltern oderGemeinschaften aus ethnischen, politischen,

religiösen oder anderen Gründen verfolgtwerden. Viele Kinder haben miterlebt, wie El-tern oder Verwandte ermordet wurden, undwollen ihre Angehörigen nun rächen. Das ei-gene Gewehr und die Zugehörigkeit zu einerbewaffneten Gruppe verschaffen eine gewisseSicherheit und auch das Gefühl von Macht. Beiden „Freiwilligen“ handelt es sich nicht seltenum Kinder in besonders schwierigen Lebenssi-tuationen. Sie leiden unter extremer Armut,sind Straßenkinder ohne Eltern oder Flücht-lingskinder ohne Hoffnung und Perspektive:„Viele Kindersoldaten erträumen sich einenanderen, einen westlichen Lebensstil, so wiesie ihn aus dem Fernsehen kennen. Mit ihremEintritt in eine der Rebellengruppen hoffen sie,einen Sprung in die Moderne zu tun, in der siefreilich nie ankommen. Allein der Wert ihrerAusrüstung – automatisches Gewehr, Muni-tion, Drogen – entspricht in etwa dem jährli-chen Pro-Kopf-Einkommen ihrer Eltern. Unddie Kinder, die in Monrovia vor irgendwelchenJeeps posieren, könnten ohne weiteres in ei-nem MTV-Video auftreten: Militia-Look undlässige Freizeitkleidung verfließen, ihr Gebarenimitiert das gestische Repertoire der Hip-Hop-Choreographien. In diesem Zusammenhangbezeichnend sind die Namen, die sich die Kin-derkrieger geben und die allesamt nach denenvon Actionhelden oder Rapstars klingen: Goeasy, G-Pox, Captain Bull, Earthquake Baby,Captain Cobra, Rebel King“ (Rühle 2003).

WARUM WERDEN KINDER ALS SOLDATEN EINGESETZT?

Viele Regierungen und bewaffnete Opposi-tionsgruppen geben an, dass sie Kinder einset-zen, um einen Mangel an erwachsenen Solda-ten auszugleichen. Kinder werden vor allem inlang andauernden Konflikten rekrutiert, in de-

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PAUL RUSSMANN

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nen es schwieriger wird, erwachsene Personenals Soldaten zu rekrutieren. Oftmals werdenKinder jedoch ganz bewusst eingezogen, weil sieKinder sind: Kinder sind die billigsten Kämpfer.Sie essen weniger als Erwachsene und könnenohne Sold in den Krieg geschickt werden. So sinddie Hälfte der Kämpfer in manchen kolumbiani-schen Rebellen- und Partisanenverbänden Kin-der und Jugendliche. Aber nicht nur in Rebellen-gruppen, sondern auch in Regierungsarmeen inüber 30 Staaten der Welt kämpfen Kinder.Kinder können leicht dazu gebracht werden,bedingungslos zu gehorchen und alle Befehleauszuführen. Oft sind die Kinder noch sehrjung, wenn sie Soldat werden. Ihre Persönlich-keit ist noch lange nicht gefestigt und sie ha-ben noch keine ausgeprägten Moralvorstel-lungen. Das macht sie zu leichten Opfern vonManipulation und Gehirnwäsche. „Kleine Jun-gen machen Sachen, zu denen ausgewachseneMänner nicht in der Lage wären. Sie haben niegelernt, ein Gefühl für Gerechtigkeit zu entwi-ckeln“, sagt eine UNICEF-Mitarbeiterin aus Li-beria. Auf der Suche nach Vorbildern möchtensie den Erwachsenen gefallen. In angespann-ten Situationen gelten sie als „schießfreudi-ger“. Die Unreife der Kinder kann dazu führen,dass sie außerordentliche Risiken auf sichnehmen. Oder um es mit den Worten des Kom-mandanten einer bewaffneten Gruppe in derDemokratischen Republik Kongo auszudrü-cken: „(Kinder) sind gute Kämpfer, weil sie jungsind und sich beweisen wollen. Sie glauben, essei alles ein Spiel, daher sind sie so furchtlos.“Ein ehemaliger Armeeausbilder sagt: „Erwach-sene denken an ihre Familien. Sie haben Angst.Die Kleinen denken allein ans Angreifen. Siesind die brutalsten Gegner“ (Global Report onChield Soldiers 2001).In zahlreichen Ländern werden Kinder in Schu-len und Jugendorganisationen militärisch trai-niert und politisch indoktriniert. Damit sollen

die Wehrbereitschaft oder die Rekrutenzahlengesteigert werden. Tausende von irakischenKindern zwischen 10 und 15 Jahren waren Mit-glied im Ashbal Saddam („Saddams Löwen-klub“). In der nach dem Golfkrieg 1991 gegrün-deten Jugendbewegung standen das Trainingan Kleinwaffen, Nahkampfübungen und Unter-richt in Infanterietaktik auf dem Programm. In den Vereinigten Staaten gibt es vom Militärdurchgeführte Programme für Kinder ab achtJahre. In den „Young Marines“ tragen Jungenund Mädchen im Alter von acht bis 18 JahrenUniformen, haben militärische Dienstgradeund nehmen an Exerzierübungen teil.

MÄDCHEN ALS KINDERSOLDATINNEN

In vielen Ländern werden auch Mädchen alsSoldaten eingesetzt. Nach Angaben von terrede hommes sollen in manchen Kriegsgebieten30 Prozent aller Kindersoldaten Mädchen sein.Beispielsweise werden in Sri Lanka seit Mitteder 1980er-Jahre junge tamilische Mädchen,oftmals Waisen, systematisch von den opposi-tionellen „Befreiungstigern für Tamil Eelam“(LTTE) rekrutiert. Als „Birds of Freedom“ be-zeichnet, werden sie als Selbstmordattentäte-rinnen trainiert. Denn sie können die Sicher-heitsmaßnahmen der Regierung besser unter-laufen.

SEXUELLER MISSBRAUCH VONKINDERSOLDATINNEN

Mädchen fliehen oft vor häuslicher Gewalt,Ausbeutung oder sexuellem Missbrauch. Ei-nige finden Zuflucht und Bestärkung in denbewaffneten Gruppen, andere hingegen er-fahren, dass sie weiter ausgebeutet werden.Weibliche Kindersoldaten werden oft verge-

waltigt und sexuell versklavt. Allerdings wirdauch über Jungens berichtet, denen dies wi-derfährt. Die 14-jährige Concy A. wurde ausKitgum in Uganda von der Lord ResistanceArmy (LRA) in den Sudan verschleppt und er-zählte: „Ich wurde einem Mann zugeteilt, dergerade seine Frau ermordet hatte. Ich bekamkein Gewehr, half aber bei den Entführungenund den Lebensmittelplünderungen der Dorf-bevölkerung. Mädchen, die sich weigerten undkeine LRA- Frauen werden wollten, wurden zurAbschreckung öffentlich hingerichtet“ (GlobalReport an Child Soldiers 2001). Auch in Ko-lumbien werden Mädchen in den bewaffnetenGruppen oftmals sexuell missbraucht. Die ko-lumbianische Guerillabewegung (Fuerzas Ar-madas Revolucionarias de Colombia/FARC)vertritt eine Politik der „sexuellen Freiheit“. Eswird von jungen Mädchen berichtet, denenzwangsweise ein Pessar eingesetzt wurde. Eine15-jährige Kindersoldatin war schwanger, alssie im Kampf getötet wurde. Sogar in den Streitkräften der industrialisier-ten Länder kommt es vor, dass junge Rekrutenund besonders Mädchen schikaniert und miss-braucht werden. In den vergangenen Jahrenwurden Rekruten unter 18 Jahren in der Briti-schen Armee schikaniert und erniedrigt, diesschloss Scheinhinrichtungen, Simulation vonVergewaltigungen, „Regimentsbäder“ in Er-brochenem und Urin und das erzwungene Es-sen von Schlamm ein. Im August 1997 wurdeeine 17-jährige Rekrutin der Britischen Armeewährend eines Manövers von einem betrunke-nen Ausbilder zu sexuellen Handlungen genö-tigt und vergewaltigt. Sie erklärte dem Richter,„dass sie nicht geschrieen hat, weil er ein Ser-geant war und einen höheren Dienstgradhatte. Man darf den Boss nicht missachten“(Global Report on Chield Soldiers 2001).

AUSWIRKUNGEN AUF DIE KINDER

Meist leiden die Kinder(soldaten) ihr Lebenlang unter ihren Taten. Es ist schwer, sie wie-der in die Gesellschaft einzugliedern. Durchdas jahrelangen Leben in einem gewalttätigenUmfeld sind sie in ihrem Sozialverhalten oftschwer gestört. Kindersoldaten verlieren ihreKindheit, Ausbildungs- und Entwicklungs-möglichkeiten. Sie riskieren zudem körperlicheVerletzungen, psychische Traumata und sogarden Tod (vgl. Steutdner 2001).Die Kinder, die als Soldaten rekrutiert werden,verlieren oft jeden Bezug zu ihrem früheren Le-ben. Besonders belastend für die betroffenenKinder ist die Trennung von den Eltern und derursprünglichen Lebensgemeinschaft. MancheKinder werden gezwungen, ihre eigene Familiezu erschießen, damit sie keine Bindung zu ih-rem „früherem“ Leben mehr haben.Die Kinder werden oft geschlagen, misshan-delt und gezwungen, Grausamkeiten zu bege-hen. Sie müssen zum Beispiel andere Kindertöten, wenn diese fliehen wollten. Kindersol-daten können oft weder lesen noch schreibenund haben keine Ausbildung. Sie erlernen soauch nicht die notwendigen Kulturtechniken,um in einer Zivilgesellschaft friedlich mitein-ander leben zu können.Neben dem Risiko, getötet oder im Kampf ver-letzt zu werden, leiden Kindersoldaten unver-

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Kindersoldaten

BEWAFFNET BEWACHEN

KINDERSOLDATEN EINE

STRASSE IN BUNIA

(KONGO). NACH

UN-ANGABEN VOM

30.6.2003 ÜBERFALLEN

REBELLEN IN DEN

AFRIKANISCHEN BÜRGER-KRIEGSLÄNDERN LIBERIA

UND KONGO GEZIELT

SCHULEN UND KRANKEN-HÄUSER, ENTFÜHREN

MÄDCHEN UND

ZWINGEN JUNGEN ZUM

KRIEGSDIENST.picture alliance / dpa

Saupe
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hältnismäßig stark unter der Härte des Militär-lebens. Das Leben als Kindersoldat ist hart. Siemüssen schwere Lasten (Waffen, Verwundete,Lebensmittel, Hausrat, Zelte) über weite Stre-cken schleppen. Essen, sauberes Wasser undsonstige Versorgungsgüter (Medikamente)sind knapp. Jüngere Kinder brechen unter denschweren Traglasten zusammen. Unterernäh-rung, Infektionen der Atemwege, Hautkrank-heiten und andere Beschwerden sind weit ver-breitet.Wer sich durch Desertion dem brutalen Dienstentziehen will, muss, falls die Flucht scheitert,mit der Todesstrafe rechnen. Kinder werdenvon den Vorgesetzten als „weniger wertvolle“Soldaten angesehen. Dies bedeutet im Kampf,dass sie an besonders gefährlichen Stellen derFront eingesetzt werden, zum Beispiel alsSpione, Minenleger und Minensucher. Ent-sprechend hoch ist das Risiko, verletzt odergetötet zu werden. Für die kämpfenden Truppen sind verwundeteKinder eine Belastung. Deshalb werden sie oftverletzt zurückgelassen. Die häufigsten Verlet-zungen von Kindersoldaten sind Blindheit,Taubheit durch Explosionslärm, Verlust vonGliedmaßen. Kinder, die in Gefangenschaft ge-raten, werden wie erwachsene Soldaten be-handelt. Auf ihr Alter wird keine Rücksicht ge-nommen. Beim Abschluss von Friedensverträ-gen neigen die Kriegsparteien dazu, die Kinderund Jugendlichen zu „vergessen“ und ihreKriegsbeteiligung zu leugnen.Kindersoldaten können zudem durch Drogenund Alkoholmissbrauch gefährdet werden ( siewerden auch oft zur Abstumpfung gegen Ge-walt benutzt). Weithin werden sie als billigerund entbehrlicher Gebrauchsgegenstand an-gesehen. Sie erhalten daher vor dem Frontein-satz nur wenig oder gar kein Training. In denfrühen 1980er-Jahren wurden während desKrieges zwischen dem Iran und Irak Tausendevon iranischen Kinder direkt aus der Schulezusammen mit den Revolutionsgarden in dieFrontlinie geschickt, vielfach mit einem sym-bolischen Schlüssel für das den Märtyrern ver-heißene Paradies versehen. Während desGrenzkriegs zwischen Äthiopien und Eritreawurden bei Massenaushebungen der äthiopi-schen Regierungsarmee Tausende von Mittel-schülern auf Marktplätzen und in Dörfernzwangsrekrutiert, eine große Zahl wurde beiSturmangriffen in die feindlichen Minenfeldergeschickt.Das Verständnis für die psychologischen Aus-wirkungen der Beteiligung von Kindern am bewaffneten Konflikt beginnt sich erst zu ent-wickeln, besonders für diejenigen Kinder, dieZeuge von Grausamkeiten wurden oder sieselbst begangen haben. Die Zeugenaussage eines 14-jährigen Mädchens, das von der Re-bellenbewegung Revolutionary United Front(RUF) in Sierra Leone im Januar 1999 ver-schleppt wurde, verdeutlicht die enormen psy-chischen Belastungen, denen Kindersoldatenausgesetzt sind: „Ich habe gesehen, wie Men-schen die Hände abgeschnitten wurden, wieein 10-jähriges Mädchen vergewaltigt wurdeund dann starb, und wie so viele Menschen le-bendig verbrannt wurden (…). So oft habe ichstill in mein Herz geweint, weil ich nicht lautzu weinen wagte.“ Aus Algerien gibt es einenBericht über etwa 12-jährige Jungen, die ein

15 Jahre altes Mädchen enthaupteten und mitdem Kopf „Fangen“ spielten.Der Einsatz von Kindersoldaten wirkt sich zu-dem auf alle in den Konfliktzonen lebende Kin-der aus: Sie sind generell verdächtig und wer-den von den kämpfenden Parteien angegrif-fen. Selbst dann, wenn nur einige wenige Kin-der als Soldaten an einem Konflikt beteiligtsind, geraten trotzdem alle Kinder der Gegendunter Verdacht – ob sie Kombattanten oder Zi-vilisten sind, spielt dann keine Rolle mehr. DasUN-Kinderrechtskomitee und der UN-Sonder-beauftragte mit dem Aufgabengebiet „Kinderin bewaffneten Konflikten“ äußerten sich be-sorgt über die außergerichtlichen Hinrichtun-gen, Folterungen und das spurlose Verschwin-den von Jugendlichen im Nordosten Indiens.Sie wurden verdächtigt, mit bewaffnetenGruppen zu kollaborieren. Am 15. August 2000verwechselte eine Armeeeinheit in Pueblo Rico(Kolumbien) eine Klasse auf einem Schulaus-flug mit einer Guerillaeinheit und eröffnetedas Feuer. Sechs Kinder im Alter zwischensechs und zehn Jahren starben, sechs weiterewurden verwundet.

REHABILITATION UND REINTEGRATION

In vielen Teilen der Erde wächst die Erfahrungmit der körperlichen und psychologischen Re-habilitation von Kindersoldaten sowie ihrer er-folgreichen Wiedereingliederung in die Gesell-schaft. Psychologische Erkenntnisse werdenbei diesen Programmen mit traditionellenBräuchen und Ritualen kombiniert: „Die Zere-monie erreicht, dass die Leute keine Angstmehr vor dem Kindersoldaten haben und ihmnicht mehr misstrauen. Sie sehen ihn als Bru-der und Freund. Das ist möglich, weil der Ju-gendliche ‚gereinigt‘ wurde und dadurch die‚bösen Geister‘ verschwanden. Er wird sein Le-ben im Militärlager nicht fortsetzen. Die Ge-meinschaft gibt ihm nicht mehr die Schuld fürDinge, die er getan hat, weil man weiß, dass erdazu gezwungen wurde.“ Mit diesen Wortenumschreibt Laura, Priesterin einer traditionel-len Kirche, die Ziele der Wiedereingliederungvon ehemaligen Kindersoldaten nach demEnde des Bürgerkrieges in Mosambik (Steutd-ner 2003).Der Übergang von einem hochmilitarisiertenUmfeld in das Zivilleben kann extrem schwie-rig sein. Besonders schwer ist er für diejenigen,die ihre Familien verloren haben oder von ih-nen abgelehnt werden und zudem in Gesell-schaften leben, deren soziale Infrastrukturdurch den jahrelangen Krieg erschüttert wur-de. Besondere Aufmerksamkeit muss in sol-chen Programmen den Erfahrungen und spe-ziellen Bedürfnissen der Mädchen gewidmetwerden. Sie werden in Hilfsprogrammen oft-mals übersehen und durch traditionelle pa-triarchalische Werte benachteiligt. Denn weib-liche Heranwachsende werden häufig in eineGesellschaft „wiedereingegliedert“, die ihreHaltung zu Mädchen und ihrer Rolle in der Ge-sellschaft nicht verändert hat, so dass Miss-brauch und Ausbeutung weiterhin wahr-scheinlich sind. Hinzu kommt, dass viele Mäd-chen von der Demobilisierung ausgeschlossenwerden, weil sie nicht als „echte Soldaten“,sondern als Marketenderinnen, Ehefrauen

oder Sexsklavinnen angesehen werden, ob-wohl zum Beispiel alle der in der Studie „Ju-gendliche – Warum sie Soldat werden“ (2004)interviewten Mädchen mitgekämpft haben.Reintegrationsprogramme sind lebenswichtigfür friedensschaffende Anstrengungen, dielangfristige Stabilität und Entwicklung vonNachkriegsgesellschaften. Die Vereinten Na-tionen haben auf die Wichtigkeit der Einbezie-hung von Entwaffnung, Demobilisierung undReintegration ehemaliger Kindersoldaten inFriedensverhandlungen und -vereinbarungenhingewiesen.In vielen ehemaligen Kriegsgebieten arbeitenheute Hilfsorganisationen wie terre des hom-mes, um den Kindern bei der Wiedereingliede-rung in das zivile Leben zu helfen. Wichtig sindSuchdienste und Programme zur Familienzu-sammenführung. „Die Arbeit mit Kindersolda-ten gehört zu den schwierigsten und dankbar-sten Aufgaben, die ein Entwicklungsexperteheutzutage übernehmen kann. Ohne die Re-konstruktion des Sozialen kann ihre sozialeReintegration nicht gelingen“, konstatiertThomas Gebauer von der Hilfsorganisationmedico international (Grill/Virnich 2003).

DAMIT KINDER KEINE SOLDATEN WERDEN

Einige zur Rekrutierung führende Faktorensind bereits vor Ausbruch eines Krieges vor-handen, zum Beispiel Armut, häusliche Gewaltoder Diskriminierung in der Ausbildung. JungeLeute neigen dann nicht dazu, sich an einemKonflikt zu beteiligen, wenn sie in einer glück-lichen, unterstützenden und stabilen Umge-bung aufwachsen. Die Umgebung darf nichtso verarmt sein, dass den Kindern der Schul-besuch verwehrt wird oder sie gezwungensind, auf den Schulbesuch zu verzichten, weilsie arbeiten oder den Haushalt führen müssen.Wenn sie die Schule besuchen, muss diese eineAusbildung bieten, die sie interessiert, ihnenspätere Berufsaussichten eröffnet und in einerUmgebung stattfindet, in denen sie weder vonLehrern noch Schülern erniedrigt, gedemütigtoder körperlich missbraucht werden. Sie müs-sen zudem in der Lage sein, ihren Lebensun-terhalt zu verdienen, ohne sich offiziellen oderirregulären bewaffneten Gruppen anzuschlie-ßen. Dies sollte man übrigens nicht nur als po-sitiv für die Kinder und jungen Leute ansehen,sondern genauso als wesentlichen Faktor beimAufbau einer friedlichen Gesellschaft, weilKinder dann nicht mehr so anfällig sind fürAufforderungen der bewaffneten Splitter-gruppen.Die Zahlen der Rekrutierung von Kindersolda-ten würden drastisch sinken, so die oben ge-nannte Studie, wenn man die Verantwortli-chen durch nationale und internationale Gerichte zur Verantwortung ziehen würde.Derzeit glaubt keiner der Befehlshaber, dass erfür die Rekrutierung und den Einsatz von Kin-dern bestraft werden kann. Zum anderen: Nicht alle Jugendlichen, selbstwenn sie besonders gefährdet sind und unter„besonders risikoreichen“ Umständen lebenmüssen, (arme Familien, Leben in einer Kriegs-zone, keine Schule oder Arbeit und ohne Familie, oder mit einer Familie, in der sie miss-braucht werden), schließen sich dem Kampfan.

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PAUL RUSSMANN

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AUF DEM WEG ZU EINEM WELTWEITEN VERBOT

Auf internationaler Ebene gelang es in denletzten Jahren Fortschritte zu erzielen, um denEinsatz von Kindersoldaten weltweit zu äch-ten. Die 1989 verabschiedete und heute fastweltweit ratifizierte UN-Kinderrechtskonven-tion definiert im ersten Artikel ein Kind als„Mensch, der das Alter von 18 Jahren nochnicht erreicht hat, so weit die Volljährigkeitnach dem für die Kinder anzuwendendenRecht nicht früher eintritt.“ Trotzdem setzt dasÜbereinkommen für die militärische Rekrutie-rung und die Beteiligung an bewaffneten Kon-flikten das niedrigere Alter von 15 Jahren fest;gleichzeitig appelliert sie an die Staaten, beiRekrutierungen unter 18 Jahren die Ältestenvorrangig heranzuziehen (Artikel 38). Seit 1993 bemüht sich das UN-Kinderrechts-komitee, die Bestimmungen zum Einsatz vonKindersoldaten zu verschärfen. Neuen Schubbekam diese Debatte durch die bahnbre-chende UN-Studie zu Kindern in bewaffnetenKonflikten (1995). Der UN-Generalsekretär, dasKinderhilfswerk UNICEF, der UN-Hochkommis-sar für Menschenrechte, der Sonderbeauftrag-te des UN-Generalsekretärs für das Aufga-bengebiet „Kinder und bewaffnete Konflikte“,viele Regierungen, Regionalzusammenschlüs-se und Nichtregierungsorganisationen ver-langen, dass die militärische Rekrutierung und die Beteiligung von Kindern unter 18 Jahrenan Feindseligkeiten verboten wird.Die UN-Vollversammlung verabschiedete am25. Mai 2000 das Fakultativprotokoll zum„Übereinkommen über die Rechte des Kindes“über die Beteiligung von Kindern in bewaffne-ten Konflikten. Das Zusatzprotokoll hebt dasMindestalter für die direkte Beteiligung anKampfhandlungen, die Wehrpflicht und fürjede Form der Rekrutierung durch bewaffneteGruppen von 15 auf 18 Jahre an. Außerdemwerden die Regierungen aufgefordert, dasMindestalter anzuheben und strikte Sicherun-gen für jede Form der Rekrutierung von Frei-willigen unter 18 Jahren einzuführen. Kinderals Kriegswaffen einzusetzen, ist unter allenUmständen inakzeptabel. Viele Länder erhöh-ten das Mindestalter zur militärischen Rekru-tierung auf mindestens 18 Jahre. Sogar einigeder nichtstaatlichen bewaffneten Gruppenhaben internationale Verpflichtungen zur Ein-haltung dieses Standards akzeptiert. Die UN selbst haben ein Mindestalter von 18Jahren für die Teilnahme von Zivilpolizei undMilitärbeobachtern an UN- Friedensmissionenfestgelegt. Am 22. April 2004 verabschiedeteder UN-Sicherheitsrat die Resolution 1539, inder – zum wiederholten Mal – auf die unbe-friedigende Situation von Kindern in Kriegs-und Bürgerkriegsgebieten aufmerksam ge-macht wird. Der Sicherheitsrat stellt darin fest,„dass beim Schutz von Kindern, die von be-waffneten Konflikten betroffen sind, zwarFortschritte erzielt wurden, insbesondere imBereich des Einsatzes für ihre Interessen sowieder Aufstellung von Normen und Standards“,dass jedoch „Fortschritte am Boden insgesamtausgeblieben sind und Konfliktparteien nachwie vor straflos gegen die einschlägigen Be-stimmungen des anwendbaren Völkerrechts inbezug auf die Rechte und den Schutz von Kin-

dern in bewaffneten Konflikten verstoßen.“ Angemahnt wird nachdrücklich, dass „diejeni-gen, die für Völkermord, Verbrechen gegen dieMenschlichkeit, Kriegsverbrechen und andereabscheuliche Verbrechen an Kindern verant-wortlich sind, strafrechtlich zu verfolgen“seien. Nach dem Statut des InternationalenGerichtshofes in Den Haag kann als Kriegsver-brecher verurteilt werden, wer unter 15-Jäh-rige in den Krieg schickt. Die Resolution ent-hält eine Reihe konkreter Aufforderungen andie betroffenen Regierungen bzw. Konfliktpar-teien, „die Einziehung oder den Einsatz vonKindern sofort einzustellen“ und alles „zumSchutz und zur Rehabilitation der von bewaff-neten Konflikten betroffenen Kinder“ zu tun.

SOLDATEN UNTER 18?

Niemand unter 18 darf gezwungen werden, inbewaffnete Streitkräfte oder bewaffneteGruppen einzutreten (einschließlich der Wehr-pflicht in Regierungsarmeen) und niemandunter 18 Jahren darf in Kampfeinsätze ge-schickt werden. Noch vor wenigen Jahren ver-traten eine Reihe von Regierungen die An-sicht, dass der Einsatz von unter 18-Jährigenim Kampf völlig in Ordnung sei. Soll es Regierungen erlaubt sein, Freiwillige imAlter zwischen 16 und 18 für ihre Streitkräfteanzuwerben? In diesem Zusammenhang wur-den übrigens die „kulturellen Unterschiede“zwischen Industriestaaten und dem Rest derWelt überstrapaziert, wenn man bedenkt, dassin erster Line solch „entwickelte“ Länder wiedas Vereinigte Königreich, die USA, Kanada,Neuseeland, die Niederlande (und die früherenbritischen Kolonien in Südasien) darauf be-standen, unter 18-Jährige zu rekrutieren undauch überhaupt keinen Grund gesehen haben,sie nicht in Kampfeinsätze zu schicken. In denindustrialisierten Ländern nimmt die Tendenzzu, zugunsten von Berufsarmeen aus Freiwilli-gen die Wehrpflicht abzuschaffen bzw. auszu-setzen. Dies führt zu Problemen bei der Auf-rechterhaltung der Truppenstärke und übt ei-nen erheblichen Druck auf die Senkung desRekrutierungsalters aus.

Bis heute haben 115 Staaten das Zusatzproto-koll zur UN-Kinderrechtskonvention zum Ver-bot des Kriegseinsatzes von Kindern und Ju-gendlichen unter 18 Jahren unterzeichnet. 67Länder haben das Abkommen ratifiziert – da-runter auch Afghanistan. Deutschland unter-zeichnete das Dokument am 6. September2000 – die Ratifizierung steht bis heute aus(Ahlers 2004). Bisher ist eine Ratifizierung die-ses Zusatzprotokolls zur UN-Kinderrechtskon-vention in Deutschland gescheitert, weil dasVerteidigungsministerium darauf beharrt,weiterhin jedes Jahr mehrere Hundert 17-jäh-rige Freiwillige aufzunehmen. Zwar erlaubtauch das Zusatzprotokoll die Rekrutierung vonMinderjährigen, sofern sie nicht in Kampfein-sätze geschickt werden. UNICEF und Nichtre-gierungsorganisationen setzen sich jedochdafür ein, die 18-Jahre-Grenze bedingungslosanzuerkennen und keine Minderjährigen mehrzu rekrutieren.Das Zusatzprotokoll ist ein wichtiges Instru-ment zur politischen Ächtung des weltweitenMissbrauchs von Kindern als Soldaten. Es ver-bietet den Kriegseinsatz von Kindern und Ju-gendlichen unter 18 Jahren. Bei der Verab-schiedung des Dokuments im Jahr 2000 hat-ten sich die Regierungen jedoch leider nichtauf eine klar definierte Altersgrenze von 18Jahren einigen können und die Rekrutierungvon „Freiwilligen“ ab 15 Jahren außerhalb vonKampfeinsätzen erlaubt.Aus friedenspolitischer Sicht ist die wirksam-ste Prävention gegen die Rekrutierung vonKindersoldaten jedoch die Ächtung des Krie-ges als Mittel der Politik und als Mittel zur Ver-folgung wirtschaftlicher Interessen.

LITERATURAhlers, S.: Kindersoldaten kehren ins Zivilleben zurück. In:Die Welt v. 20.01.2004Bangert, K.: Kleinwaffen in Kinderhänden – kinderleichtzu bedienen. In: Im Visier: Heckler & Koch, Freiburg2004, S. 17Brett, R./McCallin, M.: Kinder, die unsichtbaren Soldaten.Norderstedt 2001Coalition to Stop the Use of Child Soldiers (Hrsg.): GlobalReport on Child Soldiers 2001. London 2002 (vgl. auchunter: www.child-soldiers.org)Grill, B./Virnich, B.: Krieg der Kinder. In: Die Zeit, Nr.36/2003Keitetsi, C.: Sie nahmen mir die Mutter und gaben mir einGewehr. Mein Leben als Kindersoldatin. München 2002Merk, H.: Ugandas gequälte Kinder. In: Frankfurter Rund-schau v. 19.07.2004Rühle, A.: Die Armee der Wegwerfmenschen. In: Süddeut-sche Zeitung v. 20.06.2003Steudtner, P.: Die soziale Eingliederung von Kindersolda-ten. In: Berghof Report Nr. 6/März 2001Steudtner, P.: Von bösen Geistern befreit. In: Querbrief3/2003Voigt, J.: Willige, genügsame Killer. In: Freitag 22 – DieOst- und Westzeitung v. 26.05.2000terre des hommes/Quäker-Hilfe Stiftung (Hrsg.): Jugend-liche – Warum sie Soldat werden. Osnabrück 2004

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Kindersoldaten

UNSER AUTOR

Paul Russmann,Jahrgang 1955,lebt und arbeitet inStuttgart. Der ge-lernte Bankkauf-mann und Diplom-theologe arbeitetals Referent bei derökumenischen Frie-densorganisation„Ohne Rüstung Le-ben“. Er ist Mitglied

im Vorstand des Dachverbandes der Kriti-schen Aktionäre und Sprecher des Deut-schen Aktionsnetzes „Kleinwaffen Stoppen“.

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DIE GRUNDIDEE HUMANITÄRER HILFE

Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert derKriege und unaussprechlicher Grausamkeit. Es waraber auch das Jahrhundert der globalen Solidaritätund weltumspannenden humanitären Hilfe. 1901erhielt Henri Dunant, der Begründer des RotenKreuzes, den ersten Friedensnobelpreis, 1999 dieHilfsorganisation Médecins sans Frontières/Ärzteohne Grenzen. Beide Entwicklungen gehören – lei-der – zusammen. Krieg und humanitäre Hilfe sindeng miteinander verbunden und beide Phänomenehaben im 20. Jahrhundert einen fundamentalenWandel durchgemacht. Humanitäre Hilfe beruht auf dem Gedanken, dass je-der einzelne Mensch alleine wegen seines Mensch-seins ein Anrecht auf physische Unversehrtheit unddamit auf Schutz vor Gewalt, Schmerz und Aggres-sion hat. Dieses Anrecht – das ist der Kern des hu-manitären Hilfsgedankens – existiert per se, a prioriund vollkommen unabhängig von den äußeren Umständen, die das Menschenleben gefährden. Wie der französische Philosoph Luc Ferry schreibt,

Vornehmlich interessiert hier die humanitäre Hilfein kriegerischen Auseinandersetzungen, weil sieam meisten mit Problemen und Dilemmata kon-frontiert ist. Das Ziel humanitärer Hilfe in Kriegenist nicht die Veränderung des Kriegsgeschehens,gar die Beendigung von Kriegen, sondern alleinedie Humanisierung von Kriegen. Sie ist auf den ein-zelnen Hilfsbedürftigen, ob verletzter Soldat oderhungernder Zivilist, gerichtet und blendet dement-sprechend den politischen Kontext, der die Notsi-tuation hervorgebracht hat, aus.

nimmt somit der Mensch einen absoluten Platz imUniversum ein, seine Existenz wird zum Ausgangweiteren menschlichen Handelns. Humanitäre Hilfekommt sowohl in gewalttätigen Auseinanderset-zungen zum Tragen als auch in Naturkatastrophen.In ihrer Grundidee ist sie eine Nothilfe, d.h. dass siedirekt und prompt nach einer Katastrophe einsetzt,egal ob eine solche natürlicher, technischer oderkriegerischer Art ist. Sie besteht meist in einer Le-bensmittelhilfe und Notfallmedizin, umfasst aberauch Tätigkeiten wie Aufbau und Leitung vonFlüchtlingslagern, Wasserversorgung oder Infra-strukturprojekte.

Sie ist bedingungslos, d.h. dass sie nicht nach derGesinnung der Hilfsbedürftigen fragt. BernardKouchner, Mitbegründer der HilfsorganisationÄrzte ohne Grenzen, verglich daher die humanitäreHilfe mit der Notfallmedizin. Ebenso wenig wie derChirurg keinen Einfluss darauf hat, ob der Motor-radfahrer nach der Operation wieder auf seine Ma-schine steigen wird, kann die humanitäre Hilfe da-rauf Einfluss nehmen, ob der soeben versorgteMensch nach der Operation wieder eine Kalaschni-kow in die Hand nehmen wird. Humanitäre Hilfsor-ganisationen sehen sich weder als Friedens- nochals Menschenrechtsorganisationen. Ihnen geht es

nicht um Gerechtigkeit und ihnen geht es auchnicht um Frieden, sondern einzig um das Recht aufLeben jedes einzelnen Menschen.

DER HEHRE GRUNDSATZ HÄLT DERREALITÄT NICHT STAND

Ganz nach dem englischen Sprichwort „The way tohell is paved with good intentions“ ist aber derhehre Grundsatz der humanitären Hilfe mit einer

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HUMANITÄRE HILFE ZWISCHEN ALLEN FRONTEN

Humanitäre Hilfe – Das Dilemma der HilfsorganisationenCATHERINE GÖTZE

Humanitäre Hilfe beruht auf dem Gedan-ken, dass jeder einzelne Mensch ein An-recht auf körperliche Unversehrtheit unddamit auf Schutz vor Schmerz und Ge-walt hat. Als Nothilfe ist sie zunächst be-dingungslos und fragt nicht nach derGesinnung der Hilfsbedürftigen. Unab-hängigkeit vom politischen Kontext undNeutralität gegenüber den Kriegspartei-en sind leitende Grundprinzipien ihrerArbeit. Humanitäre Hilfe beruht auf derExistenz von einigen Grundregeln desVölkerrechts und benötigt die Duldung„humanitärer Räume“, innerhalb dererHilfe geleistet werden kann. Geradeweil humanitäre Grundregeln des Völ-kerrechts von den Gewaltakteuren derneuen Kriege missachtet werden, ist dieGefahr groß, dass humanitäre Hilfe zwi-schen die Fronten gerät und zum Spiel-ball der Kriegsparteien wird. Auch diefinanzielle Abhängigkeit der Hilfsorgani-sationen lässt sie leicht zum Instrumentöffentlicher und staatlicher Geldgeberwerden. Auswege aus dieser Situationsind nur schwer zu finden. Ein zentralerPunkt scheint die Neudefinition des hu-manitären Raumes zu sein. Dies gelingtjedoch nur, wenn die Rolle der Staaten-gemeinschaft als Garant des Völker-rechts neu überdacht wird. Dies wird fürdas sensible Verhältnis zwischen Hilfs-organisationen und Geberinstitutionenund damit für die schwierige Balancezwischen Neutralität und Indienstnahmeder humanitären Hilfe wohl nicht ohneFolgen bleiben. Red.

LANGE KANISTER-SCHLANGEN IN EINEM

FLÜCHTLINGSLAGER IN

DER PROVINZ SÜD-DARFUR DES SUDAN.ARABISCHE REITER-MILIZEN TERRORISIEREN

IM SUDAN DIE AFRIKA-NISCHSTÄMMIGE BEVÖL-KERUNG UND HABEN

HUNDERTTAUSENDE VER-TRIEBEN. HUMANITÄRE

HILFE BERUHT AUF DEM

GEDANKEN, DASS JEDER

EINZELNE MENSCH

ALLEINE WEGEN SEINES

MENSCHSEINS EIN AN-RECHT AUF UNVERSEHRT-HEIT UND SCHUTZ VOR

GEWALT, SCHMERZ UND

AGGRESSION HAT.picture alliance / dpa

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sehr viel komplexeren Realität konfrontiert. Huma-nitäre Hilfsorganisationen handeln nicht nur in po-litischen Kontexten, ihr eigenes Handeln ist eben-falls, oftmals entgegen ihrem Willen, ein Politikum.Ob die Organisationen dies wollen oder nicht – hu-manitäre Hilfe ist in die vielschichtigen Abhängig-keits- und Machtverhältnisse heutiger globaler Po-litik eingebunden. Dies äußert sich nicht zuletztdarin, dass die rechtliche Grundlage, auf der huma-nitäre Hilfe international möglich ist, nämlich dasVölkerrecht, ein Recht der Staaten ist und diese inletzter Instanz die Garanten seiner Existenz sind.Die Verwebung der humanitären Hilfe mit den kon-kreten Machtverhältnissen in der Welt und dieSchwierigkeit, in den „neuen Kriegen“ neutral, un-abhängig, unparteilich und bedingungslos zu han-deln, münden in eine Vielzahl von Dilemmata fürdie Hilfsorganisationen.

PREKÄRE ARBEITSTEILUNG ZWISCHENSTAAT UND PRIVATER INITIATIVE

Im Juli 2004 verklagte der holländische Staat dieHilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen auf Scha-densersatz. Der Staat hatte einen Mitarbeiter derOrganisation, der in Dagestan, einer Nachbarrepu-blik der Kriegsregion Tschetschenien, entführt wor-den war, mit einem Lösegeld von einer MillionenEuro freigekauft. Die Organisation hatte jedoch dieHilfe des Staates zurückgewiesen und weigertesich in Folge, das Lösegeld sowie die Ausgaben derRepatriierung zurückzuzahlen. Diese Anekdotezeugt von der konfliktreichen Beziehung zwischenhumanitärer Hilfe und staatlicher Politik. Die humanitäre Hilfe beruht seit jeher auf einerprekären und paradoxen Arbeitsteilung zwischenStaat und privater Initiative. Der Großteil der hu-manitären Hilfsorganisationen möchte von Staa-ten unabhängig sein, und zwar nicht aus kapriziö-ser Eitelkeit, sondern weil eine solche politischeUnabhängigkeit als notwendig für die Bewegungs-freiheit der Organisation angesehen wird. Unab-hängigkeit von der Politik des Ursprungsstaates,Unparteilichkeit gegenüber den Hilfsbedürftigenund Neutralität gegenüber den Kriegsparteien – solauten drei Grundprinzipien des InternationalenKomitees vom Roten Kreuz (IKRK), die von einemgroßen Teil der Hilfsorganisationen übernommenworden sind. Alle drei Prinzipien sollen vermeiden,dass die Helfer und ihre Schutzbefohlenen, dieHilfsbedürftigen, in die Konflikte einbezogen wer-den und es zu Ungerechtigkeiten und Diskriminie-rung in der Hilfsverteilung kommt.

HUMANITÄRE HILFE BERUHT AUF DEM VÖLKERRECHT

Gleichzeitig beruht aber humanitäre Hilfe auf der Existenz von einigen Grundregeln des huma-nitären Völkerrechts, dessen Garanten letztend-lich die Staaten dieser Welt sind. Eine dieser Grundregeln ist eben diese, dass Hilfsorganisa-tionen und die Hilfsbedürftigen unter Schutz ste-hen – man schießt nicht auf Sanitäter! Humani-täre Hilfe ist nur im Rahmen eines konkreten undvirtuellen „humanitären Raumes“ möglich. Mate-rialisiert hatte sich dieser humanitäre Raum in denLazaretten und Sanitätskorridoren der europäi-schen Kriege des 19. Jahrhunderts und in der kla-ren Trennung zwischen Zivilisten und Kombattan-ten.

In vielen bewaffneten Auseinandersetzungen derheutigen Zeit existieren aber weder Lazarette nocheine Trennung von Zivilisten und Kombattanten. Inden Konflikten lassen sich häufig nicht mehr zweiSeiten eindeutig voneinander unterscheiden. DieKämpfer sind nicht Teil regulärer Armeen mit klaren Entscheidungs- und Verantwortlichkeitshie-rarchien. Die Krieger unterstehen selten einer politi-schen Gewalt, die diese kontrollieren und gegebe-nenfalls disziplinieren könnte. Loyalität zur krieg-führenden Gruppe wird oft durch gemeinsamesMorden und Marodieren, durch Plündern und Aus-beuten anstatt durch Fahneneide, Orden, monatli-chen Sold und Kriegsgerichte hergestellt. Kriegszielesind nicht mehr so eindeutig wie es im Falle territo-rialer Eroberungskriege der europäischen Modernewar. Individuelle Bereicherung und Gruppenberei-cherung stehen im Vordergrund, sodass Krieg undKriminalität eng miteinander verwoben sind. In einer solchen Situation ist vor allem der Grund-satz der Neutralität schwer zu befolgen. Wenn esunklar ist, wer am Konflikt beteiligt ist, kann auchnur schwer deutlich gemacht werden, dass mankeine Gruppe unterstützt. Wenn nun ein westlicherStaat seiner Verantwortung, die eigenen Bürger zuschützen, nachkommt, und sich so in den Konflikteinmischt, steigt die Verwirrung nochmals an.Denn der holländische Staat wird zum Beispiel imtschetschenischen Konflikt nicht als neutral, son-dern als ein mit der Regierung Vladimir Putins be-freundeter Staat wahrgenommen. Für die holländi-sche Hilfsorganisation besteht dann die Gefahr,dass sie auch nicht mehr als neutral wahrgenom-men wird. Unter anderem aus diesem Grund hatsich die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen ge-gen die Verhandlungen und die Lösegeldzahlungder holländischen Regierung verwahrt.1 Paradoxer-weise muss die Organisation den Schutz ihrer eige-nen Regierung zurückweisen, um die Sicherheit ih-rer Mitarbeiter vor Ort garantieren zu können.

NEUTRALITÄT SCHÜTZT DIE HELFER

Denn die Neutralität ist in den „neuen Konflikten“oft das einzige Mittel, um die Sicherheit der Mitar-beiter vor Ort zu gewähren. Sie ist ein zentrales Ele-ment der Verhandlungen, die die Hilfsorganisatio-nen mit den lokalen Warlords führen müssen, umZugang zur hilfsbedürftigen Bevölkerung zu erhal-

ten. Die Anerkennung und Dankbarkeit für die neu-trale und unparteiliche Arbeit durch lokale Autori-täten ist wiederum der beste Schutz für die Mitar-beiter der Organisation.Allerdings sind Dankbarkeit und Anerkennung aus-gesprochen prekäre Garantien, denn sie beruhen je-weils auf der Annahme, dass die Verletzung der Sol-daten und das Leid der Zivilisten nur Nebeneffekteeines politischen Handelns sind – Mittel, um anderepolitische Ziele zu erreichen. Der Krieg muss in die-ser Logik die Fortsetzung der Politik sein, denn nurdann sind der „Wert“ (ihr moralischer und ihr mate-rieller) der Krieger und der Bevölkerung auch wert-volle Verhandlungsgegenstände, durch welche Zu-geständnisse und Kompromisse erzielt werdenkönnen.

HUMANITÄRE HILFE BENÖTIGT DULDUNG

Humanitäre Hilfe kann nur dort existieren, wo sie ge-duldet wird. Dies war bereits im 19. Jahrhundert so.Der Ursprungsgedanke humanitärer Hilfe war aufder Vorstellung einer Arbeitsteilung zwischen Staa-ten und humanitären Hilfsorganisationen aufge-baut, die deutlich an die wohlfahrtstaatliche Ar-beitsteilung zwischen Staat und privatem DrittenSektor erinnert. Eine solche Arbeitsteilung beruhtauf der gegenseitigen Stützung der Tätigkeit und aufder Existenz eines öffentlichen Raumes, in dem Pri-vatinitiative gesamtgesellschaftlich nutzbar ge-macht werden kann. Vor allem aber beruht diese Ar-beitsteilung auf der Bedingung, dass eine solchePrivatinitiative überhaupt möglich ist. Privatinitia-tive ist immer abhängig davon, dass sie vom Staatermöglicht wird und dass dieser sein Gewaltmono-pol zu ihrem Schutz einsetzt. Eine eigene Verhand-lungsmacht hat die Privatinitiative gegenüber demStaat kaum, außer wenn sie von diesem rechtlich er-mächtigt wurde, so wie dies für das Rote Kreuz imKriegsfall durch die Genfer Konventionen gesche-hen ist. Die Genfer Konventionen stellen den Versuch dar, diePrinzipien der humanitären Hilfe und ihre Schutz-bedürftigkeit in verbindliche Rechtsvorschriften zufassen. Doch selbst wenn sie mit ihren Zusatzproto-kollen auch für Bürgerkriegssituationen gelten sol-len, so sind sie nur für die Unterzeichnerstaatenwirklich verbindlich und nicht für Rebellenfraktio-nen, Räuberbanden oder Warlords. Und wie fast alle

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Humanitäre Hilfe – Das Dilemma der Hilfsorganisationen

GRUNDSÄTZE DER GENFER KONVENTION

Ziel der Genfer Konventionen ist die Begrenzung der Kriegsführung. Die Konvention besteht aus ei-nem komplexen Bündel an völkerrechtlichen Vorschriften, die in sechs Verträgen mit mehr als 600 Ar-tikeln zusammengefasst sind. In ihrem Kern stehen einige fundamentale Prinzipien:■ Personen, die nicht oder nicht mehr an Feindseligkeiten teilnehmen, haben Anrecht auf besonde-

ren Schutz und menschenwürdige Behandlung. Ihnen ist, ohne jegliche Diskriminierung, angemes-sene Hilfe zukommen zu lassen.

■ Kriegsgefangene oder andere Gefangene sind menschenwürdig zu behandeln. Sie müssen gegenjegliche Gewalt, insbesondere gegen Folter geschützt werden. Sie haben Anrecht auf faire gericht-liche Verfahren.

■ Die Wahl der Kriegsparteien, welche Mittel der Kriegsführung sie einsetzen, ist begrenzt. Die Mit-tel der Kriegsführung dürfen keinen überflüssigen Schaden oder unnötiges Leiden zufügen.

■ Um die zivile Bevölkerung zu schützen, müssen die Streitkräfte zu jeder Zeit zwischen ziviler Be-völkerung und zivilen Zielen auf der einen sowie militärischem Personal und militärischen Zielenauf der anderen Seite unterscheiden. Weder die Zivilbevölkerung noch zivile Einrichtungen dürfenZiele militärischer Angriffe sein.

Diese Prinzipien des humanitären Völkerrechts sind unter allen Umständen bindend und es sind keineAusnahmen zugelassen.

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Vorschriften des Völkerrechts ist auch das humani-täre Völkerrecht faktisch (nicht de jure!) sanktions-frei. Im Endeffekt können also die humanitärenHilfsorganisationen den humanitären Raum nur imNamen der Humanität einklagen, aber sie habenweiter keine Rechts- oder anderweitig verbindli-chen Ansprüche auf ihn. Erst mit den Strafgerichts-höfen zum ehemaligen Jugoslawien, zu Ruanda und jüngst mit dem Internationalen Strafgerichts-hof sind internationale juristische Instrumente ent-standen, um Verletzungen der Genfer Konventionenzu ahnden.

DILEMMATA DER HUMANITÄREN HILFEVOR ORT

Das bereits bestehende Prekarium der Arbeitsvor-aussetzungen für humanitäre Hilfe wird dort ver-stärkt, wo es keine Staaten mehr gibt – und das sindheutzutage viele Einsatzgebiete der humanitärenHilfe. Anders als die Pauschalbezeichnung „neueKriege“ vermuten lässt, ist festzuhalten, dass sich dieSituationen bewaffneter Konflikte vielfach unter-scheiden. Dementsprechend bestehen auch ver-schiedenartige Gefährdungen von Mitarbeitern undDilemmata für humanitäre Hilfsorganisationen.Die simpelste Form der Gefährdung ist die des Rau-bes oder der Entführung, um Lösegeld zu erpressen.Da diese Übergriffe auf humanitäre Hilfsorganisa-tionen durch Gier verursacht sind, stellen sie keinepolitischen Herausforderungen an die Organisa-tionen. Meistens lässt sich das Risiko von Überfällendieser Art erheblich reduzieren, wenn einheimischeMitarbeiter eingestellt werden, lokale Machtgleich-gewichte zwischen Clans, Familien und politischenAutoritäten beachtet werden und die ausländischenMitarbeiter der Hilfsorganisationen interkulturellesFeingefühl zeigen. Ein langfristiges und breites An-gebot an Hilfsleistungen, vor allem medizinischerArt, an die gesamte Bevölkerung wird meist von lo-kalen Warlords und Kleptokraten höher geschätztals eine kurzfristige Bereicherung durch den Dieb-stahl eines Toyota-Jeeps. Außerdem berechnen diemeisten Hilfsorganisationen einen gewissen „Rei-bungsverlust“ durch Unterschlagungen oder Dieb-stahl bereits in ihre Bedarfsplanung ein. So ge-nannte Low Intensity Conflicts, die sich über Jahreoder Jahrzehnte in einer Region hinziehen, ohnedass sich die Machtgleichgewichte entscheidendändern, stellen solche Arbeitssituationen mit einer„simplen“ Gefährdung dar. Auf diese Weise arbeitetzum Beispiel die deutsche Hilfsorganisation medicoseit langem in der Westsahara und der französischeZweig der Organisation Ärzte ohne Grenzen ver-sorgte über ein Jahrzehnt lang die Bevölkerung imEinflussbereich der Nordallianz in Afghanistan.Dennoch bleiben solche Situationen prekär, dennÄnderungen im Kriegsgeschehen, wie zum Beispieldie US-amerikanische Intervention in Afghanistan,stellen die Position der Hilfsorganisationen in Frage.Dann ist die Sicherheitssituation der Helfer und der

Hilfsbedürftigen erneut Verhandlungssache zwi-schen der Organisation und den lokalen Machtha-bern. Médicins sans Frontièrs hat sich im Juli 2004aus Afghanistan zurückgezogen, nachdem fünf ih-rer Mitarbeiter getötet worden waren.

HILFSLIEFERUNGEN DIENEN DERKRIEGSWIRTSCHAFT

Sehr viel problematischer stellt sich die Situationdar, wenn die Hilfslieferungen der Organisationenzu regelmäßigen Einnahmequellen der Kriegsgrup-pen werden. Dies ist meist der Fall, wenn denKriegsgruppen kaum andere Ressourcen zur Verfü-gung stehen, um ihre Kriegsanstrengung zu näh-ren und der Konflikt eine solche Intensität hat, dasser großer Finanzierungsanstrengungen bedarf. Sowurden zum Beispiel in Bosnien, wo den Kriegs-gruppen keine Rohstoffe wie Diamanten, Rausch-gifte oder Öl zur Verfügung standen und illegalerHandel nur in einem kleinen Ausmaß möglich war,die internationalen Hilfslieferungen ein wichtigerBestandteil der Kriegswirtschaft. In einer solchen Situation müssen die Hilfsorga-nisationen den Vorwurf ernst nehmen, dass ihreHilfslieferungen die Weiterführung der Kriege erstermöglichen. Sicherlich bedeutete ein Ende derHilfslieferungen nicht ein Ende der Feindseligkeiten,da diese wie in Bosnien nicht alleine auf das Motivder Bereicherung zurück zu führen sind.2 Aber den-noch bleibt das Dilemma bestehen, dass der Kriegdurch Hilfslieferungen genährt wird, sich so verlän-gert und dann wiederum erst das Leid schafft, dasdie humanitäre Hilfe notwendig macht. Die Hilfs-leistungen werden so Teil der Kriegsspirale.

IM SPANNUNGSFELD ETHNISCHERANIMOSITÄTEN

Um ihren Auftrag zu erfüllen ohne Teil des Kriegeszu werden, müssen die Hilfsorganisationen denfreien Zugang zu der Not leidenden Bevölkerungvon Fall zu Fall neu verhandeln. Ihre Verhandlungs-macht ist aber gering. Die Unterstützung durch dielokale Bevölkerung kann dem Grundsatz, dass Hilfegleichmäßig für alle Seiten geleistet werden sollund deswegen Freizügigkeit notwendig ist, Ge-wicht verleihen. Allerdings ist in Konflikten, in de-

nen ethnische Animosität ein wichtiges Konflikte-lement ist, dieses Argument nicht sehr wirkungs-voll, da die existenzielle Schädigung der anderenVolksgruppe erklärtes Kriegsziel ist. HumanitäreHilfe soll nicht zu ihrem Bestimmungsort gelangenund diese Strategie ist oft erfolgreich. So berichteteder UNHCR (United Nations High Commissioner forRefugees/Der Hohe Flüchtlingskommissar der Ver-einten Nationen) im Falle des Krieges in Bosnien,dass im Jahr 1993 nur ungefähr die Hälfte sei-ner Hilfe wirklich geliefert werden konnte und dasInternationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK)konnte nur ungefähr zehn Prozent seiner üblichenHilfsleistungen erbringen.Die Mechanismen, die in „simplen“ Konfliktsitua-tionen Wirkung entfalten, zum Beispiel die engeZusammenarbeit mit der einheimischen Bevölke-rung, können in diesem Fall nicht wirken. In Kon-flikten wie in Bosnien kann der Rückgriff auf ein-heimische Mitarbeiter sogar eine zusätzliche Ge-fährdung bedeuten. So berichtete ein IKRK-Mitar-beiter, dass das Komitee ab einem bestimmtenZeitpunkt im bosnischen Konflikt Chauffeure ausneutralen Ländern Westeuropas engagieren mus-ste. Lokale Mitarbeiter wurden in den jeweils an-dersethnischen Gebieten attackiert und Mitarbei-ter aus NATO-Ländern wurden von Kroaten undSerben gleichermaßen mit Misstrauen beäugt undebenfalls tätlich angegriffen.Viele Organisationen sehen sich gezwungen, auf dieForderungen der lokalen Warlords einzugehen unddie Wegzölle zu bezahlen sowie die von den Milizen-führern bestimmten Gruppen der Bevölkerung zuversorgen. In Konflikten wie in Bosnien bedeutetedies, dass die Hilfe nicht nach dem Kriterium der Be-dürftigkeit vergeben wird, sondern entsprechendder territorialen Zugänglichkeit des Kriegsgebietes.Solche Kompromisse werden in Kauf genommen,um auch die Not leidende Bevölkerung versorgen zukönnen – die Frage, ob dies nicht ein falscher Kom-promiss ist, bleibt jedoch offen.

UNGEWOLLTE KOMPLIZENSCHAFT

Solche Kompromisse sind nicht nur grundsätzlichproblematisch, weil nur solche Organisationen die-sen gerecht werden können, die wie das IKRK oderder UNHCR eine große Versorgungskapazität ha-ben (der UNHCR hatte 1993 ein Versorgungsziel

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CATHERINE GÖTZE

EIN ROT-KREUZ-HELFER TRÄGT IN EINEM NOTHILFE-LAGER IN DER NÄHE VON KISANGANI EIN KRANKES

FLÜCHTLINGSKIND AN ZAIRISCHEN REBELLENKÄMPFERN

VORBEI. DIE LAGE DER RUANDISCHEN FLÜCHTLINGE

SPITZTE SICH 1997 DRAMATISCH ZU. GERADE WEIL

HUMANITÄRE GRUNDREGELN DES VÖLKERRECHTS VON

DEN GEWALTAKTEUREN DER NEUEN KRIEGE MISSACHTET

WERDEN, IST DIE GEFAHR GROSS, DASS DIE HUMANITÄRE

HILFE ZWISCHEN DIE FRONTEN GERÄT.picture alliance / dpa

Saupe
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von 8000 Tonnen pro Woche). Kleine Organisatio-nen mit zwei oder drei Mitarbeitern und ein paarTonnen Hilfsgütern, die die Mehrzahl der Hilfsorga-nisationen stellen, können ein solches „auch“ nichtverhandeln. Ihre Hilfsleistungen enden meist gänz-lich in den Händen der lokalen Kriegsherren. Ethisch noch fragwürdiger wird die Tätigkeit derHilfsorganisationen, wenn sie indirekt zu Kompli-zen von Völkermord und Vertreibung werden. An-gesichts des humanitären Imperativs sind Hilfs-organisationen mehr oder weniger gezwungen, dieFolgen von Vertreibungen aufzufangen. Für die-ses Dilemma war der Krieg in Bosnien ebenfallsexemplarisch. Unter dem Druck der ethnischen, sys-tematischen Vertreibungspolitik verlangten großeTeile der Bevölkerung humanitäre Hilfe und denSchutz der großen Organisationen wie UNHCRoder IKRK, um vor den serbischen, kroatischen oderbosniakischen Milizen fliehen zu können. Damitwurde aber der Strategie der „ethnischen Säube-rung“ Vorschub geleistet. Die Hohe Kommissarinfür Flüchtlingsfragen dieser Zeit, Sadako Ogata,brachte dieses Dilemma auf den Punkt: „Wenn Siediese Menschen rausholen, werden Sie zu einemKomplizen ethnischer Säuberung. Wenn Sie sienicht rausholen, werden Sie zu einem Komplizenvon Mord.“3

Im Falle des bosnischen Konfliktes konnte Ogata dieFlüchtlingsversorgung noch damit rechtfertigen,dass tatsächlich Menschenleben gerettet wurden.Leider gibt es aber auch die noch grausameren Fälle,dass gerade Flüchtlingslager zu Zielen militärischerAngriffe werden – so wie es in den Kriegen in Libe-ria oder Sierra Leone immer wieder der Fall war.Hilfsorganisationen, die solche Flüchtlingslager un-terhalten und durch ihre Tätigkeit die Vertriebenenanziehen und lokal konzentrieren, werden dann un-gewollt Komplizen von Vertreibung und Mord. Ein weiteres Problem solcher Flüchtlingslager wur-de insbesondere in Ruanda im Sommer 1994 deut-lich. Die humanitären Korridore, die eigentlich dieverfolgte Tutsi-Bevölkerung schützen sollten, bo-ten letztendlich den Kämpfern der Hutu im Laufedes Vormarsches der Tutsi-Armee auf Kigali eineRückzugsbasis. Die permanente Installation der La-ger, die Versorgung durch die Hilfsorganisationenund die Kampfruhe auf dem Gebiet der Lager ha-ben diese in vielen Kriegsregionen zu Rekrutie-rungs- und Ausbildungszentren für die Kriegs-gruppen werden lassen. Sie dienen weiterhin oft alsVersteck für Waffen und als Rückzugsbasis fürKampftruppen. Der Schutz für die Zivilbevölkerung,der die Dauerhaftigkeit der Lager rechtfertigt, wirdsomit zu einem Deckmantel für kriegerische Aktivi-täten. In solchen Situationen verwischen nicht nurdie Grenzen zwischen Zivilisten und Kombattanten,sondern auch zwischen Opfern und Verursachernvon Leid. Die Idee der humanitären Hilfe beruhtaber auf einer eindeutigen Zuschreibung des Op-ferstatus – ein Verursacher von Leid hat per defini-tionem keine Hilfe nötig. Wenn diese Zuschreibungnicht mehr klar ist, wer hat dann noch Anrecht aufhumanitäre Hilfe?

FINANZIELLE ABHÄNGIGKEIT DERHILFSORGANISATIONEN

Militärischer Schutz für die Not leidende Bevölke-rung durch eine externe Macht könnte eine Lösungfür diese Dilemmata darstellen. Im Falle des ruan-dischen Völkermordes wurde diese Lösung auchvon Médecins Sans Frontières Frankreich eingefor-

dert und mit den humanitären Korridoren, die imRahmen der französischen MilitärinterventionOpération Turquoise eingerichtet wurden, ver-sucht. Diese Lösung aber versetzt die Hilfsorgani-sationen ebenfalls in eine schwierige Lage, dadurch die Intervention von Drittmächten in lokaleKonflikte die Grundsätze der Unabhängigkeit undder Neutralität gefährdet sind. Kein Staat der Weltkann glaubwürdig vertreten, dass seine militäri-sche Intervention ausschließlich humanitär moti-viert sei. Angesichts geostrategischer Interessenerscheinen Hilfsorganisationen aber nicht mehr alseigenständige Akteure, sondern als moralischePuffer für staatliche Politik. Für viele Kriegsherrenist es dabei unwichtig, ob die intervenierende mili-tärische Macht von einem Staat oder von der Staa-tengemeinschaft in Form von UN-Friedenstruppengebildet wird. Nicht umsonst verwahren sich diemeisten Hilfsorganisationen dagegen, dass mili-tärische Feldzüge „humanitäre Intervention“ ge-nannt werden.Dieser Streit um ihre Neutralität, den die Hilfsorga-nisationen mit den Staaten austragen, vertuschtaber die realen Gefahren der Instrumentalisierunghumanitärer Hilfe durch die Politik ihrer Geldgeber.Denn tatsächlich kann humanitäre Hilfe staatlichinstrumentalisiert werden. Das Mittel hierzu ist dieFinanzierung der Hilfsorganisationen. Diese sind ingroßem Maße von öffentlichen Geldern abhängig,auch wenn sich viele Hilfsorganisationen bemü-hen, einen Teil ihres Budgets über private Spendeneinzutreiben. Laut Joanna Macrae vom Oversea De-velopment Institute in London gelingt es aber nurden großen Organisationen, die Hälfte ihres Bud-gets über Spenden zu finanzieren. Kleinere Organi-sationen sind fast vollständig von öffentlichenGeldern abhängig.4

Dementsprechend sind die meisten Organisationennicht unbedingt dort, wo die Not am größten ist,sondern dort, wo die Geldgeber ihnen finanzielleMittel zur Verfügung stellen. Besonders eklatantwar dies 1999 nach den Bombardierungen derNATO in Jugoslawien zu beobachten. Der Großteilder Zerstörungen durch die Bombardierungenhatte in Jugoslawien stattgefunden, dort warenauch große Teile der Bevölkerung durch eben dieseZerstörungen arbeitslos geworden und alle Sozial-und Gesundheitsindikatoren zeigten bereits imHerbst 1999 und im Winter 2000 eine alarmierendeSituation an. Da aber nicht nur die Bomben, son-dern auch die Finanzmittel für humanitäre Hilfeaus den NATO-Ländern kamen, gab es im Herbst1999 im Kosovo eine internationale Hilfsorganisa-tion pro 7000 Einwohner5 und in Jugoslawien imFrühjahr 2000, das damals noch von Milosevic re-giert wurde, noch immer keine zwanzig für achtMillionen Einwohner.6

MEDIEN, POLITISCH „RELEVANTE“ KRISENUND GELDFLUSS

Öffentliche Geldgeber sind vor allem die Entwick-lungshilfe- und Außenministerien der OECD-Staa-ten, das Office for the Coordination of Humanita-rian Assistance (OCHA) der UN sowie das in der Eu-ropäischen Union 1994 eingerichtete EuropeanCommunity Humanitarian Office (ECHO). In sol-chen Krisen, die die nördlichen Staaten als politischrelevant ansehen, wird den Hilfsorganisationenmehr zur Verfügung gestellt. Wenn das Aufsehengar besonders groß ist, wie 1999, wird sogar nochein staatlicher Nachtragshaushalt hinterher ge-

schoben. Insbesondere bei ECHO, das inzwischender größte Geldgeber für humanitäre Hilfe ist, siehtdie Ausgabenkurve fast deckungsgleich mit derKurve der Medienaufmerksamkeit für bestimmteKrisen aus. Privatspenden steigen ebenfalls in demMaße an, in dem die Medien über die Landstricheund Krisen berichten. Auch die Nähe zum Ereignisspielt eine große Rolle. Die bis heute am stärkstenmediatisierte und in jeder Hinsicht überfinanzierteKrise war der Kosovokrieg 1999.Insgesamt bedeutet das, dass realiter das Leid in derWelt mit mehrerlei Maß gemessen wird. So hielt sich1999 hartnäckig das Gerücht, dass für jeden Dollar,der für einen Flüchtling in Ruanda ausgegebenwurde, 30 Dollar für einen Kosovo-Flüchtling zurVerfügung standen. Auch wenn diese Zahlen nichtgenau überprüfbar sind, so zeigen sie doch in ekla-tanter Weise den verschiedenen „Wert“ eines afri-kanischen und eines europäischen Opfers auf.Große humanitäre Hilfsorganisationen wie dasRote Kreuz oder Ärzte ohne Grenzen verfügen überdie Kapazitäten, auch mit großzügigen Finanzie-rungsangeboten so umzugehen, dass Projekte inanderen Weltregionen nicht gefährdet werden.Manchmal können sie sich sogar den Luxus leisten,öffentliche Gelder abzulehnen, wenn sie sich zusehr instrumentalisiert fühlen. Das heißt abernicht, dass die Bundesregierung oder ECHO oderandere Geberinstitutionen nicht ihr Geld loswer-den. Da wo viele Gelder sind, wird es auch vieleNichtregierungsorganisationen geben, die bereitsind, diese Gelder dort auszugeben, wo es ge-wünscht ist. Die Regionen der Welt, die von denGeberinstitutionen ignoriert werden, sind dann aufdie gesunde Haushaltsführung einiger großer Hilfs-organisationen angewiesen, die dort Projekte ausEigenmitteln durchführen können.

POLITISCHE INSTRUMENTALISIERUNGHUMANITÄRER HILFE

Aufgrund ihrer Finanzierungsmacht stehen denStaaten drei Möglichkeiten zur Verfügung, huma-nitäre Hilfe politisch einzusetzen. Zum ersten kannhumanitäre Hilfe dort zum Einsatz gebracht wer-den, wo militärisch nicht interveniert werden kannoder soll. Humanitäre Hilfe hat einen Platzhalteref-fekt. Sie beruhigt das öffentliche Gewissen. Dennes wird ja etwas getan, um Not leidenden Men-schen zu helfen – auch wenn nicht das wirklichNotwendige unternommen wird, nämlich die Be-endigung des bewaffneten Konfliktes. Manchmal entspringt die sicherheitspolitischeEnthaltsamkeit westlicher Staaten der Ratlosigkeitdarüber, wie diese kriegerischen Auseinanderset-zungen gelöst werden können. Die Bürgerkriege inAngola, in Liberia oder auch in Kambodscha und SriLanka dauerten (und dauern immer noch) mehrereJahrzehnte, ehe schwierige Verhandlungen einengewissen Zustand des „Nichtkrieges“ – von Friedenkann oft keine Rede sein – ermöglichten.Wissenschaftliche Untersuchungen haben zwargezeigt, dass von Dritten oktroyierte Friedensab-kommen in Bürgerkriegen von größerer Dauer sindals unter den Kriegsparteien verhandelte.7 Dochsind auch solche Friedensabkommen noch brüchigund – und dies ist in der konkreten Politik der wich-tigste Punkt – man weiß immer noch zu wenig dar-über, wie im jeweils konkreten Fall dem Töten einEnde gesetzt werden kann. Das Scheitern der Frie-densmission in Somalia 1993, die Brüchigkeit derFriedensabkommen in Angola, in Sierra Leone, in

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Humanitäre Hilfe – Das Dilemma der Hilfsorganisationen

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Kongo/Zaire oder im Tschad sind nur einige Bei-spiele für die Schwierigkeit, aktiv in „neue Kriege“zu intervenieren.

STAATLICHE PASSIVITÄT WEGENMANGELNDEM INTERESSE

Manchmal lässt sich die Passivität westlicher Staa-ten auf ihr mangelndes Interesse an dem entspre-chenden Landstrich zurückführen. Der Sudan ist si-cherlich ein gutes Beispiel hierfür. Das Land, das seitüber 30 Jahren im Bürgerkrieg ist, kommt immerwieder, meist während des medialen Sommerlochs,in die Schlagzeilen, so wie im Sommer 2004 mit denVertreibungen in der westlichen Region Darfur. DieKonfliktlage mit ihrer Vielzahl von Akteuren und In-teressenlagen ist für Außenstehende vollkommenunüberschaubar. Da das Land wirtschaftlich seit sei-ner Unabhängigkeit an der Peripherie der Welt dahin vegetiert, wenig Rohstoffe von großem In-teresse zu bieten hat, geostrategisch noch nie be-sonders relevant war und einzig als Hinterland desTerroristennetzwerkes Al-Qaida Aufmerksamkeitauf sich zieht, besteht die Reaktion auf die kriegeri-schen Grausamkeiten vor allem in einer morali-schen Empörung. So äußerte sich zwar der ehema-lige amerikanische Außenminister Colin Powell imSeptember 2004 entsetzt über die Massaker undVertreibungen in der westsudanesischen ProvinzDarfur und bezeichnete diese als einen Genozid. Erlehnte aber jede Form der militärischen Interventionab, obwohl die Charta gegen Genozid und Massen-mord nach einer militärischen Intervention im Fallevon Völkermord verlangt. Dieser völkerrechtlichenVorschrift zum Trotz behauptete Colin Powell: „DieFeststellung, dass es sich um einen Genozid handelt,diktiert keinen Handlungszwang. Bisher bezeichnennur wir die Situation als Genozid, nicht aber die in-ternationale Gemeinschaft.“8

Ein wieder anderes Szenario ist die militärischeEnthaltsamkeit aus Furcht, sich bei der Einmi-schung in die Konflikte die Finger zu verbrennen. Indiesen Fällen sind die internationalen Verknüpfun-gen so eng und interdependent, haben sich so vieleverschiedene Interessengruppen gebildet und sinddie Machtkonstellationen so beschaffen, dass dieOECD-Staaten es vorziehen, nicht direkt zu interve-nieren. Dies ist besonders der Fall, wenn einer derihren in den Konflikt direkt involviert ist. Der Scha-den, der durch eine direkte militärische Interven-tion begangen werden könnte, wird als sehr vielgrößer als irgendein Nutzen angesehen. Der Kon-flikt in Tschetschenien ist hierfür ein gutes Beispiel,aber auch der israelisch-palästinensische Konflikt.In beiden Fällen wird humanitäre Hilfe geleistet,aber politisch wird eine Konfliktlösung nur mit al-lergrößter Vorsicht angegangen.

HILFE ALS „NACHSORGE“ UNDKONDITIONALISIERUNG

Die zweite Art und Weise, wie humanitäre Hilfe ins-trumentalisiert werden kann, stellt das Gegenteilder soeben beschriebenen Form dar. HumanitäreHilfe kann auch als eine Art „Nachsorge“ nach ei-ner militärischen Intervention großzügig finanziertwerden. Dies war nach dem Krieg gegen den Irak imJahr 1991 der Fall, ebenso nach den Bombardierun-gen Jugoslawiens 1999 oder den im Jahr 2002 er-folgten Angriffen auf Afghanistan, die den Sturzdes Taliban-Regimes bezwecken sollten.

Die dritte Möglichkeit, humanitäre Hilfe zu instru-mentalisieren, besteht darin, sie als Konditionali-sierung für politisches Wohlbenehmen einzuset-zen. Humanitäre Hilfe wird zu einem Pfand für an-dere Verhandlungsgegenstände. Der eklatantesteFall hierfür ist sicherlich der Nordkoreas. Der be-ständigen Drohung des obskuren kommunisti-schen Regimes, Nuklearwaffen herzustellen odersogar zum Einsatz zu bringen, wird nicht nur mitdem Stock der Sanktionen und Repression begeg-net, sondern auch mit der Karotte humanitärerHilfe. Beobachter wie Michael Schloms9 oder dasfrühere Direktoriumsmitglied von Médecins sansFrontières Jean François sehen in der Erpressunginternationaler Hilfe sogar eines der ursprüngli-chen Ziele des nordkoreanischen Nuklearwaffen-programms.10 Humanitäre Hilfsorganisationen er-halten große Teile der nordkoreanischen Bevölke-rung am Leben, die ansonsten einer gravierendenHungersnot, die die Folge eines vollkommen un-produktiven und maroden Wirtschaftssystems ist,zum Opfer fallen würden. Andere Fälle, in denenhumanitäre Hilfe als Pfand fungierte, ist die groß-zügige Hilfe für Albanien und Mazedonien im Früh-jahr 1999 und danach, damit die Regierungen die-ser Länder trotz innenpolitischer Schwierigkeitendie große Zahl an Flüchtlingen aus dem Kosovoempfangen konnten.

GERINGE KOORDINIERUNG ZWISCHENDEN ORGANISATIONEN

Entgegen ihrem eigenen Anspruch, unabhängigund neutral zu sein, können sich also die humani-tären Hilfsorganisationen nicht dem Druck entzie-hen, den die Geberinstitutionen über ihrer Finanz-mittel auf sie ausüben. Humanitäre Hilfe verteiltsich dementsprechend ungerecht über die Welt. Einnicht unerheblicher Teil der Schuld für die Instru-mentalisierung liegt bei den Hilfsorganisationenselbst. Diese sind untereinander kaum koordiniert,denn das klassische Dilemma kollektiven Handelnskommt bei ihnen besonders stark zum Tragen. Jedeeinzelne Hilfsorganisation sieht mehr Vorteil darin,alleine zu handeln, alleine die Gelder der Geberins-titutionen einzustreichen, alleine in ein Einsatz-gebiet zu gehen und ihr Fähnlein in ihrem Flücht-lingslager aufzustellen, vor dem dann ihre Mit-arbeiter Fernsehinterviews geben, als mit allen anderen Hilfsorganisationen Strategien zur Finan-zierung und Projektplanung abzusprechen. Ge-meinsame Positionen sind schwer zu finden, da dieOrganisationen oftmals unterschiedliche Weltbil-der haben (manche haben einen religiösen Hinter-grund wie Caritas International, manche sind Ein-mann-Betriebe wie Cap Anamur, wieder andere se-hen sich als professionelle Serviceleister wie Ox-fam), verschiedene Meinungen zu zentralen Fragenwie der zivil-militärischen Zusammenarbeit pfle-gen und sie sich vor allem in Größe und Erfahrungerheblich unterscheiden. Kollektives Handeln wirddaher als zeitaufwändiger und kostspieliger ange-sehen als individuelles, auch wenn das Ergebniskollektiven Handelns für alle Vorteile bringenwürde.Gemeinsam hätten die Hilfsorganisationen gegen-über den Geberinstitutionen eine große Verhand-lungsmacht. Denn alle drei Formen der Politisie-rung humanitärer Hilfe durch die nördlichen Staa-ten verweisen darauf, dass diese die humanitärenHilfsorganisationen brauchen. Ohne humanitäreHilfe wären die internationalen Mandatschaften in

Bosnien, Kosovo oder Afghanistan nicht möglich.Ohne humanitäre Hilfe wäre auch die Akzeptanzvon kriegerischem Verhalten demokratischer Staa-ten in der Öffentlichkeit kaum zu rechtfertigen. Diestaatliche Politik braucht also die humanitäre Hilfe. Der Schaden, der durch die Politisierung der huma-nitären Hilfe angerichtet wurde, hat aber die Vor-teile individueller Strategien noch nicht so redu-ziert, dass die Organisationen einen Anreiz zumkollektiven Handeln hätten. Todesfälle von Mitar-beitern bleiben Einzelfälle und können der Nach-lässigkeit der einzelnen Organisation angelastetwerden. Skandale um das Versickern von Geldernoder um eklatante Missbräuche von Machtposi-tionen wie der Skandal um sexuelle Nötigung inwestafrikanischen Flüchtlingslagern, der 2001durch die Medien ging, werden meist schnell er-stickt oder ebenfalls einzelnen Organisationen, den„schwarzen Schafen“, bzw. einzelnen Mitarbeiternangelastet.

VEREINZELTE ANSÄTZE DERKOORDINIERUNG

Es wird zwar heutzutage in verschiedenen Kreisenan gewissen Fragen der Koordinierung gearbeitet –so hat die Rotkreuzbewegung versucht, mit demSPHERE-Projekt11 technische Qualitätsstandards zusetzen; es gibt Selbstverpflichtungen und Codes ofConduct12; auch über einen „Ombudsmann“ für dieHilfsbedürftigen wurde nachgedacht. In Deutsch-land wurde ein gemeinsamer Studiengang für hu-manitäre Hilfe eingerichtet. Weiterhin haben sichviele Organisationen im Humanitarian PracticeNetwork und im Active Learning Network for Ac-countability and Performance zusammengeschlos-sen, um Erfahrungen zu technischen Fragen auszu-tauschen, Standards zu harmonisieren und ge-meinsame Kontrollinstrumente zu entwickeln.Doch bleibt festzuhalten, dass diese Koordinierun-gen sich hauptsächlich auf technische Fragen be-ziehen und dass diese Netzwerke bei weitem nichtalle Organisationen umfassen. Im Gesamtbild blei-ben diese Versuche vereinzelt, inkohärent undmanche verlaufen im Sande wie das Ombuds-mann-Projekt, da es zwischen den Organisationenund auch zwischen den Netzwerken nur eine sehrwiderwillige und geringe Zusammenarbeit gibt.Aus diesem Grund sind auch alle diese Regelungenweit entfernt davon, über nationale Gesetzestexteeine legale Bindungskraft zu erhalten. Die Ver-pflichtungen sind damit auf allen Seiten gering: dieHilfsorganisationen können, müssen sich abernicht an die verschiedenen Codes of Conduct hal-ten, die an sich schon vage und allgemein formu-liert sind. Handlungsfähige Geberstaaten unterlie-gen fast gar keiner Verpflichtung, zu welchen Zwe-cken sie Gelder einsetzen oder ob und wie sie denWildwuchs der Hilfsorganisationen kontrollieren.

HUMANITÄRE HILFE SPIEGELT DIEMACHTVERTEILUNG

Humanitäre Hilfe ist in vielfacher Hinsicht in die re-alen Machtverhältnisse und Abhängigkeiten die-ser Welt eingewoben. Sie ist daher politisch nichtso unschuldig wie es der rein humanistische An-spruch vermuten ließe. Zunächst ist sie eine Hilfeder Reichen für die Armen. Die Vorstellung er-scheint absurd, dass eine Hilfsorganisation ausBangladesch eine Mission nach Florida, das von

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CATHERINE GÖTZE

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einem Wirbelsturm verwüstet wurde, schickenwürde. Internationale humanitäre Hilfe wird nurdort geleistet, wo die Gesellschaft sich nicht selberhelfen kann und Menschenleben wegen einemeklatanten Mangel an medizinischer Versorgung,Nahrungsmitteln und physischer Sicherheit ge-fährdet sind. Dies ist in Florida nicht der Fall, auchnicht nach einem Wirbelsturm, der einen hohenSachschaden anrichtet. Die amerikanische Gesell-schaft und der amerikanische Staat sind nicht nurreich genug, um medizinische Versorgung, Nah-rungsmittel und physische Sicherheit für ihre Bür-ger bereitzustellen, sondern sie verfügen auch übereine große Anzahl eigener Solidaritätsorganisatio-nen wie dem Roten Kreuz oder den Kirchen, die na-tional Hilfe leisten. Der Umstand, dass ein und der-selbe Wirbelsturm im September 2004 in Haiti über2000 Tote, in Florida aber keinen Todesfall verur-sacht hat, sagt viel über das Verhältnis von Armund Reich in der Welt. Humanitäre Hilfe ist weiterhin eine Hilfe der Mäch-tigen für die Ohnmächtigen. Nicht die Bedürfnisseder Bevölkerung bestimmen, wer Hilfe nötig hat,sondern die Macht der lokalen Kriegsherren unddie Interessen der Geberinstitutionen, die sich inihrer Finanzierungspolitik widerspiegeln. Die hu-manitären Hilfsorganisationen berufen sich in allden daraus entstehenden Dilemmasituationen aufihren Anspruch der politischen Neutralität undverwechseln dabei allzu oft „politisch neutral“ mit„unpolitisch“. Das Handeln humanitärer Hilfsorga-nisationen in Drittländern ist aber per se politisch.Die Hilfsorganisationen sind Fahnenträger des rei-chen Nordens, Vertreters einer westlichen „Ideolo-gie der Hilfe“, sie symbolisieren Dominanz durchden simplen Fakt, dass sie helfen können und dasssie entscheiden, wer Opfer ist, das ihrer Hilfe bedarfund wer nicht. Die Verteilung der humanitärenHilfe macht den „Wert“ verschiedener Regionen inder Welt deutlich – so grausam es generell ist,Flüchtling zu sein, so ist es allemal besser, einFlüchtling in Südosteuropa zu sein als in Zentrala-frika.Humanitäre Hilfe ist weiterhin eine Hilfe der Star-ken für die Schwachen. Die Kriege und Konflikte, indenen humanitäre Hilfe geleistet wird, meist ausErmangelung politisch relevanter Alternativen,sind zumeist Konflikte an der Randzone der sichglobalisierenden Welt. Es handelt sich um Regio-nen, in denen die staatliche Autorität zusammen-gebrochen ist, in denen die Bevölkerungen wider-sprüchlichen und konfliktreichen Modernisie-rungsfolgen ausgesetzt sind wie Verstädterung,Zerstörung traditioneller Wirtschaftszusammen-hänge und starker wirtschaftlicher Ausbeutung –vor allem in den Regionen, die über Rohstoffe ver-fügen, und die einem rapidem sozialem Wandelunterliegen. Trotz des gerne zitierten Vergleichs derhumanitären Hilfe mit der Notfallmedizin ist dieseHilfe nur noch selten sporadisch und kurzfristig. ImGegenteit – die Provisorien der Flüchtlingslager,der fliegenden Gesundheitsstationen und der kurz-fristig angelegten Nahrungsmittelhilfe werden zuDauereinrichtungen. Sie werden somit zu Projek-ten des Social Engineering in den Schattenzonendes Globalisierungsprozesses.

AUSWEGE SIND SCHWIERIG ZU FINDEN

Humanitäre Hilfe findet heutzutage in einem ganzanderen Kontext statt, als der, für den sie geschaf-fen wurde. Sie war als ein Element zur Humanisie-

rung der westeuropäischen Territorialkriege zwi-schen regulären Armeen gedacht. Sie sollte eine Ergänzung staatlichen Handelns sein und die na-tionalen Rotkreuzgesellschaften haben diese Er-gänzungsfunktion sogar in ihren Statuten festge-schrieben. In der Komplexität der Weltpolitik versuchte die neue Generation von Hilfsorganisa-tionen wie Médecins sans Frontières ihre Bewe-gungsfreiheit zu wahren, indem sie sich von dieserErgänzungsfunktion radikal abwand und ihre voll-kommene politische Neutralität und Unabhängig-keit deklarierten. Doch zeigen die aktuellen Dilemmata der humani-tären Hilfe, dass dies noch nicht ausreicht. Im Ge-genteil scheint es eher so, dass die humanitärenHilfsorganisationen sich ihre politische Unabhän-gigkeit nur dann werden wahren können, wenn siesich wieder mehr für den Staat interessieren. DieSchaffung staatlicher Autorität vor Ort kann nichtnur den Schutz für die Hilfsorganisationen erhö-hen, sondern vor allem die Situation der Hilfsbe-dürftigen verbessern. Gleichzeitig müssen sie ihrenEinfluss auf die Geberinstitutionen erhöhen, ummitbestimmen zu können, für welche Regionen un-ter welchen Umständen Gelder zur Verfügung ge-stellt werden.

HILFSORGANISATIONEN MÜSSENSTELLUNG BEZIEHEN

Hierzu gehört aber zunächst, dass die humanitärenHilfsorganisationen hinsichtlich der Situation invielen Kriegsregionen Stellung beziehen. Das Men-schenrecht auf Leben allein ist in der Komplexitätheutiger Konflikte eine immer dünnere Legitima-tion für humanitäres Handeln. Vielmehr müssendie allgemeinen Menschenrechte in den Konfliktsi-tuationen eingeklagt, Garantien für ihre Wahrunggefordert und Sanktionen für ihre Verletzung an-gedroht werden. Manche Organisationen gehenbereits diesen Weg, in dem sie Advocacy d.h. Lob-byarbeit zugunsten gefährdeter Bevölkerungen be-treiben und öffentlich internationale Abkommenwie den Internationalen Strafgerichtshof oder dasLandminenabkommen unterstützen. Doch handeltes sich hier um vereinzelte Organisationen, die zu-sätzlich noch untereinander minimal abgespro-

chen sind. Ihr Einfluss ist daher, von spektakulärenFällen abgesehen (wie z.B. das Drängen von Méde-cins sans Frontières Frankreich auf eine militäri-sche Intervention in Ruanda), gering. Aber selbst wenn eine Organisation die Konfliktsi-tuation, in der sie arbeitet, analysiert und dieseAnalyse sie dazu bringt, sich aus dem Einsatzgebietzurückzuziehen, bleibt der Gesamteffekt einer sol-chen Einzelaktion gering. Als Médecins sans Fron-tières zuerst in Äthiopien 1982 und dann später inNordkorea feststellte, dass der äthiopische bzw.nordkoreanische Staat die humanitäre Hilfe zu po-litischen Zwecken missbrauchte, zog sich die Orga-nisation aus dem Land zurück – und ihr Platz wurdein kürzester Zeit von einer konkurrierenden Nicht-regierungsorganisation eingenommen. Vielen Hilfsorganisationen fehlen die Kenntnisseund Personalkapazitäten, um gründliche Analysenihrer Einsatzgebiete und der Wirkung ihrer Hilfevorzunehmen. Für Letzteres stehen generell nursehr schlechte Messinstrumente zur Verfügungund oft sind sich die wissenschaftlichen Spezialis-ten selber nicht einig, welches die Ursachen derKonflikte sind und wie in ihnen am besten zu inter-venieren sei.

NEUDEFINITION DES HUMANITÄRENRAUMES IST ZENTRAL

Zentraler Punkt für die Tätigkeit der Hilfsorganisa-tionen ist die Neudefinition des humanitären Rau-mes. Die Rolle der Staaten als Garanten des huma-nitären Völkerrechts und als Schutz für humanitäreHilfe muss neu überdacht werden. Die Diskussio-nen um das „Einmischungsrecht“, die nach demGolfkrieg 1991 und der Hilfsaktionen für die kurdi-sche Bevölkerung im Norden des Landes unter-nommen wurden, boten hierzu Gelegenheit. Siewerden allerdings erst jetzt mit den Überlegungeneiner Reform der Vereinten Nationen wieder auf-genommen und bleiben mit einer Vielzahl von Fra-gen hinsichtlich der Legitimierung von Interventio-nen behaftet. Für die Hilfsorganisationen ist dieZusammenarbeit mit dem Militär ein zweischneidi-ges Schwert und auch hier herrscht keine Einigkeitunter den Hilfsorganisationen, welche Stellung siein der Diskussion um das „Einmischungsrecht“ ein-nehmen sollen.Manche Dilemmata lösen sich in einer längerenZeitperspektive wieder auf. Das ist vor allem derFall, wenn die Konflikt- oder Kriegssituation klarbeendet werden kann. Wenn es eine klar abge-grenzte Postkonfliktphase gibt, in der Flüchtlingeund Vertriebene wieder zurückkehren, in der Land-wirtschaft und andere ökonomische Tätigkeitenwieder aufgenommen werden können und in derakute Not abnimmt, können sich die Kompromisseund Verhandlungen mit den Kriegsparteien ge-lohnt haben, weil konkret Menschenleben gerettetwurden. Die Region Kosovo-Mazedonien-Albanienkönnte ein solcher Fall der Rückkehr zur Normali-tät werden, wenn es gelingen sollte, die Regionschlussendlich zu befrieden.

ENTWICKLUNGSHILFE UND HUMANITÄRE HILFE

Doch der Fall, dass die Kriegssituation eine Aus-nahme zu einem ansonsten nicht gewalttätigen, jasogar friedlichem Gesellschaftsleben darstellt, istextrem selten. Vielmehr gelten die meisten Krisen

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Humanitäre Hilfe – Das Dilemma der Hilfsorganisationen

UNSERE AUTORIN

Dr. des. CatherineGötze studierte Ge-schichte und Poli-tikwissenschaft ander UniversitätHannover, der FUBerlin und am In-stitut d’Etudes Poli-tiques de Paris. Von1997 bis 2002 warsie wissenschaftli-che Mitarbeiterin

am Wissenschaftszentrum Berlin und an ei-nem DFG-Projekt, das sich mit dem Themen-feld Humanitäre Hilfe beschäftigte, beteiligt.Seit 2002 ist Catherine Götze wissenschaft-liche Mitarbeiterin an der Hessischen Stif-tung für Friedens- und Konfliktforschung.

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als dauerhaft (protracted crisis) und stellen denNormalfall im Land dar. Seit langem wird daher dieForderung erhoben, Entwicklungshilfe und huma-nitäre Hilfe in der Form zusammenzubringen, dassden Konflikten die Grundlagen entzogen werden,indem politische Stabilität und wirtschaftliche Ent-wicklung in den Ländern etabliert werden. LangeZeit war diese Forderung des „Kontinuums“ an dieHilfsorganisationen gerichtet und schien eher demZweck zu dienen, die Entwicklungshilfe an die me-dial und finanziell attraktive humanitäre Hilfe an-zudocken. Ihr unterlag weiterhin die Vorstellung,dass Kriege ähnlich wie Naturkatastrophen plötzli-che, eruptive Ausnahmeerscheinungen einer Nor-malität seien, die es im Anschluss an die Nothilfewieder herzustellen gelte. Doch der Anschlag vom 11. September 2001 hatviele internationale Organisationen und die Regie-rungen der OECD-Staaten daran erinnert, dass dieKonflikte der Peripherie und die sie nährende poli-tische Instabilität und wirtschaftliche Armut nichtdauerhaft an der Peripherie bleiben werden. DieRaffinesse des Anschlags, die weite Verbreitung desAl-Qaida-Netzwerkes und die Internationalität der„Märtyrer“ machte schlagartig klar, dass Krieg,Konflikt und Elend in vielen Teilen der Welt wie Af-ghanistan oder Sudan eine Normalität ist, in derextremistische Widerstände aus der ganzen Weltgegen das westliche Modell herangezogen werden. Seitdem ist vor allem von Seiten der Geberinstitu-tionen, allen voran von der Weltbank und den USA,das Kontinuum erneut in den Vordergrund gerücktworden, diesmal aber nicht, um eine virtuelle Nor-malität herzustellen, sondern um Sicherheit zu ga-rantieren. Es geht dabei nicht mehr um Rekon-struktion, sondern um Konstruktion an sich: State-Building, Civil-Society-Building, Democracy-Buil-ding sind die Schlagwörter des neuen Konzepteszur Verknüpfung von Entwicklungs- und humani-tärer Hilfe. Dort, wo das neue Kontinuum-Konzept mit demKonzept „Recht der Einmischung“ verknüpft wird,entstehen neue Perspektiven auf einen humanitä-

ren Raum. Den Geberinstitutionen, die diesenneuen Ansatz vertreten, geht es nicht mehr nur umArmutsbekämpfung, sondern um umfassende In-terventionen in Krisenregionen, in denen mit mili-tärischen, entwicklungspolitischen und humanitä-ren Mitteln stabile Staaten hervorgebracht werdensollen. Administrative Schritte zur Umsetzung desKonzepts wurden bereits in mehreren OECD-Staa-ten durch die Schaffung von ministeriumsüber-greifenden Abteilungen für humanitäre Hilfe undHuman Security unternommen. Für humanitäre Hilfsorganisationen hat die Ver-stärkung dieses Konzeptes zwei Vorteile. Zum einenbesteht eine konkrete Hoffnung, dass humanitäreHilfe in Zukunft eher unter Schutz gestellt seinwird als bisher. Zum anderen enthebt die direkteEinmischung der OECD-Staaten in Krisen und Krie-ge die Hilfsorganisationen des Dilemmas, wie ihrHandeln, das immer auch eine Dominanz und so-mit politisch ist, legitimiert werden kann. Das Prob-lem, wie die eventuelle Favorisierung der einenüber die andere Kriegspartei, wie die Schaffung vonAbhängigkeitsstrukturen von der externen Hilfeoder wie die Komplizenschaft mit Menschenrechteverletzenden Kriegsgruppen legitimiert werdenkann, liegt nun nicht mehr bei den Hilfsorganisa-tionen, sondern bei den intervenierenden Staaten. Mit der Unabhängigkeit, die die humanitären Hilfs-organisationen gerne ihr eigen nennen, wird es al-lerdings, wenn die Konzepte von Linking Relief andHuman Security umgesetzt werden, ganz offiziellvorbei sein. Die bisher implizite Instrumentalisie-rung humanitärer Hilfe wäre dann Teil offizieller Si-cherheitspolitik. Die auf Eigeninitiative beruhendeorganisierte Sicherung der humanitären Grund-prinzipien ist also weiterhin notwendig, wenn diehumanitären Hilfsorganisationen an ihrer Autono-mie, die eine condition sine qua non für die Erfül-lung ihrer Mission ist, hängen. Einen sicheren Aus-weg aus den hier skizzierten Problemen humanitärerHilfe bietet demnach nur die Überwindung des Di-lemmas kollektiven Handelns und die Etablierung einer effizienten und koordinierten Verhandlungs-

macht der humanitären Hilfsorganisationen. Ein ko-ordinierter Ansatz kann helfen, einige der Dilem-mata vor Ort zu lösen, wenn zum Beispiel die eineOrganisation nicht mehr einfach gegen eine andereausgetauscht werden kann. Er kann auch dazu die-nen, dass auf die Realisierung der bereits schriftlichfestgelegten Normen des internationalen Systems,wie die Genfer Konventionen oder die Menschen-rechtscharta, gedrungen wird und internationaleInstitutionen wie der Internationale Strafgerichts-hof auch wirklich funktionstüchtig werden. Huma-nitäre Hilfe muss sich tatsächlich in ein Kontinuummit anderen internationalen Politikmaßnahmeneinordnen, allerdings müssen die Hilfsorganisatio-nen ihren Platz selber wählen.

ANMERKUNGEN1 Ein anderer Grund war die prinzipielle Ablehnung einer Löse-geldzahlung.2 Der Krieg ist aber auch nicht nur auf ethnische Animosität zu-rückzuführen. Die Komplexität seiner Ursachen und Dynamik kön-nen hier nicht dargestellt werden. Interessierte Leserinnen und Le-ser seien auf das ausgezeichnete Buch von Xavier Bougarei: Bos-nie – Anatomie d’un conflit. Paris 1996, La Découverte verwiesen.Auf Englisch ist eine ausgewogene Darstellung nachzulesen beiJasminka Udovicki/James Ridgeway (Hrsg.): Burn this House. TheMaking and Unmaking of Yugoslavia. Durham and London 1997,Duke University Press.3 Zit. nach Kirsten Young: UNHCR and ICRC in the former Yugos-lavia: Bosnia-Herzegovina. In: Revue Internationale de la Croix Ruge,83 (843), S. 781-805.4 Joanna Macrae/Adele Harmer (Hrsg.): Beyond the continuum:the changing role of aid policy in protracted crisis. Overseas Deve-lopment Institute, HPG Report 18.5 UNHCR: The Kosovo Refugee Crisis. An Independent Evaluationof UNHCR’s Emergency Prepardness and Response. 2000. Unter:www.unhcr.ch 6 Eigene Zählung im Frühjahr 2000.7 Roy Licklider (Hrsg.): Stopping the killing: how civil wars end.New York 1993; Peter Waldmann: Zur Asymmetrie von Gewalt-dynamik und Friedensdynamik am Beispiel von Bürgerkriegen undbürgerkriegsähnlichen Konflikten. In: Wilhelm Heitmeyer/Hans-Georg Soeffner (Hrsg.): Gewalt. Frankfurt am Main 20048 Le Monde v. 09.09.20049 Michael Schloms: North Korea and the Timeless Dilemma ofAid. Berlin 2000.10 Vgl. Jean François: Corée du Nord: un régime de famine. In: Esprit, Nr. 250/1999, S. 5–27.11 Das 1997 gegründete SPHERE-Projekt legt minimale qualitativeAnforderungen für Nothilfe fest. Vgl unter: www.sphereproject.org12 Der Code of Conduct ist ein Verhaltenskodex für Nichtregie-rungsorganisationen. Vgl. unter: www.ifrc.org/publicat/conduct/

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CATHERINE GÖTZE

Landeszentrale trauert um Hans-Joachim MannWir können die plötzliche und traurige Nachricht vom Tod unseres langjährigen Mitarbeiters und Kol-legen Hans-Joachim Mann noch immer nicht begreifen. Um seine angeschlagene Gesundheit wusstenwir, aber seine Kraft hatte schon manche Krise überwunden. Mit 64 Jahren hat er uns verlassen.Hajo Mann gehörte zu den Säulen der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg.Schon als Student der Politischen Wissenschaften, der Soziologie und des Öffentlichen Rechts in Tübingen arbeitete Hajo Mann als Referent und freier Mitarbeiter bei der Arbeitsgemeinschaft „DerBürger im Staat“, der Vorgängerorganisation der Landeszentrale. 1972 erhielt er eine feste Anstellungund prägte seitdem die Arbeit der Landeszentrale nachhaltig. Ob als Leiter der Außenstelle Stuttgartoder als Abteilungsleiter „Regionale Arbeit“ – Ziel seiner Bemühungen um die politische Bildung in der Demokratie waren kritische, aber engagierte Bürgerinnen und Bürger. Seit Beginn seiner Tätigkeit hat Hajo Mann immer versucht, Theorie und Praxis zusammenzubringen. Sein Motto hat er einmal so formuliert: „Man kann andere nicht zum Engagement auffordern und sich selbst vornehm zurück-halten“. Dieses Motto prägte auch sein partei- und kommunalpolitisches Engagement und seine viel-fältigen ehrenamtlichen Tätigkeiten.Hajo Mann war als Kollege beliebt und geschätzt. Auf seinen Rat und seine Offenheit konnte manstets bauen. Sein Tod ist für uns ein schmerzlicher Verlust.

Lothar Frick Christine KuntzschDirektor Personalratsvorsitzende

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Als weitere gewichtige Perspektive ist mit denzahlenmäßig und im Charakter stark erweiter-ten Auslandseinsätzen der Bundeswehr seit Beginn der 1990er-Jahre die Frage deutscherBeteiligung an so genannten humanitären In-terventionen hinzugekommen. Damit wird dieprimär historisch, am Holocaust orientierte Be-trachtung um eine aktuelle Dimension erwei-tert, die sich mit Fragen konkreten politischenHandelns befasst. Die Beschäftigung mit „Lehren aus dem Holocaust“ für deutschessicherheitspolitisches Handeln ist somit in ein neues Stadium „handlungsleitender Lehren“eingetreten.3 In der wissenschaftlichen Beschäf-tigung mit dem Thema Genozid findet diesepraktische sicherheitspolitische Dimension inDeutschland bisher jedoch wenig Beachtung.

URSPRÜNGE DES GENOZIDVERBOTES UND DEFINITIONEN

Als „das Verbrechen ohne Namen“ bezeichneteWinston Churchill den Völkermord. Er tat diesmit Blick auf die nationalsozialistischen Mas-senverbrechen. 1944 prägte Raphael Lemkin

den Begriff „genocide“ in seiner Studie überdie Besatzung der Achsenmächte im besetztenEuropa.4 Lemkin, ein polnisch-jüdischer Jurist,hatte bereits in den 1930er-Jahren dem Völ-kerbund die Verankerung der Ächtung vonrassischer oder ethnischer Ausrottung vorge-schlagen. Er konnte dem Holocaust durchEmigration in die USA entkommen, verlor je-doch seine gesamte Familie im nationalsozia-listischen Völkermord.5 Lemkin machte dasAnliegen einer Konvention gegen Genozid zuseiner persönlichen Mission. Er prägte denneuen Begriff genocide, der sich zusammen-setzt aus dem Altgriechischen genos (= Art,Spezie, Volk) und cide (= vom Lateinischencaedere = töten). Eine Kurzdefinition Lemkinsvon Genozid lautet: „Ein aus verschiedenenHandlungen bestehender, koordinierter Planzur Zerstörung wesentlicher Grundlagen desLebens nationaler Gruppen, mit dem Ziel derVernichtung dieser Gruppen selbst.“6

Die Vereinten Nationen verabschiedeten am 9. Dezember 1948 die Genozidkonvention undsie trat nach der Ratifizierung durch eine aus-reichende Zahl von Staaten am 12. Januar1951 in Kraft.

The only thing necessary for the triumph of evilis for good men to do nothing.

Edmund Burke (1729-1797)

GENOZID IST KEIN HISTORISCHES PHÄNOMEN

Eine Beschäftigung mit den Thema Genozidführt unmittelbar an die Abgründe menschli-chen Handelns und wirft gerade in einer glo-balisierten Welt tief greifende Fragen auch fürden „unbeteiligten Zuschauer“ auf. Genozid istkein historisches Problem, sondern stellt im-mer auch eine gegenwärtige Herausforderungan staatliches und nicht-staatliches HandelnDritter dar, wie aktuell die Situation in Darfur/Sudan vor Augen führt.Die wissenschaftliche Beschäftigung mit demThema Völkermord/Genozid ist in Deutschlanddurch drei hauptsächliche Perspektiven ge-prägt1:■ den Debatten um Singularität und Ver-

gleichbarkeit von Völkermorden, die sich an der Einzigartigkeit des Holocaust orien-tieren;2

■ den Fragen nach Erklären und Verstehenvon Völkermord(en);

■ den Fragen von wissenschaftlicher Bearbei-tung und Erinnerung – vor allem des Holo-caust.

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GENOZIDE UND UN-INTERVENTIONEN

Genozid: Lehren aus dem 20. Jahrhundert undHerausforderungen für das 21. JahrhundertPETER I. TRUMMER

Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundertder Genozide. Erst auf der Folie zweierWeltkriege und des nationalsozialisti-schen Völkermordes an den Juden verab-schiedeten die Vereinten Nationen imJahre 1951 die Genozidkonvention. Ge-nozid ist jedoch kein historisches Phäno-men. Mit Inkrafttreten der UN-Genozid-konvention offenbarten sich Widersprü-che zwischen der moralischen Glaub-würdigkeit und der mangelnden Inter-ventionsbereitschaft der internationa-len Staatengemeinschaft. Vor allem die zunehmenden UN-Blauhelmeinsätze in der letzten Dekade zeigen die Grenzenfriedenserhaltender und auch friedens-erzwingender Maßnahmen. Die von Pe-ter Trummer vorgestellten Fallbeispiele(Kambodscha und Ruanda) verdeutlichendie letztlich unzureichende Handlungs-fähigkeit der UN-Blauhelmeinsätze. Ef-fektives internationales Handeln – so die„Lehre“ aus diesen Fallbeispielen – kannnur gelingen, wenn eine abgestimmteStrategie, beginnend bei entsprechen-den Frühwarnsystemen bis hin zur Pro-jektion militärischer Macht, und ein po-litischer Wille zur Durchsetzung dieserStrategie existiert. Red.

DIE ERSTEN IDENTIFIZIERTEN 600 OPFER DES MASSAKERS VON SREBRENICA (1995) WERDEN AM 31.3.2003 BESTATTET. IM EHEMALIGEN JUGOSLAWIEN ZEIGTE SICH, DASS DIE UN-BLAUHELME IN SITUATIONEN GERIETEN, DIE SIE

ZWISCHEN REGULÄRE UND IRREGULÄRE KOMBATTANTEN BRACHTEN. OHNE ÜBER ENTSPRECHENDE EINSATZGRUNDSÄTZE

ODER KRÄFTE ZU VERFÜGEN, GELANG ES IHNEN NICHT, ZIVILISTEN ZU SCHÜTZEN. picture alliance / dpa

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Kritiker merken an, dass die Konvention alsKompromiss ideologisch unterschiedlich aus-gerichteter Regime den politischen Massen-mord durch eine Regierung an eigenen Staats-bürgern – quasi als innere Angelegenheit desStaates – nicht erfasst.8 Die Begrenzung bzw.Ausgrenzung zu schützender Gruppen, so beispielsweise Massenmord und Verfolgungwegen abweichender sexueller Orientierung,wurde in der wissenschaftlichen Diskussionebenfalls kritisiert und hat zu einer Reihe dif-ferenzierterer Definitionen geführt. Nach R. J.Rummel sind dies:■ Demozid (als Überbegriff): Die Ermordung

von Personen oder eines Volkes durch eineRegierung einschließlich Genozid, Politizidund Massenmord.

■ Politizid: Die Ermordung von Personen odereines Volkes durch eine Regierung wegenihrer Religion, Rasse, Sprache, Ethnie, na-tionalen Herkunft, Klasse, politischen Ein-stellungen oder zu politischen Zwecken.

■ Massenmord: Unterschiedsloses Töten vonPersonen oder eines Volkes durch eine Re-gierung.

Teilweise wird auch Staatsterror als eigene Ka-tegorie genannt, wie beispielsweise die Sta-linschen Säuberungen 1936–1938.9 Die Ta-belle mit den von Rummel angeführten Bei-spielen zeigt die Problematik klarer Zuordnun-gen deutlich (siehe Tabelle). Bemerkenswert ist dabei auch die Konzentra-tion auf Massenmorde als Staatsverbrechen.Per Definitionem werden somit nicht-staatli-che Terrortaten ausgeklammert!

UMFASSENDE DEFINITION: VERBRECHENGEGEN DIE MENSCHLICHKEIT

Als umfassendste Definition soll hier die der„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ange-

boten werden, wie sie im Statut von Rom desInternationalen Strafgerichtshofes (Interna-tional Criminal Court/ICC) definiert sind. Dortheißt es: „Persecution against any identifiablegroup or collectivity on political, racial, natio-nal, ethnic, cultural, religious, gender (...) or ot-her grounds that are universally recognized asimpermissable under international law...“10 Ge-nozid ist in diesem Kontext als das gravierend-ste Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuverstehen. Die Opfergruppen sind in der Defi-nition des ICC deutlich erweitert und eine Be-schränkung allein auf staatliche Täterschaftwird hier nicht mehr vorgenommen.Es bleibt festzustellen, dass die Vielfalt von Be-griffsdefinitionen in der wissenschaftlichenDiskussion eine Eingrenzung des Themas na-hezu unmöglich macht und die klare Benen-nung von Massenverbrechen erschwert.11

Innerhalb der verschiedenen theoretischenEingrenzungen und Definitionen konnte dieGenozid-Forschung jedoch wichtige Aussagenerarbeiten.12 So unter anderem die folgendenErkenntnisse: (1.) Die Tendenz totalitärer (undanderer nicht-demokratischer) Staaten, Teileihrer Bevölkerung zu ermorden und massiveMenschenrechtsverletzungen zu begehen. (2.) Die Genozide direkt oder indirekt auslösende,erleichternde, provozierende oder auch verde-ckende Rolle von Krieg. Vergleichende Untersuchungen zu Genozidenzeigen, „dass (1.) die meisten Täter Wiederho-lungstäter sind; (2.) große Ähnlichkeiten hin-sichtlich der politischen Exklusion und Diskri-minierung ethnischer Klassen vorliegen, wel-che wiederum Bewegungen hervorrufen, dieGenozide oder andere Formen staatlich sank-tionierter Massaker auslösen; (3.) wie erwar-tet am ehesten nicht-freiheitliche, autoritäreund kommunistische Einparteienstaaten (inaufsteigender Ordnung) dazu bereit sind, Ge-nozide zu verüben. So haben demokratische

Staaten in der gegenwärtigen Epoche keineGenozide an ihren Bevölkerungen begangen,auch wenn sie genozidale Regime in anderenRegionen schützten und unterstützten. Kom-munistische Einparteiensysteme hingegen ver-übten Genozide mit statistisch nachvollzieh-baren, deutlich höheren Häufigkeiten als an-dere autoritäre Staaten; und dass (4) Staaten,die in Kriege verwickelt sind, mit einer viel-fach höheren Wahrscheinlichkeit Genozide ver-üben als andere Staaten.“13

DAS JAHRHUNDERT DER VÖLKERMORDE

Das Studium historischer Fallbeispiele stelltein wichtiges Feld der wissenschaftlichen Be-schäftigung mit dem Genozid dar. Das Haupt-augenmerk ist hierbei auf das 20. Jahrhundertgerichtet, das Genozide in allen Kulturen undauf allen Erdteilen sowie im Kontext unter-schiedlichster Entwicklungsstufen bis hin zutechnisierten, „modernen“ Gesellschaften auf-weist. Der Holocaust und die nationalsozialis-tischen Massenverbrechen sind dabei der ambesten bearbeitete und dokumentierte Fall, esexistieren aber eine Reihe weiterer Massen-morde, die im einzelnen Fall Hunderttausendebis Millionen Opfer verursacht haben.14 Allzuoft fanden und finden Völkermorde nur ge-ringe Aufmerksamkeit in den Medien oder zuspät. Auch die museale Repräsentation vonVölkermorden – mit Ausnahme des Holocaust– findet bisher erst in Ansätzen statt und be-zieht sich dabei fast ausnahmslos auf natio-nale Perspektiven. Eine bemerkenswerte Aus-nahme ist die 2002 eröffnete Ausstellung „Cri-mes Against Humanity“ im Imperial War Mu-seum in London, die sich mit Verbrechengegen die Menschlichkeit im globalen Maß-stab beschäftigt.Selbst die Thematisierung historischer Völker-morde bricht immer wieder auch nationale Ta-bus oder Tabus nationalistischer Gruppen undführt nicht selten zu heftigen Abwehrreaktio-nen. Für die deutsche Diskussion über den Bei-tritt der Türkei zur Europäischen Union ist hiervor allem auf das Beispiel des türkischen Völ-kermordes an den Armeniern von 1915 zu ver-weisen.15 Die Evangelische Kirche in Deutsch-land (EKD) sah im November 2004 unteranderem „in der bisherigen Leugnung des Ge-nozids an den Armeniern“ ein entscheidendesBeitrittshindernis der Türkei zur EuropäischenUnion.16 Für die Formulierung der Genozidkon-vention der Vereinten Nationen spielte nebendem Holocaust – in nachgeordneter Bedeutung– auch der Genozid an den Armeniern eineRolle.Die Bandbreite wissenschaftlicher und öffent-licher Beschäftigung mit Fällen von „Verbre-chen gegen die Menschlichkeit“ reicht heutevon Fragen des (historischen) Sklavenhandelsüber die Behandlung der Ureinwohner in Ame-rika und Australien, von Massenverbrechen derKolonialzeit bis hin zum modernen Luftkrieg.

WIE GLAUBWÜRDIG IST DIEINTERNATIONALE STAATENGEMEINSCHAFT?

Eine offene Frage moralischer Glaubwürdig-keit vor allem für die Vereinten Nationen und

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PETER I. TRUMMER

Nach Artikel II wird Völkermord/Genozid darin definiert als: „… eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale,ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:

(a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;

(b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;

(c) Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;

(d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;

(e) Gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“7

Beispiele für Demozid laut R. J. Rummel (aus: I.W. Charry (Hrsg.): Encyclopedia of Genocide. Bd. I, S. 22. Demozid umfasst:

Genozid: – NS-Morde an Juden und Sinti/Roma;– Morde der Roten Khmer an Vietnamesen in Kambodscha/Kampuchea;– Sowjetische Morde an Wolga-Deutschen.

Politizid: – Hitlers „Säuberung“ der SA im Jahr 1934;– Morde der Vietminh an nationalen Südvietnamesen;– Libysche Bombenattentate auf zivile Passagiermaschinen.

Massenmorde/Massaker: – NS-Vergeltungsmaßnahmen in Jugoslawien im Zweiten Weltkrieg;– Japanische Besatzung Nankings (Japanisch-chinesischer Krieg 1936).

Terror: – Todesschwadrone in Guatemala (Bürgerkrieg);– Stalinistische Säuberungen der KP 1936-1938;– Die „Verschwundenen“ in Argentinien.

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für westliche Regierungen war spätestens mitdem Inkrafttreten der UN-Genozidkonvention1951 die Frage nach dem Eingreifen im Falleeines erkennbaren Genozids. In der prakti-schen Umsetzung erwiesen sich die „Lehrenaus dem Holocaust“ als weit weniger eindeu-tig als es auf den ersten Blick erscheinen mag.In Zeiten des sich verfestigenden Ost-West-Konfliktes waren allzu oft geostrategische In-teressen der Supermächte Sowjetunion undUSA gewichtiger als die Bereitschaft zur Dul-dung der Intervention des geostrategischenKonkurrenten in einem Fall von Völkermord.Das Prinzip der „Nichteinmischung in die inne-ren Angelegenheiten eines Staates“ bildetedamit das vorrangige Prinzip.Zudem fand sich in der Nachkriegszeit mit Jo-sef Stalin ein Führer an der Spitze der Sowjet-union, der selbst für millionenfache Massen-morde verantwortlich war und wenig Neigungzeigte, dieser Frage Vorrang vor machtpoliti-schen Interessen zu geben.17 Aber auch west-liche Regierungen waren in Zeiten verstärkterEntkolonialisierungsbestrebungen und derengewaltsamer Unterdrückung durch Kolonial-regime wenig geneigt, das Prinzip der Nicht-einmischung zu durchbrechen und dadurchmögliche Präzedenzfälle zu schaffen, die eige-nen Interessen schaden konnten. Vor allem dieblutigen sub-konventionellen Konflikte nach1945 in Afrika und Asien hatten nicht seltenihre Wurzeln in kolonialherrschaftlichen Struk-turen und Beharrungsbestrebungen.18 Des ei-nen „Befreiungsbewegungen“ erwiesen sichdabei in der Regel als des anderen „Banden“

und „Terroristen“ und wurden von der einenSupermacht unterstützt, um im „indirekten“Kampf die gegnerische Supermacht zu schwä-chen oder deren Kräfte zu binden. Exempla-risch können hierfür die Kriege in Vietnam undAfghanistan genannt werden.

DIE UNO ALS AKTEUR GEGEN GENOZID

Bei ihrer Gründung 1945 wurden viele Hoff-nungen in die Vereinten Nationen gesetzt, vorallem in Hinblick auf eine internationale Frie-densordnung nach zwei verheerenden Welt-kriegen und millionenfachen Massenmorden.Das geostrategische Ringen zwischen denUSA, der Sowjetunion und ihren jeweiligenBündnissystemen spiegelte sich auch im wich-tigsten Organ der Vereinten Nationen, dem Si-cherheitsrat, wider. Dort kam es immer wiederzu Blockaden mittels Veto, wenn bei Resolu-tionen des UN-Sicherheitsrates die jeweiligennationalen Interessen gefährdet schienen. Das„Jahrhundert der Völkermorde“ erlebte somitbis in die späten 1980er-Jahre, dass die „Leh-ren aus dem Holocaust“ und auch die UN Ge-nozidkonvention in der realen Umsetzung re-lativ wenig bedeuteten für von Völkermordbedrohte Gruppen. Selbst die so genannten UN-Blauhelmope-rationen als friedenssichernde Maßnahmenfinden keine explizite Grundlage in der UN-Charta. Sie sind ein Kompromiss aus Zeiten derBlockkonfrontation und werden als „KapitelSechseinhalb“ der UN-Charta zwischen Kapitel

VI (Die friedliche Beilegung von Streitigkeiten)und Kapitel VII (Maßnahmen bei Bedrohungoder Bruch des Friedens und bei Angriffshand-lungen) angesiedelt.19 Die Blauhelmeinsätzeder UNO basieren grundsätzlich auf Resolutio-nen des Sicherheitsrates und setzen die Zu-stimmung der Konfliktparteien voraus. In Situ-ationen eines akut drohenden Völkermordeserschienen solche Einsätze als das bestmögli-che Mittel, das der UNO zur Verfügung stand.Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes durchdas Zerbrechen des Ostblocks und der Sowjet-union ergaben sich Ende der 1980er-Jahre fürdie Vereinten Nationen neue Spielräume fürfriedenserhaltende und auch friedenserzwin-gende Maßnahmen.20 Die Zahl der UN-Blau-helmeinsätze vervielfachte sich Anfang der1990er-Jahre und eine Reihe von Verbesse-rungsvorschlägen wurden initiiert, so bei-spielsweise durch den UN-GeneralsekretärBoutros Ghali 1992/93 in der „Agenda für denFrieden“. Die jährlichen Ausgaben für UN-Pea-cekeeping erhöhten sich von 234,7 MillionenUS-Dollar im Jahr 1986 auf 3,6 Milliarden US-Dollar im Jahr 1993. Die hohen Kosten, aberauch der Mangel an Blauhelmsoldaten, dievon den Mitgliedsstaaten der UNO freiwillig zustellen sind, zeigten schon bald die Grenzender Blauhelmeinsätze auf. Zudem erfüllten ei-nige der großen UN-Missionen die in sie ge-setzten Erwartungen nicht. Vor allem die Ein-sätze in Kambodscha/Kampuchea (ab 1991UNTAC = United Nations Transitional Autho-rity in Cambodia), die den Weg in eine stabilepolitische Zukunft Kambodschas ebnen sollten

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Genozid: Lehren aus dem 20. Jahrhundert und Herausforderungen für das 21. Jahrhundert

FRANZÖSISCHE BLAUHELM-SOLDATEN ARBEITEN AM

30. JULI 1992 AN DER

BEFESTIGUNG IHRES LAGERS

IN SARAJEVO.picture alliance / dpa

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und das Versagen bei der Verhinderung desGenozids in Ruanda 1994 sollen hier näher be-leuchtet werden.

KAMBODSCHA 1992-1993 (UNTAC)

Kambodscha hatte unter den Roten Khmer zwi-schen 1975 und 1979 einen der großen Völ-kermorde des 20. Jahrhunderts durchlebt, der zwischen ein und zwei Millionen Menschen dasLeben kostete. Die Weltgemeinschaft hatte diesem Genozid nahezu tatenlos zugesehenund sich auf verbale Verurteilungen be-schränkt. 1979 intervenierte das benachbarteVietnam – bezog sich dabei in seiner Begrün-dung für das Eingreifen jedoch explizit nicht auf Nothilfe zur Beendigung des Völkermordes,sondern auf bewaffnete Grenzübergriffe durchTruppen der Roten Khmer. Die Roten Khmer zogen sich in den Dschungel zurück und be-gannen einen Guerillakrieg. Die Regierungsge-schäfte übernahmen kambodschanische Kräf-te, die von Vietnam massiv im Kampf gegen dieRoten Khmer unterstützt wurden. 1991 konnteschließlich in Paris ein Friedensabkommen zwi-schen den Konfliktparteien ausgehandelt wer-den. Dies bedeutete jedoch auch, dass Vertreterder Roten Khmer an der politischen Macht be-teiligt wurden.21 Die UNTAC-Mission dauertevon März 1992 bis September 1993 und solltein der Folge unter ständigen Blockaden durchdie Roten Khmer leiden. Die internationale Kri-tik bezog sich aber auch auf die geringen Ergeb-nisse, die mit hohem finanziellen und personel-len Aufwand erzielt wurden. UNTAC hatte inseiner Hochphase über 22.000 UN-Mitarbeiterund Soldaten in Kambodscha und die geschätz-ten Kosten für das Programm beliefen sich aufüber 2 Milliarden US-Dollar. Die massive Kauf-kraft der UN-Mitarbeiter führte im Land raschzu einer galoppierenden Inflation mit all ihrenNachteilen für die arme Bevölkerung sowie zueinem Ansteigen der Prostitution und der Zahlvon AIDS-Erkrankungen. Mit 78 getöteten An-gehörigen der UNTAC wies die Mission für ihrekurze Dauer zudem eine hohe Verlustzahl auf.22

Bis heute streiten sich Experten, ob die UNTAC-Mission letztlich eine teure aber erfolgreicheMission oder aber das Paradebeispiel einer ver-fehlten Mission ist. UNTAC stellte eine Missiondar, die noch gemäß der klassischen Blauhelm-Prinzipien in einer Situation nach Ende einesKonfliktes (post-conflict-situation) operierte.Die internationale Aufmerksamkeit hatte sichzur Hochphase der UNTAC-Mission bereits aufdie Krisen des Balkans verlagert. Nach 1992führten nicht zuletzt die Erfahrungen auf demBalkan und in Somalia zu Einsätzen einer neuenQualität, die über die klassischen Blauhelm-Missionen hinausgingen.

ERFAHRUNGEN AUF DEM BALKANFÜHREN ZU NEUER QUALITÄT

Die UN-Schutztruppe UNPROFOR (Februar1992 bis Dezember 1995)23 im ehemaligen Ju-goslawien mit Schwerpunkt auf Kroatien undab Juni 1992 Bosnien-Herzegowina war zuBeginn von klassischen Blauhelmansätzen ge-prägt. Es zeigte sich bald, dass die Blauhelmedamit in Situationen gerieten, die sie zwischenreguläre und irreguläre Kombattanten brach-ten ohne über die entsprechenden Einsatz-grundsätze oder Kräfte zu verfügen, um bei-spielsweise bedrohte Zivilisten zu schützen.Blauhelme wurden sogar selbst als Geiseln ge-nommen. Den Tiefpunkt stellte jedoch im Juli1995 die Aufgabe der Schutzzone von Srebre-nica durch niederländische Blauhelme dar, dieein Massaker serbischer Kräfte an Bosniern zurFolge hatte, dem schätzungsweise 7.000 Men-schen zum Opfer fielen.24

Die Forderungen nach so genannten „robustenMandaten“, die den Waffeneinsatz für UN-Soldaten nicht nur zum Selbstschutz ermögli-chen, wurden in der Folge umgesetzt. In Bos-nien-Herzegowina und dem Kosovo wurdenab Herbst 1995 diese Aufgaben von NATO-Kräften übernommen. Die Vereinten Nationenwurden in dieser Phase der Krise des UN-Pea-cekeeping zeitweise marginalisiert. Dies nichtzuletzt, als auch die Mission im Bürgerkrieg

verfeindeter Clans von Warlords in Somalia(UNOSOM II, 1993–1995) als gescheitert an-gesehen werden musste.25

Eine Reihe erfolgreicherer Missionen, wie bei-spielsweise in Ost-Timor, traten dabei in denHintergrund. Negative Erfahrungen mit UN-Missionen und die Verlustraten unter UN-Sol-daten ebneten auch den Weg zu einer derdunkelsten Stunden der UNO: dem Nicht-Handeln im Fall des Genozids in Ruanda 1994.

DER GENOZID IN RUANDA

Innerhalb von 13 Wochen nach dem 6. April1994 wurden im Völkermord im zentralafri-kanischen Ruanda zwischen 500.000 und800.000 Menschen ermordet.26 Die herrschen-den Hutu-Extremisten töteten dabei systema-tisch Angehörige der Tutsi, Tutsi-Mischlingeund gemäßigte Hutu, die sich dem Mordenentgegen stellten oder die Beteiligung verwei-gerten. In der ehemaligen belgischen Koloniestellten die Hutu mit rund 85 Prozent dieMehrheit im Land gegenüber den Tutsi (rund14 Prozent) und den Twa (ca. 1 Prozent).27 DieZahl der getöteten Tutsi bedeutete den Verlustvon rund 75 Prozent ihrer Bevölkerungs-gruppe in Ruanda. Hintergrund war ein lang-jähriger Bürgerkrieg der Regierung gegen dievon Tutsi dominierte Ruandische Patriotische

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PETER I. TRUMMER

VÖLLIG ZERFETZTE SCHUHSOHLEN EINES JUNGEN HUTUS,DER AUF EINEM DREITAGEMARSCH NACH GASHOHO

(BURUNDI) FLOH (AUFGENOMMEN AM 1. APRIL 1995).ZWEI MILLIONEN HUTUS FLÜCHTETEN VOR DER

TUTSI-GEFÜHRTEN PATRIOTISCHEN FRONT (RPF) NACH

ZAIRE/KONGO UND TANSANIA. NOCH JAHRE NACH DER

UNTERBLIEBENEN INTERVENTION ZUR VERHINDERUNG

DES GENOZIDS IN RUANDA WIRKT DAS VERSAGEN

DER INTERNATIONALEN STAATENGEMEINSCHAFT IN DER

REGION NACH. picture alliance / dpa

Saupe
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Front (RPF). Anlass bildete am 6. April 1994 derbis heute ungeklärte Abschuss der Präsiden-tenmaschine bei der Rückkehr von einemStaatsbesuch im Nachbarland, bei dem der ru-andische Präsident Habyarimana und der Prä-sident von Burundi getötet wurden. PräsidentHabyarimana hatte kurz zuvor dem Friedens-abkommen von Arusha zugestimmt, das eineÜbergangsregierung auf breiter Basis vorsah. Im Land befand sich seit Oktober 1993 die UNAssistance Mission For Ruanda (UNAMIR) un-ter Leitung des kanadischen Generals Dallaire.Mit 2.500 Soldaten, hauptsächlich aus Bel-gien, war die Mission unter ihrer Sollstärke.Zudem fehlte es an grundsätzlichen Ausrüs-tungsgegenständen.Der Massenmord kam keinesfalls als unerwar-teter, quasi naturmächtiger Ausbruch überRuanda. Vielmehr hatte es zahlreiche Hinweiseund Warnungen beispielsweise über Todeslis-ten und die Bewaffnung militanter Gruppie-rungen gegeben. General Dallaires alarmie-rende Berichte an den UN Sicherheitsrat blie-ben jedoch unbeachtet oder wurden herunter-gespielt.28 Studien betonen immer wieder, dassin dieser frühen Phase ein relativ kleines mili-tärisches Kontingent mit einem aktiven Auf-trag ausgereicht hätte, um den Völkermord zu verhindern.29 Auch die nationalen AkteureFrankreich, Belgien und die Vereinigten Staa-ten waren über die Situation gut informiert,unterließen jedoch mögliche Schritte. Statt-dessen reduzierte Belgien nach der Ermordungbelgischer Soldaten sein Kontingent weiter.Ausländische Truppenkontingente wurden zurEvakuierung von westlichen Staatsangehöri-gen eingesetzt, zogen sich danach jedoch zu-rück und versagten dem verbleibenden UN-Kontingent General Dallaires jegliche Unter-stützung. Selbst eine öffentliche Aufforderungder extremistischen Hutu-Führung zur Einstel-lung des Mordens unterblieb wochenlang.30

Bis heute bleibt es schwierig, die exakten Dis-kussionen in den geheimen Sitzungen des UN-Sicherheitsrats nachzuvollziehen. Am 29.April, der Genozid war in vollem Gange, ver-suchte der neue Vorsitzende des Sicherheits-rates, der neuseeländische Botschafter ColinKeating, die Mitglieder davon zu überzeugen,dass in Ruanda ein Völkermord vorlag. Die bri-tischen, amerikanischen und chinesischen Re-präsentanten im Sicherheitsrat lehnten denBegriff „Genozid“ jedoch entschieden ab! Dieinternationale Medienberichterstattung warebenfalls gekennzeichnet durch verharmlo-sende Begriffe wie „anarchische Stammeskon-flikte“, „traditionelle Feindschaften“, „ethni-sche Zusammenstöße“, die den wahren Gege-benheiten in keiner Weise gerecht wurden.31

Zur gleichen Zeit spielten Medien in Ruandafür die Steuerung und die Beschleunigung desGenozids eine wichtige Rolle. Vor allem die Radiostation RTLMC (Radio Télévision Libredes Milles Collines) forderte in Sprachbeiträ-gen und speziell getexteten „Schlachtgesän-gen“ zum Morden auf.32

„Die Mörder hatten zu Recht auf die interna-tionale Passivität gezählt. Erst nach drei Wo-chen des Blutbades begann die internationaleGemeinschaft den Völkermord als das zu se-hen, was er war, und es dauerte drei Monate,bis Soldaten entsandt wurden, die ihm Einhaltgebieten sollten.“33 Zu diesem Zeitpunkt – im

April 1994 – hatte die Ruandische PatriotischeFront (RPF) die Hauptstadt Kigali eingenom-men und die Hutu-Extremisten vertrieben. ImZeitraum von April bis August 1994 wurdenvon der RPF ihrerseits als Vergeltung zwischen25.000 und 45.000 Menschen getötet.34 Mitder drohenden Niederlage der Hutu-Regie-rung startete die französische Regierung die„Opération Turquoise“ mit Schwerpunkt aufden Südwesten Ruandas (23. Juni bis 21. Au-gust 1994). Kritiker werfen der französischenOperation vor, primär flüchtenden Hutu-Ex-tremisten eine Schutzzone vor der nachset-zenden RPF-Guerilla geschaffen zu haben. Dieinternationale Berichterstattung konzen-trierte sich in dieser Phase auf die katastro-phalen Zustände und das massenhafte Ster-ben von Hutu-Flüchtlingen in den Flüchtlings-lagern in und um Goma im benachbartenZaire/Kongo. Völkermord und Bürgerkrieg inRuanda führten in der Folge zu einer Destabi-lisierung der gesamten Region um die zentral-afrikanischen Seen mit weiteren Opferzahlenin Millionenhöhe. Auch über zehn Jahre nach der unterbliebenenIntervention zur Verhinderung des Genozids inRuanda wirkt dieses gravierendste Beispiel fürdas strategische Versagen der Vereinten Na-tionen nach.35 Es wirft Fragen auf für zukünf-tiges Handeln bei drohendem oder bereits ein-setzendem Genozid.

„LEHREN“ FÜR HANDELN GEGEN GENOZIDIM 21. JAHRHUNDERT?

Der Journalist David Rieff stellte 1996 bitterfest: „Das Versagen, entschieden in Bosnien zuintervenieren, suggerierte, dass die rhetori-sche Feststellung des ‚Niemals Wieder‘, die mitder Erinnerung an den Holocaust verbundenist, nicht mehr bedeutet als ‚Niemals Wieder‘würden Deutsche die Juden im Europa der1940er-Jahre töten.“36 Der Forscher R.J. Rum-

mel erklärte 2002 zum Thema „Lehren“ ausGenoziden des 20. Jahrhunderts: „Statt des‚Niemals Wieder‘ ist es eine Tatsache, dass Ge-nozid in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-derts wieder auftauchte und wieder und wie-der und wieder.“37

Abschließend soll der Versuch unternommenwerden, drei mögliche Kriterien für ein effek-tives internationales Handeln gegen Genozidzu erarbeiten. Das Hauptaugenmerk liegt hier-bei auf konkreten Mitteln, die kurz- und mit-telfristig wirksam werden.38

FRÜHWARNUNG

Eine Voraussetzung für frühzeitiges Handelngegen Genozid sind Instanzen, die Frühwarn-aufgaben übernehmen. Die den Großmächtenzur Verfügung stehenden technischen Aufklä-rungsmittel, wie beispielsweise hochfliegendeLuftaufklärung, Satelliten und elektronischeAbhörmaßnahmen sind hierfür in der Regelohne „menschliche Quellen“ nur bedingt alsFrühwarnmittel nutzbar. Massenmorde, die sich nicht auf atomare, bi-ologische oder chemische Waffen stützen, wieim Falle Ruandas, bedürfen der organisa-torischen Vorbereitung. Um flächendeckendinnerhalb eines kurzen Zeitraumes von meistwenigen Monaten Ausrottungspläne in die Tat umzusetzen, müssen potenzielle Mörderindoktriniert, rekrutiert, trainiert und ausge-rüstet sowie informelle Gruppen strukturiertwerden. Prozesse, die auch in Flächenländernwie Ruanda nicht unbemerkt bleiben. NachRuanda wurden im Vorfeld der Massaker beispielweise Tausende von Macheten impor-tiert. Kirchenvertreter und Hilfsorganisationen(NGOs) berichteten von der Registrierung po-tenzieller Opfer. Es wurden „Selbstschutzver-bände“ organisiert, die als Grundstruktur fürdie späteren Mordaktionen dienten. Angehö-rige der Streitkräfte und der Sicherheitsorganebildeten die Speerspitze für den Massenmord,das Morden in der Fläche wurde jedoch von ir-regulären Verbänden verübt. Die Kombinationregulärer und irregulärer Verbände ist dabeiein immer wieder zu beobachtendes Phäno-men. Die medial-propagandistische Schaffungeines Klimas für Völkermord erstreckt sichüber einen längeren Zeitraum und kann somitnicht unbeobachtet bleiben. Sie sind Indizienfür geplante Aktionen.

FRÜHZEITIGE KOMMUNIKATION VONABSICHTEN UND GRENZEN

Bei Anzeichen von Vorbereitungen zum Geno-zid müssen deutliche nationale und internatio-nale „Grenzsetzungen“ erfolgen. In der Vergan-genheit hat sich kein noch so totalitäres Regimeals immun gegenüber internationaler Kritikoder gar Ächtung gezeigt. Wie stark durch ver-bale Verurteilung mörderische Regime zu be-einflussen sind, entscheidet sich im konkretenFall. Selbst das Regime in Ruanda reagierteEnde April 1994 auf internationale Missbilli-gung und versuchte, das Morden durch eine geänderte Taktik zu vertuschen. Sie rief eine„Phase der Befriedung“ aus und schränkte un-kontrolliertes Morden ein.39

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Genozid: Lehren aus dem 20. Jahrhundert und Herausforderungen für das 21. Jahrhundert

UNSER AUTOR

Peter I. Trummer ist Politikwissen-schaftler und Refe-rent bei der Lan-deszentrale für politische BildungBaden-Württem-berg. Er hat Lehr-aufträge an derUniversität Karls-ruhe für NeuesteGeschichte sowie

für Internationale Politik an der Internatio-nalen Universität in Bruchsal und der Uni-versität Mannheim. Seine Forschungs- undArbeitsschwerpunkte sind: InternationaleBeziehungen, Friedens- und Sicherheitspoli-tik, Konfliktforschung sowie Erinnerungskul-tur und Holocaust-Forschung. Er ist Leitereines Projektes der LpB zu Muslimen in Ba-den-Württemberg, das von der Landesstif-tung gefördert wird.

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Selbst ohne die Androhung militärischer Inter-vention kann nicht unerheblicher Druck aufein Regime ausgeübt werden, beispielsweisedurch die Drohung mit internationaler Straf-verfolgung und der Verhängung internationa-ler Reisebeschränkungen. Die Einrichtung desInternationalen Strafgerichtshofes und dieBeispiele der Prozesse gegen Täter in den Bal-kankriegen können als Verschärfung der Ab-schreckung gewertet werden. Eine weitereMöglichkeit ist das Einfrieren internationalerGuthaben von Personen. Gerade erweitertegesetzliche Regelungen zur Bekämpfung desinternationalen Terrorismus haben hier schär-fere Maßnahmen ermöglicht. Ein Wirtschaftsembargo oder ein Embargo vonWaffenlieferungen sind dagegen eher Maß-nahmen mit mittel- und langfristiger Wir-kung. Wirtschaftsembargos treffen zudem diegesamte Bevölkerung und können sogar zu ei-ner Verschärfung des Klimas gegen eine vomGenozid bedrohte Gruppe zur Folge haben.

ANDROHUNG MILITÄRISCHER AKTIONEN

Westliche Staaten, allen voran die USA, unddie Russische Föderation verfügen über dieFähigkeit zur schnellen Projektion militäri-scher Macht. Im regionalen Kontext haben jedoch oft auch eine Reihe kleinerer Staaten,die nicht als unmittelbare Nachbarn Interes-sen verfolgen, ausreichendes Interventions-potenzial.40

Die Androhung militärischer Mittel gewinntan Wirksamkeit, wenn eine Legitimation durchden UN-Sicherheitsrat besteht. Es ist jedochzu diskutieren, unter welchen Umständen bei„Gefahr in Verzug“ nationales, unilateralesHandeln legitimiert werden kann zum Schutzvon Menschen, die nicht eigene Staatsange-hörige sind. Eine militärische Intervention be-deutet immer auch die Verletzung des Gebotesder Nichteinmischung in die inneren Angele-genheiten eines Staates und kann somit nichtleichtfertig toleriert werden. All diese Maßnahmen sind letztlich gebun-den an den politischen Willen nationaler oder supranationaler Entscheidungsgremien. Leh-ren aus den Genoziden des 20. Jahrhundertssind somit sicherlich möglich, die entschei-dende Frage bleibt jedoch, ob, wann und in-wieweit der politische Wille existiert, sie um-zusetzen.Zur Zeit der Eröffnung des U.S. Holocaust Me-morial Museums in Washington D.C. im April1993 wurde besonders die Verantwortung zurVerhinderung zukünftiger Genozide beschwo-ren, die sich aus der Erinnerung an den Holo-caust speist. Es wurde ein Committee on Cons-cience (COC) gegründet, das im Mai 2000 eindreistufiges „Genozid-Warnsystem“ einrich-tete. Die erste „Genozid-Warnung“ wurdenoch im selben Jahr ausgesprochen. Sie betrafdie Situation in Afrikas größtem Flächenstaat,dem Sudan!41 Fünf Jahre später steht einedeutliche Reaktion der Weltgemeinschaft aufdiesen aktuellen Genozid noch immer aus.

ANMERKUNGEN1 Siehe Dabag, M.: Genozidforschung. Leitfragen, Kon-troversen, Überlieferung. In: Zeitschrift für Genozidfor-schung Jg. 1, H.1 (1999) S. 29. 2 In zwei Vorworten zur Encyclopedia of Genocide wirddiese Frage kompakt thematisiert. Bischof Desmond M.Tutu: Why is it important to Learn about the Holocaustand the Genocides of All Peoples?“ (Hervorhebung imOriginal), I. W. Charry (Hrsg.) a.a.O. S. Ivii und von SimonWiesenthal unter identischem Titel a.a.O. S. Iix. 3 Die politische Diskussion hierzu fand ihren Höhepunktin der Frage deutscher militärischer Beteiligung auf demBalkan. Der erste bedeutende „Out of area“ Einsatz derBundeswehr fand 1992/93 in Kambodscha statt, also ineinem Land, dessen jüngste Geschichte durch einen dergroßen Genozide des 20. Jahrhunderts, den durch die Ro-ten Khmer, gekennzeichnet ist. 4 Zur Geschichte des Begriffes s. Schabas, W. A.: Geno-zid im Völkerrecht. A.d. Englischen von H. Fliessbach(2000), Hamburg 2003. Die Originalstudie von RaphaelLemkin heißt: Axis Rule in Occupied Europe: Laws of Oc-cupation, Analysis of Government, Proposals for Redress.Washington D.C. 1944. 5 Charry, I. W. (Hrsg.): Encyclopedia of Genocide. Vol. I(A-H) S. Ixi. Zu Lemkins Person s. Schabas a.a.O. S. 43 –49.6 Deutsch zit. nach Schabas a.a.O. S. 44.7 Zit. nach Schabas S. 721. 8 Charry a.a.O. S. 3. Zur Ausarbeitung der Konventionund den verschiedenen Entwürfen s. Schabas a.a.O. 75 –138.9 R. J. Rummel, ein ausgewiesener Experte zu diesenThemen bietet einen Überblick hierzu „The New Conceptof Democide“ in: Charry a.a.O. S. 18 – 23. Zur Diskussionauch Fein, H.: Genozid als Staatsverbrechen. In: Zeit-schrift für Genozidforschung Jg. 1, H.1 (1999) S. 37.10 Jones, A. (Hrsg.): Genocide, War Crimes and the West.London 2004, S. 23. 11 Die hier angeführten Begrifflichkeiten sind keinesfallskomplett. So kann beispielsweise der Terminus „ethnischeSäuberungen“ hier nicht begrifflich behandelt werden.Auch eine Abgrenzung zu „Kriegsverbrechen“ würde denRahmen dieses Aufsatzes sprengen. Zu ethnischen Kon-flikten s. Schetter, C.: Das Zeitalter der ethnischen Kon-flikte. In: Blätter für deutsche und internationale Politik4 (2002), S. 473-481. Stoett, P.: Shades of Complicity:Towards a Typology of Transnational Crimes Against Hu-manity. In: Jones, A. (Hrsg.): Genocide, War Crimes andthe West. London u.a. 2004, S. 31-55.12 Fein, H. a.a.O. S. 37-38. Dort auch weitere Literaturund zusätzliche Punkte. 13 Fein, H.: Accounting for Genocide after 1945. In: In-ternational Journal of Group Rights 1 (1993) S. 79.Deutsch zitiert nach Fein, H.: Genozid als Staatsverbre-chen (Anm. 9) S. 37-38. 14 Interessante Überblicke in der gesamten Bandbreitevon Demozid, „ethnischen Säuberungen“ bis zu Kriegs-verbrechen bieten: Naimark, N. M.: Flammender Hass.Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert. A. d. Engl.,München 2004; Gallately, R./ Kierman, B. (Hrsg.): TheSpectre of Genocide. Mass Murder In Historical Perspec-tive. Cambridge 2003; Glover, J.: Humanity. A Moral His-tory of the Twentieth Century. London 1999; Heinsohn,G.: Lexikon der Völkermorde. Reinbek 1998. 15 Dabag, M. a.a.O. vor allem S. 22 f. Ders.: JungtürkischeVisionen und der Völkermord an den Armeniern. In: Ge-nozid und Moderne. Bd. 1 , hrsg. v. Ders. und Platt, K.,Opladen 1998, S. 152-205; Fein, H.: A Formula for Ge-nocide: Comparisons of the Turkish Genocide (1915) andthe German Holocaust (1939-45). In: Comparative Stu-dies in Sociology, d. 1 (1978), S. 271-293. Zur Geschichts-aneignung in der Einwanderungsgesellschaft s. Georgi, V.B.: Entliehene Erinnerung. Hamburg 2003.16 „Beitrittshindernisse für die Türkei“ in: FAZ v. 8.11.2004 S. 7. 17 Als Studie zum Aspekt der GULAGS, den stalinschenLagern, in denen allein rund 4,5 Millionen Menschen um-kamen s. Applebaum, A.: Der Gulag. A. d. Engl., Berlin2003.

18 Zu „Befreiungsbewegungen“ und Entkolonialisierungs. Krumwiede, H. W./ Trummer, P. I.: Befreiungsbewe-gungen/ Guerilla. In: Bd. 4 Lexikon der Politik, hrsg. vonNohlen,D./ Waldmann, P./ Ziemer, K., München 1997, S.75-84.19 Lewis, P.: A Short History of United Nations Peacekee-ping. In: Benton, B. (Hrsg.): Soldiers For Peace. Fifty Ye-ars of UN Peacekeeping. New York 1996, S. 25-41; Durch,W. J. (Hrsg.): The Evolution of UN Peacekeeping. NewYork 1993; Diehl, P. F.: International Peacekeeping. Bal-timore u.a. 1993. Gareis, S./ Varwick, J.: Die VereintenNationen. Opladen 3. Erw. Aufl. 2003.20 Ein kompakterer Abriss der Veränderungen s. Blodgett,J. Q.: Die Zukunft der Friedenssicherung durch die Verein-ten Nationen. A. d. Englischen 1991. In: Koch, E. (Hrsg.):Die UN-Blauhelme. Im Einsatz für den Frieden. Frankfurta.M. 1991, S. 285-307. 21 Für eine sehr kritische Bestandsaufnahme s. Shawcross,W.: Deliver Us From Evil. Warlords And Peacekeepers In AWorld Of Endless Conflict. London 2001, S. 30 ff. 22 Zu Daten für die Mission s. Benton, B. (Hrsg.) a.a.O. S.241 sowie Shawcross a.a.O. S. 56. 23 Für Eckdaten der Einsätze s. Benton, B. a.a.O. S. 241-244.24 Daten nach Melcic, D. (Hrsg.): Der Jugoslawien-Krieg.Wiesbaden 1999, S. 559. Zu Srebrenica s. Power, S.: „AProblem From Hell“. America And The Age Of Genocide.London 2003, S. 391-441.25 Kritische Analyse bei Polman, L.: We Did Nothing. Why the truth doesn’t always come out when the UN goes in. Übers. a. d. Niederländischen (1997), London 2003, S. 1- 77. 26 Die beste kompakte Darstellung der Ereignisse ist dieEinleitung bei Des Forges, A.: Kein Zeuge darf überleben.Der Genozid in Ruanda. A. d. Amerikanischen (1999),Hamburg 2002, S. 15-53. Ausführlich dann die weiteren850 Seiten des Berichtes. 27 Eine Literaturauswahl bespricht Adelman, H.: ReviewArticle: Bystanders to Genocide in Rwanda. In: The Inter-national History Review, 25 (Juni 2003), S. 357-374. Fürdie Prozentzahlen S. 357. 28 General Romeo Dallaires Buch zu den Ereignisse ist einerschütterndes Dokument. Dallaire, R.: Shake Hands WithThe Devil. The Failure Of Humanity in Rwanda. Toronto:2003. Dallaire musste 2000 wegen posttraumatischerStresssymptome (PTSD) aus dem Dienst ausscheiden. DieMitautorin Sian Cansfield ertrug die belastenden Detailsnicht und beging Selbstmord! 29 S. z.B. Dallaire; Adelman S. 359, Power S. 343.30 Deutlich Des Forges a.a.O. S. 16-17. Zum Sicherheits-rat s. Melvern, L. R.: The Security Council: Behind the Scenes in the Rwanda Genocide. In: Jones, A. (Hrsg.) a.a.O.S. 260-269. 31 Melvern a.a.O. S. 263. Zu Pressearbeit in und über Ru-anda und Goma s. Steele, J.: War Junkie. London 2002;Des Forges: a.a.O. S. 39-40.32 Zur Rolle von RTLMC und bekannter ruandischer Mu-sikstars s. McKinney, T.: Radio Jamming: The Disarma-ment of Radio Propaganda. In: Small Wars and Insurgen-cies Bd. 13, Nu. 3 (Herbst 2002) S. 111-144. Vor allem S.120-125. Zu Zeitungen s. Power a.a.O. S. 338-340. 33 Des Forges a.a.O. S. 751. 34 Des Forges a.a.O. S. 35. 35 Zu strategischen Lehren s. Campbell, K. J.: Clausewitzand Genocide: Bosnia, Rwanda and Strategic Failure. In:Civil Wars, Bd. 1, Nu. 2 (Sommer 1998) S. 26-37. 36 Übersetzung durch PIT, zitiert in: Fowler, J.: Out ofthat Darkness: Responding to Genocide in the 21st Century. In: Totten, S./Parsons, W.S./Charny, I. W. (Hg.):Century of Genocide. New York u.a. 2004 S. 457. 37 Übersetzung PIT nach dem Zitat bei Fowler a.a.O. S. 488. 38 Für einen weiteren Rahmen s. Campbell a.a.O. S. 34-35. 39 Des Forges, A. a.a.O. S. 27 und ausführlich S. 407 ff. 40 Für Afrika s. Böckmann, M.: Die Fähigkeit afrikanischerStreitkräfte zu humanitärer Intervention. In: Österreichi-sche Militärische Zeitschrift 4/2004 S. 441-448.41 Fowler, J. a.a.O. S. 458-459. Webseite www.committe-eonconscience.org

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PETER I. TRUMMER

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WECHSELSEITIGE ABHÄNGIGKEITEN ODERINTERESSENKONFLIKTE?

In modernen Gesellschaften erfolgt der öf-fentliche Diskurs über die Bildschirmmedien.Da eine Demokratie von der Beteiligung undZustimmung ihrer Bürger zur Politik der de-mokratischen Institutionen lebt, ist die medi-ale politische Kommunikation von großer Be-deutung. Besonders Krisen- und Kriegszeitenfordern sowohl Medien als auch Politik und

ihre spezifische Weise (durch den Bildschirm)wahrnehmbar zu machen. Angesichts des gro-ßen Einflussspektrums medialer Darstellungenzum Thema Krieg in Nachrichten, Film oderComputerspiel stellt sich die Frage nach demVerhältnis zwischen medial konstruierter(Kriegs-)Wirklichkeit und den Interessen derverschiedenen Akteuren im gesellschaftlich-politischen Alltagsgeschäft, sich die Mediennutzbar zu machen. Welche Logik steckt dahin-ter? Welche Rolle haben die Medien? WelcheRolle spielt die Politik? Welche das Militär? Werist dominant? Wer instrumentalisiert wen?

Militär heraus, ihre Absichten zu legitimierenbzw. die Legitimation ständiger Kritik ausge-setzt zu sehen. Im Hinblick darauf bestehenzwischen diesen Kräften nicht nur zahlreicheAbhängigkeiten, sondern auch viele Interes-senkonflikte.Die Tatsache, dass in Demokratien die PolitikLegitimation braucht, zwingt die Politikerdazu, sich den Regeln der medialen Präsenta-tion anzupassen. Dies bringt mediale politi-sche Argumentation leicht in die Nähe zurWerbung für industrielle Produktion, die ja ingleicher Weise die Öffentlichkeit oder Teile von

ihr zu beeinflussen versucht. Um die ge-wünschte Medienwirkung zu erreichen, enga-gieren inzwischen Regierungen zum BeispielPublic-Relations-Agenturen.Medien wiederum können nicht auf die Be-richterstattung über politische und militäri-sche Ereignisse verzichten, da sie im Zentrumdes öffentlichen Interesses stehen und des-halb den wirtschaftlichen Erfolg sichern hel-fen. So besteht das Interesse der Medien darin,ihrer jeweiligen Konkurrenz zuvorzukommen

KRIEG UND MEDIEN – EINSPANNUNGSVOLLES BEGRIFFSPAAR

Krieg und Medien ist ein spannungsvolles Be-griffspaar, das nicht erst seit dem Golfkrieg1991 zum Gegenstand intensiver wissen-schaftlicher Diskussionen geworden ist. DieDarstellung des Krieges in den Medien gewinntheutzutage an Brisanz im Zusammenhang mitden demokratietheoretischen Überlegungen,ob die Bürger ausreichend über politisch-mi-litärische Vorgänge informiert werden, um sich kompetent an politischen Entscheidungen beteiligen zu können. Medien verfügen heute über technologische Möglichkeiten (Rundfunk,Fernsehen, Internet, Satellitenübertragung usw.),um ein breites Publikum mit den in einer ver-ständlichen Form aufbereiteten Informationenüber die Ereignisse in der Welt in „real-time“ zuversorgen. Bedeutet dies aber auch, dass sichdie Adressaten medialer Produkte ein objek-tives Bild von den Kriegsgeschehnissen in derWelt machen können?Gängige Meinung ist, dass Nachrichten auf-klärerische Wirkung haben und dass sie denNachrichtenempfänger in die Lage versetzen,ein der Wahrheit möglichst nahe kommendesAbbild einer aktuellen Begebenheit oder Lageim Frieden zu entwickeln. Aber welcher Lage,welcher Begebenheit? Medien geben vor, den Menschen Wissen zuliefern, deuten die Welt und versuchen, sie auf

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DIE MEDIALE DARSTELLUNG DES KRIEGES

Krieg und Medien – Zwischen Information,Inszenierung und ZensurCHRISTIAN BÜTTNER / MAGDALENA KLADZINSKI

Hat die Feststellung, dass die Wahrheitdas erste Opfer eines Krieges ist, nochGültigkeit? Können Medien den Kriegüberhaupt objektiv darstellen? Oder istes nicht vielmehr so, dass in allen medi-alen Darstellungen von Krieg die Grenzezwischen Information, Desinformationund Nicht-Information – also Zensur –nicht eindeutig gezogen werden kann?Auch Kriegsberichterstatter sind in ihrerArbeit an eine journalistische Ethik ge-bunden. Der Aktualitätsdruck allerdingshindert Journalisten häufig daran, ver-antwortungsvoll mit Informationen um-zugehen. Unter dem Zwang der Ein-schaltquoten folgt die Berichterstattunghäufig den Spielregeln der Selbstinsze-nierung. Krieg wird nach dramaturgi-schen Gesichtspunkten publikumswirk-sam als “Abenteuer für das Auge” insze-niert und bedient somit vorschnell Inter-essen, weckt Emotionen. Unterliegt dieBerichterstattung noch einer politisch-militärisch gewollten Lenkung oder garZensur, geraten Kriegsdarstellung undBerichterstattung in eine fatale Nähezur Propaganda. Red.

BERNARD S. WIESS, EIN

JOURNALIST, DER MIT EINER

US-EINHEIT UNTERWEGS IST,GEHT MIT SEINER KAMERA SO

NAH WIE MÖGLICH AN EINE

BRENNENDE ÖLQUELLE AUF DEN

ÖLFELDERN BEI BASRA HERAN,UM MÖGLICHST DETAILLIERTE

AUFNAHMEN ZU BEKOMMEN.UNTER DEM ZWANG DER EIN-SCHALTQUOTEN FOLGT DIE BE-RICHTERSTATTUNG HÄUFIG DEN

SPIELREGELN EINER MÖGLICHST

DRAMATISCHEN INSZENIERUNG.picture alliance / dpa

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und dem Publikum aktuellste Bilder aus Kri-sen- und Kriegsgebieten zu liefern. Der Aktua-litätsdruck hindert die Journalisten allerdingshäufig daran, verantwortungsvoll und kritischmit den Informationen umzugehen, wodurchdie Qualität ihres Produktes in Frage steht.Hinzu kommt, dass den Journalisten in Kriegs-zeiten der freie Zugang zu Informationen ver-wehrt wird, so dass ihre Arbeit zwangsläufigan Qualität verliert.Die Vorbereitung eines Krieges setzt eine über-legene Informationspolitik des Militärs voraus,um einerseits die Öffentlichkeit von der Not-wendigkeit der Anwendung militärischer Ge-walt zu überzeugen, anderseits den Gegnerüber die eigenen Absichten soweit und so-lange wie möglich im Unklaren zu lassen. Dashat den Wunsch des Militärs nach einer gewis-sen gezielten Desinformation der eigenen Be-völkerung zur Folge und zwingt die Politikerwiederum zu Argumentationen, welche sie inFriedenszeiten unter Umständen scharf kriti-sieren würden. Politik und Militär sind gerade in den letztenJahren in den Verdacht geraten, Medien für ih-re Zwecke zu instrumentalisieren, und den Me-dien wird Parteilichkeit und Selbstzensur vor-geworfen. Ihr Interesse an politischen und mi-litärischen Themen scheint aber ebenso großzu sein wie das Interesse der Politik und desMilitärs, die kommunikativen und technologi-schen Möglichkeiten des Medienangebotes zunutzen. Bereits im Zweiten Weltkrieg wurdenInformationen als Waffe in der psychologi-schen Kriegsführung (Propaganda) eingesetzt.Heutzutage sind Begriffe wie „Informations-krieg“ und „Informationsoperationen“ ausdem militärischen Sprachgebrauch nicht mehrwegzudenken, weder in Friedenszeiten nochim Krieg. Nach wie vor bedient sich sowohl diePolitik als auch das Militär medialer Formatewie Filme, Computerspiel und vermehrt auchder Reality-TV-Serien, um ihre Interessen andie Öffentlichkeit zu vermitteln.

WIE WAHR UND OBJEKTIV SIND MEDIEN?

Die Überprüfung des Wahrheitsgehalts vonNachrichten erweist sich für den Zuschauerschwierig, wenn nicht gar unmöglich. Mankann, ja man muss den Nachrichteninhaltenzunächst einmal glauben, selbst dann, wennsie recht unwahrscheinlich anmuten. Abergeht es den Nachrichtenempfängern über-haupt um den Wahrheitsgehalt von Nachrich-ten? Sollen ihm Nachrichten allein zur Über-mittlung wahrheitsgemäßer Informationenüber nahe und ferne Ereignisse dienen? Undvon der Seite der Nachrichtenproduzenten ausgesehen: Geht es ihnen um Wahrheit und Ob-

jektivität? Werden Nachrichten nicht auch ge-zielt eingesetzt oder gar gezielt weggelassen,um spezielle Interessen durchzusetzen – undseien dies ökonomische – oder Widerstand ge-gen die Durchsetzung spezieller Interessenanderer zu verhindern? Medien liefern auf den Bildschirmen kein rei-nes Abbild der Wirklichkeit, sie liefern ein be-stimmtes und in vielfältiger Weise begrenztesBild der Realität in die Fernsehzimmer. DieKonstruktion dieses Bildes wird von verschie-denen Faktoren beeinflusst wie zum Beispielder Auswahl von Informationen nach Kriterienetwa von Nachrichtenredaktionen, dem spezi-fischen Einsatz unterschiedlicher Ton- und Vi-sualisierungstechniken, der genrespezifischenGestaltung von Inhalten. Die Herstellung einesanspruchvollen, gewinnorientierten und des-halb dem Geschmack des Publikums entspre-chenden Produktes ist dabei nicht das einzigeInteresse von Medienmachern. Sie habenlängst die Macht und die Wirkung der Medienin der öffentlichen Meinungsbildung erkanntund transportieren bewusst oder unter-schwellig bestimmte politischen Botschaftenund Ansichten mit Hilfe von rhetorischen undaudiovisuellen Mitteln. Eine offensichtliche oder unterschwellige Be-einflussung durch mediale Botschaften kannschon lange vor dem Krieg seitens der Politikeroder der Militärs beginnen, also noch in Frie-denszeiten. Die politischen und militärischenBotschaften können sowohl durch harmlos er-scheinende fiktionale Formate wie Filme undComputerspiele, aber auch durch nicht-fiktio-nale Produktionen wie Nachrichten mit einerauf einen zukünftigen militärischen Konfliktgerichteten Tendenz transportiert werden. DieKonsequenz ist, dass in allen medialen Dar-stellungen von Krieg die Grenze zwischen In-

formation, Desinformation und Nicht-Infor-mation (Zensur) nicht eindeutig gezogen wer-den kann.

KRIEG ALS „ABENTEUER FÜR DAS AUGE“

Betrachtet man die Produktionsaspekte wiezum Beispiel die Herstellung von Bildern, Ton,Computeranimationen, Texten und Botschaf-ten, wird schnell klar, dass sowohl fiktionaleals auch nicht-fiktionale Produktionen mitden gleichen Bild- und Tongestaltungsmög-lichkeiten arbeiten. Die Gemeinsamkeiten be-stehen nicht nur in der medialen Inszenierung,sondern auch in der Formatverschränkungund in der Tatsache, dass mit allen Produktio-nen dasselbe Ziel verfolgt wird, nämlich soviele Zuschauer/Spieler so lange wie möglichvor dem Bildschirm zu halten, d.h. sie zu fes-seln.Selbst bei Kriegsnachrichten kann man ver-muten, dass das Interesse der Zuschauer unteranderem auch einer offenen bzw. geheimenhöchst individuellen voyeuristischen Lustfolgt. Je nachdem, wie nah oder fern die innereund äußere Teilnahme am Geschehen liegt,das durch die Nachricht aufgegriffen wird,desto mehr oder weniger wird es auch dieIdentifikation mit der einen oder anderenKriegspartei bei den Zuschauern hervorrufen.Aber es ist nicht nur der nachvollziehbar ratio-nale Anteil, den Zuschauer an Kriegsnachrich-ten nehmen können. Es kann auch die Faszina-tion am Thema Krieg selbst sein, die eineKriegsnachricht wie ein Detail in einem Kriegs-spiel erscheinen lässt, das fasziniert. Kriegs-nachrichten wirken in diesem Sinne wahr-scheinlich ähnlich attraktiv wie Kriegsfilme (indenen ja auch eine Identifikation mit den Gu-

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CHRISTIAN BÜTTNER/MAGDALENA KLADZINSKI

EIN SOLDAT HÄLT INTERNATIONALE PRESSEFOTOGRAFEN

ZURÜCK, DIE FOTOGRAFIEREN, WIE MITARBEITER EINER

HILFSORGANISATION IN EINER SÜDIRAKISCHEN STADT

HILFSGÜTER AN DIE BEDÜRFTIGE BEVÖLKERUNG VER-TEILEN. AUCH KRIEGSBERICHTERSTATTER SIND IN IHRER

ARBEIT AN EINE JOURNALISTISCHE ETHIK GEBUNDEN.TROTZDEM WIRD KRIEG ALLZU HÄUFIG ALS „ABENTEUER

FÜR DAS AUGE“ INSZENIERT.picture alliance / dpa

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ten, den Bösen, den Aliens oder anderen Figu-ren in dem Kriegsszenario nahegelegt wird).Und das Thema der Bedrohung von äußerenFeinden war immer schon ein beliebter Toposin zahlreichen Kulturprodukten.Ein noch tiefer liegenderes Motiv kann die un-ersättliche Gier nach Phantasmen wie gran-dioser Destruktivität und grenzenloser Machtdarstellen, wie sie sich in den Bildern von Ex-plosionen zeigen. Dies betrifft nicht nur Kino-filme, sondern auch Bilder in Nachrichten, diesogar weltweit als Symbole verstanden wer-den wie zum Beispiel das Bild der explodieren-den Atombombe – ein beliebtes Motiv in derZeit des Kalten Krieges – oder die immer wie-der gezeigte Attacke gegen die Türme desWorld Trade Centers. Im Medium Fernsehenbleiben solche Bilder Bilder, sie sind virtuell,selbst wenn man weiß, dass es Menschen ge-geben hat, die die Explosionen und Zerstörun-gen live gesehen haben, die Zeitzeugen.

NACHRICHTEN INSZENIEREN DEN KRIEGFÜR DAS PUBLIKUM

Mit dem Beginn des Krieges konzentrieren sichdie Medien in erster Linie auf die Berichter-stattung über die kriegerischen Handlungen,da Krieg für sie „big news“, Aufmerksamkeit,Quote und Auflage bedeutet. Mit Hilfe vonneuen Technologien (Digitalisierungs-, Kabel-und Satellitentechnik) eröffnen sich demNachrichtenjournalismus gegenüber der Ver-gangenheit neue Wege bei der Informationsü-bertragung – der Weltöffentlichkeit werdenfast zeitgleich umfangreiche und technischperfekte Kriegsberichte geliefert. Die Qualitätder Bilder steht aber nicht in Frage, sondernderen Wahrheitsgehalt. Zwar sind die Kriegs-

berichterstatter in ihrer Arbeit an eine journa-listische Ethik gebunden, die sie verpflichtet,objektiv (unparteilich) und wahrheitsgetreu zuberichten, was auch im Artikel 5 des Grundge-setzes geregelt ist. Doch im Kriegsfall, also ineiner besonderen politisch-militärischen Situ-ation, werden sie in ihrem Recht auf Mei-nungs-, Informations- und Pressefreiheitmehr oder weniger stark eingeschränkt. Unbestritten spielen Fernsehnachrichten einewichtige Rolle für die Informationsvermitt-lung und gelten als das glaubwürdigste Me-dium und als zentraler Vermittler des aktuel-len Kriegsgeschehens. Sie stellen aber kein Bildvon der Welt des Krieges dar, sondern Resul-tate einer von genrespezifischen Ausdrucks-möglichkeiten, Selektionskriterien, journalisti-scher Selbstzensur geprägten und militärisch-politischen Einflüssen unterworfenen Nach-richtenwelt. All dies hat zur Folge, dass derKrieg „zum Abenteuer fürs Auge“ wird, wieFreimut Duve, Beauftragter für die Freiheit derMedien bei der Organisation für Sicherheitund Zusammenarbeit Europas (OSZE), in ei-nem Interview mit ZDFonline konstatiert. Wel-che Interessen stecken dahinter, Krieg als„Abenteuer“ erscheinen zu lassen? Werden dieMedienschaffenden von den Interessen derZuschauer an medialen Produktionen geleitetoder sind noch andere Akteure bei der Produk-tion am Werk? In den folgenden Ausführun-gen versuchen wir, die verschiedenen Interes-sen bei der „Inszenierung vom Krieg in denBildschirmmedien“ darzustellen.

KRIEG ALS AUDIOVISUELLES ERLEBNIS

Kriegsfilme, Kriegsberichterstattung und Com-puterspiele ähneln sich insofern, als sie denKrieg zu audiovisuellem Ereignis und Erleb-nis werden lassen. Die Emotionalisierung desPublikums erfolgt sowohl durch die optischenund akustischen Elemente als auch durch einespannende Narration. Alle Bildschirmmedienbemühen sich, dem Zuschauer das Gefühl desDabei-Seins zu geben. Diese Illusion, stets da-bei zu sein, mittendrin im Krieg, wird von Fil-men genauso stark vermittelt wie von Fern-sehnachrichten. Computerspiele gehen einenSchritt weiter, weil sie nicht nur das Gefühl ge-ben, dabei zu sein. Sie ermöglichen dem Spie-ler, in das kriegerische Geschehen (nach denim Programm vorgesehenen Handlungsoptio-nen) selbst einzugreifen. Normalerweise spricht man von Inszenierun-gen bei Spielfilmen und Theateraufführungenund bezeichnet damit die spielerische Ebenemedialen Erlebens. Der inszenierten Vorstel-lung gegenüber sitzt das Publikum. Wenn beiNachrichten und Magazinen immer wiedervon dem Zuschauer-Publikum die Rede ist,kann man wohl auch bei Nachrichten wie beiSpielfilmen von Inszenierungen sprechen. Me-dienproduzenten und Publikum ziehen hieroffenbar am gleichen Strang: Das Publikumwill seine Show, und seien dies eben die Nach-richten oder die Magazinsendungen. Diesemüssen deshalb nur zu einem Teil den „journa-listischen Standards der journalistischen Ob-jektivitätskriterien einer verlässlichen journa-listischen Beschreibung von Wirklichkeit“ fol-gen (Schanne 1995, 11 ff.).

Im Allgemeinen hat die Berichterstattung überKriege mit seriöser Informationsvermittlungimmer weniger zu tun und konzentriert sich,vom Geschmack des Publikums geleitet, aufdie eindrucksvolle, effektreiche Inszenierungdes Krieges. Die Live-Sendungen und die Be-richte von den so genannten „embedded jour-nalists“ involvieren die Zuschauer in dasKriegsgeschehen (durch Echtzeitberichte warschon das Publikum im Golfkrieg 1991 immerdabei) und übertragen auf sie via Bildschirmdas Angstgefühl vor Ort. Damit ist das Opti-mum erreicht: Der Fernsehzuschauer oderComputerspieler sitzt in sicheren Verhältnis-sen vor dem Bildschirm und kann sich mit denvon ihm ausgewählten Inhalten im Verhältniszu seiner Angstlust (bis zur Schmerzgrenze)konfrontieren – oder die Geräte ausschalten.

DIE SELBSTINSZENIERUNG DER MEDIEN

Es gehört zum Wesen der kapitalistischen Ge-sellschaft, dass sie im Kampf um Geld undMacht Gewinner und Verlierer kennt. Für Film- und Spielindustrie hat die Schaffung ei-nes marktgängigen, gewinnorientierten undkünstlerisch anspruchsvollen Produkts oberstePriorität. Auch als Journalist muss man mög-lichst auf der Seite des Gewinners sein. Undgewinnen muss man – nicht zuletzt – auch ge-gen die journalistische Konkurrenz, notfallsmit erfundenen Inszenierungen. Neben den zi-vilen Inszenierungen von Sensationsnachrich-ten (das Geiseldrama von Gladbeck 1988 ist indie Mediengeschichte als ein Beispiel von Sen-sationsjournalismus eingegangen), die ihrer-seits einiges an Sensationen wieder hervorge-rufen haben, bieten sich hierfür auch und ge-rade der Krieg oder die Krise an. Was könnte esErfolgreicheres und Quotensicherndes geben,als seine Nachricht, seine Information oderBotschaft vor der ganzen Welt zu verkünden?Angesichts von Nachrichtensperren im Kriegist die Verführung zu inszenierten Nachrich-teninhalten besonders groß, vor allem wenn esvon Politik und/oder Militärs verlockende An-gebote gibt. Malte Olschewski, Auslandsredakteur des ös-terreichischen Fernsehens, berichtet in seinemBuch unter dem Titel „Krieg als Show” über In-szenierungsarbeiten der Medien während desGolfkrieges 1991: „Es ist eine Liveschaltung. Es ist in den erstenTagen des Krieges. Es ist das CNN-Büro in Je-rusalem. Hier ist man mit der Produktion vonWirklichkeit beschäftigt. Am Vortag waren ira-kische Scud-Raketen auf Israel niedergegan-gen. Sie hatten begrenzte Schäden und einpaar Verletzte gefordert. Nun hatte es soebenneuen Alarm gegeben, dem baldige Entwar-nung folgte. CNN beginnt mit diesem Fehla-larm eine typische Nachrichteninszenierung.Vor den in Realzeit weltweit übertragendenKameras wuseln ein gutes Dutzend Journalis-ten und Techniker durchs Studio. Sie beginnenihre Gasmasken aufzusetzen. Israels Vize-Au-ßenminister Netanjahu ist, weil es sich soschön ergeben hat, zu einem Interview im Stu-dio. Auch er zieht sich die Gasmaske aufs Ant-litz. Das Wort ,Live‘ ist ständig eingeblendet.Aus Atlanta führt die Stimme von Anchor-man Reid Collins überregionale Regie. Wie ein

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Krieg und Medien – Zwischen Information, Inszenierung und Zensur

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Hohepriester zelebriert er das Wunder derSchaltung: ,Ich will sehen, ob ich Larry Regis-ter hören kann, der jetzt mit Mikrofon undGasmaske ausgerüstet ist. Larry, kannst dumich hören?‘ ,Jawohl, alles o.k.’ Larry in Jerusa-lem hört Atlanta. Damit nicht genug. Die CNN-Zentrale strebt eine Dreierschaltung mit Her-einnahme von Tel Aviv an. Die Betonung giltdem Wunder der Technik. ,Ich versuche, Ri-chard in Tel Aviv dazu zu bekommen.’ Bedeu-tungsschwere Sekunden. Ähnlich wie im Got-tesdienst die Wandlung ist hier die Schaltung:,Richard, kannst du mich hören?’ SekundenPause. Dann die erlösende Botschaft in Formder Stimme des CNN-Reporters in Tel Aviv, Ri-chard Bleystone. Er hat wenig zu sagen: ,Ja, ichbin hier. In Tel Aviv haben vor ungefähr dreiMinuten die Sirenen zu heulen begonnen.Jetzt ist alles wieder still. Wenn ich aus demFenster schaue, sehe ich menschenleere Stra-ßen. Nicht ganz. Ich sehe jetzt ein Auto. Nein,ich sehe zwei Autos (...), Nach dem Hochamtder Schaltung folgt die Nullmeldung über zweifahrende Autos. Mittlerweile hat sich die Kor-respondentin Linda Scherzer im JerusalemerBüro die Gasmaske übergestreift. Sie arbeitetsich durch das Gewühl zielstrebig ins Bildzent-rum vor. Sie beginnt dort mit einem sehr all-gemeinen Lagebericht. Sie tut es aber durchdie Gasmaske, die sich damit als ungeeignetesHindernis für flaches Realzeit-Geplapper her-ausstellt. Die ganze Bedrohung ist simuliert.Das beweist ein CNN-Techniker, der die ganzeZeit im Hintergrund agierend ohne Maskebleibt“ (Olschewski 1993, 201f.).Die Gesetze medialer Produktion sind mitun-ter so dominant, dass der Inhalt nur noch einezweitrangige Rolle spielt. Ob es das Bühnen-bild und die Computeranimation oder die be-sonders gute grafische Darstellung im Com-puterspiel ist – der Krieg selbst ist nur das Ve-hikel professioneller Anstrengungen.

DIE SELBSTINSZENIERUNG DERJOURNALISTEN

Ein weiterer Aspekt ist das journalistischeSelbstbild, oder das, was man eine persönlich-berufliche Identität nennen könnte. Die pro-fessionelle Identität der Fernsehjournalistenverbindet sich wie bei anderen Berufen auchmit den vielfältigen Aspekten der Persönlich-keit, zu der man im Laufe seines Lebens wird.Dazu gehören auch die ganz persönliche pro-fessionelle Moral, der persönliche Werthori-zont und der persönliche Anspruch an Profes-sionalität. Was macht aber einen guten Jour-nalisten aus, besonders in seiner Eigenschaftals Kriegsberichterstatter?Ein Krieg ist kein Picknick. Und so mag denKriegsberichterstatter vor Ort eine ganze Rei-he von Aspekten zum guten Kriegsberichter-statter machen, die man unter anderen Um-ständen als Unerschrockenheit, Fähigkeit, mitpersönlichen Krisensituationen umzugehen,aber vielleicht auch als eine gewisse Angstlustbezeichnen würde. Schließlich – und bestimmtnicht zuletzt – die Selbstvergewisserung:Journalisten sind ja nicht nur von Beruf neu-gierig, sondern sie sind nicht mehr und auchnicht weniger neugierig als andere Menschenauch, besonders aber dann, wenn es nicht nur

individuell um Leben und Tod geht, sondernwenn eine gesellschaftliche Zukunft auf demSpiel steht. Gerade darin kann ja der beson-dere Wert journalistischer Arbeit liegen, gegendie Lügen zu arbeiten oder mit den Gewinnernzu gewinnen.Hier liegt eine große Chance der Selbstverge-wisserung und der Selbstbestätigung: Ich bingut, wenn ich so objektiv wie möglich bin undnicht zuletzt, wenn ich für eine gute oderschlechte Nachricht mein Leben riskiere, ambesten aber, wenn mir die ganze Welt ihre Auf-merksamkeit schenkt: „Als in der Nacht zum17. Januar 1991 US-amerikanische BomberBagdad angriffen, standen die Fernsehjourna-listen John Hollima, Bernhard (Bernie) Shawund Peter Arnett am Fenster ihres Hotels in derirakischen Hauptstadt und kommentierten –live per Telefon –, wie der zweite Golfkrieg be-gann. ,Es geht los, es geht los‘, rief Bernieplötzlich ins Mikrophon. ,Riesige Blitze amHimmel! (…) wie ein gewaltiges Feuerwerk‘,stammelte Peter. Da ging das Licht aus. ,Mist‘,dachte er, ,die ganze Vorarbeit, die endlosenDiskussionen, das viele Geld – alles umsonst‘.Aber schon wenige Minuten später gab dieZentrale des Cable News Network in AtlantaEntwarnung: ,Bleibt dran, Jungs. Die ganzeWelt hört euch zu‘“ (Löffelholz 1995, 171).Es ist von Journalisten oft beklagt worden,dass nur dort eine journalistische Aufgabe dienötige Beachtung erhält, wo die weltweite In-teressenlage der führenden Nationen berührtist und Nachrichten in ihre Politik passen. DerKrieg im Süd-Sudan, zum Beispiel, blieb vierJahrzehnte hindurch mehr oder weniger un-beachtet, „weil die Kriterien des fehlendenGroßmachtinteresses und der schweren Zu-gänglichkeit einer Berichterstattung im Wegestehen (…). Ab und zu liest man eine Reportageüber den ,vergessenen Krieg im Süd-Sudan‘,und das war’s dann. Man kommt nicht hinoder nur unter großen Schwierigkeiten, undman weiß nie, ob man wieder zurückkommt.Wer mag sich schon solchen Strapazen aus-setzen, besonders für einen Krieg, der dem Be-richterstatter wenig soziales Prestige ein-bringt?“ (Papendieck 1997, 23).

VOM JOURNALIST ZUM SÖLDNER

Solchermaßen im Schnittpunkt zwischen Poli-tik, eigenen moralischen Wertvorstellungenund dem Druck der journalistischen Kollegenkann so mancher von einer professionellenRolle in eine andere fallen. So etwa vom Jour-nalisten zum Söldner. Wer sich in die Gefahr vonKriegen begibt, wer angesichts eines Kriegsge-schehens innerlich nicht parteilos und unbe-rührt bleiben kann, der mag leicht selbst zurWaffe greifen, sei es zu der des Wortes oder zurechten Knarre: „Der Krieg wurde immer wiederzu einem Tummelplatz von Abenteurern undDraufgängern, deren professionelle Qualifika-tionen die eines journalistischen Anfängersnicht überstiegen. So manch ein Kriegsreporterhat dann auch schon mal lieber statt zur Federzur Waffe gegriffen. Nicht nur, um sich zu ver-teidigen, sondern um dem Feind ,eins drüber-zuziehen’“ (Beham 1996, 18).Die Resümees von Journalisten und Kommu-nikationswissenschaftlern bieten – was die

Chancen einer Friedensberichterstattung be-trifft, also einer Berichterstattung, die denFrieden fördert statt den Krieg zu unterstüt-zen – wenig Hoffnung. Eine plausible Erklä-rung dafür liefert der Kommunikationswissen-schaftler Michael Kunczik: „Objektive und ak-tuelle Berichterstattung im Kriegsfall ist nichtzu erwarten. Die Beeinflussung von Nachrich-ten ist eine Notwendigkeit, wenn man denKrieg gewinnen will. Entscheidend für die De-mokratie ist, dass in der jeweiligen Nach-kriegszeit aufgearbeitet wird, wie Informatio-nen manipuliert worden sind“ (Kunczik 1995,101).

ALTE PROPAGANDA MIT NEUEN MITTELN

Manipulationen, Verbreitung von Lügen, Des-information seitens der Politik und des Mili-tärs sind nach wie vor ein fester Bestandteil derInformationspolitik in Kriegs- und Friedens-zeiten.Die Feststellung von Thukydides, formuliert im5. Jahrhundert v. Chr. – „Das erste Opfer einesKrieges ist die Wahrheit“– scheint sich immerwieder zu bestätigen. Der Krieg im Fernsehengehorcht nicht den Regeln einer wahrheitsge-treuen Realitätsdarstellung, sondern folgt denVorstellungen der Machthabenden. Deren In-teresse besteht im Wesentlichen darin, „dietatsächlichen Vorgänge im Fernsehen so dar-zustellen, wie es die, die Kriege führen, gernehaben wollen“ (Mahr 1997, 105). Zweifelsohneliegt also das Interesse des Militärs und derPolitiker nicht in einer realitätsgetreuen Abbil-dung des Krieges. Damit gerät mediale Kriegs-darstellung in eine fatale Nähe zu Propaganda.Auch wenn die Medien stets um ihre Unab-hängigkeit und um die Objektivität der Be-

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CHRISTIAN BÜTTNER / MAGDALENA KLADZINSKI

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richterstattung bemüht waren und sind,konnten und können sie sich nicht von derstaatlichen Kontrolle lösen. Im Gegenteil – diePolitik hat die Macht der Medien als Mei-nungsmacher in den letzten einhundert Jah-ren schätzen gelernt und sie sich durch ge-schickte Funktionalisierung weniger den je ausder Hand nehmen lassen. Hervorragende Bei-spiele für die Instrumentalisierung von Me-dien durch die Politik und das Militär sind inder Zeit des Zweiten Weltkrieges zu finden, inder sowohl in Deutschland als auch im Aus-land Massenmedien in die Dienste der Regie-rungen gezwungen wurden.Während bis zum Zweiten Weltkrieg Propa-ganda vorrangig über Printmedien wie Flug-blätter und Zeitungen betrieben wurde, bot dietechnologische Entwicklung neue Möglichkei-ten, schnell bestimmte propagandistischeBotschaften ans Ziel zu bringen. Heutzutagewerden die Informationen und Desinformatio-nen nicht nur via Satellit und Internet schnel-ler als je zuvor verbreitet, es kommen auchspezielle mit Fernseh- und Rundfunkgerätenausgestattete Flugzeuge zum Einsatz. SolcheFlugzeuge wurden zum Beispiel 2002 in Af-ghanistan von der US-amerikanischen Regie-rung eingesetzt, um das Programm des ameri-kanischen Regierungssenders „Voice of Ame-rica“ zu senden.

KRIEGSPROPAGANDA LIEFERT EINVERZERRTES BILD

Laut Lasswell (1927) akzeptiert die Öffentlich-keit den Krieg eher, wenn er als Verteidigungs-krieg gegen einen bestialischen Gegner pro-klamiert wird. Um die Zivilbevölkerung für denKrieg einzustimmen und die eigenen Soldaten

zu motivieren, muss man die Ziele des Kriegesals Verteidigung darstellen – die Abwehr einerBedrohung scheint immer wieder als stärkstesArgument für Kriegsbefürwortung zu funktio-nieren.Kriegspropaganda liefert ein verzerrtes Reali-tätsbild, indem sie den Krieg in jedem Falle alslegitim erscheinen lässt, die Größe der eigenenSeite betont und den Feind dämonisiert. AnneMorelli (2004) stellt fest, dass sich die Propa-gandamethoden seit dem Ersten Weltkriegnicht geändert haben: „Wir schenken heuteLügenmärchen genauso Glauben wie die Ge-nerationen vor uns. Das Märchen von kuwai-tischen Babys, die von irakischen Soldaten ausihren Brutkästen gerissen wurden, steht demvon belgischen Säuglingen, denen man an-geblich die Hände abgehackt hat, in nichtsnach. Beide haben ihren Zweck erfüllt, unserMitgefühl zu wecken (...). Vielleicht im erstenGolfkrieg noch bereitwilliger, hat sich doch dieKommunikation inzwischen zu einer perfektenKunst entwickelt. (...) Die Schaffung eines ge-radezu hypnotischen Zustands, in dem sich diegesamte Bevölkerung im tugendhaften Lagerdes gekränkten Gutmenschen wähnt, ent-spricht wahrscheinlich einem pathologischenBedürfnis. Wie gerne reden wir uns selbst undanderen ein, wir würden uns an einer noblenOperation beteiligen, das Gute gegen das Bösezu verteidigen“ (Morelli 2004, 133 f.).Heutzutage versteht man unter Propagandaweniger die „negative Zensur der Nachrich-tenunterdrückung“, als vielmehr „eine positiveZensur der Nachrichtenlenkung“ (Weischen-berg 1993, 13). Im Golfkrieg 1991, in den „hu-manitären“ Kriegen im Kosovo oder im Krieggegen den Terrorismus in Afghanistan und imIrak wurden die Fernsehzuschauer immer wie-der mit Propagandalügen konfrontiert, um

politisch-militärische Entscheidungen zu legi-timieren und die (Welt-)Öffentlichkeit für dieeigene Seite zu gewinnen. Nach wie vor folgtdie Darstellung des Krieges in den Medien denüblichen Propagandaprinzipien – die „Guten“kämpfen gegen die „Bösen“, nach wie vor blei-ben sowohl ungeschminkte Kriegsbilder vomGeschehen vor Ort als auch die Perspektive derSoldaten dem Publikum vorenthalten. Ein Ver-such hätte vielleicht der Embedded Journalismsein können, doch das Konzept scheiterte an-gesichts der politisch-militärischen Zensur.

INSZENIERUNG DER POLITIK

Die Tatsache, dass Massenmedien als wichtig-ste Informationsquelle der Bevölkerung fun-gieren, hat zur Folge, dass die politischen Ak-teure ihre Abhängigkeit von den Medien sys-tematisch ins Kalkül ziehen. Zum Erfolg einesPolitikers trägt nicht nur sein politisches Pro-gramm bei, sondern vielmehr die Tatsache, wiegut die Inhalte und die Person kommuniziertwerden können. Der Erfolg liegt schon seitJahren in den Händen von Public-Relations-Agenturen, die eine Art Werbung für die Poli-tik machen. Zwischen den Medien und den Politikernherrscht allerdings ein Dauerkonflikt: Die Poli-tiker wollen freundliche Berichte, die Medienbevorzugen ihren Prinzipien gemäß dagegendie schlechten Nachrichten („Only bad newsare good news“). Möchten also die PolitikerAufmerksamkeit der Medien für ein bestimm-tes Thema wecken, müssen sie der Produk-tionslogik der Medien folgen. Der ehemaligeamerikanische Präsident Ronald Reagan galtin diesem Sinne als Improvisations- und Insze-nierungsmeister: „Reagan ist es in all diesenJahren gelungen, die Politik in eine Kulissen-landschaft für ein über den Bildschirm flim-merndes Medienspektakel zu verwandeln, vondem die Massen sich so sehr haben faszinierenlassen, dass sie darüber die soziale und politi-sche Wirklichkeit verleugnen und verdrängenkonnten, die die Reagan-Administration fastein Jahrzehnt lang geformt und mitgestaltethat“ (König 1990, 187).Das Politische wird häufig nicht in Form vonanspruchsvollem Journalismus angeboten,sondern in Form von Unterhaltungsformaten.Dörner (2001, 31) nennt diese Kopplung vonPolitik und Unterhaltung „Politainment“ unddefiniert sie als „eine bestimmte Form der öf-fentlichen, massenmedial vermittelten Kom-munikation, in der politische Themen, Akteure,Prozesse, Deutungsmuster, Identitäten undSinnentwürfe im Modus der Unterhaltung zueiner neuen Realität des Politischen montiert

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Krieg und Medien

DAS SZENENFOTO AUS DEM FILM „BLACK HAWK DOWN“IST NUR EIN BEISPIEL FÜR DIE GEKONNTE UND GEWOLLTE

INSZENIERUNG DES MILITÄRS. DAS US-MILITÄR UNTER-STÜTZTE DIE PRODUKTION DES FILMES MIT DER BEREIT-STELLUNG VON HUBSCHRAUBERN UND ELITESOLDATEN .DAFÜR DURFTE DAS MILITÄR EINBLICKE IN DAS DREH-BUCH NEHMEN UND KONNTE DIE EINE ODER ANDERE

VERÄNDERUNG IN SEINEM SINNE ERREICHEN.picture alliance / dpa

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werden.“ Dies impliziert sowohl, dass sich po-litische Akteure der Stilmittel der Unterhal-tungsindustrie bedienen als auch, dass die Un-terhaltungsindustrie ihrerseits auf politischeThemen und Personen zurückgreift.„Infotainment“ ist der Begriff für die unter-haltsame Vermittlung von Bildungs- und In-formationsinhalten. Für die Berichterstattungsei nicht mehr entscheidend, dass es sich umwichtige Informationen und Politik handelt,die ihrem Charakter nach von Seriosität ge-prägt sind, sondern wichtig seien in erster Li-nie der Unterhaltungswert, die Visualisie-rungsmöglichkeiten und der Geschmack desPublikums (vgl. Postman 1994). Die Verwi-schung der Grenzen zwischen Informationund Unterhaltung, so die These von Postman,gefährde die Urteilsbildung der Bürger, dadiese nicht immer in der Lage seien, Nachrichtvon Unterhaltung zu unterscheiden. Ansons-ten führe der Zwang zur Bebilderung zu einerEntleerung der Inhalte von Politik.

INSZENIERUNG DES MILITÄRS

Zwischen Medien und Militär herrscht einebenso komplexes Verhältnis wie zwischen Me-dien und Politik. Für das Militär zählt nicht, wel-cher Sender das Rennen um die Information ge-winnt. Für das Militär ist von Bedeutung, wieman mit den Sendern die Informationspolitik zueinem Teil der Kriegführung machen kann. Be-reits in Friedenszeiten rüstet das Militär medialauf, um seine Stärke zu präsentieren. Durch die Zusammenarbeit mit Software-Unterneh-men (Entwicklung von Computersimulatio-nen), Filmindustrie (Produktion von Kriegsfil-men und Militär-Soaps) und den Einsatz vonKünstlern und Medienakteuren im Bereich derTruppenbetreuung versucht das Militär seineZiele zu propagieren, sein Image weiter zu ent-wickeln und Nachwuchs zu rekrutieren. DieseArt von Kooperation wird mit dem von JamesDer Derian (2002) geprägten Begriff „Mili-tärisch-Industrielles Medien-Unterhaltungs-Netzwerk“ (Military-Industrial-Media-Enter-tainment-Networks) oder kurz „Militainment“bezeichnet.Die Bandbreite möglicher Kooperationen istgroß und reicht von Kriegsfilmen, Propagan-dafilmen, Nachrichtenbeiträgen, Frontunter-haltung bis zu Computerspielen. Das amerika-nische Militär stellt für die Produktion derKriegsfilme immer wieder ihre Soldaten undAusrüstung zur Verfügung. Die Produktionvon „Black Hawk Down“ (von Ridley Scott,USA, 2001) unterstützte das Militär zum Bei-spiel mit der Bereitstellung von Hubschrau-bern und Elitesoldaten. Dafür durfte das Mili-tär Einblicke in das Drehbuch werfen undkonnte die eine oder andere Veränderung inseinem Sinne erreichen. Zunehmend hat auch das Militär für sich dieMöglichkeiten des Reality-TV entdeckt. In re-lativ kurzer Zeit sind mit Genehmigung desPentagons zahlreiche Reality-TV-Serien (kurzedokumentarische Filme von der Front) produ-ziert worden. Soldaten wurden mit digitalenKameras ausgerüstet, um Einblicke in ihrenAlltag zu bekommen (die Reihe „AmericanFighter Pilot“) oder aus der Perspektive einzel-ner Soldaten den Kampf gegen das Terror-

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CHRISTIAN BÜTTNER / MAGDALENA KLADZINSKI

UNSER AUTOR

Prof. Dr. ChristianBüttner studiertePsychologie an derPhilipps-Universi-tät in Marburg.Nach langjährigerSupervisions-, Fort-und Weiterbil-dungstätigkeit fürpädagogischeFachkräfte in Kin-dergärten, Schulen

und Einrichtungen der Erwachsenenbildungzu Aggression und interkulturellen Span-nungen ist er seit 1973 wissenschaftlicherMitarbeiter der Hessischen Stiftung für Frie-dens- und Konfliktforschung. Als ausgewie-sener Experte arbeitet er in verschiedenenKuratorien und Gremien (z.B. in der Freiwil-ligen Selbstkontrolle Fernsehen/FSK) mit.Christian Büttner hat eine Honorarprofessuran der Evangelischen FachhochschuleDarmstadt inne.

UNSERE AUTORIN

Magdalena Klad-zinski studierte ander Europa Univer-sität Viadrina inFrankfurt an derOder und absol-vierte 2001 ihr Dip-lom in Kulturwis-senschaften. SeitAugust 2003 ist sie Gastforscherinbei der Hessischen

Stiftung für Friedens- und Konfliktforschungim Arbeitsbereich „Friedenspädagogik/Kon-fliktpsychologie“. Zur Zeit absolviert sie einPromotionsstudium im Fachbereich Erzie-hungswissenschaften an der Johann Wolf-gang Goethe-Universität in Frankfurt amMain.

Netzwerk Al-Qaida zu erfahren (13-teilige Re-ality-TV-Serie „Profiles From the Front Line“). Auch die Computer- und Software-Industriewird durch das Militär unterstützt. Spiele wie„America´s Army“ (Online-Spiel) und „Full Spec-trum Warrior“ waren ursprünglich als reine Trai-ningssimulationen zur Schulung von Soldatenentwickelt worden. Heutzutage gehören sie zuden beliebtesten Spielen auf dem Computer-spielemarkt – wahrscheinlich, weil sie durch ih-ren interaktiven Charakter dem Spieler die Mög-lichkeit geben, selbst – ungefährdet – ein Soldatzu werden, ein solches Training zu absolvierenund am (virtuellen) Krieg teilzuhaben.

KRIEGSNACHRICHTEN: ALLES NURINSZENIERUNG?

Um in einem internationalen Konflikt alle Op-tionen kennen lernen zu können, muss mandie Komplexität der Konfliktsituation ins Kal-kül ziehen. Kann man als Bürger/Bürgerin ei-nes demokratischen Staates überhaupt aus-reichend und objektiv informiert werden, umpolitische Entscheidungen zu stützen odertreffen zu können? In einer Demokratie können Medien genausowenig auf Inszenierung verzichten wie Politikund Militär auf die Medien. Information undShowgeschäft balancieren stets zwischen demBedürfnis nach Selbstdarstellung (der Me-dienschaffenden wie der Politiker) und demAnspruch auf die Kontrolle von Information(vor allem des Militärs). Dies hat zur Folge,dass die Komplexität der gesellschaftspoliti-schen Verhältnisse auf ein grobes Abbild redu-ziert wird, in das zahlreiche für den Zuschauerkaum kontrollierbare Variablen eingehen. Undwenn nur nach einem groben Abbild oder nacheiner Inszenierung über mögliche militärischeInterventionen geurteilt wird, kann ein Kon-flikt einen gravierend destruktiven Verlaufnehmen. Er könnte – mit der Zustimmung desPublikums – in einem sinnlosen Krieg enden.

LITERATURBeham, M.: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik.München 1997 Der Derian, J.: Virtuous War: Mapping the Military-In-dustrial-Media-Entertainment-Network. Colorado 2001 Dörner, A.: Politainment. Politik in der medialen Erlebnis-gesellschaft. Frankfurt am Main 2001Krech, H.: „Krieg als Abenteuer“. Freimut Duve überKriegsberichterstattung. In: ZDFonline. 1.4.2003; URL.www.zdf.de/ZDFde/inhalt/14/0,1872,2040206,00.html(29.9.2004)König, H.-D.: High Noon im Mittelmeer. Die Reinszenie-rung des Mythos des Westen auf der politischen Bühne.In: Kempf, W. (Hrsg.): Medienkrieg oder „Der Fall Nicara-gua“: politisch-psychologische Analysen über US-Propa-ganda und psychologische Kriegsführung. Berlin/Ham-burg 1990, S. 169–187Kunczik, M.: Kriegsberichterstattung und Öffentlichkeits-arbeit in Kriegszeiten. In: Imhof, K./Schulz, P. (Hrsg.):Medien und Krieg – Krieg in den Medien. Zürich 1995, S. 87–104Lasswell, H.D.: Propaganda Technique in the World War.London 1927Löffelholz, M.: Beobachtung ohne Reflexion? Strukturenund Konzepte der Selbstbeobachtung des modernen Krisenjournalismus. In: Imhof, K./Schulz, P. (Hrsg.): Me-dien und Krieg – Krieg in den Medien. Zürich 1995, S. 171–192Mahr, H.: Der Zwang zu blutigen Bildern oder: Lässt sichFrieden gut verkaufen? In: Calließ, J. (Hrsg.): „Das ersteOpfer eines Krieges ist die Wahrheit“ oder Die Medienzwischen Kriegsberichterstattung und Friedensberichter-stattung. Loccum 1997, S. 105–111 Morelli A.: Prinzipien der Kriegspropaganda. Springe2004Neudeck, R.: Diskussionsanstoß. In: Calließ, J. (Hrsg.):„Das erste Opfer eines Krieges ist die Wahrheit“ oder dieMedien zwischen Kriegsberichterstattung und Friedens-berichterstattung. Loccum 1997, S. 342-347Olschewski, M.: Krieg als Show. Die neue Weltinforma-tionsordnung. Wien 1992Postman, N.: Wir amüsieren uns zu Tode: Urteilsbildungim Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Gütersloh 1994Schanne, M.: Der Beitrag journalistischer Objektivitätskri-terien in Kriegszeiten. In: Imhof, K./Schulz, P. (Hrsg.): Me-dien und Krieg – Krieg in den Medien. Zürich 1995, S. 111-120Weischenberg, S.: Schöne neue Welt. Politik und Medienin Krisensituationen. In: Schmitz, H.-J./Frech, S.: Politikpopulär machen. Politische Bildung durch Massenme-dien. Hohenheimer Medientage 1992. Stuttgart 1993, S.11–28

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Seit dem 1. Oktober 2004 heißt der neue Direk-tor der Landeszentrale für politische Bildung(LpB) Lothar Frick. Er wurde 1961 in Maul-bronn (Enzkreis) geboren und hat 1980 amMelanchthon-Gymnasium in Bretten sein Abitur gemacht. Danach studierte Lothar Frickvon 1981 bis 1987 Politische Wissenschaften,Soziologie und Volkswirtschaftslehre an derUniversität Heidelberg und beendete sein Stu-dium als Magister Artium (M.A.). Von 1983 bis1987 war er Stipendiat des Instituts für Be-gabtenförderung der Konrad-Adenauer-Stif-tung. Von August 1985 bis August 1986 stu-dierte er Politische Wissenschaft an der Uni-versity of Southern California in Los Angeles(USA) und schloss dort mit dem „Master ofArts in Political Science“ ab.

Beruflich war Lothar Frick wissenschaftlicherMitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung, da-nach Referent in der Grundsatz- und Planungs-abteilung der CDU-Bundesgeschäftsstelle. VonJanuar 1991 bis Februar 1995 arbeitete er alswissenschaftlicher Mitarbeiter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Büroleiter des stell-vertretenden Fraktionsvorsitzenden Dr. HeinerGeißler, MdB.

Von März 1995 bis September 2004 leitete Lo-thar Frick das Referat Politische Planung imStaatsministerium Baden-Württemberg; vonMai 1997 bis September 2004 war er zudemstellvertretender Leiter der Abteilung Grund-satz und Planung im Staatsministerium.

INTERVIEW MIT LOTHAR FRICK

Auszüge aus einem Interview mit Direktor Lo-thar Frick in der LpB-Kundenzeitschrift „Ein-blick“. Der volle Wortlaut erscheint im „Einblick07“ (Erscheinungsdatum 15. Dezember 2004).

Seit dem 1. Oktober 2004 sind Sie Direktor der Landeszentrale fürpolitische Bildung. Ist Ihnen damit ein Traum in Erfüllung gegangen?

Ich freue mich natürlich riesig über meineneue Aufgabe als Direktor dieser wichtigenEinrichtung. Ich hoffe, dass ich gemeinsammit den Kolleginnen und Kollegen die politi-sche Bildung im Land und darüber hinaus vor-anbringen kann. Notwendig ist das sicher. DieAussage des früheren Bundesverfassungsrich-ters Ernst-Wilhelm Böckenförde, wonach derfreiheitliche Rechtsstaat von Voraussetzungenlebe, die er selbst nicht garantieren könne, istsicher schon häufig zitiert worden. Er hat jaauch recht: Garantieren kann das der demo-kratische Rechtsstaat nicht. Aber: Natürlichkann der demokratische Rechtsstaat etwasdafür tun, seine eigenen Voraussetzungen zuerhalten. Die Unterstützung und Förderungder politischen Bildung trägt dazu sicher sehrwesentlich bei. Als Demokrat kann nur han-deln, wer die Demokratie und ihre vielfältigenVorteile auch versteht.

Was reizt Sie am meisten an der neuen Aufgabe?

Persönlich reizt mich der eigene Gestaltungs-spielraum im Rahmen der Zielsetzungen derLandeszentrale. Der inhaltliche Reiz liegt in derFaszination der Demokratie, der demokrati-schen Teilhabe, der Vermittlung der grundle-genden Werte des Grundgesetzes und unsererfreien Gesellschaft. Politische Bildung trägt inhohem Maß zum Zusammenhalt in unserer

Gesellschaft bei. Wenn einen das nicht her-ausfordert, was dann?

Ihr Vorgänger Siegfried Schiele hatdurch seine lange Amtszeit und seinePersönlichkeit die politische Bildungin Deutschland geprägt. Welches Erbe von ihm nehmen Sie gerne an?

Ganz besonders seine fortwährende Mahnungund den Grundsatz, dass politische Bildungunabhängig und überparteilich sein muss.Deswegen muss man seine persönliche politi-sche Meinung ja nicht morgens an der Pforteabgeben.

Und wo setzen Sie andere Schwerpunkte?

Über eigene Akzente will ich wenige Wochennach meinem Start noch nicht viel sagen, nurvielleicht soviel: Die politische Bildung musssich noch stärker auf Dienstleistungen ausrich-ten, ein modernes Erscheinungsbild aufbauenund pflegen und nach außen wirken. Selbstbe-wusstsein ist gefragt: Nur wer sich selber im-poniert, imponiert auch anderen; tue Gutes –und rede darüber. Da gibt es in der politischenBildung Nachholbedarf, und das nicht wenig.

Die politische Bildung muss ihre Notwendigkeit in Zeiten leerer Kassenneu bestätigen. Wie sichern Sie auchin Zukunft den Bestand?

Zunächst einmal: Diejenigen, die gegen politi-sche Bildung argumentieren und teilweise po-lemisieren, sind in der Beweispflicht und müs-sen begründen, warum die politische Bildungausgerechnet in einer Zeit verzichtbar seinsoll, in der alle nach mehr Bildung und mehrWeiterbildung rufen und zudem gleichzeitigeine wachsende Kluft zwischen den Bürgernund den Politikern beklagt wird. Mehr Natur-wissenschaften, mehr Technik, mehr Musi-sches, mehr berufliche Bildung – aber wenigeroder keine politische Bildung? Dafür habe ichnoch keinen einzigen gescheiten Grund ge-hört. Möglichst viel Sparen mit Verstand heißtmöglichst wenig Sparen am Verstand. Das än-dert nichts daran, dass heutzutage jede öf-fentliche Einrichtung ihre Effizienz und Leis-tungsfähigkeit unter Beweis stellen muss.

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Aus unserer Arbeit

Lothar Frick – neuer Direktor der Landeszentrale

Die Zeitschrift „Der Bürger im Staat“ wird herausgegeben von der LANDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Baden-Württemberg.Direktor der Landeszentrale: Lothar FrickRedaktion: Siegfried Frech, Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax (07 11) 16 40 99-77.Herstellung: Schwabenverlag media gmbh, Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern (Ruit),Telefon (07 11) 44 06-0, Telefax (07 11) 44 23 49Vertrieb: Verlagsgesellschaft W. E. Weinmann mbH, Postfach 12 07, 70773 Filderstadt,Telefon (07 11) 7 00 15 30, Telefax (07 11) 70 01 53 10.Preis der Einzelnummer: € 3,33, Jahresabonnement € 12,80 Abbuchung.Die namentlich gezeichneten Artikel stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion dar. Für unaufgefordert eingesandteManuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung.Nachdruck oder Vervielfältigung auf Papier und elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mitGenehmigung der Redaktion.

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Der Gestaltwandel des Krieges

HERFRIED MÜNKLER

Die neuen Kriege

Rowohlt Berlin Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002288 Seiten, 19,80 Euro

Die mit dem Ende des Kalten Krieges verbun-dene Friedensillusion hat sich als trügerisch er-wiesen. Der Krieg ist nicht verschwunden, er hatlediglich seine Erscheinungsform geändert. DerPolitikwissenschaftler Herfried Münkler unter-sucht die Unterschiede zwischen den Kriegender letzten fünfzehn Jahre und den klassischenStaatenkriegen.Nach Münklers Beobachtung entzündeten sichalle Kriegen der letzten zehn bis 15 Jahre an denRändern und Bruchstellen einstiger Imperien.In Westeuropa und Nordamerika, Gebieten miteiner stabilen Staatsbildung, hätten sich hinge-gen Zonen des Friedens entwickelt. Der Pazifis-mus dieser kapitalistisch strukturierten Natio-nen sei u.a. auf ein Kosten-Nutzen-Kalkülzurückzuführen, wonach sich Kriege zwischenhoch entwickelten Industrienationen nichtmehr lohnen. Die neuen Kriege aber sind fürviele der Beteiligten lukrativ, die durch sie ver-ursachten immensen langfristigen Kosten vonanderen zu tragen. Unter den Bedingungen dersich staatlicher Steuerung entziehenden Glo-balisierung greifen die Kriegsparteien ungehin-dert auf die Ressourcen der Weltwirtschaft zurück, so dass die Fortsetzung der Kriegshand-lungen nicht von der Durchsetzung politischerZiele, sondern von der weiteren Verfügbarkeitkriegswichtiger Ressourcen abhängt.In einem historischen Vergleich grenzt Münk-ler die neuen Kriege gegen klassische Staaten-kriege ab. Staatenkriege wurden nach Regelnerklärt und beendet sowie mit dem Ziel geführt,strittige Angelegenheiten in einer Entschei-dungsschlacht zu klären. Die neuen Kriege hin-gegen weisen weder einen klaren Anfang nochein bestimmbares Ende auf. An die Stelle vonFriedensschlüsse treten Friedensprozesse, diein der Regel nur erfolgreich sind, wenn sie voneinem Dritten moderiert werden, der sowohl dieGewalt der örtlichen Parteien unterdrücken alsauch erhebliche Geldmittel investieren kann.Wegen des Fehlens einer zeitlichen und räum-lichen Begrenzung der Gewaltanwendung ten-dieren innergesellschaftlicher Kriege dazu, sichzu transnationalen Konflikten auszuweiten. Als Grundlage militärisch entscheidbarer Staa-tenkriege arbeitet Münkler sechs Unterschei-dungen und Grenzziehungen heraus: Im Unter-schied zu Reichen, deren Herrschaftsanspruchvom Zentrum zur Peripherie hin abnimmt, sindStaaten durch die Festlegung anerkannter ter-ritorialer Grenzen gekennzeichnet. Auf der ter-ritorialen Grenzziehung beruht die klare Un-terscheidbarkeit zwischen Krieg und Frieden.Allein dem Staat obliegt die Entscheidung zwi-schen Freund und Feind. Auf dieser Festlegungberuht die Differenzierung zwischen Kombat-tanten und Nicht-Kombattanten, die eine klareGrenzziehung zwischen Kriegshandlungen undGewaltkriminalität ermöglicht. Diesen modellhaft skizzierten Grenzziehungenund Unterscheidungen stellt Münkler drei Ent-wicklungen bei den neuen Kriegen gegenüber:

(1.) Die zunehmende Entstaatlichung und Pri-vatisierung kriegerischer Gewalt: Während inden klassischen Kriegen die Staaten als Mono-polisten des Krieges agieren, treten in denneuen Kriegen immer häufiger parastaatlicheoder sogar private Akteure – lokale Warlords,Guerillagruppen, global operierende Söldner-firmen bis hin zu internationalen Terrornetz-werken – als kriegsführende Parteien auf. DieseEntwicklung beruht auf den geringen Kostender Kriegführung durch günstig zu beschaf-fende leichte Waffen, deren Handhabung keinelangen Ausbildungszeiten erfordert. In den un-terschiedlichen Kriegsökonomien erkenntMünkler die wesentlichen Unterschiede zwi-schen den zum Auslaufmodell gewordenenklassischen und den neuen Kriegen. Den unmit-telbaren Anstieg der Gewalt gegen die Zivilbe-völkerung sieht der Autor darin begründet, dasssich die Bewaffneten die zur Kriegsführung be-nötigten Mittel durch Raub und Plünderungbeschaffen. Hinzu treten finanzielle Unterstüt-zung durch reiche Privatpersonen, interessierteStaaten und Emigrantengruppen, durch denVerkauf von Bohr- und Schürfrechten in denkontrollierten Gebieten, aber auch Lösegelder-pressung, Menschen- und Drogenhandel imZusammenwirken mit der international agie-renden organisierten Kriminalität. In der Mög-lichkeit persönlicher Bereicherung sieht derAutor die wesentliche Ursache dafür, dass sichdie neuen Kriege oftmals über Jahre hinziehen.Ethnisch-kulturelle Spannungen und religiöseÜberzeugungen seien zumeist nicht die Ursa-chen eines Konfliktes, sondern wirkten als ver-stärkende Motivations- und Legitimations-quellen. Auch erteilt Münkler der weithinverbreiteten Annahme eine Absage, wonachArmut und Elend die Hauptursachen dieserKriege seien. Mit dieser Feststellung tritt derAutor der irrigen Vorstellung entgegen, in denvon den neuen Kriegen geschüttelten Regionengingen – wie in den OECD-Staaten – Rationali-sierung und Pazifizierung Hand in Hand. (2.) Die Asymmetrierung kriegerischer Gewalt:Unter Asymmetrierung der neuen Kriege ver-steht der Autor, dass hier in der Regel nichtgleichartige Gegner miteinander kämpfen, son-dern die Gewalt sich gegen die Zivilbevölkerungrichtet. Die Verstaatlichung des Militärwesensund der Aufstieg des Staates zum Monopolis-ten habe ein auf Symmetrie beruhendes Ver-hältnis zwischen den Staaten begründet undeine Verrechtlichung des Krieges ermöglicht.Die auf Ungleichheit basierende Vorstellungdes Gerechten Krieges, die unter den Bedingun-gen der Symmetrie der Staatenkriege ihre Be-deutung verloren habe, hat nach AuffassungMünklers unter den asymmetrischen Bedin-gungen der neuen Kriege in der ihr auf das Engste verwandten Idee des Heiligen Kriegesihren Nachfolger gefunden. Gewaltformen wieVergewaltigungen, die in Staatenkriegen eineBegleiterscheinung des Krieges darstellten,sind in den asymmetrisch geführten neuenKriegen oft zum eigentlichen Kriegszweck ge-worden. Die medial hergestellte Weltöffent-lichkeit sieht Münkler als eine Ressource derneuen Kriege, so dass die Medien unfreiwillig indie der Rolle einer kriegsbeteiligten Partei ge-drängt werden.(3.) Die Autonomisierung militärisch eingebun-dener Gewaltformen: Die fehlende Kontrolle

regulärer Armeen über das Kriegsgeschehenzieht eine zunehmende Verselbstständigungder Gewalthandlungen nach sich. Als Mo-tive für die neuen Kriege sieht er eine schwerdurchschaubare Gemengelage aus persönli-chem Machtstreben, ideologischer Überzeu-gung, ethnisch-kulturellen Gegensätzen sowieHabgier und Korruption an. Diese Gemengelageund die damit einhergehende Vermischungkriegerischer Gewalt und organisierter Krimi-nalität behindert die Beendigung der neuenKriege und die Herstellung eines stabilen Frie-dens.Münkler stellt dem in der allgemeinen Verwen-dung schwammigen Begriff des Terrorismuseine griffige Definition entgegen. Hiernachsetzt Terrorismus als kriegerische Aktivität ei-nen erkennbaren politischen Willen voraus, wieer nur bei einigen der im Verborgenen operie-renden terroristischen Netzwerken, zum Bei-spiel bei Al Qaida, erkennbar sei. Die Entschei-dung für eine bewaffnete Auseinandersetzungmit terroristischen Mitteln beruhe auf einer ra-tionalen Einschätzung der Kräfteverhältnissedurch militärisch schwache Akteure und dieverfolgten Strategien zielten nicht auf die un-mittelbaren physischen, sondern die psychi-schen Folgen der Gewaltanwendung. Insbe-sondere sei die terroristische Strategie auf dieVerbindung von Gewaltanwendung mit derMediendichte und dem offenen Medienzugangin den attackierten Ländern gerichtet: Wernicht in der Lage ist, konventionelle Streitkräfteeiner Macht mit militärischen Mitteln erfolg-reich anzugreifen, sorgt für die Verbreitung vonBildern, in denen die Folgen der Gewaltanwen-dung sinnlich erfahrbar werden. TerroristischeHandlungen sind deshalb regelmäßig als dop-pelte Botschaften zu verstehen: Zunächst wen-den sie sich an den Angegriffenen, um ihm seineVerwundbarkeit zu demonstrieren und zu sig-nalisieren, dass er bei Fortsetzung seines poli-tischen Willens mit politischen Schäden zurechnen habe. Die weitere Botschaft richte sichan „den zu interessierenden Dritten“, der denterroristischen Gruppen zugleich als Legitima-tionsspender dient; seine tatsächliche oder ver-meintliche Unterdrückung wird regelmäßig alsUrsache des Kampfes herausgestellt. Nach derBeobachtung von Herfried Münkler hat die Ver-bindung von religiöser Motivation und terroris-tischer Strategie zu einer Beschleunigung derEskalation terroristischer Gewalt geführt. Beiden modernen Formen des Terrorismus – ins-besondere den Angriffen auf das World TradeCenter – unterstellt Münkler, dass ihre Planereher auf die ökonomischen als die unmittelba-ren Folgen der Anschläge spekulierten. Münkler stellt heraus, dass primär die Bedro-hung der Friedensökonomien benachbarterund sogar weiter entfernter Länder durch dieneuen Kriege, nicht aber menschenrechtlicheErwägungen andere Staaten, Bündnissystemeoder die Vereinten Nationen zu militärischenInterventionen bewegen. Vor einer militäri-schen Intervention werden in einem politisch-ökonomischen Kalkül die Kosten der Fortdauerdes Krieges für die Friedensökonomien mit de-nen einer solchen Intervention gegeneinanderabgewogen. Dem Einfluss der Medien misstMünkler entscheidende Bedeutung auf die po-litischen Entscheidungsprozesse zu: Berichtevon massiven Menschenrechtsverletzungen

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Buchbesprechungen

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förderten die Bereitschaft der Gesellschaften inden Interventionsländern, die Kosten und Risi-ken eines Militäreinsatzes zu tragen. Da dieMentalität westlicher Gesellschaften jedochempfindlich auf derartige Kosten und Risikenreagiert, wird zunächst eine Politik des Zuwar-tens in der Hoffnung verfolgt, dass die Folgeneines innergesellschaftlichen Krieges geringersein würden als die einer Militärintervention.Vor diesem Hintergrund beurteilt Münkler dieVorstellung eines Zeitalters globaler Men-schenrechtspolitik, in dem größere Menschen-rechtsverstöße durch Interventionen geahndetwerden, als unrealistisch. Nach seinem Befundstehen sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts eineschnell wachsende Anzahl von Krisengebietenund eine eng begrenzte Menge interventions-fähiger und zudem aufgrund ihrer spezifischenInteressenlage sowie ihrer politischen Verfas-sung nur selten interventionsbereiter Mächtegegenüber.Abschließend stellt Münkler die unterschiedli-chen Reaktionen der Europäer und der Ameri-kaner auf die Herausforderungen des inter-nationalen Terrorismus dar: Die Europäer ver-folgen die Strategie, die in Kriegen zerfalleneStaatlichkeit wiederherzustellen, um so dieExistenz- und Operationsbedingungen der Ter-roristen zu beschränken. Die USA hingegen set-zen auf einen langen, womöglich permanentenKrieg gegen terroristische Organisationen. Beider Beurteilung beider Wege macht der Verfas-ser deutlich, dass territorial gebundene Staat-lichkeit die Grundlage der Sanktionierbarkeitder Verletzung zwischenstaatlicher Regeln undinternationalen Rechts darstellt. Die Erfahrun-gen hätten jedoch gezeigt, dass Netzwerke wieAl Qaida nicht mit üblichen Sanktionen zu tref-fen seien und selbst herkömmliche Militär-schläge das Netzwerk nicht völlig zerreißenkönnten. Dorothee Kallenberg-Laade

Internationaler Terrorismus und Terrorismusbekämpfung

JÜRGEN TODENHÖFER

Wer weint schon um Abdul und Tanaya?

Herder Verlag Freiburg 2003224 Seiten, 19,90 Euro (Gebunden), 9,90 Euro (Taschenbuchausgabe)

Jürgen Todenhöfer, früherer Politiker und Ma-nager, befasst sich in seinem menschlich bewe-genden, auf persönlichen Erfahrungen und tie-fem Engagement beruhenden Buch mit deminternationalen Terrorismus und seinen Aus-wirkungen. Terrorismus prägte Todenhöfersprivates und berufliches Leben: Als Richter warer an Strafprozessen gegen Mitglieder der RAFbeteiligt. Hanns Martin Schleyer, von der RAFentführter und getöteter Arbeitgeberpräsident,war sein enger persönlicher Freund und auch erselbst stand auf der Abschussliste der Terroris-ten. Auf diesen Erfahrungen beruht Todenhö-fers psychologische Einschätzung terroristischagierender Persönlichkeiten als zumeist hoch-intelligenten, sensiblen und hypermoralischenMenschen mit verwundetem Ego. Bei allen Ter-roristen konstatiert der Autor ungeachtet ihresAnspruchs hoher Moralität das völlige Fehlenvon Mitleid mit ihren Opfern. Der Kampf gegen

tatsächliche oder vermeintliche Ungerechtig-keit gibt nach seiner Einschätzung dem Lebender Terroristen Aufgabe und Sinn. Dieses Psychogramm sieht Todenhöfer in derPerson Osama Bin Ladens bestätigt: Die Präsenzamerikanischer Truppen auf der arabischenHalbinsel und die heutige Bedeutungslosigkeitder früher weltbeherrschenden arabischenStaaten begründeten eine tiefe Demütigungdes Multimillionärs saudischen Ursprungs. BinLaden sehe sich als Werkzeug der Vorhersehungdazu auserkoren, die verhasste westliche Weltzu überwinden. Bei der Verfolgung dieser selbstgewählten Mission verfolge er die allen Terro-risten gemeinsame Strategie, den Gegner durchdemütigende Anschläge zu Überreaktionenherauszufordern.Der Autor weiß aus eigener Erfahrung, dass Ter-ror nicht mit Gegenterror zu überwinden ist.Engagiert tritt er dafür ein, den Terrorismus mitaller gebotenen Härte zu verfolgen, fordert je-doch gleichzeitig Gerechtigkeit gegenüber dermuslimischen Welt. Insbesondere den USAwirft er vor, bei der Verfolgung von Al Qaida unbeteiligte Zivilisten zu Opfern eines sie nichtbetreffenden Kampf gemacht zu haben. Ange-sichts dessen stellt er die Frage nach der mora-lischen Überlegenheit der Verfolger gegenübereinem Terroristen, der mitleidlos Unschuldigefür seine terroristischen Ziele opfert. Überzeu-gend legt der Autor da, dass mit der Bombar-dierung afghanischer Städte Bin Ladens Stra-tegie aufgegangen ist und ihm neue Anhängerzutrieb, statt ihn und sein Netzwerk zu schwä-chen.Todenhöfer glaubt nicht, dass aktive Terroristenbekämpft werden können. Das einzige Mittelsieht er darin, den Zulauf von Sympathisantenzu unterbinden. Dies sei jedoch nicht mit derDemonstration größerer Stärke, sondern grö-ßerer Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu erreichen. Hierzu fordert er konkrete Maßnah-men ein: Erforderlich sei zunächst ein partner-schaftlicher Dialog mit der muslimischen Welt.Die Politik einer doppelten Moral müsse been-det werden, fordert er in Hinblick auf die Inter-ventionen der USA gegenüber Afghanistan undIrak, während andere Unrechtsregime wie Tad-schikistan und Usbekistan wegen ihrer Erdöl-vorkommen verschont blieben. Anti-Terror-Feldzügen mit Mitteln des konventionellenKrieges erklärt er eine klare Absage und fordertstattdessen eine Verstärkung der Entwick-lungshilfe für gemäßigte muslimische Staaten.Als Methoden zum Kampf gegen den Terroris-mus verweist er neben harten wirtschaftlichenund politischen Strafmaßnahmen gegen un-terstützende Staaten auf nachrichtendienstli-che Aufklärung, Unterwanderung des terroris-tischen Umfeldes und den Einsatz vonSpezialkommandos.Eindringlich schildert Todenhöfer das Leidendes afghanischen Volkes durch fortwährendeKriege mit der Sowjetunion, den anschließen-den Bürgerkrieg und die Angriffe der USA.Durch unter persönlicher Gefahr unternom-mene Reisen nach Afghanistan und Pakistanweiß Todenhöfer um die Zerstörung des Landesund das Elend in den Flüchtlingslagern Pakis-tans. Der dreijährige Bürgerkrieg bis zum SturzNadjibullahs 1992 führte zum Zusammen-bruch aller staatlichen Strukturen. Durch denRückzug der die Mudjahhedin unterstützenden

westlichen Staaten stürzte das Land ins Chaosund wurde in Kämpfen zwischen Warlords,Mudjaheddin-Führern, Stammesfürsten undDrogenbaronen zerrieben. In dieser Situationmarschierten 1994 die – zumeist afghanischenFlüchtlingslagern in Pakistan entstammenden– radikal-islamischen Taliban mit Unterstüt-zung der USA, Pakistans und Saudi-Arabiens einund kamen an die Regierung.Schon bald nach den von Todenhöfer mit gro-ßer persönlicher Anteilnahme verfolgten Ereig-nissen des 11. September 2001 fürchtete er, dassdas afghanische Volk zum Hauptleidtragendendes Kampfes der USA gegen Al Qaida werdenwürde. Als Kenner dieses Volkes betont er, dasssich die Afghanen mit unglaublichem Mut dengrößten Armeen der Welt – Mongolen, Englän-dern und Sowjets – entgegengestellt, nie jedochgegen unschuldige Zivilpersonen gekämpfthätten. Obwohl das feige, auf Zivilisten keineRücksicht nehmende Agieren des internationa-len Terrorismus dem afghanischen Volkscha-rakter fremd sei, wurden unterschiedslos Terro-ristencamps im Hindukusch und afghanischeStädte bombardiert. Die Inkaufnahme zahlloserOpfer unter der Zivilbevölkerung als „unver-meidliche Kollateralschäden“ und den von Le-bensmittelpaketen begleiteten Bombenabwurfbrandmarkt Todenhöfer als zynische Verhöh-nung des afghanischen Volkes. Er schildert diepolitische Situation Afghanistans und belegtdamit seine Überzeugung, dass nach dem 11.September 2001 die Auslieferung Bin Ladensohne Krieg erreichbar gewesen sei. Die gegebe-nen Möglichkeiten seien von der Bush-Regie-rung nicht genutzt worden, weil diese keine po-litische Lösung angestrebt, sondern ein Exempelhabe statuieren wollen. Den der Weltöffentlich-keit als Erfolg dargestellten Afghanistankriegbeurteilt Todenhöfer als eindeutigen Fehlschlagder Terrorismusbekämpfung und Untergang dermoralischen Glaubwürdigkeit des Westens inder arabischen Welt. Zahlreiche Zivilisten wur-den getötet, während Bin Laden nebst seinerFührungsriege die Flucht gelang. Mehr noch:Bin Laden erwarb damit den Nimbus eines ara-bischen Helden. Als Fazit dieses Krieges rechnetTodenhöfer mit einem weltweiten Anstieg ter-roristischer Anschläge. Todenhöfer erinnert an den weiteren Ablauf derEreignisse, wobei seine Schilderung vor demAusbruch des Irakkrieges endet. Der Autor stelltdar, dass Saddam Hussein zum „Staatsfeind Nr.1“ der amerikanischen Außenpolitik hochstili-siert wurde, nachdem erkennbar war, dass BinLaden sich dem amerikanischen Zugriff entzo-gen hatte. Er stellt heraus, dass es keinerlei An-haltspunkte für eine Allianz zwischen der iraki-schen Führung und der Al Qaida gab. Der Ty-rann Saddam Hussein, von den USA jahrelangmit Geld und Waffen als Bollwerk gegen deniranischen Revolutionsführer Khomeini unter-stützt, mutierte in Erklärungen der Bush-Re-gierung zur konkreten Bedrohung der westli-chen Welt im Allgemeinen und der VereinigtenStaaten im Besonderen. Diese Gefährdungwurde mit dem Verdacht auf den Besitz vonatomaren, chemischen und biologischen Waf-fen begründet, ohne dass dieser Annahme ge-sicherte Erkenntnisse zugrunde lagen. Toden-höfer stellt unmissverständlich klar, dass dieoffiziell für den Krieg ins Feld geführten Argu-mente völkerrechtlich selbst dann keinen An-

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Buchbesprechungen

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griffskrieg rechtfertigten, wenn die ihnen zu-grundeliegenden Annahmen erwiesene Faktenwären. Damit drängt sich die Frage auf, aus wel-chen Gründen die amerikanische Führung – wiezuvor in Afghanistan – statt einer politische Lö-sung einen Krieg anstrebte. Für letztlich ent-scheidend hält Todenhöfer, dass die USA dieKontrolle über die irakischen Erdölvorkommenanstrebten. Todenhöfer stellt die Frage, ob derTod von über 3000 unschuldigen Menschenbeim Angriff auf das World Trade Center eineebenso große oder sogar höhere Zahl unschul-diger afghanischer oder irakischer Kriegstoterrechtfertigen könne. Die weitere Entwicklung hat gezeigt, dass dieWarnungen Todenhöfers ungehört verhallten.Auch der Krieg gegen den Irak hat unschuldigeMenschenleben gekostet, den Terror jedochnicht besiegt. Die den Abschluss des Buchesbildende Mahnung von John F. Kennedys („DieMenschheit muss den Krieg beenden, sonstsetzt der Krieg der Menschheit ein Ende“) istnach dem Irakkrieg ebenso aktuell geblieben,wie Todenhöfers Auseinandersetzung mit derRolle der USA in der Welt.

Dorothee Kallenberg-Laade

Analysen zur Friedens- und Konfliktforschung

CHRISTOPH WELLER, ULRICH RATSCH, REINHARDT MUTZ, BRUNO SCHOCH, CORINNA HAUSWEDELL

Friedensgutachten 2004

LIT Verlag, Münster 2004326 Seiten, 12,90 Euro

In ihrem diesjährigen Friedensgutachten prä-sentieren die fünf deutschen Institute für Frie-dens- und Konfliktforschung (Institut für Ent-wicklung und Frieden; Forschungsstätte derEvangelischen Studiengemeinschaft; Institutfür Friedensforschung und Sicherheitspolitikan der Universität Hamburg; Hessische StiftungFriedens- und Konfliktforschung; Bonn Inter-national Center for Conversion) in 29 Einzelbei-tragen ihre Einschätzungen zu akuten weltwei-ten Krisen- und Konfliktsituationen. Ergänztwerden diese wissenschaftlichen Untersu-chungen durch einen ausführlichen Anhang, indem der Leser/die Leserin anhand von Zeitta-feln die Dynamik einzelner Konflikte und poli-tischer Entwicklungen nachvollziehen kann.Der Schwerpunkt der Ausgabe des Jahres 2004liegt neben Analysen und Berichten über Kri-senregionen wie dem Irak oder Afghanistan aufder Suche nach Erfolg versprechenden Konzep-ten der Krisenprävention und der Frage, ob mi-litärische Mittel überhaupt geeignet sind, mehrFrieden und Sicherheit in der Welt zu erreichen.Ferner liefern die Autoren ihre Beurteilungenund Einschätzungen zur Gefährdung des Welt-friedens durch Probleme wie den Zerfall vonStaaten, die Verbreitung von Massenvernich-tungswaffen und den internationalen Terroris-mus.In vielen Beiträgen wird zudem die Rolle vonglobalen Akteuren wie den USA, der Europäi-schen Union (EU) oder auch der BundesrepublikDeutschland untersucht und analysiert. So hin-terfragen die Autoren zum Beispiel in dem Bei-

trag „Frieden durch Krieg“ die außenpolitischenLeitlinien der Bush-Regierung. Auf die Rolle derEU in Bezug auf die Rüstungs- bzw. Abrüs-tungsproblematik wird gleich in zwei Untersu-chungen eingegangen. Des Weiteren wird diesich wandelnde Funktion der Bundeswehrkommentiert und es wird aufgezeigt, welche Widersprüche zwischen dem ursprüng-lichen Verteidigungsauftrag unserer Streit-kräfte und den immer häufiger werdenden Aus-landseinsätzen bestehen. Darüber hinaus werden aber auch Nichtregie-rungsorganisationen (NGOs) und weltweit ope-rierende Konzerne in die Analysen miteinbezo-gen. Hierbei wird unter anderem die Rolle derPrivatwirtschaft in bewaffneten Konflikten kri-tisch unter die Lupe genommen. In diesem Zu-sammenhang ist auch unbedingt die Untersu-chung von Ulrich Ratsch zu den Folgen derPrivatisierung der Wasservorsorgung in Ent-wicklungsländern zu erwähnen, welche anhandverschiedener Beispiele aufgezeigt werden.Insgesamt liefert das Friedensgutachten 2004einen hervorragenden Überblick über die ak-tuellen weltweiten Konflikte und Krisensitua-tionen. Weiterhin werden Konfliktlösungsstra-tegien und Krisenpräventionsmöglichkeitenuntersucht und konkrete Vorschläge zur Beile-gung konfliktbehafteter und kriegerischer Aus-einandersetzungen angeboten. An der Thema-tik interessierten Leserinnen und Lesern kanndie Anschaffung daher nur empfohlen werden.

Alexander Fleischauer

Konservatismus im „liberalen Musterländle“: Bürgerpartei und Bauernbund in Württemberg 1895–1933

REINHOLD WEBER

Bürgerpartei und Bauernbund in Würt-temberg. Konservative Parteien im Kaiser-reich und in Weimar (1895–1933)

Düsseldorf 2004. 606 Seiten mit einer CD-ROM-Beilage (= Beiträge zur Geschichtedes Parlamentarismus und der politischenParteien Bd. 141, hrsg. von der Kommissionfür Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien), 84,80 EUR.

Untersuchungen, die sich mit politischen Par-teien im wilhelminischen Kaiserreich und in derWeimarer Republik beschäftigen, bilden unver-mindert einen zentralen Forschungsgegen-stand der deutschen Geschichtswissenschaft.Mit Blick auf das Parteiensystem dieser Zeit-spanne gelten für Württemberg wie für dieReichsebene vor allem das liberale, mittlerweileaber auch das konfessionell gebundene und dassozialdemokratische Parteienspektrum als guterforscht. Demgegenüber stellen Studien, indenen der Weg des Konservativismus von derpolitischen Idee zur organisierten Partei - ins-besondere unter Berücksichtigung regionalerVorzeichen - beleuchtet wird, ein dringendesDesiderat dar. Infolgedessen schließt ReinholdWebers Tübinger Dissertation über „Bürgerpar-tei und Bauernbund in Württemberg“ sowohlfür die Parteienforschung als auch für die würt-tembergische Regionalgeschichte eine For-schungslücke.

Beachtung verdient jedoch nicht allein Webersinhaltliche Pionierarbeit, sondern auch dieKonzeption seiner Studie. Im Gegensatz zurlandläufig chronologischen Darstellungsweisein der historischen Parteienforschung wird einesystematisch angelegte Analyse präsentiert,die sich den beiden untersuchten Parteien -Bürgerpartei (bis 1918 DeutschkonservativePartei) und Bauernbund (seit 1919 Bauern- undWeingärtnerbund) - in einem horizontalen Vergleich nähert. Weber stellt sich dabei derHerausforderung, die Dichotomie von rein in-nerparteilich orientierten Strukturuntersu-chungen und ausschließlich wahlsoziologischausgerichteten Funktionsanalysen zu überwin-den. Sein Ziel ist die Analyse der wechselseiti-gen Verflechtung endogener und exogener Einflussfaktoren. Der viel beschworenen kul-turalistischen Wende der Geschichtswissen-schaft Rechnung tragend, rückt vor allem die„subkulturelle Einbindung“ der Parteien in We-bers Blickfeld.Während in Preußen und auf Reichsebene diekonservativen Parteien auf den PreußischenVolksverein von 1861 und die 1867 gegründeteFreikonservative Partei zurückgingen, verliefdie Formierung des parteipolitischen Konserva-tivismus im liberalen Stammland Württembergzögerlicher. Das erste - und zunächst einzige -dem Konservativismus zuzuordnende Parla-mentsmandat wurde in Württemberg 1895 ge-wonnen. Charakteristisch für die regionale Ent-wicklung war, so Weber, ein Konglomerat„organisatorischer Fehlschläge und program-matischer Disparatheit“. Erst mit deutlicher zuTage tretenden gesellschaftlichen Spannungs-linien und den Wahlerfolgen von Sozialde-mokraten und Zentrum einerseits sowie der Zunahme antiliberaler bzw. antimoderner Strö-mungen aufgrund der sozialen Abstiegssorgendes Handwerks und Kleinhandels andererseits,kam es zur Verfestigung der Organisations-strukturen im württembergischen Deutsch-konservativismus.Wesentliche Impulse der parteiorganisatori-schen Formierung des Bauernbundes rührtenhingegen von der Mobilisierung der ländlichenBevölkerung während der Agrarkrise. Zwi-schen 1893 und 1895 entstand aus landwirt-schaftlichen Interessengruppen eine eigeneOrganisation, die zunächst als „württembergi-sche Sektion des Bundes der Landwirte“ fir-mierte und sich dann, im Gegensatz zur Ent-wicklung auf Reichsebene, als eigenständigePartei konstituierte. Katalysatorische Wirkungbeim Aufbau eigener Parteistrukturen entfal-tete vor allem das Spannungsverhältnis zwi-schen den preußisch geprägten Honoratioren-interessen des „Bundes der Landwirte“ undden antietatistischen Zielen der württember-gischen Agrarier. Im Kaiserreich präsentiertensich Bauernbund und Deutschkonservativefortan gemeinsam als Alternative zum domi-nanten württembergischen Bipolarismus vonLiberalen und Demokraten, orientierten sichaber mit bürgerlicher Stadtbevölkerung undklein- und mittelbäuerlicher Landbevölkerungan unterschiedlichen sozialstrukturellen Trä-ger- und Wählerklientelen.Ebenso divergent wie die Entstehungsge-schichte entwickelte sich auch die Organisationbeider konservativer Parteien: Der flächende-ckende und professionelle Parteiapparat des

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Bauernbundes war sowohl im Kaiserreich alsauch in der Republik „streng hierarchisiert“ und„lokal verankert“. Demgegenüber blieben diewürttembergischen Deutschkonservativen imKaiserreich eine exklusive, kaum professionali-sierte Partei mehrheitlich auf Stuttgart bezoge-ner Notabeln. Erst in der Weimarer Republik ge-langen unter neuem Namen die Sammlung desnationalen und protestantischen Bürgertumsund ein Professionalisierungsschub. Zugutekam der Bürgerpartei dabei vor allem die späteGründung der DVP in Württemberg. Personelleund inhaltliche Spannungen in der deutsch-nationalen „Mutterpartei“ auf Reichsebene so-wie der Aufstieg Hugenbergs führten jedochzum Ende der 1920er-Jahre auch in der würt-tembergischen Bürgerpartei zu tief greifendenFragmentierungs- und Erosionserscheinun-gen.Zurückzuführen ist die organisatorische Ent-wicklung beider konservativer Parteien Würt-tembergs wesentlich auf ihre unterschiedlicheMilieuverankerung. Der Bauernbund war auf-grund seiner vielfältigen Dienstleistungsange-bote als „kollektive Selbsthilfe- und Solidarge-meinschaft“ und der Verwurzelung in seinersozialstrukturell homogenen Trägerschaft engin das Netzwerk des agrarischen Milieus einge-bunden. Die Milieustützung der heterogenerenDeutschkonservativen Partei war hingegenweitaus schwächer. Im Kaiserreich gelang ihrlediglich im Mittelstand einiger Groß- und Mit-telzentren eine dauerhafte soziale Veranke-rung. In der Weimarer Republik blieb die Bür-gerpartei individualistisch geprägt, nichtzuletzt, weil die nationalen Verbände und Ver-eine in Württemberg nur begrenzt Identifika-tionspotenzial boten.Die Rekrutierungsmuster der Abgeordnetenund die Wahlkampfpraxis bilden weitere Unter-suchungsfelder der Studie Webers, in denen erneut deutliche Unterschiede zwischen bei-den konservativen Parteien aufgezeigt werden.Während die Kandidaten des Bauernbundes,ungeachtet der zentralistischen Organisations-struktur ihrer Partei, durchweg lokal verwurzeltwaren, blieben die Deutschkonservativen auchin der Weimarer Republik eine Honoratioren-partei. Ihre Mandatsträger rekrutierten sich aus„der Oberschicht“ sowie dem „Bildungs- und Be-sitzbürgertum“. Der Mittelstand, der die eigent-liche Wählerklientel darstellte, war unter denParlamentariern unterrepräsentiert.Auf Wahlergebnisse und Parteiensystem rekur-rierend, betont Reinhold Weber in einem wei-teren Untersuchungsabschnitt die Frontstel-lung zwischen den konservativen Parteien undder Sozialdemokratie, die in der Regel auf die Li-beralen der Volkspartei bzw. der DDP ausge-dehnt wurde. Den gleichsam „natürlichen“ Ko-operationspartner fanden die Konservativen imZentrum, das in Württemberg „rechtsgerichte-ter“ als auf Reichsebene war. In Weimar spie-gelte sich dieses Allianzmuster in der so ge-nannten schwarz-blauen Regierungskoalitionwider, die von 1924 bis 1933 Zentrum, Bürger-partei und Bauernbund in der Regierung ver-einte. Insbesondere auf den Bauernbund, dermit Erfolg die Klaviatur des Stadt-Land-Kon-fliktes spielte und durch seine antiurbane undantisozialdemokratische Agitation das ländli-che Wählerklientel dauerhaft band, ist nachWeber auch der verspätete Aufstieg des Natio-

nalsozialismus im Land zurückzuführen. Erstzum Ende der Weimarer Republik gelang es demBauernbund nicht mehr, die Landbevölkerungzu binden. Die Bürgerpartei hatte hingegen inWeimar stets größere Schwierigkeiten, ihrstädtisches Stammklientel zu mobilisieren, vorallem, als zum Ende der 1920er-Jahre mit demChristlich-Sozialen Volksdienst eine protestan-tisch orientierte Partei weitere Wählerstimmenabsorbierte.Diese anhand von Kartenmaterial illustriertenErgebnisse schlagen sich auch in der Schluss-betrachtung nieder. Weber bilanziert, dass dieEntwicklung beider konservativer Parteienhauptsächlich durch ihre Milieuverankerungbeeinflusst wurde. Während die organisatori-sche und elektorale Stabilität des Bauernbundsauf ihre dauerhafte Einbindung in die klein-und mittelbäuerliche „Lebenswelt“ zurückzu-führen ist, mangelte es der Bürgerpartei an die-ser festen Verankerung - vor allem, weil das re-ligiös-protestantische Klientel nicht dauerhaftgewonnen werden konnte und die Existenz ei-nes manifesten nationalen Milieus in Württem-berg in Frage gestellt werden muss.Mit diesen hier knapp skizzierten Befunden istlediglich der Kern der Ergebnisse von ReinholdWeber umrissen. Unterhalb dieser Makroebeneentfaltet die Studie ein ausgesprochen dichtesPanorama an quellengestützten Detailerkennt-nissen und differenzierten Thesen, die der his-torischen Parteienforschung zahlreiche Im-pulse und Anknüpfungspunkte bieten, so etwa,um nur zwei Beispiele aufzugreifen, die statis-tisch untermauerte Analyse der Wahlenthal-tung, insbesondere des politischen (National-)Liberalismus, zum Ende der Weimarer Republiksowie die Skizzierung der mit Übernahme völkischen Gedankenguts einhergehendenWerteverluste und Erosionserscheinungen imstädtisch-protestantischen Konservativismus.Reinhold Webers Befunde laden aber auch zurDiskussion ein. So stellt sich die Frage, ob ge-rade in Württemberg, mit seinen fließendenÜbergängen zwischen Kleinstädten mit agrari-scher Subsistenzwirtschaft und Dörfern, dieGrenze zwischen städtischem und dörflichemMilieu eindeutig zu markieren ist. Und es ließesich ebenfalls kontrovers erörtern, ob der ge-mäßigte Flügel der Bürgerpartei angesichts ei-nes aggressiven - wenngleich auch regional ge-brochenen - Nationalismus und der latentenSystemopposition seines Führers Bazille wirk-lich als „ernsthaft kooperationswillig“ charak-terisiert werden kann.Methodisch unterstreicht Weber mit seiner Arbeit die ungebrochene Relevanz des erst-mals 1966 von Rainer M. Lepsius vorgestelltenMilieuansatzes für die historische Parteienfor-schung, der sich auch im kulturalistischen Ge-wand anhaltender - bzw. neuer - Wertschät-zung erfreuen kann. Indem Weber zahlreicheEcken und Winkel der sozialmoralischen Mi-lieus und der überformenden politiknahen Kul-tur ausleuchtet, betont er stärker als es die his-torische Parteienforschung bisher getan hat dieBedeutung einer unterstützenden, kommu-nikativ vernetzten, kulturellen Lebenswelt inForm von Vereinen und Interessengruppen so-wie den Einfluss von regionalen Eliten und erfahrungsgeschichtlichen Dimensionen. DerRückgriff auf sozialwissenschaftliche Metho-den und Begrifflichkeiten unterstreicht, dass

sich Geschichts- und Politikwissenschaft dabeigemeinsame Instrumentarien sinnvoll zu Nutzemachen können, wenngleich mancher Histori-ker Begriffen wie „politischer Massenmarkt“oder „Meinungsmanager“ mit Skepsis begeg-nen mag. Dies sollte jedoch keinen Parteienfor-scher abhalten, sich mit Reinhold Webers gutlesbarer, anregender und an Detailergebnissenüberbordender Untersuchung zu beschäftigen.

Jürgen Mittag

Der Entspannungspolitiker Willy Brandt

WILLY BRANDT

Die Entspannung unzerstörbar machen.Internationale Beziehungen und deutsche Frage 1974-1982

Band 9 der Berliner Ausgabe. Bearbeitet vonFrank Fischer. Im Auftrag der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung herausgegeben von Helga Grebing, Gregor Schöllgen undHeinrich-August Winkler.Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2003499 S. , 27,60 Euro

Dem Rücktritt Willy Brandts als Bundeskanzleram 6. Mai 1974 – dem schlimmsten Tiefpunktseiner Karriere – folgte ein verblüffendes Co-meback. Ohne staatliches Amt zwar bliebBrandt als Vorsitzender der SPD dennoch in Be-rührung mit den Zentren der Macht. Und in derTat wurde der Parteivorsitz zum wichtigstenAktivposten für die Bewältigung der Krise. Um-gekehrt hat die Zuwendung Brandts der Parteineuen Auftrieb verliehen. Von 1976 bis 1992war er überdies noch Präsident der Sozialisti-schen Internationale, die er gemeinsam mitBruno Kreisky und Olof Palme 100 Jahre nachihrer Gründung in eine unerwartete Renais-sance führte. Außerdem wurde er in hohe undhöchste internationale Ehrenämter berufen,zum Beispiel war er von 1977 bis 1983 Vorsit-zender der Nord-Süd-Kommission. Auch ge-hörte er dem Club of Rome an. – Brandts inter-nationales Renommee litt nicht im Geringstenunter dem Verlust des Kanzleramtes. Im Gegen-teil, sein Charisma ließ sich nunmehr leichterauf andere Länder übertragen. Als moralischeInstanz blieb er nicht nur präsent, sondern ge-wann noch an Gewicht. In der Weltöffentlich-keit bekannt geworden als Protagonist der Ost-politik, profilierter Entspannungspolitiker undFriedensnobelpreisträger, war ihm gelungen,was bislang als inkompatibel galt, nämlich dieBegriffe Deutschland, Détente und Frieden zurDeckung zu bringen. Was Wunder – die Mäch-tigen dieser Welt suchten den Rat des Elder Statesman.Der von Frank Fischer bearbeitete Band doku-mentiert für die Jahre 1974 bis 1982 die Bemü-hungen Brandts, die Entspannungspolitik wäh-rend einer Phase wachsender internationalerSpannungen „unzerstörbar“ zu machen. Nach1975 wurde es zu seinem Hauptanliegen, durchvielfältige Kontakte und öffentliche Erklärun-gen den Entspannungsprozess neu zu beleben.Brandts gesamte Aktivitäten auf dem Feld derAußen- und der internationalen Politik standenim Zeichen von Versöhnung, Frieden und Ver-trauen. „Selbst in den schwierigsten Zeiten re-

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signierte er nicht, sondern kämpfte für die Fort-setzung der Entspannungspolitik. Es ist ein Teildes historischen Verdienstes von Willy Brandt,hierdurch zum dauerhaften Abbau von Span-nungen in Europa und in der Welt beigetragenzu haben“ (S. 74). – Zu diesem Urteil gelangt derBearbeiter in seiner informativen Einleitung aufder Basis von 79 Dokumenten, die in dem vor-liegenden Band abgedruckt sind, und deren Ori-ginale sich großenteils im Willy-Brandt-Archivder Friedrich-Ebert-Stiftung befinden.Die Edition wendet sich an eine breite histo-risch-politisch interessierte Öffentlichkeit, sieumfasst ganz unterschiedliche Quellenkatego-rien: eine umfangreiche Korrespondenz – undzwar sowohl Briefe von als auch an Brandt, Reden, Zeitungsartikel, (vom Autor sorgsam re-digierte) Interviews in Presse und Rundfunk so-wie Aufzeichnungen über Gespräche mit Spit-zenpolitikern in Ost und West, zum Beispiel mitTito, Ceausescu, Kádár, Gierek, Jaruselski auf dereinen sowie mit Kissinger, Haig oder Mitterandauf der anderen Seite, daneben aber auch mitDissidenten wie Lew Kopelew oder Jiri Hájek.Das „Rückgrat“ der Dokumentation bildet je-doch – wie der Bearbeiter zu Recht anmerkt –zweifellos der erstmals zugänglich gemachteSchriftwechsel Willy Brandts mit dem sowjeti-schen Generalsekretär Leonid Breschnew bis zudessen Tod am 10. November 1982; er ist um-fangreicher als der Briefwechsel mit Ford, Car-ter, Thatcher oder Giscard d’Estaing zusammen.Nicht allein für den Zeitgenossen, der bislangnur die Außenseite der Entspannungspolitikkannte, bietet die Brandt-Breschnew-Korres-pondenz eine spannende Lektüre, sie stelltüberdies für jeden Interessierten aus Wissen-schaft, Politik und Öffentlichkeit eine einzigar-tige Fundgrube dar. Rufen wir uns nochmals in Erinnerung: AuchBrandt konnte Mitte der 1970er-Jahre nichtmehr ignorieren, dass die Entspannungspolitikin Stagnation geraten war. Angesichts der ge-gen Westeuropa gerichteten sowjetischen Ra-ketenrüstung (SS 20), des Vormarsches derSowjetunion in der Dritten Welt (z. B. Angola),des Tauziehens um die „Neutronenbombe“, desNATO-Doppelbeschlusses, der sowjetischen In-tervention in Afghanistan und der Dauerkrisedes kommunistischen Systems in Polen schienein neuer Kalter Krieg zumindest nicht unwahr-scheinlich. Als Mentor der Entspannungspolitiksetzte der ehemalige Bundeskanzler sein gan-zes Prestige ein, um von „seiner“ Entspan-nungspolitik zu retten, was noch zu retten war.Dabei war sich Brandt – wie er in einem Schrei-ben an den Chefredakteur des „Stern“ HenriNannen offen einräumte – der Widersprüch-lichkeit dieses Konzepts durchaus bewusst; ersah aber zur Entspannungspolitik keine Alter-native. Das mag erklären, weshalb er dennochden wenig aussichtsreichen Kampf gegen dieneuen geschichtsmächtigen Strömungen inden USA und in der UdSSR aufnahm. Über seinePolitik der „aktiven Friedenssicherung“ – so lau-tete nunmehr die Parole, selbst Brandt miedjetzt das Wort „Entspannung“ – kam es zum bit-teren Konflikt mit Helmut Schmidt, und er ris-kierte damit die Spaltung der Partei, deren Vor-sitzender er war. Ohne Zwang zu Verhandlungund Verständigung, aber wohl auch im Vorge-fühl militärischer Überlegenheit, nicht zuletztaufgrund der Erfahrung, dass im Ost-West-

Konflikt Krieg und Entspannung keinesfalls alsZwangsalternative zu gelten habe, waren Ame-rikaner und Russen zu einer weiteren Macht-probe entschlossen. Es sollte ihre letzte sein!Interessant und aufschlussreich ist auch zu le-sen, wie Brandt ein Schlüsselproblem seinerFriedenssicherungspolitik zu lösen versuchte.Sollte er zur Erhaltung des gefährdeten Frie-dens sich an die Machthaber in den Diktaturenhalten, oder sollte er sich offen auf die Seite derüberall im Ostblock aufbegehrenden Men-schenrechtsbewegungen stellen? „Der Adres-satenkonflikt – Machthaber oder Regimekriti-ker? – sollte nicht das einzige Dilemma derEntspannungspolitik Willy Brandts bleiben, das nach einem ‚Entweder-Oder‘ anstatt eines ‚Sowohl-als-auch‘ zu verlangen schien“ (Einlei-tung, S. 43). Als Beispiel für diesen Zwiespalt seiauf die Ausbürgerung des Schriftstellers undGermanisten Lew Kopelew aus der Sowjetunionhingewiesen. Obwohl hochrangige Sowjet-offizielle Brandt gegenüber den Eindruck ver-mittelt hatten, dass Kopelew nach einem Forschungsaufenthalt in der Bundesrepublikwieder heimkehren könne, verhinderten mäch-tige „Apparatschiki“ in Moskau eben dies. Un-ter Verweis auf seine eigene Lebenserfahrungblieb Brandt schließlich nur noch, Kopelew sei-nes Mitgefühls zu versichern. Brandt fühlte sichschmerzlich berührt, er war erzürnt, sah sichgetäuscht und in der Öffentlichkeit bloßge-stellt. Zur Nagelprobe im „Adressatenkonflikt“kam es schließlich in der polnischen Dauerkrise.Brandt „kommunizierte“ zwar mit General Ja-ruselski, weigerte sich aber – gestützt auf einenParteibeschluss – , mit dem Solidarnosc-FührerLech Walesa zusammenzutreffen. Das Fallbei-spiel Polen zeigt im Übrigen auch, welche Ver-renkungen nötig waren, um an der Entspan-nungspolitik festhalten zu können. Hinzu kam,dass diese Politik zunehmend in Widerspruchzur Bündnisloyalität mit den USA geriet. DieMehrheit der SPD-Führung brachte die Parteiauf Gegenkurs zur Bundesregierung unter Hel-mut Schmidt. In der Innen- wie der Außenpoli-tik schienen dramatische Zuspitzungen unmit-telbar bevorzustehen. Obgleich die Erhaltung des Status quo als zent-rales Merkmal der Entspannungspolitik galt,war es doch gerade die Entspannung, die indi-rekt den Zusammenbruch des Sowjetsozia-lismus und der von ihm etablierten Regimeseinleitete. Damit hatten weder Willy Brandtnoch Leonid Iljitsch Breschnew noch einer deranderen prominenten Briefschreiber gerechnet– und ebenso wenig der „Cheftheoretiker derEntspannung“ Egon Bahr. Darüber hinaus wirdhier deutlich, dass insbesondere die Sowjet-führung mit der Unterzeichnung der Entspan-nungsakte ein weitaus größeres Risiko auf sich nahm als die westlichen Regierungen. Dienachhaltigste Wirkung ging hier von derSchlussakte der KSZE-Konferenz von Helsinkivon 1975 aus.Die Geschichte der Entspannungspolitik zeigt,wie rasch vermeintlich unveränderbare Grund-überzeugungen von der Realität widerlegt wer-den. Mit dem Zusammenbruch des sozialisti-schen Systems in der Sowjetunion binnenweniger Jahre fand auch der Ost-West-Gegen-satz ein jähes Ende. Das Verschwinden diesesdas 20. Jahrhundert dominierenden Säkular-trends bedeutete auch das Ende der Entspan-

nungspolitik; unter der neuen Konstellation inden internationalen Beziehungen war Ent-spannung nicht nur unnötig, sondern sogar un-möglich geworden. Hier drängt sich im Nach-hinein der Verdacht auf, dass möglicherweisedie ideologische Überfrachtung und morali-sche Überhöhung eines politischen Konzeptsim Falle der Entspannungspolitik ihren Prota-gonisten im Westen den Blick auf die Brüchig-keit und innere Schwäche der Volksdemokra-tien verstellt hat. Daraus ist jedoch weniger denEntspannungspolitikern ein Vorwurf zu ma-chen als vielmehr den hochbezahlten Ostexper-ten in Forschung, Medien und Geheimdiensten,von denen keiner den Zusammenbruch desOstblocks voraussagen konnte.

Caspar Ferenczi

Charta der Grundrechte

JÜRGEN MEYER

Kommentar zur Charta der Grundrechteder Europäischen Union

Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2003634 Seiten, 98,00 Euro

Vor kurzem hat der Nomos Verlag die ersteKommentierung zur Charta der Grundrechteder Europäischen Union veröffentlicht. Im Vor-wort stellt der Herausgeber Jürgen Meyer fest,dass sich unsere nationale Rechtsordnungschon jetzt auf Änderungen im Gefüge der Ver-fassung und der Interpretationen durch dasBundesverfassungsgericht einstellen müsse.Das ist zunächst missverständlich – dieser Satzkönnte die Furcht bei einzelnen Bürgerinnenund Bürgern vergrößern, durch die Erweiterungder Europäischen Union in ihren politischenGestaltungsspielräumen immer mehr einge-schränkt und gegängelt zu werden. Die natio-nalen Grundrechtsordnungen und Verfassun-gen bleiben jedoch die alten. In den „Allgemei-nen Bestimmungen“ sind Anwendungsbereich,Tragweite, Schutzniveau und das Verbot desMissbrauchs der Rechte der Charta festgelegt.Der Rechtsexperte Martin Borowsky, der für dasKapitel über die „Allgemeinen Schutzbestim-mungen“ (Kapitel VII) verantwortlich zeichnet,kommentiert: „Die Charta steht in der Paralleli-tät der Grundrechtsordnungen. Nach dem Wil-len des Konvents soll sie sich in das bestehendeGeflecht aus nationalen, europäischen und in-ternationalen Grundrechten schonend einfü-gen, ohne Schaden anzurichten, ohne zu einerAnpassung nach unten zu führen.“ In den Dis-kussionen und Debatten über die Charta sei gerade dieser Bestimmung große Aufmerk-samkeit zu teil geworden, weil sich „an ihr Be-fürchtungen wie Hoffnungen festmachen las-sen“, weil es hier um das heikle und komplizierteVerhältnis zwischen den Grundrechten derUnion und den nationalen Grundrechten geht.Das vorrangige politische Ziel der Vorschrift istes, zu „dokumentieren, dass die Charta juris-tisch zu keiner Änderung oder Anpassung dernationalen Verfassung oder anderer Instru-mente zwingen wird“ (Hervorhebung im Origi-nal, S. 596). Hier soll zum Beispiel den skan-dinavischen Mitgliedstaaten mit ihrem hochentwickelten Grundrechtsschutz die Sorge ge-

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nommen werden, der eigene hohe Grund-rechtsstandard könnte durch die Charta in ir-gendeiner Weise gemindert werden. Um keinanderes Kapitel habe der Konvent so lange undso intensiv gerungen, wie um das der „Allge-meinen Bestimmungen“, die vor allem für denFall der Rechtsverbindlichkeit entworfen wur-den. „Von Anfang an war unbestritten, dass dieCharta gerade die europäische Hoheitsgewaltbinden, bändigen, begrenzen soll“ (Hervorhe-bung im Original, S.566) heißt es in der Kom-mentierung zu Artikel 51, Absatz 1. Die Charta schützt mithin vor Grundrechts-verletzungen seitens der „Organe und Einrich-tungen der Union“, also dem EuropäischenParlament, dem Rat der Europäischen Union,der Kommission, dem Gerichtshof und demRechnungshof. Dies war das alles überragendeZiel des Konvents. Der vorliegende Kommentar zur Charta derGrundrechte der Europäischen Union erläutertalle Artikel entlang ihrer Entstehungsgeschich-te und interpretiert sie für ihre Anwendung inder Praxis. Sie besteht aus sieben römisch ge-kennzeichneten Kapiteln: (I) Die Würde desMenschen, (II) Freiheiten, (III) Gleichheit, (IV)Solidarität, (V) Bürgerrechte, (VI) JustizielleRechte und dem letzten Kapitel (VII) „Allge-meine Bestimmungen“. Schon die Wortwahl derKapitelüberschriften offenbart die Schlüssel-begriffe, um die es geht. Und das ist nicht nurdie wirtschaftliche, politische und soziale euro-päische Gemeinschaft, sondern es geht um einegemeinschaftliche Werteorientierung für dieZukunft.Wie sehr ein solcher Entwurf der Verständi-gung bedarf, wird vor allem durch die Ab-schnitte „Diskussion im Konvent“ in jedem ein-zelnen Kapitel sehr deutlich. Aber auch durchden Hinweis auf die besondere Berücksichti-gung spezifischer Übersetzungsprobleme, diesich bei elf unterschiedlichen Amtssprachenselbstverständlich ergeben und die es zu be-wältigen gilt – ein Kunststück internationalerVerständigung. Streit hatte sich – wie sollte esauch anders sein – vor allem an der „religiösenFrage“ entzündet. Die emotionalen Auseinan-dersetzungen drohten für einen Moment dasganze Projekt zum Scheitern zu bringen. Esging um religiös-philosophisch divergierendeAuffassungen, die sich an den Konnotationenund Wertigkeiten der Begriffe „spiritual heri-tage“ (England), „patrimonio espiritual“, (Spa-nien), „heritage culturel, humaniste, et reli-gieux“ (Frankreich) und dem Begriff „geistig-religiöses Erbe“ (Deutschland) festmachten. Zubedenken gilt es in diesem Zusammenhang,dass jeder einzelne Delegierte in dem Gre-mium eine Begründung und eine Haltung ein-zubringen hatte, mit der er gleichzeitig die na-tionale Auffassungen seines eigenen Landes,das er zu vertreten hatte, transportiert und re-präsentiert.Das Buch hat insgesamt 635 Seiten. Als Hilfe-stellung für die Erschließung der Materie, dieso oder so komplex und schwierig genug ist,sind alle Kapitel nach einem einheitlichenSchema aufgebaut: (1.) Vorbemerkungen, (2.)bereits bestehende Vorgaben des internatio-nalen Rechts (die Schlussfolgerungen des Eu-ropäischen Rates von Köln, die EuropäischeMenschenrechtskonvention, die EuropäischeSozialcharta und die jeweiligen Verfassungsü-

berlieferungen), (3.) die Wiedergabe der statt-gefundenen Diskussion im Konvent sowie (4.)die Kommentierung und schließlich noch einLiteraturverzeichnis. Jürgen Meyer hat seinenAusführungen mit denen das Buch beginnt,den vollständigen Text der Präambel vorange-stellt: „Die Völker Europas sind entschlossen,auf der Grundlage gemeinsamer Werte einefriedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zueiner immer engeren Union verbinden (...). Indem Bewusstsein ihres geistig-religiösen undsittlichen Erbes gründet sich die Union auf dieunteilbaren und universellen Werte der Würdedes Menschen, der Freiheit, der Gleichheit undder Solidarität. Sie beruht auf den Grundsät-zen der Demokratie und der Rechtsstaatlich-keit (...).“Die Charta der Grundrechte stellt einen wich-tigen Schritt auf dem Weg zu einer erweiter-ten und geeinten Europäischen Union dar. Der„Kommentar zur Charta der Grundrechte derEuropäischen Union“ ist somit eine zentraleQuelle und wichtiges Dokument über den not-wendigen Verständigungsprozess in und zwi-schen den derzeitigen und zukünftigen Mit-gliedstaaten der Europäischen Union.

Sabine Rumpf

Die demographische Zeitenwende

CHRISTIAN LEIPERT (HRSG.)

Demographie und Wohlstand.Neuer Stellenwert für Familie in Wirtschaft und Gesellschaft

Leske + Buderich, Opladen 2003304 Seiten, 24,90 Euro

und

HERWIG BIRG

Die demographische Zeitenwende.Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa

Beck’sche Reihe, 3. Auflage, München 2003226 Seiten, 12,90 Euro

Demographie und Wohlstand Das im Auftrag des Deutschen Arbeitskreisesfür Familienhilfe e.V. von Christian Leipert her-ausgegebene Buch enthält die überarbeitetenVorträge und Diskussionsbeiträge eines gleich-namigen internationalen Kongresses, der am12. und 13. Juni 2003 in Berlin stattfand. Dieinsgesamt über 30 Beiträge sind, wie es in ei-nem solchen Sammelband kaum anders seinkann, wissenschaftlich von höchst unter-schiedlicher Qualität. Im Rahmen einer Bespre-chung ist es unmöglich, alle Beiträge vorzustel-len; es seien deshalb nur die wichtigsten,zumeist übereinstimmenden Erkenntnisse her-vorgehoben.Die deutsche Gesellschaft altert. Diese Ver-greisung wird durch das Medianalter in Zah-len verdeutlicht. Unter Medianalter – im Grun-de nichts anderes als ein arithmetisches Mittel– verstehen die Demographen ein Alter, dasdie Bevölkerung in zwei gleich große Gruppenvon älteren und jüngeren Personen einteilt.

Lag dieses Mittel 1960 noch bei rund 35 Jah-ren, so stieg es bis heute auf 40,1 an und wirdbis 2035 bei 50 Jahren liegen; dann werden dieDeutschen wahrscheinlich das älteste Volk derWelt sein. Der deutsche Medianwähler ist heu-te 47, in 20 Jahren wird er 54 Jahre alt sein.Deutschland wandelt sich in eine „Geronto-kratie“, in der die Alten maßgebend sein wer-den.Dafür sprechen zwei Projektionen: Währenddie Zahl der 65-Jährigen und älter im Jahre2000 mit 13 Millionen bis 2040 auf rund 21Millionen zunehmen wird, sinkt die Gesamtbe-völkerung in Deutschland von derzeit 82 Mil-lionen auf 70 Millionen und das bei einer an-genommenen Zuwanderung von 200.000Menschen im Jahr.Die demographische Alterung ist eine Folgeder Bevölkerungsschrumpfung – wie dergleichfalls lesenswerte Beitrag von HerwigBirg ausführt – , die sich durch den Altenquo-tienten – in anderen Beiträgen Altersquotientgenannt - und seiner Veränderung beschrei-ben lässt. Dieser Quotienten ist zur Beschrei-bung der demographischen Alterung gut ge-eignet. Die Intensität dieser Alterung korreliertdagegen negativ mit der Zahl der Lebendge-burten je Frau. Während heute die „Lastquo-ten“ der Menschen im aktiven Alter (20-60Jahre) bei einem Altenquotienten bei 0,23 lie-gen, erhöht sich dieser binnen des überschau-baren Zeitraums von 40 Jahren auf fast 0,5.Dies bedeutet, dass je zwei Berufstätige denUnterhalt für einen nicht mehr Erwerbstätigentragen.Für den Nichtfachmann sind die nahezu über-einstimmenden Darlegungen zur Auswirkungder Zuwanderung die größte Überraschung.Stillschweigend hat die Gesellschaft geglaubt,die Geburtslücken durch Zu- oder Einwande-rung füllen zu können. Das gelang auch – abernur kurzfristig. Denn entgegen der landläu-figen Meinung vom fiskalischen Nutzen der Zuwanderung, überstiegen die finanziellenstaatlichen Zuwendungen für die Einwandererdiesen Nutzen. Danach war und ist die Zuwan-derung – so die Autoren einzelner Beiträge –nach Deutschland seit langem eine „Zuwande-rung in die Sozialsysteme“, die eine „Umvertei-lung von den Deutschen zu den Zugewander-ten“ bewirkt. – Der Liberale Gary S. Becker ver-tritt dazu als einziger im Rahmen seiner Thesevon der Humankapitalbildung dazu eine ab-weichende Meinung.Auch die Zuwanderer, die sich in das deutscheGesellschaftssystem integrieren, passen sichschon in der zweiten und noch stärker in derdritten Generation in ihrer Familienplanungmehr und mehr den Einheimischen an. Dieseaber ist in Deutschland durch einen seit 1970anhaltenden, progressiven Geburtenschwundgekennzeichnet. Zur Bestandserhaltung müs-ste jede Frau im Durchschnitt 2,1 Kinder gebä-ren, tatsächlich sind es gegenwärtig knapp 1,4.Oder anders formuliert: Da die künftige Bevöl-kerungsentwicklung von der Zahl der weibli-chen Geburten abhängt, müssten je Frau 1,05Mädchen in die Welt gesetzt werden, tatsäch-lich sind es 0,7.Die Autoren des Buches arbeiten mit unter-schiedlichen Einwanderungsszenarien zwi-schen 100.000 bis 300.000 Zuwanderern proJahr als Saldo, also nach Abzug der in ihr Hei-

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matland Zurückkehrenden und der deutschenAuswanderer. Je nachdem, welche Annahmezu Grunde gelegt wird, verlangsamt sich dieSchrumpfung der Bevölkerung. Selbst bei ei-ner Annahme von 1,6 Geburten je Frau und ei-nem Wanderungssaldo von 300.000 pro Jahr,würde nach der Projektion von Birg die Bevöl-kerung in Deutschland bis 2025 leicht wach-sen von derzeit 82 Millionen auf knapp 86, umaber danach abzufallen auf unter 78 Millionenim Jahre 2100. Selbst wenn alle familienpolitischen Maßnah-men zur Geburtenförderung greifen und absofort die Geburtenquote auf die magischeZahl von 2,1 Kinder steigen würde, so wirktesich, einmal abgesehen von der Utopie einersolchen Hypothese, dies frühestens und nursehr langsam nach rund 25 Jahren positiv aus.Aber die Alterung der Gesellschaft ginge zu-nächst – wenn auch leicht abgeschwächt –weiter, und die Sterbefälle lägen noch bis 2080über der Geburtenzahl. Der Grund ist ebensoverblüffend wie einsehbar: Generationen vonNichtgeborenen haben nun einmal keine Kin-der. Der Geburtenrückgang seit 1970 zieht so-zusagen automatisch weitere Geburtenrück-gänge nach sich.Die Gründe für den „demographischen Win-ter“ sind vielfältiger Art. Auf eine eingehendeDarstellung der Diagnosen und vorgeschlage-nen Therapien, an denen es in dem Buch nichtmangelt, muss hier verzichtet werden. Dochauf einen Faktor soll hingewiesen werden. DieDemographen nennen ihn das demogra-phisch-ökonomische Paradoxon. Rund einDrittel aller in Deutschland im Fertilitätsalterbefindlichen Frauen hat kein Kind oder willkeines. Bei den Frauen mit akademischem Ab-schluss liegt die Quote sogar bei über 40 Pro-zent.Der Grund liegt in den Opportunitätskosten.Darunter versteht man den wegen der Kinderentgangenen Nutzen aus Karriere und Ein-kommen. Je besser nun die Ausbildung derFrauen ist – im Prinzip gilt dies auch für Män-ner –, je höher ihre potenziellen Einkommens-chancen liegen, je verlockender die Karriere-aussichten sind, desto größer ist das Opfer, dassie bringen müssen, wenn sie zu Gunsten vonKindern mindestens zeitweise auf diese Op-portunitäten verzichten müssen. Eine Hebungdes Lebensstandards hat also nicht, wie manzunächst vermuten möchte, einen Geburten-reichtum zur Folge, weil man sich Kinder jetztleisten kann, sondern das Gegenteil. Darinliegt das Paradoxe. Die heutige Rentenversicherung mit ihremUmlageverfahren ist in ihren ökonomischenAuswirkungen eine Versicherung gegen Kin-derlosigkeit und die dadurch mögliche Alters-armut. Lapidar formuliert: Die Kosten für Er-ziehung und Ausbildung eines Kindes sind pri-vatisiert, die Leistungen – der „fiskalische Bar-wert“ (Welch schrecklicher Begriff!) einesNeugeborenen in Höhe von 90.000 Euro fürdas Rentensystem – werden sozialisiert. Hans-Werner Sinn, einer der Autoren, bezeichnet ihnals eine Art Kindersteuer, die der Staat den El-tern auferlegt. Das heutige Rentensicherungs-system verursacht Kinderarmut, indem siediese für die Kinderlosen folgenlos macht. Einige der Beiträge sind leicht überladen miteiner Vielzahl Tabellen, Graphiken und Schau-

bildern, deren Aussagen sich mangels Farb-druck und schwacher graphischer Gestaltungnicht immer sofort erschließen. Das aber min-dert keineswegs den Wert näheren Studiums.Abgerundet wird das Werk durch einige Bei-träge über unsere Nachbarländer, wobeiFrankreich mit einer vergleichsweise hohenFertilitätsrate von 1,9 beispielgebend seinkönnte.Das Buch vermittelt einen Blick in ein Di-lemma, das nur deshalb noch erträglich ist,weil dieser Kollaps vom größten Teil der jetztLebenden nicht mehr erlebt wird. Ohne sich ineiner billigen Kritik an den Reformen und Re-formvorhaben der jetzigen Bundesregierungzu ergehen, muss, wenn man die Annahmendes Buches zu Gunde liegt, lapidar konstatiertwerden, dass diese „Reförmchen“ allenfalls al-lererste Ansätze sein können und den Beginneines langen und schmerzhaften Weges mar-kieren.Ob der demographische Wandel auch alsChance zu begreifen ist, wird sich noch erwei-sen müssen. Und alle familienpolitischenMaßnahmen, so ausgefeilt sie im Einzelnenauch sein mögen – auch das wird in diesemBuch deutlich –, werden die Geburtenratenicht erhöhen, solange nicht „die Lust amKinde“ (Altbundespräsident Roman Herzog)wieder wächst.

Die demographische Zeitenwende Dieses Buch von Herwig Birg kann als eine wesentlich erweiterte und vor allem wissen-schaftlich vertiefte Analyse seines Beitragesim oben besprochenen Sammelband gesehenwerden. Herwig Birg, Präsident der Gesell-schaft für Demographie, hat in Bielefeld einenLehrstuhl für Demographie inne. Er kann alsder Nestor der deutschen Demographiewis-senschaft gelten. Seine Schrift beginnt mit der zustimmendenKommentierung zu Publikationen, in denendas massive Gerechtigkeitsdefizit dieser kin-derarmen Gesellschaft angeprangert wird,wenn etwa der ehemalige Bundesverfas-sungsrichter Paul Kirchhof konstatiert: „DenGenerationenvertrag des Sozialstaates haltennur die Eltern ein. Dass gerade sie an diesemVertrag kaum beteiligt werden, ist ein rechts-staatlicher Skandal.“ Auch diese Schrift ist voll von graphischenDarstellungen, Tabellen, minutiösen Projektio-nen und detaillierter Differenzierung des sta-tistischen Materials. So gelangt Birg zu der Er-kenntnis, dass die entscheidende und irrever-sible Weichenstellung der Lebensplanung dievon der Kinderlosigkeit zum Kind ist. Wennerst ein Kind da ist, wünschen sich Eltern zu-meist noch ein zweites. Doppelt so viele Elternhaben zwei Kinder als solche mit nur einemKind. Die Ein-Kind-Familie als typisch mo-derne Familienform sei ein „Mythos“. DieWahrscheinlichkeit, dass sich die Kinderzahlauf drei oder gar noch mehr erhöht ist aller-dings sehr gering.Der Hauptgrund für geringe Geburtenzahlliegt also in der gewollten Kinderlosigkeit –nicht aber in dem Wunsch nach einer Ein-Kind-Familie. Der Anteil der zeitlebens kinder-losen Frauen stieg von 12,6 Prozent beim Jahr-gang 1940 auf 32,1 Prozent für den Jahrgang1965; rund ein Drittel bleibt also immer kin-

derlos. Ein Grund für die Beschränkung aufzwei Kinder liegt auch darin, dass Frauen –eine Folge ihrer langen Ausbildungszeit – beider Geburt ihres ersten Kindes wesentlich äl-ter sind als früher. Mit Hilfe einer einfachen mathematischenGleichung berechnet Birg die optimale Netto-reproduktionsrate. Sie ist gegeben, wenn jedeFrau im Durchschnitt ein Mädchen zur Weltbringt. Er spricht in diesem Zusammenhangvon einem Drei-Generationen-Vertrag. EinMädchen pro Frau entspricht zwei Kindern;und der Verfasser wirft die Frage auf, warumder reale demographische Zustand von diesemOptimum so weit entfernt ist, obwohl doch dieMehrzahl der Kinderwilligen zwei Kinder alsIdealzustand ansieht. Einen Grund sieht erdarin, dass keine politische Kraft in Deutsch-land dieses Ideal zum Ziel einer „Bevölke-rungspolitik“ machen will, weil dieser Begriffaus der Geschichte rassistisch und totalitärbelastet ist.Wer sich vertieft in diese Materie einarbeitenwill, greife zu diesem Buch. Die heranwach-sende Generation wird den demographischenKollaps, der für die heute schon Älteren nureine Projektion ohne stärkere persönliche Aus-wirkungen ist, zum Teil schmerzhaft erleben. Die Folgen für das politische System sind nochgar nicht bedacht. Welche Präferenzen werdenzum Beispiel politische Parteien im Wettkampfofferieren, wenn sie wissen, dass mehr als dieHälfte der Wahlberechtigten im sechstenJahrzehnt in Erwartung eines ökonomisch ab-gesicherten Lebensabends steht?

Peter Schade

Zeitzeugen der politischen Bildung

KLAUS-PETER HUFER, KERSTIN POHL, IMKE SCHEURICH (HRSG.)

Positionen der politischen Bildung 2. Ein Interviewbuch zur außerschulischenJugend- und Erwachsenenbildung

Wochenschau Verlag, Schwalbach/Taunus 2004 399 Seiten, 19,80 Euro

In einem außergewöhnlichen Publikationspro-jekt unternehmen die drei Herausgeber den Ver-such, die aktuellen Positionen der außerschuli-schen politischen Bildung über Interviews mit17 zeitgenössischen Autoren und Autorinnenzu dokumentieren und zu analysieren. Zur zent-ralen Methode werden dabei standardisierteund schriftlich gestellte Fragen zu folgendenAspekten: Zur Situation der außerschulischenpolitischen Bildung, zum Bildungs- und Politik-begriff, zu den Zielen und Methoden, zur Bedeu-tung didaktischer Prinzipien, zum Verhältnisvon Theorie und Praxis und zu aktuellen Kontro-versen und Forschungsfragen.Mit diesen Vorgaben gelingt es, einen ausge-sprochen spannend und interessant zu lesen-den Band zu gestalten. Eine vergleichbarePublikation gibt es derzeit nicht auf dem For-schungs- und Buchmarkt.Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass diePraxis der außerschulischen politischen Bil-dung ebenso heterogen ist wie ihre Theorie

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und Forschung, dass der wissenschaftlicheDiskurs darüber noch nicht weit fortgeschrit-ten ist und dass sie eine große Dynamik auf-weist.Außerschulische politische Bildung hat jedochmomentan die Energie und Souveränität –und dies zeigen die 17 Positionen –, einer un-gewissen Zukunft kraftvoll entgegenzutreten.Die drei herausgebenden politischen Bildnerbzw. Bildnerinnen sprechen in ihrer Einleitungin diesem Zusammenhang auch von einer„pluralen Vitalität“ (S.10).Vor diesem Hintergrund geht es dem Inter-viewband auch um eine aktuelle Grundlegungder Disziplin. Hier sind Hufer/Pohl/Scheurichjedoch etwas zu optimistisch. Auch wenn dasBemühen um eine analytische Grundlegungund eine damit angestrebte Reflexionstiefedeutlich wird, setzt die Interview-Methodeklare Grenzen für eine systematische Analyse.Es sind 17 subjektive Positionen, welche diePluralität spiegeln – und hier liegt der großeVerdienst. Die befragten Wissenschaftlerinnenund Wissenschaftler verfügen dabei über un-terschiedlich lang dauernde und zurücklie-gende Erfahrungen in der konkreten politi-schen Bildungsarbeit. Gemeinsam ist dagegeneine über Jahrzehnte andauernde akademi-sche berufliche Tätigkeit an Universitäten undInstitutionen. Dominant sind vor allem Vertre-ter und Vertreterinnen der außerschulischenErwachsenenbildung. Die Auswahl erfolgt da-bei über die Kriterien Präsenz und Rezeptions-dichte im Fachdiskurs. Bei einem solchen per-sonenorientierten Ansatz ist Vollständigkeitnicht möglich. Folgende Fachvertreter werdenvorgestellt: Klaus Ahlheim, Wolfgang Beer,Heidi Behrens, Peter Faulstich, Martha Frie-denthal-Haase, Wiltrud Giesecke, Benno Hafe-neger, Klaus-Peter Hufer, Erhard Meueler, Os-kar Negt, Ekkehard Nuissl von Rein, AlbertScherr, Horst Siebert, Gerhard Strunk, Johan-nes Weinberg, Bodo Zeuner und Christine Zeuner.Der Band ist damit nicht nur ein hochwertiges„Who is Who“ der außerschulischen politi-schen Bildung, sondern bietet im Sinne einer„Ermöglichungsdidaktik“ auch einen vielfälti-gen und breiten Zugang zu Grundpositionengegenwärtiger politischer Bildung. Er hilft au-ßerdem dabei, Perspektiven für die politischeBildung zu entwickeln. Im besten Sinne desBeutelsbacher Konsenses dient die Interview-sammlung einer Bewusstseinserweiterung,regt zum Weiterdenken an und bietet einenaktuellen Überblick. Von ihr profitieren ebenso„alte Hasen“ wie „Einsteiger“. Die Interviewsbringen eine systematisierte Selbstdarstellungauf hohem Niveau, die in der Summe ein vor-zügliches Lesebuch ergeben, obgleich eine et-was ausführlichere Beachtung der außerschu-lischen Jugendbildung wünschenswert gewe-sen wäre.So heterogen die Positionen hinsichtlich desfachspezifischen Diskurses auch sind, so ho-mogen ist der politische Ausgangspunkt derAutoren und Autorinnen. Ausreißer nach„links“ oder „rechts“ im politischen Bewusst-sein gibt es nicht – vor dreißig Jahre sah esdiesbezüglich deutlich heterogener aus. DieBefragten bewegen sich alle im Kontext einesaufgeklärten Humanismus und einer frei-heitlich-republikanischen Ordnung repräsen-

tativer Demokratiesysteme. „Glaubenskriege“über die „beste aller Welten“ gibt es nichtmehr. Man ist sich einig über das, was die Weltund die Gesellschaft im Innersten zusammen-hält. Differenzen sind fachspezifischer undandragogischer Natur hinsichtlich Methodik,Didaktik und systematischen Fragestellungen.Der Band ist ein lesenswertes Zeitzeugendo-kument aktueller Positionen in der Erwachse-nenbildung und gibt einen Einblick in die Hu-manressourcen der Disziplin. Hier wird derBand, der mehr ist als ein Interviewbuch, auchzu einer wichtigen Quelle, von der ebensonachfolgende Generationen der außerschuli-schen Bildung profitieren können. Wer wirdwann und wie zu einem politischen Erwachse-nenbildner bzw. zu einer Erwachsenenbildne-rin und wie entwickelt sich das Selbstver-ständnis? Diese Fragen auf dem Weg zur Pro-fessionalisierung und Institutionalisierung derpolitischen Erwachsenenbildung werden bei-spielhaft beantwortet.Die Perspektiven, die die Vertreter und Vertre-terinnen der politischen Bildung in diesemBuch aufzeigen, sind abwägend, vorsichtigund bewegen sich eher im Bereich realisti-scher Erfahrungswerte. „Feuer“, Leidenschaftund Aufbruchsstimmung sind nur am Randebei einigen Autoren herauszulesen. Ein „Ruck“durch die Disziplin, der zu ganz neuen Pers-pektiven führen und provozieren könnte, wirdnur undeutlich sichtbar. Dafür werden aberimmer wieder die Gefahren benannt, die derpolitischen Bildung derzeit durch die „absoluteDominanz des ökonomisch Nützlichen undberuflich unmittelbar Verwertbaren“ (Ahlheim,S. 23) drohen. Hier zeichnen sich bei einer gan-zen Reihe von Vertretern wie zum BeispielKlaus Ahlheim, Peter Faulstich, Klaus-PeterHufer, Oskar Negt, Gerhard Strunk, Bodo Zeu-ner Gemeinsamkeiten in der Wahrnehmungund Analyse ab, die eine identische Einschät-zung des Status quo ergeben.Politische Bildung ist derzeit wieder sehr starkmit sich selbst beschäftigt – die schulischeebenso wie die außerschulische. Ihr fehlt, unddies wird zwischen den Zeilen erkennbar, einanschlussfähiges Portal an die Gesellschaft.Mit dieser – ketzerisch gesagt – Profilschwä-che wird sie aber zur „leichten Beute“ fürDritte: Die Diskussion um politische Bildungals „Dienstleistung“ ist beispielsweise ein Dis-kurs in diese Richtung und zeigt sich mit deraktuellen Studie (2004) von Karsten Rudolfund Melanie Zeller-Rudolf „Politische Bildung– gefragte Dienstleisterin für Bürger und Un-ternehmen“ (Bertelsmann Verlag). Die Bemü-hungen, hier gegenzusteuern, werden beizahlreichen Autorinnen und Autoren des Ban-des deutlich. Exemplarisch sei hier Klaus-PeterHufer genannt, der bereits 2001 mit seinemPlädoyer „für eine emanzipatorische politischeBildung“ (Wochenschau Verlag) die Eckpunkteeiner aktuellen kritischen Reflexion der Theo-rie und Praxis politischer Bildung setzte. Die-sen kritischen Blick auf die momentane Er-wachsenenbildung brachte auch sehr poin-tiert 2003 der Erziehungswissenschaftler undAndragoge Ludwig A. Pongratz – der leidernicht in dem Interviewbuch befragt wird – mitseinem Essayband „Zeitgeistsurfer“ (Beltz Ver-lag) auf den Punkt. Er schreibt: „Der selbstbe-wusste Gleichschritt mit dem Zeitgeist ent-

puppt sich nicht selten als bewusstloser Reflexder Zeitumstände“ (S.7).Vielleicht kann der aktuelle Zustand der politi-schen Bildung auch in Anlehnung an Horkhei-mer und Adorno mit einer „Dialektik der Auf-klärung“ beschrieben werden: Emanzipatori-sche Bildung ist im Dickicht der Moderne ste-ckengeblieben und zu einem zahnlosen Tigergeworden, dem zwar die Aufmerksamkeit si-cher ist, da er zum Programm dazu gehört, vondem aber alle wissen, dass er ungefährlich ist.Und zu diesem Schluss kommen mehr oderweniger – so mein Eindruck – die Mehrzahl derbefragten Vertreter und Vertreterinnen undsehen die Notwendigkeit einer Neuorientie-rung.Man kann aus diesen 17 Interviews viel he-rauslesen. Sie verleiten zum Nach- und Weiter-denken, verführen zu Thesen, regen zum Wi-derspruch an und ermöglichen neue Zugängezur politischen Bildung. Wissenschaftliche Positionen sind nicht nur empirischer Natur, sie entstehen subjektiv in Köpfen, verfestigensich, sind vergänglich – und relativ. Hufer/Pohl/Scheurich ergänzen mit ihremWerk nicht nur inhaltlich gesehen die drei In-terviewbände zur politischen Erwachsenenbil-dung von Sabine Hering und Hans-Georg Lüt-zenkirchen, die die Zeit der 1950er- und1960er-Jahre (Bonn 1992), die Anfänge in derDDR (Berlin 1995) und zuletzt die 68er-Zeit(Frankfurt/M. 1996) in Gesprächsform bear-beiteten, sondern bieten vor allem mit ihrerSystematik auch ein strukturiertes methodi-sches Vorgehen, das diesen Band auszeichnetund beispielhaft macht. Er ist ein wertvollerSpiegel zur Selbst- und Außenreflexion einerzunehmend marginalisierten Disziplin und alsPlattform geeignet, um von dort aus zu neuenUfern aufzubrechen. In diesem Sinne: ‚pace etsalute’ an Klaus-Peter Hufer, Kerstin Pohl undImke Scheurich.

Ulrich Klemm

Die neu aufgeflammte Debatte: Wie „europäisch“ ist die Türkei?

CLAUS LEGGEWIE (HRSG.)

Die Türkei und Europa

Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main342 Seiten; 12,00 Euro

Seit dem Abschluss des Assoziierungsabkom-mens zwischen der Türkei und der EWG zu Be-ginn der 1960er-Jahre werden sowohl in derEuropäischen Union als auch beim potenziel-len Beitrittskandidaten selbst wechselnde unddivergierende Positionen zu der „Europa-Kom-patibilität“ der Türkei vertreten. Bedingt durchdie Entscheidung über eine Vollmitgliedschaftist die Diskussion neu aufgeflammt und wirdin der Öffentlichkeit sowohl sachlich als mit-unter leidenschaftlich geführt. Ein breitesSpektrum von Aspekten wird ins Feld geführtund kontrovers beurteilt: Diskutiert wird ei-nerseits die Frage der geografischen und kul-turellen Ausdehnung Europas sowie seiner po-litischen Kultur, in welcher der Wahrung derMenschen- und Bürgerrechte zentrale Bedeu-tung beikommt. Andererseits wird ein Beitritt

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des NATO-Mitgliedes Türkei auch nach seinergeostrategischen Bedeutung sowie seiner öko-nomischen Situation beurteilt.Das von Claus Leggewie herausgegebene Buchlässt politische Akteure und Wissenschaftler,Schriftsteller und Unternehmer, Journalistenund Korrespondenten sowie Sprecher der tür-kischen Migranten zu Wort kommen. Die teil-weise aufeinander bezogenen Beiträge rei-chen von neutralen Problemdarstellungen bishin zu flammenden, mitunter auch polemischgehaltenen Plädoyers. Das Buch lässt sich inzwei Hauptabschnitte unterteilen: Der erste istdem Selbstverständnis Europas und dessenBeurteilung von außen gewidmet. Der zweiteAbschnitt beleuchtet den Umstand, dass dasbilaterale Verhältnis zwischen der Europäi-schen Union und dem Beitrittskandidatenlängst transnationale, ja sogar weltweite Be-deutung erlangt hat.Einer Einleitung folgen sieben Kapitel, denenjeweils wiederum eine Einführung vorange-stellt ist, und ein Ausblick des Herausgebersschließt die Darstellungen ab. Ein Anhang mitstatistischem Material und Dokumenten überdie Beitrittsverhandlungen bietet umfassendeHintergrundinformationen.In der Einleitung zeichnet Claus Leggewie denAblauf der Annäherung der Türkei an Europainnerhalb der letzten vierzig Jahre nach. Wal-ter Hallstein, der damalige Präsident der EWG-Kommission, sah bei Abschluss des Assoziie-rungsabkommens im September 1963 in derTürkei bereits ein späteres vollberechtigtesMitglied. Valéry Giscard d´ Estaing hingegenerklärte in jüngerer Zeit als Präsident des EU-Konvents, die Türkei gehöre nicht zu Europaund ihr Beitritt zur EU bedeute faktisch derenEnde. Den Grund für diese Entwicklung siehtLeggewie darin, dass aus der EWG mittlerweileeine politische Union geworden sei, währenddie Türkei den Weg in Richtung auf eine isla-mische Republik eingeschlagen habe. Er er-kennt an, dass sowohl für als auch gegen denBeitritt der Türkei gewichtige Gründe ange-

führt werden können und unterscheidet zweiArgumentationsstränge. Der erste Argumen-tationsstrang beruht auf der an Prinzipienausgerichteten Selbstfindung Europas undumfasst verschiedene Identitätskonzepte: Eu-ropa als geografischer Raum, als Schicksalsge-meinschaft, als Erbe des christlichen Abend-landes, als kapitalistische Marktwirtschaft undals Hort von Demokratie und Menschenrech-ten. Der zweite Argumentationsstrang be-schäftigt sich damit, ob und wann die Türkeidie im Jahre 2002 auf dem EU-Gipfel in Hel-sinki aufgestellten Beitrittskriterien erfüllt.Hiernach beurteile sich die Beitrittsfähigkeitder Türkei zunächst nach dem Grad der Um-setzung demokratischer Prinzipien und ihrerwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Fernerfließen sicherheitspolitische Überlegungen indie Debatte ein, die sowohl die innenpolitischeSituation des Landes selbst als auch seiner An-rainerstaaten zum Gegenstand hätten.Das erste Kapitel „Wo Europa endet“ legt denHauptakzent auf die kulturelle Basis von Mit-gliedschaften. Hier reicht das Meinungsspek-trum von kultureller Vereinbarkeit der Türkeimit den bisherigen Mitgliedern bis hin zu derAuffassung, die Türkei liege „auf allen denkba-ren kulturellen Karten abseits“ von Europa.Zwei Beiträge verneinen die Frage, ob sich ausder Geografie und Geschichte Argumente fürdie Beurteilung eines Türkeibeitritts gewinnenließen.Den ersten Beitrag des zweiten Kapitels „Euro-päische Identität“ bildet ein ZEIT-Essay des Bie-lefelder Geschichtsemeritus Hans-Ulrich Weh-ler aus dem Jahr 2002. Dieser hatte einemBeitritt der Türkei eine klare Absage erteilt unddie Verleihung des Status eines Beitrittskandi-daten als korrekturbedürftigen Fehler beurteilt.Die Aufnahme der Türkei laufe den Interessender EU und ihrer Mitglieder zuwider – so argu-mentiert Wehler. Er verweist auf Demokratie-defizite und die ökonomische Situation der Tür-kei sowie ihre Zugehörigkeit zu einem anderenKulturkreis und betont das Wiedererstarken des

Islamismus. Wehler befürchtet, nicht verkraft-bare Migrantenströme würden die Integrationder bereits in den Mitgliedsstaaten lebendenrund drei Millionen Muslime zusätzlich er-schweren. Auch geostrategische Argumentesprechen aus seiner Sicht nicht für den Beitritt.Auf den Beitrag Wehlers antworten ausgewie-sene Kenner des Nahen Ostens und seiner Ge-schichte: Günter Seufert, Institutsleiter derDeutschen Morgenländischen Gesellschaft,Seyla Benhabib, in den USA tätige Politikprofes-sorin, und der Historiker Wolfgang Burgdorf.Seufert weist darauf hin, dass die türkische Va-riante des Islam keine Tradition der Gewalt auf-weise. Kernaussage des Beitrags von Benhabibist die Warnung, die Verweigerung des Beitrittswerde zu einer Annäherung der Türkei an die is-lamische Welt führen. Burgdorf vertritt die Auf-fassung, dass über den Beitritt ausschließlichpolitisch zu entscheiden sei. Unter Hinweis aufdie weltweite Globalisierung widerspricht erdem Argument, die EU laufe Gefahr, durch denBeitritt der Türkei geografisch oder kulturellüberdehnt zu werden.Das Kapitel „Demokratie und Religion“ gehtzunächst der Frage nach, ob eine „christlicheIdentität“ Europas einem Beitritt der Türkeientgegensteht. Zwei Verfasser sprechen sich –mit unterschiedlichen Begründungen – dage-gen aus, auf das Christentum als Argumentzur Beurteilung der Beitrittsfähigkeit der mus-limisch geprägten Türkei zurückzugreifen. EinBeitrag untersucht, ob es in der Türkei einendemokratisch geprägten Islam geben könne.Yasar Nuri Öztürk, Hochschullehrer der Theo-logie in Istanbul, erläutert die Unterschiededes Politikverständnisses, wie sie sich im „tra-ditionellen“ und „wahren“ Islam darstellen.Rainer Hermann, Türkeikorrespondent derFAZ, stellt den Status nicht-muslimischerMinderheiten in der Türkei dar.Das Kapitel „Wirtschaft und Menschenrechte“beginnt mit einem Artikel aus dem „Econo-mist“ aus dem Jahre 2002. Diesem Artikelkommt ungeachtet seiner in der verkürzten

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MICHAEL EILFORT (HRSG.):

Parteien in Baden-WürttembergSchriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs, Band 31Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2004

Parteien sind – aller vielbeschworenen Parteienverdrossenheit zum Trotz – die wichtigstenAkteure im politischen Willensbildungsprozess. Das von Michael Eilfort herausgegebeneBuch bietet einen bilanzierenden Rückblick auf die organisatorische, inhaltliche und per-sonelle Entwicklung der vier im Landtag von Baden-Württemberg vertretenen Parteien. Gefragt wird dabei auch nach ihrer Standortbestimmung zwischen landespolitischer Eigen-ständigkeit und bundespolitischen Zusammenhängen.

Erstmals werden zudem in vergleichender Perspektive die Jugendorganisationen der Par-teien behandelt. Das Verhältnis von Jugend und Politik ist ein besonders spannendes Thema,weil es ein „Dauerbrenner“ der politischen Bildung ist und hohes zukunftsrelevantes Gewichthat. Und weil Parteien in der parlamentarischen Demokratie ohne Wählerinnen und Wählernicht zu denken sind, blickt der Band auch über den parteipolitischen Rahmen hinaus undfragt nach politischer Kultur und Wahlverhalten in Baden-Württemberg und in seinen Teil-regionen.

Bezug gegen eine Schutzgebühr von 5 Euro (zzgl. Versandkosten): Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Marketing, Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart; oder per Fax: 0711/164099-77; oder per E-Mail: www.lpb.bwue.de

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Argumentation begründeten Schwäche einVerdienst zu: Er stellt die nicht geklärte Fragenach der Finalität der EU als Grund für dieSchwierigkeit heraus, eindeutige Kriterien zurBeurteilung der Beitrittsfähigkeit aufzustellen.Rainer Hermann, Korrespondent der FAZ inIstanbul, berichtet über die Bemühungen dertürkischen Wirtschaft, den Anschluss an dieEU zu finden. Da sowohl in der Wirtschaft derTürkei als auch bei der Ausgabenpolitik der EUmit nicht vorhersehbaren Wechseln gerechnetwerden müsse, beurteilt er aktuelle Aussagenüber die voraussichtlichen Kosten eines Tür-keibeitritts als Zahlenspiele. Amnesty Interna-tional berichtet über die Menschenrechtssitu-ation in der Türkei im Jahr 2002. Hiernach wa-ren im Berichtszeitraum trotz geänderterRechtsvorschriften Folterungen und Miss-handlungen zu beklagen. Weder das Recht derfreien Meinungsäußerung, noch grundle-gende Rechte Inhaftierter seien durchgängiggewährleistet. Heinz Kramer, Türkeiexperte,kommt nach der Abwägung der für und gegenden Beitritt sprechenden Argumente zu demErgebnis, dass für keine Alternative zwingendeGründe gegeben seien. Somit obliege es denEntscheidungsträgern, im politischen Prozesszu einer Entscheidung zu gelangen und diesepolitisch zu rechtfertigen.Das fünfte Kapitel hat die deutsche Debatteüber den Türkeibeitritt zum Gegenstand. Pub-lizisten und Hochschullehrer, unter ihnen auchder Herausgeber, sowie Altbundeskanzler Hel-mut Schmidt äußern sich zu der Frage, ob dieTürkei die Voraussetzungen zur Aufnahme indie EU erfüllt. Die Beurteilungen reichen vonengagierten Plädoyers für den Beitritt über dieFeststellung, die Voraussetzungen seien zu-mindest derzeit oder auf absehbare Zeit nichtgegeben, bis hin zu entschiedener Ablehnung.In die Beurteilungen einbezogen werden dieGeschichte, regional- und geostrategische so-wie ökonomische Überlegungen, die innen-politische Situation des Beitrittskandidatensowie prognostizierte Auswirkungen des Bei-tritts bzw. der Nichtaufnahme auf die EUselbst, ihre Mitgliedsstaaten, die Türkei undauch die Region des Nahen Ostens.Das sechste Kapitel spiegelt die Sicht der Tür-ken und Deutsch-Türken wider. Die zentraleaus diesem Kapitel zu ziehende Erkenntnis fin-det in der bundesdeutschen Debatte – wennüberhaupt – nur am Rande Beachtung: Wennauch zwei Drittel der Türken pro-europäischeingestellt sind, so besteht dennoch in breitennationalistischen und islamistischen Kreisenein nachhaltiger Widerstand gegen den EU-Beitritt. Die Ablehnung wird verbunden mitder Befürchtung des Verlustes von Identitätund Integrität und dem Hinweis auf andereBündnisalternativen, nämlich mit der islami-schen Welt oder den Turkvölkern der zentral-asiatischen Republiken. Einhellig fordern dieVerfasser Europa auf, eine definitive und klareEntscheidung über die Aufnahme der Türkei indas Bündnis zu treffen.Das siebte Kapitel behandelt die Stellung derTürkei in der Weltpolitik. Die Beiträge beschäf-tigen sich mit der Position des Landes zwischenEuropa und den USA einerseits und zwischenden Konfliktstaaten Georgien, Aserbaidschan,Armenien, Iran, Irak und Israel andererseits. In einem Ausblick hält Leggewie es für erstre-

benswert, die „binäre Kodierung“ des „drinnenoder draußen“, die eine EU-Mitgliedschaft mitsich bringe, durch eine netzwerkartige Kon-stellation zu überwinden. Allerdings relativierter die Bedeutung seines Lösungsansatzes mitder Einschätzung, diese Alternative werde so-wohl in Brüssel als auch in Ankara als zweit-klassig eingeschätzt werden. Abschließend ließe sich der Gewinn der Lek-türe des vorgestellten Buches auf folgendeFormel bringen: Wer eine eindeutige Antwortauf die Frage erwartet, ob die Türkei in die EUaufgenommen werden soll oder nicht, wird si-cherlich enttäuscht werden. Leserinnen undLeser, die sich jedoch über die Problematik undden Diskussionsstand informieren wollen undan Anregungen für eigene Überlegungen undDiskussionen interessiert sind, werden die Lek-türe als Bereicherung empfinden.

Dorothee Kallenberg-Laade

Welche Identität(en) braucht Europa?

THOMAS MEYER

Die Identität Europas

Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004239 Seiten; 10,00 Euro

Die Erweiterung der Europäischen Union (EU)beschäftigt nicht nur die Diskussion der politi-schen Entscheidungsträger, sondern auch dieBürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaatenund der zukünftigen Beitrittskandidaten. Ins-besondere an der Frage eines Beitritts der Tür-kei entzünden sich heftige Debatten über dieGrundlagen der EU. Die Frage nach den geogra-fischen Grenzen der Gemeinschaft, aber auchder kulturellen, ethnischen und religiösen Vor-aussetzungen für eine EU-Mitgliedschaft sindGegenstand kontroverser öffentlicher Diskus-sionen. Bereits derzeit bestehen aufgrund derOrganisations- und Entscheidungsstruktur Be-denken an der Handlungsfähigkeit der Gemein-schaft. Da braucht es nicht zu verwundern, dassKritiker in der Ost-Erweiterung der EU die Ge-fahr einer Überforderung sehen. Thomas Meyer, Politikprofessor an der Univer-sität Dortmund, untersucht anhand histori-scher und aktueller Problemanalysen mögli-che Grundlagen einer Identität Europas undihre Bedeutung für den Erfolg der EU nach in-nen und außen. Der Autor stellt aktuelle Prob-lemstellungen der EU dar und eröffnet einenAusblick auf die mögliche Entwicklung dieserpolitischen Gemeinschaft und ihrer Aufgaben.Der besondere Wert des Buches besteht in derBereicherung der öffentlichen Diskussion umeine nüchterne und überzeugende Argumen-tation zu Fragen, deren Beantwortung nichtnur für das Schicksal dieses Kontinents undseiner Bewohner entscheidend, sondern vonweltweiter Relevanz sein wird.Nach Meyers Urteil bildet die politische Iden-tität Europas die Basis für den Legitimitätsan-spruch und die Handlungsfähigkeit der EU alspolitisches Gemeinwesen. Er erläutert den Unterschied zwischen kultureller und politi-scher Identität. Unter kultureller Identität ver-steht er Werte, Überlieferungen, Orientierun-

gen sowie künstlerische Hervorbringungen undFormen des Alltagslebens. Er stellt heraus, dasssich heute die interessantesten und politischfolgenreichsten Unterschiede innerhalb einerjeden Kultur und Gesellschaft entwickeln, sodass die Vorstellung einheitlicher sozio-kultu-reller Identitäten entlang traditioneller Kultur-zonen der Realität entbehrt. Politische Identi-tät definiert Meyer als das Bewusstsein derZugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, für diedie gleichen Verbindlichkeiten unbedingt gel-ten, verbunden mit der Bereitschaft, die sichhieraus ergebenden Konsequenzen zu über-nehmen. Meyer tritt dem Glauben entgegen,politische Identität setze kulturelle Identitätvoraus. Vielmehr verweist er auf Befunde, wo-nach sich kulturelle Unterschiede mit der ge-meinsamen Akzeptanz derjenigen elementarenpolitisch-kulturellen Grundlagen reibungslosverbinden lassen, die das Zusammenleben un-terschiedlicher kultureller Identitäten in dersel-ben Gesellschaft und demselben politischenGemeinwesen ermöglichen. Er fordert, die anpolitische Identität als Bedingung demokrati-scher Legitimität zu stellenden Anforderungenauf eine Übereinstimmung in den Grundsätzenund Regeln der Demokratie sowie der großenEntwicklungsrichtung des Gemeinwesens zubeschränken. Weiter gehende Voraussetzun-gen hingegen bewertet er als im demokrati-schen Sinne illegitim. Die Identifizierung derBürger mit dem politischen Gemeinwesen bil-det nach Meyers Verständnis die Grundlage für die Sicherung seiner Legitimität. Voraus-setzung für diese Identifizierung sind nach sei-ner Einschätzung praktische Teilhabe an denEntscheidungsprozessen und ihrer Beratung,zumindest jedoch die Schaffung der Voraus-setzungen hierfür. Anhand vergleichender Un-tersuchungen weist Meyer nach, dass das Maßdes Vertrauens der EU-Bürger in die Institutio-nen mit dem Grad ihrer Offenheit und Politisie-rung korrespondiert und fordert zu größererTransparenz auf.Meyer macht deutlich, dass der National-staat trotz der Einbettung in die transnatio-nale Politik auf absehbare Zeit von erstrangi-ger Bedeutung bleiben wird. In einem Natio-nalbewusstsein, das auf den Grundsätzen vonDemokratie, Gerechtigkeit, Toleranz und Soli-darität beruht, erkennt er eine politische Pro-duktivkraft. Dagegen stellen chauvinistischerNationalismus und kultureller Fundamentalis-mus, gleich von welcher Religion, Kultur oderGesellschaft ausgehend, stets ein Risiko fürmenschliches Zusammenleben dar. Für die Legitimität der EU sieht Thomas Meyerden postmodernen Identifikationstyp als an-gemessen an, der die Zugehörigkeit zu einembestimmten politischen Gemeinwesen als kon-tingenten Ausgangspunkt seiner Orientierungund Verantwortung gelten lässt, jedoch seineeigentliche politische Identifikation weit darü-ber hinaus auf die regionale und globale Ver-antwortungsgemeinschaft erstreckt. Zur Bestimmung der Bedeutung der Religionkommt es nach Meyer nicht auf die Intensitätihrer Entfaltung in ihrer kulturellen Umwelt an,sondern vielmehr darauf, auf welcher Ebene sieins Spiel gebracht werde. Hierbei unterscheideter drei Ebenen: die der metaphysischen Sinnge-bung, die der individuellen und kollektiven Le-bensführung und zuletzt jene der sozialen und

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Page 66: Die neuen Kriege - Zeitschrift DER BÜRGER & STAAT · Eine Welt voller neuer Kriege? 185 Peter Lock ... Trotz dieser offensichtlichen Kennzeichen ist die These vom Wandel der Kriegsformen

politischen Grundwerte des Zusammenlebensmit anderen. In allen Kulturkreisen der Gegen-wart, auch im Islam, beobachtet er eine Ent-koppelung dieser drei kulturellen Ebenen. Dieseermögliche es Menschen, die durch keine Ge-meinsamkeiten auf den ersten beiden Ebenenverbunden seien, dennoch die Normen der drit-ten Ebene zu teilen. Eine entschiedene Absage erteilt Meyer der Gel-tung einer Leitkultur: Die Festlegung aller Bür-ger auf Regeln, die über das für die gemeinsamepolitische Kultur Unerlässliche hinausgehen,bedeutet nach seinem Verständnis eine Verlet-zung fundamentaler demokratischer Werte.Die Berufung auf eine Leitkultur beurteilt er als einen fundamentalistischen Übergriff derMehrheitskultur auf die Rechte und anerken-nungsfähigen Identitäten anderer. Fundamen-talistische Formen kultureller Identität sind fürMeyer mit einer rechtsstaatlichen Demokratieunvereinbar. Sie könnten nicht für sich bean-spruchen, die authentische oder gar einzig le-gitime Form der kulturellen Selbstbehauptungderjenigen Tradition zu sein, als deren Sprechersie auftreten. Im religiösen Fundamentalismussieht Meyer keine neue Form der Religion, son-dern nur eine Form der Macht.Die Bildung ethno-kultureller Parallelgesell-schaften in Europa begründet aus seiner Sichtsowohl eine Gefahr für die politische Integra-tion des betreffenden Landes und der EU ins-gesamt als auch für die effektive Geltung derGrundrechte.Nach der Beobachtung des Autors spitzt sichdas Problem der Identität Europas in den ta-gespolitischen Debatten auf das Verhältnis zuRussland, der Türkei und den USA zu. Die Ab-grenzung zu Russland sieht Meyer nicht alsdurch kulturelle Unterschiede begründet an. InBezug auf sein Modernisierungspotenzial un-terscheide sich Russland nicht wesentlich vonBulgarien und Rumänien, deren Zugehörig-keitsanspruch nicht grundsätzlich angezwei-

felt werde. Ausschlaggebend sei vielmehr diepolitisch-pragmatische Überlegung, dass keinföderales Gleichgewicht in einer politischenGemeinschaft möglich wäre, in der ein Partnereine Vielzahl der anderen an Kraft und Größeüberwiegt.Auch in Hinblick auf die Türkei dürften in einerzeitgemäßen politischen Debatte kulturelleDifferenzierungen nicht ausschlaggebend sein.Dennoch sei zu konstatieren, dass hier eher diekulturellen als die politischen Argumente öf-fentliche Beachtung finden. Der Islam bietet für ihn kein wirksames Abgrenzungskriterium,denn längst sei die Entscheidung gefallen, dassMuslime in den Ländern der EU ein Bürgerrechtfinden könnten. Dieses werde ermöglicht durcheine politische Kultur, zu der die Fähigkeit ge-höre, politische Gemeinsamkeit zu wahren,ohne Unterschiede des Glaubens, der Konfes-sion oder der Lebensweise zu verwischen. ZuRecht jedoch stünden die Schwächen der poli-tischen Kultur der Türkei im Mittelpunkt bei-trittsskeptischer Beurteilungen. Meyer gibt zubedenken, dass ein EU-Beitritt sowohl die Ent-wicklung des Rechts- und Demokratiebewusst-seins in der Türkei als auch die Verbreitung ei-nes Euro-Islam fördern würde. Ein dauerhafterAusschluss hingegen werde den traditionellenund erst recht den fundamentalistischen Grup-pen in die Hände spielen. Nach Auffassung desAutors dürfte die Mitgliedschaft der Türkei inder EU keine weiteren Fragen mehr aufwerfen,sofern sie politischen und ökonomischen Bei-trittskriterien erfülle.Im Verhältnis zu den USA verdeutlicht Meyer,dass die forcierte unilaterale Machtpolitik derRegierung unter George W. Bush Europa vordie Frage der Vereinbarkeit von Gefolgschaftund der Identität Europas stelle. Sein Vergleichder politischen Systeme in Europa und denUSA kommt zu dem Ergebnis, dass sich euro-päische Identität in fast allen wichtigen politi-schen Belangen der Innen- und Außenpolitik

vom Selbstverständnis der USA unterscheidet.Ungeachtet der erforderlichen Wahrung dereuropäischen politischen Identität, die er amBeispiel des Irakkrieges beleuchtet, siehtMeyer für die europäische Politik keine Alter-native zur transatlantischen Kooperation. Nach dem Verständnis Meyers kann sich derVerlauf der Außengrenzen der EU nicht an derGeografie orientieren, vielmehr sieht er dieGrenzziehung als einen Akt von politischemPragmatismus. Meyer betont, dass ein Aus-schluss von der EU weder Werturteil, noch Dis-tanzierung bedeute und keine Hierarchie derIdentitäten errichte, weder in kultureller nochpolitischer Hinsicht. Er gibt zu bedenken, dassder Eindruck der EU als kultureller Ausschluss-gemeinschaft nach außen umso weniger ent-stehen werde, desto heterogener sich ihre kul-turelle Identität im Inneren entwickelt.Ein Ausblick auf die mögliche Entwicklung derEU und ihrer Aufgaben schließt die umfassen-den Betrachtungen ab. In den Funktionen Eu-ropas als partizipativer regionaler Demokra-tie, Sozialregion und ziviler Weltmacht siehtMeyer die Konturen der künftigen Entwick-lung. Er betrachtet die Bedeutung der EU auchunter dem Gesichtspunkt der Globalisierung.Nach seiner Beobachtung bringt die derzeitherrschende „negative“ Globalisierung fort-während politische Probleme hervor, die alleErdenbürger betreffen. Politische Regionali-sierung, wie in der EU, könne diese Betroffen-heit abmildern, jedoch nicht aufheben. Meyervertritt jedoch die Hoffnung, dass im europäi-schen Maßstab die politischen Regelungs-kompetenzen der kapitalistischen Wirtschaftzurückgewonnen werden könnten, die imZuge der Globalisierung zunächst verlorengingen. Die Aufgabe Europas als Zivilmachtsieht der Autor in der Bewältigung eingetrete-ner Krisen und der Arbeit für eine faire undmultilaterale Weltordnung.

Dorothee Kallenberg-Laade

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