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Die Macht der Musik. Musiktheorie im Machtgefüge der Karolingerzeit Author(s): Irmgard Jungmann Source: Acta Musicologica, Vol. 71, Fasc. 2 (Jul. - Dec., 1999), pp. 83-125 Published by: International Musicological Society Stable URL: http://www.jstor.org/stable/932670 . Accessed: 20/06/2014 21:49 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . International Musicological Society is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Acta Musicologica. http://www.jstor.org This content downloaded from 62.122.72.197 on Fri, 20 Jun 2014 21:49:37 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Die Macht der Musik. Musiktheorie im Machtgefüge der Karolingerzeit

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Die Macht der Musik. Musiktheorie im Machtgefüge der KarolingerzeitAuthor(s): Irmgard JungmannSource: Acta Musicologica, Vol. 71, Fasc. 2 (Jul. - Dec., 1999), pp. 83-125Published by: International Musicological SocietyStable URL: http://www.jstor.org/stable/932670 .

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Die Macht der Musik Musiktheorie im Machtgeffige der Karolingerzeit

IRMGARD JUNGMANN (HEILBRONN)

Einleitende Anmerkungen zur Methodik und zum Begriff der Macht

Wer sich mit der Musiktheorie des friihen Mittelalters beschaftigt, st6dt auf das nicht zu fibersehende Phanomen, da1 die Urheber der Texte, die sich beschrei- bend, erklrend und interpretierend mit Musik befassen, fast ausnahmslos im kirchlichen Raum zu suchen sind. In der Regel waren M6nche die Verfasser der Traktate. Dieses sozialgeschichtliche Faktum wurde in der musikwissenschaftli- chen Literatur bislang eher beschreibend erwahnt, es fiihrte selten zu musikso-

ziologischen Folgerungen. Die Zugeh6rigkeit der musiktheoretischen Verfasser zu einem sonst in der Musikgeschichte selten so klar begrenzten gesellschaftli- chen Stand war ein Anla1g zu hinterfragen, welche Implikationen dies fiir die

Ausformung ihrer theoretischen Darlegungen hatte. Und zwar interessierte da- bei nicht so sehr der Aspekt der religi6s-christlichen Uberzeugung des Klerus, der meines Erachtens hinreichend dargestellt worden ist, sondern die soziologi- sche Betrachtung, die den Klerus der Karolingerzeit als einen gesellschaftlichen Stand begreift, der mit seinen gro1gen territorialen Besitztfimern feudalherrliche Gewalt besa1g, der dem Kaiser Heereskontingente zu stellen hatte, deren Vertre- ter auf Konzilien und Reichsversammlungen legislative Gewalt ausiibten sowie mit den Sendgerichten Funktionen der Rechtsprechung fibernahmen, kurzum innerhalb der Gesellschaft ein Stand mit gro1ger politischer Machtbefugnis war. Gerade die karolingischen Herrscher bauten ja ihre Herrschaft zum ersten Mal in der Geschichte des Abendlandes so konsequent auf dem Zusammenspiel von Staat und Kirche auf. Die Durchdringung und gleichzeitig gegenseitige Abhan-

gigkeit von weltlicher und kirchlicher Macht fand ihren Niederschlag im Auf- bau relativ klarer politischer Machtstrukturen.

Fiir eine musiksoziologische Untersuchung bot sich die fast 200 Jahre wah- rende Periode der Karolingerzeit (741 = Beginn der Regierungszeit Pippins - 911) also aus drei Griinden an: 1. Die Kleriker als M6nche und weltliche Priester stellten sich zur Zeit der Ka-

rolinger als ein Stand dar, der in seiner klaren Hierarchisierung (Stichwort ,,karolingische Kirchenreform") fest umrissen und definierbar ist.1

2. Die Machtbefugnisse des Klerus sind quellenmaigig durch historische und kirchenhistorische Forschungen gut belegt.

Im Folgenden wurde auf eine Differenzierung von weltlichem Klerus und M6chsklerus verzichtet. Die Zugeh6- rigkeit zum ,,Klerus" definiert sich iiber den Empfang der Priesterweihe und betont die Abgrenzung zum Laien. Eine weitere Differenzierung wird speziell fiir die Karolingerzeit sehr problematisch, da es hier geradezu als Charakteristikum angesehen werden kann, dafi eine weitgehende Durchdringung der Funktionen von weltlichem und Monchsklerus stattfand (vgl. z. B. W.-D. HAUSCHILD, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. I, Giutersloh 1995).

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3. Die ersten iiberlieferten Zeugnisse abendlandischer Musiktheorie fallen in eben diese Zeit, ins 9. Jahrhundert, eine Tatsache, die kaum als Zufall ge- wertet werden kann. Die zeitliche Begrenzung auf das Jahr 911 rechtfertigt sich nicht nur durch

die Obergabe der Konigsherrschaft an ein anderes Haus, sondern ist darin be-

griindet, da1g die Reiche, die unter Karl dem Gro1gen (768 -814) und Ludwig dem Frommen (814 -840) vereinigt waren, endgiiltig getrennte Wege gingen.

Wenn es eine Grundlage der vorliegenden Arbeit ist, den Klerus der Karo-

lingerzeit als eine machtinnehabende Gruppe der Gesellschaft zu verstehen, so setzt dies voraus, den Begriff der Macht definiert und ihn soziologisch umrissen zu haben. Die soziologische Forschung hat sich seit den wegweisenden Arbeiten von MAX WEBER mit unterschiedlicher Intensitat der Machttheorie zugewandt. Max Weber unterschied noch zwischen ,,Macht" und ,,Herrschaft" und defi- nierte Macht als ,,Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Wil- len auch gegen Widerstreben durchzusetzen".2 In den letzten Jahrzehnten hat sich besonders die angloamerikanische Soziologie im Rahmen der Comparative Historical Sociology mit wichtigen Untersuchungen dem Phanomen zugewandt. Im soziologischen Vergleich von Struktur und Organisation vergangener und

gegenwartiger Gesellschaften, ihrer Veranderungen und Entwicklungen, erhielt der Begriff der Macht fiir dieses Gebiet soziologischer Forschung einen zentra- len Stellenwert. HEINZ VESTER hat in seinem 1995 erschienenen Buch 12 Repra- sentanten der angloamerikanischen historisch-komparativen Soziologie vorge- stellt, an denen er aufzeigt, wie weit sich der Bogen der Entwicklung der Machttheorie spannt. Als jiingsten Vertreter einer Machttheorie nennt er den

Englander MICHAEL MANN, der in seinem mehrbandig angelegten Werk die ,,Geschichte der Macht"(1986) von den friihen historischen Anfingen bis zur

Gegenwart verfolgt. Sein theoretisches Konzept von Macht eignete sich, um es als soziologische Begriffsbestimmung der vorliegenden Arbeit zugrunde zu

legen. Vesper hat MANNs Machttheorie so gut und kurz zusammengefaMt, da1g er

hier zitiert sein soll: ,,Unter Macht versteht Mann ganz allgemein die Fihigkeit, Ziele zu verfolgen und zu erreichen, indem man seine Umwelt beherrscht. So- ziale Macht meint dariiber hinaus auch die Macht, die Menschen iiber andere Menschen sowie zusammen ausiiben..... Statt von Gesellschaft(en) zu reden, zieht es Mann vor, von Beziehungsnetzwerken zu sprechen, die auf vier Quellen sozialer Macht beruhen. Die vier Quellen sozialer Macht sind Ideologie, Oko- nomie, Militir und Politik, bzw. es gibt ideologische, 6konomische (economic), militarische und politische Macht (IEMP). Wenn Menschen versuchen, Ziele zu erreichen, und sie sich dabei bestimmter Mittel bedienen, dann stellen sie Netz- werke her, die aus unterschiedlichen Kombinationen der vier Machtquellen bestehen und auf der Institutionalisierung dieser Kombinationen beruhen. Mann verbindet die Unterscheidung der vier Machtquellen mit einer Reihe von Annahmen. Ideologische Macht existiert, weil Menschen nicht einfach nur wahr-

2 M. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft (Tilbingen 51976), S. 28.

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nehmen, sondern Sinn herstellen. Sinn manifestiert sich in gemeinsamen Vor-

stellungen, Normen und Werten. Zur ideologischen Macht geh6ren auch asthe- tische und rituelle Praktiken. Ideologische Macht kann entweder transzendenter Art sein, d.h. durch Verweisungen auf ,,heilige" Autoritaten zustande kommen, oder innerweltlichen moralischen Charakter haben. Okonomische Macht leitet sich aus der Produktion und Distribution, aus dem Austausch und Konsum von Giitern und Leistungen her. Um die Erffillung dieser Aufgaben herum formie- ren sich Klassen, Menschen, die die Kontrolle iiber Produktion, Distribution, Austausch und Konsum monopolisieren k6nnen, bilden eine herrschende Klasse. Allerdings sind Klassen fiir Mann nicht die treibende Kraft, der Motor der Geschichte. Militiirische Macht beruht auf der Notwendigkeit, sich physisch zu verteidigen und die Verteidigung zu organisieren, sowie auf der Zweckmai~ig- keit militarischer Macht fiir organisierte Aggession. Politische Macht schlieglich resultiert daraus, da1 sich zentralisierte, institutionalisierte und territoriale Re- gulierungen vieler Aspekte von sozialen Beziehungen als niitzlich herausstellen. Unter politischer Macht versteht Mann in erster Linie die Fahigkeit und Mittel von Staaten oder staatsahnlichen Gebilden, Gebiete und Menschen durch zen- trale Administration zu reglementieren und kontrollieren ........ Reale Machtkon- figurationen sind immer Machtmischungen aus den vier Machtquellen, und es gibt keine ,,letzt-instanzliche" Dominanz der einen Machtart iiber die an- dere......Wenn man das Spiel der Macht begreifen will, mugt man sich die Macht- spiele anschauen, die in der Historie ausgetragen worden sind."3

Nach diesem IEMP-Modell geh6rte der Klerikerstand der Karolingerzeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe, die in ihrer Verflochtenheit mit der staatlichen Regierungsgewalt wesentlichen Anteil hatte an der sozialen Macht in allen ihren vier Bereichen. K16ster und Di6zesen verffigten im wirtschaftlichen Bereich iiber gro1ge Landereien mit feudalherrschaftlichen Befugnissen, im militirischen Be- reich rekrutierten sie als Vasallen der karolingischen Herrscher ihre Heereskon- tingente, im politischen Machtbereich iibte die Kirche mit ihrem ,,Personal" in legislativen, administrativen und rechtsprechenden Funktionen erheblichen Einflug1 aus. Und endlich im ideologischen Bereich prigte und monopolisierte der Klerus in der Verquickung von Religion und Herrscherideologie ganz we- sentlich den gesellschaftlichen Sinn, die Normen der Gesellschaft, ihre Riten und ihre isthetischen Wertvorstellungen.

Man erahnt, dag Musikausiibung und Musiktheorie nur kleinste Bausteine in diesem verflochtenen Netzwerk der Macht darstellen. Betrachtet man sie gleichwohl fiir sich allein, erhalten sie durchaus ihr Gewicht innerhalb des ideologischen Machtbereichs. Wir werden darauf zu sprechen kommen, welch groge Bedeutung der Klerus der liturgischen Musik als kultischem Ritual und der Musiktheorie als einem anerkannten Wissenschaftszweig der Artes liberales beima&. Und doch wird sich zeigen, dal genauso, wie Musikausuibung und Musiktheorie inhaltlich nicht voneinander zu trennen sind, auch die verschiede- nen Machtbereiche beziiglich der Musik ineinander verwoben bleiben. So wie

3 H.-G. VESTER, Geschichte und Gesellschaft. Ansdtze historisch-komparativer Soziologie (Miinchen 1995), S. 167 ff.

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M. Mann mit seinem Modell zwar vier Machtbereiche unterscheidet, aber dabei betont, da1g es sich um ein Netzwerk handelt, um ein ,,multiple overlapping and

intersecting power network",4 so sto1gen wir, wenn wir allein nur die Musikaus-

iibung und -theorie betrachten, auf eben derartige Uberlappungen. Denn neben den musiktheoretischen Traktaten existieren karolingische Quellen verschieden- ster Art (Konzilstexte, Briefe, Bufbiicher, Gesetze), die Riickschliisse auf die musikalische Praxis der Zeit zulassen. Ihre Aussagen machen schnell deutlich, das ,,Machtspiele" (vgl. H. VESTER) musikalischer Art gerade auch innerhalb des

politischen Machtbereichs stattgefunden haben. Die schriftlichen Zeugnisse sto1gen uns darauf, da1g musikalische Machtausiibung sich nicht nur indirekt als theoretische Ableitung durch Zuordnung des Klerus zu einem machtigen Stand

abspielte, sondern ,,real" als ,,Beherrschung der Umwelt"(vgl. M. MANN) durch

Gesetzgebung, Rechtsprechung und eine zentralisierte Administration existierte. Darum nimmt die Darstellung der Machtausiibung gerade im politischen Sektor als ,,politisches Machtspiel" vor der Analyse der Musiktheorie in dieser Unter-

suchung einen relativ groIgen Raum ein. Das Netzwerk von unterschiedlichen Machtquellen, die alle ineinander ver-

woben und voneinander abhingig sind, fiir den musikalischen Bereich zu ent- wirren, stellt sich zunachst als methodisches Problem dar. Die zahlreichen, im- mer neu erkennbaren Verastelungen muBten so reduziert werden, da1g sie sich schriftlich in eine systematische Form einpassen lieIgen. Der Zwang zur Reduk- tion fiihrte im Ergebnis dazu, da1g in dieser Arbeit immer nur beispielhaft und in

Kiirze zahlreiche Phanomene der Machtausiibung angerissen werden. Ich hoffe, daI3 trotz der notwendigerweise aufeinander folgenden Aufschlhisselung in ein- zelne Kategorien erkennbar wird, daBI das Netzwerk musikalischer Machtaus-

iibung ein viel verschlungenes Ganzes darstellt.

,,Viele der musiksoziologischen Konzepte begniigen sich damit, die Kohi- renz kiinstlerischen Handelns mit den gesellschaftlichen Wesensziigen der Epo- che blo1g zu konstruieren. Wenn dann das Aufwickeln der Verbindungsfiden zwischen Gesellschaftsstruktur und musikalischem Verhalten auf Schwierig- keiten stobt, wird die Analogie zu Hilfe gerufen. Dieses Verfahren eignet sich

vorziiglich, plausible Parallelen zu entwerfen nach der Formel: >Ebenso wie im Bereich X verhilt es sich im Bereich Y.< Dabei ist unerheblich, ob die Parallele von der Okonomie oder der Politik ausgeht oder ob sie sich am ,Zeitgeist' ori- entiert: Bei beiden Verfahren haben wir es mit Konstruktionen zu tun, die im besten Falle durch geistvolle philosophische Spekulationen legitimiert werden."5 Mit diesem Zitat von K. BLAUKOPF, in dem er die oft anzutreffende Methodik

musiksoziologischer Schriften kritisiert, sei deutlich gemacht, daBI es in der vor-

liegenden Arbeit nicht um eine Parallelisierung von politischen und etwaigen fiktiven musiktheoretischen Machtstrukturen geht, die vielleicht mehr oder minder unverbunden nebeneinandergestellt werden. Das Anliegen dieser Arbeit besteht vielmehr darin, die Aussagen der Musiktheoretiker zu interpretieren als

4 M. MANN, The Sources of Social Power I. A history of power from the beginning to A.D. 1760 (Cambridge 1986), S. 2. 5 K. BLAUKOPF, Musik im Wandel der Gesellschaft. Grundziige der Musiksoziologie (Darmstadt 21996), S. 237.

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Aussagen von Personen, die zur Machtelite des Staates geh6rten. Es wird postu- liert, dafs sie ihre Theorie nicht anders entwickeln konnten als im Selbstver- standnis ihrer eigenen sozialen Position. Damit wird der Sozialstatus des Klerus als Voraussetzung seiner Musiktheorie begriffen. So wurde denn die Musiktheo- rie daraufhin befragt, ob ihre spezifischen Inhalte sich dadurch erklren liegien, da1g ihnen eine Machtfunktion im ideologischen Machtspiel zukame. Diese Me- thode begrenzt bewult den Blickwinkel - wie es ja auch sonst jeder historische Blickwinkel notwendigerweise tut. Jede Analyse ist dazu ,,verurteilt", sich auf einen Aspekt oder auf wenige zu beschranken, wissend, dafs dabei gerade die

Komplexitat eines Beziehungsnetzes sich verzerrt. Die Fokussierung auf eine

Fragestellung, die wie in unserem Falle den Machtaspekt isoliert betrachtet, hat

jedoch den Vorteil, m6glicherweise neue Sichtweisen zu er6ffnen, vieles in an- derem Lichte verstehbar zu machen, unter Umstinden zu anderen Kriterien der

Bewertung und somit anderen Schlulfolgerungen zu fiihren. Zum Beschlu1g der Einleitung sei zusammengestellt, welche musiktheoreti-

schen Schriften oder Texte mit musiktheoretischen Anteilen aus der Karolinger- zeit in dieser Arbeit beriicksichtigt wurden. Die Auflistung macht deutlich, da1g eine ohnehin schwierige Abgrenzung der eher ,,musiktechnisch" orientierten Traktate zu Abhandlungen der spekulativen Musikbetrachtung fiir unsere Fra- gestellung nicht beruicksichtigt wurde.6 Es wird im Gegensatz zu zeigen sein, wie sich theoretische Spekulation und praktische Musikausiibung gegenseitig durchdringen.

Aurelianus Reomensis: Musica disciplina (spdites 9.Jh.) Alia musica (9.Jh) Musica enchiriadis (9. Jh.) Scolica enchiriadis (9. Jh.) Commemoratio brevis (ca. 900) Hucbald von St. Amand: De harmonica institutione (ca. 900) Regino von Pruim: Epistola de harmonica institutione (ca. 900)

Tonarius (ca. 900) Hrabanus Maurus: De institutione clericorum libri tres (1. Hilfte d. 9. Jh.)

Musik im politischen Machtspiel

Die Annahme, da1g zur Karolingerzeit im musikalischen Bereich Herrschaft iiber Menschen stattgefunden hat, wird uns durch zahlreiche Zeugnisse bestitigt. Eine Sichtung karolingischer Quellen ergab, da1g sich gerade im Bereich politi- scher Machtausiibung zahlreiche Belege daffir finden, wie sich die legislative und richterliche Gewalt mit der Musikausuibung beschiftigten. Anhand der im Vergleich zur Vorgeschichte fuir die Karolingerzeit guten Quellensituation soll

6 Zur Problematik der Abgrenzung vgl. z.B. A. RIETHMOLLER, Probleme der spekulativen Musiktheorie im Mittelalter, in: F. ZAMINER (Hg.), Geschichte der Musiktheorie 3 (Darmstadt 1990), S. 163-201.

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versucht werden, die musikalische Situation im politischen Machtbereich zu umreigen.

Es sind uns allerdings diesbeziiglich keine Zeugnisse von denen, fiber die Macht ausgeiibt wurde, fiberliefert. Sie befanden sich ja au1gerhalb des klerikal- aristokratischen Bildungsstandes, der allein der Schriftsprache machtig war. Wir miissen uns mit schriftlichen Zeugnissen von Seiten der Machtausiibenden be-

gnfigen. Ihre Quellen versuchen wir, auch wenn sie naturgegeben einseitig und

parteiisch formuliert sind, aus zwei gegensatzlichen Blickwinkeln zu betrachten: aus der Sicht der Machtigen genauso wie aus der Sicht der ,,Untergebenen". Auch wenn die Texte uns in erster Linie Auskunft iiber die Absichten und Den-

kungsweisen ihrer Urheber geben, sind sie doch gleichzeitig als Berichte fiber reale Praktiken derjenigen, die auf der unteren Skala der Machthierarchie ste- hen, interpretierbar. Das Gesagte gilt in ganz besonderer Weise ffir Gesetzes- texte, wie wir sie in den Beschliissen karolingischer Synoden und Konzilien

vorliegen haben. Gesetzliche Verbote richten sich gegen eine Praxis, ein Verhal-

ten, das sie einschranken, begrenzen oder abschaffen wollen. Sie beschreiben also in der Negation Verhalten von Teilen der Bev6lkerung. Damit werden sie

fiir den Historiker zu einer erstrangigen Quelle der Sozialgeschichte.7 Auch ffir unsere Fragestellung nach Machtausiibung im musikalischen Bereich stellen die Konzils- und Gesetzestexte die wichtigsten Zeugnisse dar.

Seit den Bemiuhungen des Bonifatius (t 754), in Zusammenarbeit mit dem ersten karolingischen K6nig Pippin (741 - 768) eine Reform der kirchlichen Or-

ganisation und Hierarchie durchzuffihren, ist gegenuiber den vorangehenden Jahrhunderten ein pl6tzlicher Anstieg von Konzils- und Synodalversammlun- gen zu vermerken.8 Allein die bis dahin einmalige Hdiufigkeit der Treffen laMt erkennen, welch hohe Bedeutung die karolingischen Herrscher dieser Form der Zusammenarbeit von kirchlichen und weltlichen Amtstrigern beima1gen. Sie waren es ja, die die Konzilien zum gro1gen Teil initiierten und einberiefen, zum Teil hielten sie sie zugleich als Reichstage ab. Die synodalen Zusammenkiinfte demonstrieren uns schlaglichtartig an einem Punkt ,,greifbarer" Geschichte die

enge Verflechtung von kirchlicher und staatlicher Gewalt, wie sie so stark wie nie vorher im frinkischen Reich von den karolingischen Herrschern - besonders

ausgeprigt von Karl dem GroBen (768 - 814) - als Mittel zum Aufbau eines Im-

perium Christianum ausgebaut wurde. Die enge Zusammenarbeit von Konigtum und Kirche manifestierte sich rein iu1Berlich in der hiufigen Anwesenheit der

karolingischen Herrscher auf den bisch6flichen Synoden, wobei sie oft auch die

Leitung der Synode fibernahmen. Sie zeigte sich auch in einer formalen Neue-

rung, die sich seit dem Concilium Germanicum von 742 beobachten liMBt, daiB

nimlich die Beschlfisse der Konzilien als Kapitularien der Regenten verkiindet wurden, das heiBt, die Macht (zunichst des Hausmeiers) der Konige und Kaiser

stand hinter den bischoflichen Erlassen. Vor allem Pippin und Karl der Grot1e

7Vgl. auch eine entsprechende Einschatzung bei W. ULLMANN, Public Welfare and Social Legislation in the Early Medieval Councils, in: Studies in Church History 7 (Cambridge 1971), S. 2. 8 Die folgenden Darstellungen zur Konzilsgeschichte basieren u.a. auf dem ausffihrlichen Werk von W.HARTMANN, Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien (Paderborn 1989).

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gaben die konziliaren Canones fast ausnahmslos als Herrscherkapitularien her- aus.

Die gegenseitige Durchdringung von weltlicher und kirchlicher Macht wird auch bei der inhaltlichen Betrachtung der Konzilstexte deutlich. Die Synoden und Konzilien setzten sich mit Haretikern, mit der Lebensfiihrung des Klerus und mit der Verfuigung iiber das Kirchengut genauso auseinander wie mit dem Verhalten der Laien, sei es, da1 es sich um Sexualmoral, Wucher, das Eheleben, Totschlag, Wahrsagerei u.a. mehr handelte. Das bedeutet, Synodalbeschliisse hatten in karolingischer Zeit langst die Ebene verlassen, auf der sie als nur kirchliches Gremium fuir nur kirchenrechtliche Fragen zustandig waren. ,,Zum ungeschiedenen Durch- und Nebeneinander von weltlichen und geistlichen Gegenstanden, das die Gesetzgebung des friihen Mittelalters kennzeichnet, ge- h6rt es auch, daB auf den Konzilien Beschliisse iiber die Ordnung der Gesell- schaft erlassen wurden."' Was uns heute als Durch- und Nebeneinander er- scheinen mag, war Ausdruck eines unter den Karolingern entstehenden Staats-

verstindnisses, das die Einheit von christlicher und weltlich-machtpolitischer Zielsetzung zum nicht zu hinterfragenden Leitbild allen politischen Handelns zu machen beabsichtigte. So konnte Alcuin, der Leiter der Hofschule und enger Berater Karls des GroIgen diesen riihmen als einen ,,Fiihrer, der in Fr6mmigkeit und biblischer Standfestigkeit unablassig fiir die Starkung des katholischen Glaubens und gegen die Anhanger der Hiresie wirkt, der dariiber wacht, da1s sich nirgendwo ein Widerspruch zur Lehre der Apostel einzuschleichen vermag, der danach strebt, diesen katholischen Glauben uiberall im hellen Glanz der himmlischen Gnade erstrahlen zu lassen".'0 Mit der hohen Bedeutung, die die karolingischen Herrscher den Konzilien und Synoden beima1gen, hatten sie den Episkopat mit allen seinen Fihigkeiten in den Dienst der Legislative gestellt, die diesen wiederum in eine vorher nie dagewesene Machtposition riickte. (Spiter werden wir darlegen, da1g die Bischofe auch in der Jurisdiktion entscheidende Funktionen iibernehmen sollten.) In der karolingischen Konzilspraxis fokussiert sich gleichsam das fuir unseren Zusammenhang bedeutsame Phainomen des Zusammenspiels von kirchlichen und weltlichen Interessen, von kirchlicher und weltlicher Macht auf oberster staatlicher Leitungsebene.

Welche Auswirkungen diese Verflechtung fiir die ,,untergebenen Ebenen" der Bevolkerung hatte, soll nun fiir den musikalischen Bereich verfolgt werden.

Konzilien und Synoden beschiftigten sich neben den bereits angedeuteten vielfiltigen Problemkreisen auch mit dem musikalischen Verhalten der Bev6lke- rung, nicht so sehr in positiver Weise, d.h. da1i wir daraus Forderungen zur Ausfiuhrung des liturgischen Gesanges entnehmen k6nnten. Nein, es handelte sich nur um Verbote und Erlasse gegeniiber nicht zu akzeptierendem musikali- schen Verhalten. Diese Verbote stellen fiir uns heute wichtige Zeugnisse einer

9 HARTMANN, wie Anm. 8, S. 439. 10 Zitiert nach G. DAGRON, P. RICHE u. A. VAUCHEZ (Hg.), Bischdfe, Monche und Kaiser (642 - 1054). Die Geschichte des Christentums 4 (Freiburg 1994), S. 687-688.

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offensichtlich real existierenden Praxis dar, deren Ausmag wir gleichwohl schwer einzuschitzen verm6gen.

Auf welche Art von Zuwiderhandlungen die staatlich-kirchliche Fiihrung reagieren zu miissen meinte, zeigt die folgende Zusammenstellung von ,,musi- kalischen" Textstellen von Konzils-, Gesetzestexten und pdipstlichen Erlassen der Karolingerzeit:

743. Concilium Romanum

Wer es wagt, das Neujahr und die Wintersonnen- wende zu feiern und dabei Festmahler im Hause

zubereitet, auf Gassen und Plitzen Lieder singt und Reigen tanzt, was vor Gott eine sehr groge Siinde ist, der sei verflucht.

c.9: . Si quis Kalendas lanuarias et bromas colere praesumpserit aut mensas cum dapibus in domibus praeparare et per vicos et per pla- teas cantationes et choros ducere, quod maxima

iniquitas est coram Deo, anathema sit."

Um 745. Statuta S. Bonifacii

Es ist verboten, in der Kirche weltliche Tinze abzuhalten noch die Midchen singen zu lassen oder Festmihler in der Kirche zu geben.

c.21: Non licet in ecclesia choros saecularium vel puellarium cantica exercere, nec convivia in

ecclesia praeparare.12

Um 745. Canon des Papstes Zacharias

Wer das Neujahr in heidnischer Weise zu feiern oder wegen des Jahresanfangs etwas Besonderes zu machen wagt, wer Tische mit Lichtern und

Speisen bei sich zu Hause bereitet und auf Gassen und Plitzen singt und tanzt, der sei verflucht.

Si quis Calendas Januarii ritu paganorum colere vel aliquid plus facere propter novum annum aut mensas cum lampadibus et epulis in domi- bus suis praeparare et per vicos et plateas cantationes et choros ducere praesumpserit, anathema sit.13

799/800. Statuta Rhispacensia Frisingensia Salisburgensia (von Reisbach, Freising und

Salzburg)

Voll Demut und Ehrerbietung soll das ganze Volk bei Gebet und Andacht die Prozession begleiten, ohne sich mit kostbaren Kleidern zu schmiicken, ohne verfiihrerische Lieder und weltliches Spiel. Sie sollen lernen, die Kyrie-eleison-Rufe zu singen, auf dag sie sie in Zukunft besser - und nicht so

biurisch - zu singen lernen.

c.34: Ut omnis populus honorifice cum omnis

supplicationibus devotione humiliter et cum reverentia absque praetiosarum vestium ornatu vel etiam inlecebroso cantico et lusu saeculari cum laetaniis procedant et discant Kyrieleison clamare, ut non tam rustice et nunc usque, sed

melius discant.14

" MONUMENTA GERMANIAE HISTORICA, Concil. II,1, S. 15-16. Dieser und alle folgenden lateinischen Texte wurden, falls nicht anders vermerkt, von der Verfasserin mit freundlicher Unterstfitzung von BARBARA LOSLEIN (Heilbronn) fibersetzt. 12

J. F. SCHANNAT u. J. HARTZHEIM (Hg.), Concilia Germaniae I (Neudruck d. Ausgabe von 1759 Aalen 1970), S. 74.

13 R. BUCHNER (Hg.), Briefe des Bonifatius. Willibalds Leben des Bonifatius nebst einigen zeitgendssischen Dokumenten

(Darmstadt 1988), S. 156-157. 14 MONUMENTA GERMANIAE HISTORICA, Capit. Reg. Franc. I., S. 226.

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Lex Caroli et Ludovici

Jene Possen und Tanze, schimpfliche und verfuih- rerische Lieder und gewisse teuflische Spiele sind weder auf 6ffentlichen Platzen noch in den Hau- sern oder an irgendeinem andern Ort erlaubt, da sie als heidnische Gebrauche fiberkommen sind.

Illas vero balatationes et saltationes, cantica

turpia et luxuriosa et illa lusa diabolica non faciat nec in plateis nec in domibus neque in ullo loco, quia haec de paganorum consuetu- dine remanserunt.15

813. Konzil von Mainz

Den schindlichen und verfiihrerischen Gesang rund um die Kirchen verbieten wir v6llig. Er ist

fiberall zu unterlassen.

c. 48: Canticum turpe atque luxuriosum circa ecclesias agere omnino contradicimus, quod ubique vitandum est.16

826. Konzil von Rom

Es gibt etliche Leute, vor allem Frauen, die an Sonn- und Feiertagen und zu Heiligenfesten nicht ihre Freude daran haben, aus Pflicht heraus (zur Kirche) zu kommen, sondern sie laufen tanzend, schandliche Worte singend und mit Reigentanzen nach Art der Heiden herbei. Derart nimlich, wenn sie mit kleineren Suinden zur Kirche kommen mit um so gr6gIeren nach Hause gehen. In einem sol- chen Fall mug jeder Priester aufs sorgfaltigste das Volk ermahnen, dag es an diesen Tagen nur allein zum Gebet zur Kirche kommt. Denn solche, die derart handeln, richten sich nicht nur selbst zu-

grunde, sondern sinnen darauf, auch andere hin- abzuziehen.

c. 35: Sunt quidam, et maxime mulieres, qui festis ac sacris diebus atque sanctorum nataliciis non pro eorum, quibus debent, delectantur

desideriis advenire, sed ballando, verba turpia decantando, choros tenendo ac docendo, simili- tudinem paganorum peragendo advenire

procurant; tales enim, si cum minoribus veni- unt ad ecclesiam, peccatis maioribus revertun- tur. In tali enim facto debet unusquisque sacer- dos diligentissime populo ammonere, ut pro sola oratione his diebus ad ecclesiam decurrant, quia ipsi, qui talia agunt, non solum se perdunt, sed etiam alios deprimere adtendunt.17

853. Konzil von Rom c.35: enthilt die wortliche Wiederholung des c. 35 vom Konzil von 826 und fiigt dann hinzu:

Denn wer sich diesem verderblichen und frevel- haften Verhalten zugetan zeigt und (trotz) Ermah-

nung des Priesters in keiner Weise gehorcht, soll auf jede Weise von der Gemeinschaft suspendiert sein, weil fest steht, dag diejenigen, die in der Absicht zur Kirche gehen, die heilige Schrift zu hiren, dies entsprechend dem Wort tun: Mein Haus ist ein Haus des Gebetes. Auf dag (niemand) durch seine Schuld die anderen zur ungeheuerli- chen Suinde verffihre.

Nam qui huius perniciosi et scelesti facti stu- diosus inventus admonitus a sacerdote minime obaudierit, a communione modis omnibus

suspendatur, quia condecetur pergentes ad ecclesiam divinas intente scripturas adtendere et locis die, que eius (serius) sunt, agere se- cundum quod scriptum est: Domus mea domus orationis vocabitur, non alios secum ad immane

peccatum sua culpa suadere.8

Zit. in F. M. BOHME, Geschichte des Tanzes in Deutschland (Leipzig 1886), S. 17. MONUMENTA GERMANIAE HISTORICA, Concil. I, S. 272.

17 MONUMENTA GERMANIAE HISTORICA, Concil. II1,2, S. 581. 18 W. HARTMANN, Die Konzilien der Karolingischen Teilreiche 843 - 859 (Hannover 1984), S. 328.

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92 Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik

,,Homilia" Papst Leos IV. (847 - 855)

Den Gesang und Tanz der Frauen in der Kirche Cantus et choros mulierum in ecclesia vel in oder im Vorraum der Kirche verbietet! Bei Be- atrio ecclesiae prohibite. Carmina diabolica, schw6rung des allmichtigen Gottes verhindert die quae nocturnis horis super mortuos vulgus teuflischen Gesinge, die das Volk zu nichtlicher facere solet, et cachinnos quos exercet, sub Stunde bei den Toten zu singen pflegt, ebenso wie contestatione Dei omnipotentis vitate.19 das Geschrei, das man dabei aufffihrt.

Im wesentlichen sahen Staat und Kirche Angriffspunkte bei folgenden, zum Teil als heidnisch definierten Praktiken gegeben: a) Gesang und Tanz in der Kirche, im Vorraum oder in ihrer Nihe (circa eccle-

sias) waren nicht erlaubt. b) An kirchlichen Festtagen war Gesang und Tanz auch auf 6ffentlichen Platzen

oder Gassen untersagt. c) Bei Prozessionen durften keine ,verfiihrerischen Lieder' gesungen werden. d) Lieder und Tanze bei den Grabern, auch das cachinnus genannte Geschrei

oder Gelachter anla••lich der Totenklagen galt als heidnisch und verwerflich. Frankische Synoden, kaiserliche Erlasse, r6mische Konzilien und pipstliche

Canones gaben in iibereinstimmender Geschlossenheit die gleichen Direktiven heraus. Nicht jedermann, und schon gar nicht ,,jede Frau" durften in der Kirche oder in ihrem Umkreis singen. Immer geht es um die Kombination von Gesang und Tanz. Entsprechende Verbote waren in der Karolingerzeit allerdings nicht neu. Sie standen in der Tradition der seit den Kirchenvitern bezeugten Ableh-

nung der Tanzmusik. Vereinzelte Konzilien im 6. und 7. Jahrhundert gaben auch schon diesbeziigliche Erlasse heraus ( Toledo 589; Auxerre 573 - 603; Chalons 639 - 654 ). Fiir die Karolingerzeit stellt die haufige Erwahnung ein Novum dar. Sie erklrt sich freilich aus der schon angesprochenen Bedeutung, die die karolingischen Herrscher der Konzilspraxis und legislativen MaBnah- men iiberhaupt beimaB1en.

Es fillt auf, daB es sich bei allen Verordnungen nicht in erster Linie um den Tanz allgemein handelt, sondern um den Tanz in Zusammenhang mit christli- chen Kultriten. Gesang und Tanz zu kirchlichen Festtagen in und um die Kirche herum scheinen regelrecht in Konkurrenz zum liturgischen Gesang gestanden zu haben. Man stelle sich vor: Im Chorraum der Kirche der strenge, mannliche

gregorianische Gesang und au1Ben der offensichtlich sinnenfrohe, weiblich oder

gemischtgeschlechtliche Gesang und Tanz! Bei den Verordnungen fallt die haufige Nennung weiblicher Beteiligung an

den Zuwiderhandlungen auf. Wir k6nnen annehmen, daBt es eine Tradition ge- geben hat, bei der Frauen und Madchen gemeinsam zumindest im Vorraum der Kirche gesungen und getanzt haben. Ebenso sind sicherlich auch alle Hinweise auf Tinze als Darbietungen unter weiblicher Beteiligung zu interpretieren. Es kann vermutet werden, dafB dem Gesang und Tanz von Frauen in vorchristli- chen Traditionen des Frankenreiches eine nicht unbedeutende kultische Bedeu-

19 J. D. MANSI (Hg.), Sacrorum Conciliorum nova et amplissima collectio XIV (Paris 1901), S. 895.

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Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik 93

tung zukam. Wenn sich nun aber gerade zu christlichen Festtagen Frauen im Vorraum der Kirche eingefunden haben sollen, um dort zu singen und zu tan- zen, so kann die vorrangige Begruindung des Klerus, sie taten dies, um ihre heidnischen Riten aufrechtzuerhalten, nur in begrenztem MaBe stichhaltig sein. Das Gegenteil scheint naherliegend: Die Frauen zeigten mit dem Verhalten, dafB sie vor und in der Kirche erschienen und daB1 sie just an kirchlichen Festtagen zum Singen kamen, ihre Zugehorigkeit und Verbundenheit mit der christlichen Religion. Freilich m6gen sie dabei eine iauBere Form eingefordert haben, die, wie wir annehmen miissen, auf vorchristlichen Traditionen basierte. Egal ob die Reigen nur von Frauen oder gemischtgeschlechtlich getanzt wurden: In jedem Falle scheinen die Tanzerinnen und Tanzer einen rein maskulin ausgefuihrten Ritus nicht widerstandslos akzeptiert zu haben.

Staat und Kirche waren aber auch bemiiht, nicht nur den Tanz im Umkreis der Kirche, sondern uberhaupt den Tanz zu Festtagen zu verbieten. Festtage waren ja im Karolingerreich immer kirchliche, also religi6s motivierte arbeits- freie Tage. Daraus ergab sich die Begriindung fuir ein Tanzverbot, denn christli- che Gottesverehrung hatte sich im Rahmen der asketischen, kirchlich vorge- schriebenen Liturgie zu halten und sollte nicht mit lauten, gemischtgeschlecht- lichen ,,schdndlichen" und ,,ausschweifenden" Tanzen gefeiert werden. Mit dem generellen Tanzverbot zu Festtagen, das, wie wir annehmen miissen, den gr6tB- ten Anteil des Tanzens fiberhaupt betraf, versuchten Kirche und Staat, sehr weitgehend in das musikalische Leben der Bev6lkerung einzugreifen. Der Kampf um das Tanzverhalten sollte sich das ganze Mittelalter bis weit in die Neuzeit hinein hinziehen, es war ein Kampf, bei dem die Bevolkerung die zahl- reichen Vorschriften immer wieder umging oder miB1achtete. Er konnte letztlich von keiner Seite ganz gewonnen werden.

An dieser Stelle seien einige Uberlegungen zur wissenschaftlichen Methodik der Quelleninterpretation erlaubt. Seit Dieter Harmening 1979 in seiner Arbeit uiber den Aberglauben (,,Superstitio") bezweifelte, dafB die literarischen Quellen des Mittelalters beziiglich des heidnischen Kultes Reprasentanzwert ffir zeitge- n6ssische Verhiltnisse hatten, gilt es, sich auch ffir den musikalischen Bereich, der ja eng an heidnische Kulte gebunden war, mit der Frage auseinanderzuset- zen, welcher Quellenwert der kirchlichen Literatur zukommt, soweit es die hi- storische Faktizitat der angesprochenen musikalischen Verhaltensweisen an- geht.

Harmening halt daffir, dafB die kirchliche Literatur zur Superstition m6gli- cherweise nicht die Wirklichkeit abbildet, sondern daB sie nur tradiert und das iibertragt, was seit altersher iiberkommen war. So ffihrt Harmening einen gro- fBen Teil der Texte zum Aberglauben auf die Schriften des Caesarius von Arles (469 - 542 ) zurTick. Harmenings Uberlegungen fanden eine Antwort durch Rudi Kiinzel (1992), der vorschlug, den Realitatsgehalt eines Textes im Vergleich mit anderen, m6glichst voneinander unabhingigen Texten zu bestimmen. Auch wir stehen beziiglich der musikalischen Verhaltensweisen vor dem Dilemma, dafB vorrangig konziliare Texte das Fehlverhalten anprangern, also Canones, bei

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94 Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik

denen sich durchaus ein Konzil auf ein vorangehendes beziehen kann, bisweilen ist allein in der Wortwahl klar erkenntlich ,,abgeschrieben" worden. Auf der Suche nach Quellen, die sich im Sinne Kiinzels als von den Konzilstexten unab-

hangige Zeugnisse erweisen k6nnten, k6nnen unseres Erachtens zwei Texte betrachtet werden: ein Brief des Bonifatius an Papst Zacharias, in dem er nach-

fragt, ob es zutreffe, dafg - wie man behauptet -zum Neujahrsfest in Rom bei der St. Peters-Kirche tags und nachts Reigen getanzt und mit gotteslasterlichen Ge-

singen gefeiert werde.

Etliche ungeistliche, t6richte Menschen, Alaman-

nen, Baiern und Franken, glauben, wenn sie in der

Nihe der Stadt Rom etwas von dem machen se-

hen, was wir als SUinde verbieten, es sei von den Priestern erlaubt und gestattet, und uns machen sie daraus einen Vorwurf, wahrend sie sich selbst einer argerlichen. Lebensweise hingeben. Zum

Beispiel behaupten sie, mit angesehen zu haben, wie jedes Jahr in Rom unweit der Kirche des hl.

Petrus, wenn das neue Jahr kommt, bei Tag und Nacht nach heidnischer Sitte auf den Platzen

getanzt wird und nach Heidenart Zurufe und

gotteslisterliche Lieder ert6nen, wie Tag und Nacht Speisen aufgetischt werden und keiner seinem Nachbarn aus seinem Haus Feuer oder ein

Gerit oder sonst einen Dienst leihen will. ............. Das alles bereitet uns, weil es dort von ungeistli- chen und einfiltigen Menschen gesehen wird,

Vorhaltungen und Hindernisse in Predigt und Lehre.................. Denn wenn Eure Vaterlichkeit dieses heidnische Treiben in der Stadt Rom ver-

bietet, wuirde sie sich einen Lohn verdienen und uns zu einem gro1gen Erfolg in der kirchlichen Lehre verhelfen.

Et quidam carnales homines idiotae, Alamanni vel Baioarii vel Franci, si iuxta Romanam ur- bem aliquid facere viderint ex his peccatis, quae nos prohibemus, licitum et concessum a sacer- dotibus esse putant et nobis inproperium de-

putant, sibi scandalum vitae accipiunt. Sicut adfirmant se vidisse annis singulis in Romana urbe et iuxta ecclesiam sancti Petri in die vel

nocte, quando Kalende Ianuarii intrant, paga- norum consuetudine chorus ducere per plateas et adclamationes ritu gentilium et cantationes

sacrilegas celebrare et mensas illa die vel nocte

dapibus onerare et nullum de domo sua vel

ignem vel ferramentum vel aliquid commodi vicino suo prestare velle................ Quae omnia, eo quod ibi a carnalibus et insipientibus vi-

dentur, nobis hic inproperium et inpedimen- tum precationis et doctrinae perfici- unt................... Nam si istas paganias ibi pater- nitas vestra in Romana urbe prohibuerit, et sibi mercedem et nobis maximum profectum in doctrina ecclesiastica proficerit.

Diese Anfrage kann doch nur dahingehend interpretiert werden, daB1 Bonifatius seiner Sorge um real existierende MiBstinde - und dies in der Hauptstadt des Christentums! -Ausdruck verleiht.

Als zweite von den Konzilien nicht direkt beeinfluB1te Quelle k6nnen zwei

Sendfragen des Regino von Priim gelten. Er formuliert in seinen Anweisungen fiir die Pfarrvisitation, auf die spditer noch detailliert einzugehen ist, 96 Fragen, die der visitierende Bischof dem Pfarrer stellen m6ge, um damit dessen Amts-

fiihrung und Amtseignung zu uiberpriifen. Die Fragen 66 bis 75 beziehen sich auf die Durchffihrung des MeB1opfers: Ob der Priester mit oder ohne Albe die Messe liest? Ob er bei der Opferung Wasser mit Wein mischt? Ob er Kerzen auf den Altar stellen laidt? usw. Dahinein plaziert Regino auch zwei Fragen zum musikalischen Usus: Ob der Priester das Volk ermahne, daB es im Vorraum der

20 Zitat mit deutscher Ubersetzung aus BUCHNER, wie Anm. 13, S. 146-149.

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Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik 95

Kirche nicht zu singen habe und ob er dort auch weibliche Ch6re verbiete? (Frage 72). Daran schlieft sich gleich die Frage an, ob er auch die teuflischen nachtlichen Gesange bei Totenklagen unterbinde? (Frage 73). Die Zusammen-

stellung der Fragen ergibt keinen logischen Zusammenhang, wolle man anneh- men, die Gesange im Vorraum der Kirche hatten zu Reginos Zeiten gar nicht mehr stattgefunden, sondern seien aufgrund konziliarer Tradition an dieser Stelle von Regino eingeffigt worden. Im Gegenteil: Die Plazierung der zwei mu-

sikbezogenen Fragen in den Zusammenhang solcher Fragen, die sich auf die ,,Routine" bei der Ausfiihrung der Messe beziehen, bestitigen die Annahme, dag es sich bei den kritisierten musikalischen Verhaltensweisen um auch zur Zeit Reginos noch vorkommende Praxis gehandelt haben mug.

Mit diesen zwei Quellen, die unabhangig von den Konzilstexten ein be- stimmtes musikalisches Verhalten beschreiben, kann es fuir wahrscheinlich an- gesehen werden, dag auch die Vorschriften der Synoden und Konzilien in der Karolingerzeit zeitgen6ssisches Verhalten reprdisentieren. Wenn wir auch die

Hiufigkeit und den lokalen Radius von derlei Vorkommnissen nicht abschitzen k6nnen, so bleibt doch das Faktum bestehen, dat diesen Ereignissen von Seiten der Kirche und des Staates haufige Aufmerksamkeit und damit eine nicht zu

unterschitzende Bedeutung beigemessen worden sein mugi. In den konziliaren Gesetzen deutet sich der Umgang von Kirche und Staat

mit einem Teil real existierender Traditionen im kultischen Bereich an, die in ihrer Andersartigkeit vom Klerus nicht akzeptiert, auch nicht assimiliert wur- den. Andersartigkeit und Vielfiltigkeit kultischer Riten miissen ja fiir einen Staat, der seit dem 6. Jahrhundert durch die kontinuierliche Eroberung zahlrei- cher germanischer Siedlungsgebiete zu groi~er Dimension angewachsen war, als gegeben angenommen werden. Die Konzilstexte machen deutlich, dat diese Vielfalt auf eine Verwobenheit von klerikal-staatlicher Hierarchie traf, die mit Hilfe ihrer legislativen Gewalt die nicht akzeptierten rituellen Gebriuche zu unterbinden sich bemiihte. So viel laiit sich schon jetzt aus der Betrachtung der Konzils- und Gesetzestexte sagen: Musikausubung war zur Zeit der Karolinger nicht beliebig. Sie war an den Vorrang der liturgischen Musik gebunden. Ge- sang und Tanz an Festtagen - und wann sonst hditte man tanzen sollen? -, musi- kalische Totenrituale ebenso wie eine weibliche aktive Beteiligung an der Litur- gie wurden vom h6chsten staatlich-kirchlichen Gremium per Gesetz, und das hie1i auch mit handfesten Strafen, untersagt. Mit der Kultmusik sowie dem of- fentlichen Gesang und Tanz sind zwei wesentliche Gebiete musikalischer Beti- tigung angesprochen. Sie zu kontrollieren bedeutete, Macht iiber einen groi~en Bereich musikalischen Handelns des Volkes auszuiiben.

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96 Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik

Musiktheorie im ideologischen Machtspiel

Die Analyse der Musiktheorie der Karolingerzeit unter dem Aspekt der Macht basiert auf dem Befund, daB Musiktheorie ausschlieBlich im Elitestand der Kle- riker und M6nche formuliert wurde. Schon die soziale Zuordnung der wenigen uns namentlich bekannten Musiktheoretiker der Karolingerzeit macht deutlich,

daBt sich die Ausbildung der Musiktheorie vorrangig unter Monchen, besonders solchen in hoher und h6chster Stellung innerhalb der klerikalen Hierarchie ab-

spielte. HUCBALD VON ST. AMAND (um 840 - 930) lebte als Benediktiner in Flandern,

wo er zum kl6sterlichen Schulleiter aufstieg. Eine Schulgruindung in St.Bertin und der Mitaufbau der Reimser Schule sind ihm zuzuschreiben. 899 wird er als

Uberbringer einer Bittschrift seines Klosters an Karl den Kahlen nach Reims erwahnt. Es ist nach der Quellenlage zweier Zeugnisse davon auszugehen, daB Hucbald am Hofe Karls des Kahlen als Vertrauter galt.21

REGINO VON PROM (? - 915). Ihm unterstand die Leitung des Klosters zu Priim. Nach sieben Jahren Abt-Titigkeit wurde er aus dem Amt gedringt, er- hielt aber daffir vom Trierer Erzbischof die Leitung eines Trierer Klosters. Seine

engen Kontakte zum Erzbischof von Trier sind durch seinen Musiktraktat belegt sowie von der Tatsache untermauert, daB Regino auch in dessen Auftrag sein Handbuch zur Pfarrvisitation verfaBte.

HRABANUS MAURUS (um 780 - 856) wurde 814 zum Priester geweiht und zum Lehrer an der Klosterschule zu Fulda ernannt. 20 Jahre lang leitete er als Abt die Geschicke des Fuldaer Klosters. Ludwig der Deutsche (843 -876) berief ihn nach Mainz in das Amt des Erzbischofs. Damit bekleidete Hrabanus bis zu seinem Lebensende das h6chste Amt der ostfrdinkischen Kirche.

Nur zur Erhellung der Biographie des AURELIANUS REOMENSIS versagen die

Quellen fast ganzlich. Wir wissen lediglich, daB er als Benediktinerm6nch im

Kloster lebte. Uber seine Stellung innerhalb der kirchlichen Hierarchie liegen uns jedoch keine Zeugnisse vor.

Musiktheorie ,,geschah" also weitgehend innerhalb des gebildeten M6nchs- standes. So weit wir ihre Urheberschaft kennen, stellt sie sich dar als schriftliche

AuBerung von M6nchen in gehobenen Positionen der klerikalen Hierarchie, ndimlich von Lehrern, Schulleitern, Abten, einem Erzbischof. Auch aus den iibri-

gen musiktheoretischen Schriften der Karolingerzeit, die anonym auf uns iiber- kommen sind, ist die klerikale Urheberschaft aus dem Inhalt sicher ableitbar.22

Angesichts dieser eindeutigen Zuordnung der Musiktheorie zu einem gesell- schaftlichen Stand, fiir den wir die Beteiligung an sozialer Macht durch das bis- her Gesagte anreiBten konnten, wenden wir uns nun der Musiktheorie zu und

fragen - immer unter Beriicksichtigung der musikalischen Praxis -, wie sich das

Verhiltnis des Klerikerstandes zur Macht in seiner Musiktheorie auswirkt.

21 Y. CHARTIER, L'oeuvre musicale d'Hucbald de Saint-Amand. Les compositions et le traitd

de musique (Cahiers d'"tudes mrdievales, Cahier spkcial 5) (Quebec 1995), S. 9. 22 Neueste Ergebnisse zum Entstehungsort der Musica und Scolica Enchiriadis siehe bei D. TORKEWITZ, Zur

Entstehung der Musica und Scolica Enchiriadis, in: Acta Musicologica 69, 2 (1997), S. 156-181.

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Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik 97

Die ,,richtige" Musik

JOHANNES DIACONUS hat uns in der von ihm verfaften Lebensbeschreibung Gregors des Grotlen, die im spiten 9. Jahrhundert entstand, die folgende, seither hiufig zitierte Beschreibung des frdinkischen Gesanges aus r6mischer Sicht hin- terlassen:

Unter den anderen V61kern Europas verstanden es die Germanen oder Gallier, die Sii1e von dessen (d.h. des Antiphonars Gregors d.Gr.) Melodien zu erlernen und auffallend oft von neuem zu erler-

nen; sie konnten (die SUiie) in Wirklichkeit (nim- lich) nicht unverfilscht bewahren, nicht so sehr durch ihren Leichtsinn, weil sie Eigenes in den

gregorianischen Gesang mischten, als vielmehr durch ihre Wildheit und auch durch ihre Natur. Weil ja die K6rper von jenseits der Alpen, mit ihren dr6hnend donnernden und allzu lauten

Stimmen, die eigentliche SUiie der iibernommenen Melodie nicht wiedergeben k6nnen, weil die bar- barische Wildheit (ihrer) durstigen Kehlen -

wihrend sie danach trachtet, die weiche cantilena mit ,Beugungen' (inflexionibus) und stoftweisen Tonwiederholungen (repercussionibus) heraus-

zubringen - gewissermalgen ein naturgegebenes Krachen hervorbringt, mit einem Gerausch wie wenn ein aulger Kontrolle geratener Lastwagen die

Treppe hinunterjagt. Und so bestiirzt sie (die Melodie) durch den sehr unebenen und laut schreienden (Gesang) die Seelen der Zuh6rer, die sie besinftigen sollte.

Huius modulationis dulcedinem inter alias

Europae gentes Germani seu Galli discere

crebroque rediscere insigniter potuerunt, incor-

ruptam vero tam levitate animi, quia nonnulla de proprio Gregorianis cantibus miscuerunt,

quam feritate quoque naturali, servare minime

potuerunt. Alpina siquidem corpora, vocum suarum tonitruis altisone perstrepentia, susceptae modulationis dulcedinem proprie non resultant, quia bibuli gutturis barbara

feritas, dum inflexionibus et repercussionibus mitem nititur edere cantilenam, naturali quo- dam fragore, quasi plaustra per gradus confuse sonantia rigidas voces jactat, sicque audientium animos, quos mulcere debuerat, exasperando magis ac obstrependo conturbat.23

Wir k6nnen davon ausgehen, daf es zwischen den Bewohnern des n6rdlichen und des siidlichen Teiles des karolingischen Reiches starke Unterschiede in der Gesangsweise gab. Hiervon zeugt nicht nur die Klage des Johannes Diaconus, auch andere Quellen sprechen wiederholt davon, dafg die Germanen zu rauh, zu holperig, mit zu grofen Spriingen, zu dr6hnend und donnernd, schlichtweg ,,barbarisch" singen wiirden. Sie seien nicht in der Lage, den weicheren Ge- sangsstil der siidlichen Lander aufzunehmen.24 Die interessante Untersuchung von M. WALTER von 1994 beschiftigt sich gerade mit diesen Alterittitserfahrun- gen, die im fruhen Mittelalter durch das Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen eine - wie er meint - neue Wahrnehmung von musikalischen Differen- zen in riumlichen und zeitlichen Parametern mit sich brachte. Andersartigkeit,

23 J. P. MIGNE (Hg.), S. Gregorii Magni Vita . Lib. II, 7 (Patrologiae cursus completus, series latina 75). Ubersetzung uibernommen aus M. WALTER, Grundlagen der Musik des Mittelalters (Stuttgart 1994), S. 53-54. 24

Vgl. z.B. Bericht des Ekkehard von Aura fiber den Streit zwischen Papst Leo IX. und dem Wormser Erzbischof im Jahre 1052 anliiglich des Gesanges des Diakons in MGH SS 6, S. 196-197; ebenso Bericht eines Anonymus aus spitestens dem 11. Jahrhundert zitiert in M. WALTER, wie Anm. 23, S. 55.

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98 Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik

vielleicht auch Vielfalt musikalischer Kulturen: Ware es nicht aiugerst unge- w6hnlich gewesen, hatte es sie nicht gegeben? Das Frankenreich hatte sich unter dem Merowingischen Herrscherhaus kontinuierlich vergr6ofert, unter den Karo-

lingern reichte das Herrschaftsgebiet endlich vom Atlantik bis zur Elbe, von der Nordsee bis ans Mittelmeer. Ein Reich, das sich innerhalb von 300 Jahren u.a. die Alamannen, die Thiiringer, die Bayern, die Friesen, und schlieglich unter Karl dem Grofen das Land der Sachsen einverleibte, sollte nicht auf verschiedenar-

tige Musikkulturen gestofen sein? Der kulturellen Vielfalt ihres Herrschaftsgebietes begegneten die karolingi-

schen Herrscher mit einer Politik, die gerade darauf ausgerichtet war, die Ein- heit des Reiches durch ,,Vereinheitlichung" herzustellen. Das bedeutete bei

gleichzeitiger zentralistisch-hierarchisch ausgebildeter Kirchenreformpolitik eine Bildungs- und Kulturpolitik, die sich am Leitbild des Imperium Christia- num orientierte, des vom christlichen Glauben durchdrungenen Reiches. Kaiser und Papst, Staat und Kirche entwickelten in enger Zusammenarbeit Gesetze und Vorschriften, um den unterschiedlichen V61olkerstimmen eine gemeinsame Grundlage zu geben, ihre Differenzen auszugleichen und sie damit regierbar zu machen. Die Tendenz zur Normierung, zur Herstellung eines ,,richtigen" Zu-

standes, zum christlich begriindeten ,,rechten" Weg, eben der ,,norma rectitudi-

nis"25, lkift sich seit Pippin und Karl dem GroLgen beschreiben. Sehr deutlich ist auch fiir den musikalisch-liturgischen Bereich der Wille zur Vereinheitlichung zu erkennen.

Mit der Verordnung aus dem Jahre 754, die wohl im Zusammenhang mit dem Besuch des Papstes Stephan II. beim ersten karolingischen K6nig Pippin stand, erklirte Pippin den r6mischen Gesang als verbindlich. Liturgische Texte und ihre Melodien sollten in Anordnung und Ausffihrung den in Rom iiblichen

Gepflogenheiten, ,,roma more", entsprechen. In Folge gab es gerade auch unter Karl dem Groten Anweisungen fur den Klerus, den Cantus Romanus zu erler- nen. In seiner Admonitio generalis von 789 bezieht er sich ausdriicklich auf den Erlaf Pippins:

Auf dafg sie den R6mischen Gesang vollkommen erlernen m6gen und er in rechter Weise zu den

Stundengebeten des Tages und der Nacht ausge- fiihrt werde, wie es unser K6nig Pippin seligen Andenkens veranlafgte, als er den Gallikanischen

Ritus, da er nicht mit dem apostolischen Stuhl fibereinstimmte, um der Herstellung einer friedli-

chen Einheitlichkeit der heiligen Kirche Gottes

willen aufhob.

Ut cantum Romanum pleniter discant, et or- dinabiliter per nocturnale vel gradale officium

peragatur, secundum quod beatae memoriae

genitor noster Pippinus rex decertavit ut fieret,

quando Gallicanum tulit ob unanimitatem

apostolicae sedis et sanctae Dei ecclesiae pacifi- cam concordiam.26

25 Vgl. J. FLECKENSTEIN, Die Bildungsreform Karls des Grossen - als Verwirklichung der Norma Rectitudinis (Freiburg 1953), S. 10 ff. 26 MONUMENTA GERMANIAE HISTORICA, Leges II, Capit. Regum Franc. I, S. 61.

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Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik 99

Regional abweichende Gesange, wie es der weit verbreitete gallikanische Ritus war, sollten zugunsten der ,,concordia" aufgegeben werden. Dem r6mischen Ritus wurde der Weg bereitet, auch wenn hier und dort durch Verschmelzung von bisher tradierten Liturgiebriuchen mit der neuen r6mischen Liturgie eigene und regional gebundene Liturgiebereiche entstanden sein mdgen.27 Per Ermah- nungen, per Dekret und Synodalbeschluf verfolgten auch Karls Sdhne und Nachfolger die Politik der Vereinheitlichung der Liturgie. Zusitzlich erfahren wir aus mehreren Quellen, daf die Kirchenoberen immer wieder Cantoren zur Ausbildung nach Italien schickten oder sich Lehrer von dort holten, um den

frinkischen Singern ihr Handwerk in der romischen Gesangskunst beibringen zu lassen.28

So wenig Zeugnisse zur Entwicklung der Liturgie in der vorkarolingischen Zeit letzlich auf uns gekommen sind, so wenig wir die musikalische Gestalt ih- rer Gesinge nachvollziehen k6nnen, so wissen wir doch, wie sehr es mindestens seit der Zeit der Kirchenviter ein Anliegen der Kirche war, die Liturgie - und das hieL3 immer Gebet und Gesang - als wichtige Zelle der gemeinsamen Kult- ausiibung aller Glaubigen zu definieren und fiir ihre Verbreitung im Wirkungs- bereich der Kirche zu sorgen. Dabei stieLg sie auf musikalische Formen anderer Kulte, die in der Tradition vorchristlicher Gottesverehrung ihre eigene, wahr- scheinlich sehr andersartige Ausprigung erfahren hatten. Die harten Verdam- mungsurteile gerade vieler Kirchenviter fiber fast jede Art nichtkirchlicher Mu- sik, die in ihnlicher Weise das ganze Mittelalter durchziehen, ihre Einstufung als heidnisch, damit schlecht und siindhaft, lassen erahnen, daf sich die kirchli- che Institution bemiihte, sich auch im musikalischen Bereich als Autoritit dar- zustellen, in der Realitit aber stindig an die Grenzen der bestehenden Musik- kulturen stieLg.

Von daher konnen wir es als ersten Kulminationspunkt einer Jahrhunderte wihrenden Entwicklung interpretieren, wenn unter den karolingischen Herr- schern Staat und Kirche gemeinsam festsetzen, was unter ,,Kultmusik" zu ver- stehen sei. Ein einmaliger Vorgang, wenn man bedenkt, dafg sich heidnische Kultmusik bislang nur auf Uberlieferung und Tradition berufen konnte, datg sie sich nicht zu rechtfertigen hatte, sondern ihre Berechtigung in ihrer Existenz selber fand. Zumindest ist es uns heute nicht anders vorstellbar, als daL3 der vorchristlichen Kultmusik ein ProzeB zugrunde gelegen haben mug, wie wir ihn in aufgereuropiischen, nicht-schriftlichen ,,Volksmusik"-Kulturen kennen: Durch Nachahmung wurde das Uberkommene bewahrt und weitergegeben, es war damit sicher auch Abweichungen und allmihlichen Verinderungen unter- worfen.

Von nun an aber gab es die ,,richtige", die ,,wahre" Musik. Sie hatte ihre Tra- dition vornehmlich innerhalb des monastisch-klerikalen Standes entwickeln konnen. Dies galt fir die Offizien als Stundengebete des Klerus sowieso, aber

27 Zur Diskussion fiber vorrangige Einfliisse vgl. H. HUCKE, Die Einfiihrung des Gregorianischen Gesanges im Fran- kenreich, in: Rdmische Quartalsschrift 49 (1954), S. 172-187. 2s Vgl. z B. Remedius von Rouen holt sich den Gesangsmeister Simeon aus Rom (MONUMENTA GERMANIAE HISTORICA, Epist. I, S. 554).

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100 Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik

auch beim gemeinsamen Gottesdienst mit der Bevolkerung, der Messe, war die aktiv musikalische Beteiligung der Bevolkerung nur begrenzt erlaubt und re-

glementiert. Schon das Konzil von Laodicea (363) hatte verkiindet:

Es ist nicht erlaubt, daI3 Privatpersonen und das Quod non oportet privatos et vulgares psalmos gemeine Volk Psalmen in der Kirche spre- dici in ecclesia............. Quod non oportet am-

chen.................. Weiterhin ist es nicht gestattet, daI3 plius praeter eos qui regulariter cantores exi- andere Personen aulger denen, die als Cantoren stunt, qui de codice canunt, aliquos alios in offiziell anerkannt sind und nach der Schrift sin- pulpitum conscendere et in ecclesia psallere.29

gen, das Katheter ersteigen und in der Kirche Psalmen singen.

Die Beteiligung der Bevolkerung am liturgischen Gesang reduzierte sich (falls sie in den ersten Jahrhunderten starker gewesen sein sollte) auch mit der Aus-

bildung von Knabench6ren und der starken Gesangspflege der M6nche auf ein Minimum. So oblag es einem ausschlietlich maskulinen M6nchs- und Kleriker- stand, das Gesangsgut weiterzugeben, was in den Kloster- und Stiftsschulen

geschah, wo Knaben vornehmlich aus gehobenen Schichten mit der allgemeinen Ausbildung auch das Singen des Chorals erlernten. Karl der Grote forderte in seiner Admonitio generalis von 789 in c. 72:

Bringt den Knaben, die in den geistlichen Stand Et ut scolae legentium puerorum fiant, psalmos, treten sollen, den Psalter, die Schriftzeichen, den notas, cantus, compotum, grammaticum per Gesang, den Computus (also die Kunst der Feier- singula monasteria uel episcopia et libros ca-

tagsberechnung) und die Grammatik bei. tholicos bene emendate.3

Damit waren erstmals Grundanforderungen an die Ausbildung von Klerikern formuliert. Noch gegen Ende des 10. Jahrhunderts empfiehlt Regino, der Abt von Priim, in seinen Anweisungen fiir die Pfarrvisitation, der Visitator habe sich davon zu iiberzeugen, daf der Pfarrer des Psalmengesanges und der Gebete des Offiziums kundig sei.31

Aus dem bisher Gesagten lailt sich zusammenfassen: Der gregorianische Gesang entwickelte sich innerhalb eines M6nchs- und Klerikerstandes, einer

Elite, die durch Unterweisung und Unterricht musikalisches Liedgut weitergab. Mit der

Vergr6oterung des merowingisch-karolingischen Reiches bildeten sich

im Zuge der Christianisierung regional gefirbte, verschiedene MeBriten heraus. Es wurde zum Anliegen der karolingischen Herrscher, im Zuge einer Politik der

Vereinheitlichung in Obereinstimmung mit dem Papst auch den liturgischen Gesang per Dekret festzulegen und nur noch eine einzige Form des Gottesdien- stes zuzulassen.

Eine Festlegung auf ein einziges korrektes musikalisches Ritual erforderte

starker als in den vorangehenden Jahrhunderten eine Unterweisung, die den

29 SCHANNAT, wie Anm. 12, S. 163. 30 MONUMENTA GERMANIAE HISTORICA, Leges II,Capit.Regum Franc.I. S. 61.

31 F. G. A. WASSERSCHLEBEN (Hg.), Reginonis Abbatis Prumiensis Libri duo de Synodalibus Causis et Disciplinis Eccle- siasticis (Leipzig 1840), S. 25-26.

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Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik 101

Versuch machte, das musikalische Material zu gliedern, zu ordnen, zu begriin- den und zu systematisieren. Nicht von ungefaihr sind die bedeutendsten Mu- siktraktate des 9. Jahrhunderts von ihrer Anlage her und ihrem oft erklirten Willen allesamt Lehrschriften zum Unterricht und ffir die praktische Anweisung geschrieben. Hucbald von St. Amand leitet seine Abhandlung mit den Worten ein:

Wer einen Zugang zu den Anfangsgriinden der Musik finden m6chte und zu einem - wenn auch

vorliufigen - Verstdndnis der Melodien kommen

m6chte, der sollte seine Aufmerksamkeit auf die

Qualitit oder Lage aller T6ne richten.

Ad musicae initiamenta quemlibet ingredi cupientem, qui aliquam scilicet interim canti- lenarum percipere intelligentiam querit, quali- tatem sive positionem quarumcumque uocum

diligenter aduertere oportebit.32

Die Commemoratio brevis empfiehlt das Lesen des kleinen Traktats zur Ubung, auf daL aus geringen Fahigkeiten gr6o~ere entstehen.

Deshalb nehmt dieses kleine Biichlein an, das von mir zu Eurer Ubung bestimmt ist, auf dafg ihr aus

geringem Wissen heraus gr6ifere Fahigkeiten entwickelt.

Quapropter parvam hinc noticiam exercitiis vestris ex me destinatam suscipite, ut ex par- vorum scientia fiatis capaciores maiorum.33

Regino von Pruim will ,,dem mig~t6nenden Durcheinander der Tonarten", wie er sie in der Trierer Di6zese oft wahrzunehmen meinte, Abhilfe schaffen.

Da der Chor in eurer Di6zese die Psalmen hiufig in einem mi~t6onenden Durcheinander der Tonar- ten singt und ich Euer Ehrwiirden deswegen oft

aufgebracht sah..........34

Cum frequenter in ecclesiae vestrae dioecesibus chorus psallentium psalmorum melodiam confusis resonaret vocibus, propter dissonan- tiam toni, & pro huiuscemodi re vestram vene- rationem saepe commotam vidissem.............35

Und Aurelian begriindet seine schriftstellerischen Bemiihungen damit, daLg seine MitbrUder ihn gebeten hitten, die musikalischen Regeln und Gesetzmi- ftigkeiten fiir sie aufzuschreiben.

.......... von den Mitbriidern wurde ich gebeten, uiber gewisse Gesetzmifgigkeiten der ,modulatio- nes', die man ,tonus' oder ,tenor' nennt, und von ihren Begriffen (Definitionen) einen fesselnden Vortrag zu entwerfen.

.............. rogatus a fratribus, ut super quibus- dam regulis modulationum, quas tonos seu tenores appellant, sed et de ipsorum vocabulis rerum laciniosum praescriberem sermonem.36

32 CHARTIER, wie Anm. 21, S. 136.

33 Commemoratio brevis, in: H. SCHMID (Hg.), Musica et Scolica Enchiriadis una cum aliquibus tractatulis adiunctis

(Miinchen 1981), S. 157.

Ubersetzung nach RIETHMULLER, wie Anm. 6, S. 176. 35 M. GERBERT, Scriptores ecclesiastici de Musica sacra potissimum I, S. 230.

L. GUSHEE (Hg.), Aureliani Reomensis Musica Disciplina (= Corpus Scriptorum de Musica) (o.O. 1975), S. 53.

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102 Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik

Es bestand also im kirchlichen Raum das Bediirfnis, sich liturgisch-musikalisch eindeutig festzulegen, damit Regeln und Gesetzmai1igkeiten gelehrt und erlernt werden k6nnten. Dem gregorianischen Choral sollte offensichtlich der noch bestehende Rest von Beliebigkeit genommen werden. Nicht mehr nur per Nach-

ahmung sollte das Liedgut tradiert werden, sondern es gab nun einen Unter- richt, der verstandesmrifig auf logischen Regeln aufbauen konnte.

In die grotle Anzahl der sakralen Gesinge eine Ubersicht zu bringen, war

dazu eine wichtige Voraussetzung. Sammeln, sich damit eine Ubersicht ver- schaffen und dann gliedern und ordnen, war ein ffir die Karolingerzeit typischer Ansatz, der seinen Ausdruck beispielhaft in der Anlage von Antiphonaren fand. Fillt die erste Erwahnung eines Antiphonars in die Regierungszeit K6nig Pip- pins, der Papst Paul I. um die Zusendung einer entsprechenden Sammlung bit- tet,37 so stammt das dilteste auf uns fiberkommene Antiphonar, genannt ,,das Antiphonar Karls des Kahlen" aus dem spditen 9. Jahrhundert.

Wihrend Antiphonare fiblicherweise Antiphonen, Responsorien usw. nach dem liturgischen Ablauf des Kirchenjahres zusammenstellten, unternahmen es

Manner der Kirche im 9. Jahrhundert, kirchliche Gesange nach musikalischen Kriterien zu ordnen. Sie stellten Antiphonen, Responsorien, meist Offiziumsge- sdinge, z.T. aber auch das Ordinarium in der Reihenfolge der acht modi zusam- men, wobei zusitzlich die differentiae, divisiones, varietates usw. genannten Ka- denzen der Psalmodie als Ordnungskriterium beriicksichtigt wurden. Nicht der Text also, sondern isolierte Eigenschaften der Melodie bildeten die Grundlage fiir die spiter Tonare genannten Sammlungen. ,,Der von Odo (von St. Maur des Foss6s?) zuerst gebrauchte Name Intonarium = Anstimmbuch weist auf die

praktische Bedeutung dieser Biicher; als die Neumen noch nicht auf Linien

standen, waren die Tonare fiir den Cantor eine Hilfe beim Anstimmen der

Gsge."38 Bei Regino von Priim liest sich das Bemiihen um Ordnung so:

Ich habe sorgfailtig die Ordnung des Antiphonars (gemeint ist das der Trierischen Kirche) von An-

fang bis Ende in Angriff genommen und die Anti-

phonen, die ich in ihm vorgefunden habe, den ihnen nach meinem Dafiirhalten eigenen Tonarten

zugeteilt. Ich habe mich bemiiht, so wie sie von den Vorfahren iiberliefert sind und wie die Erfah-

rung der harmonischen Disziplin selbst gezeigt hat, die divisiones der Tonarten, die differentiae, die

bei besonderen Silben des Textes iiblich sind,

einzufiigen, auf daig ein ziemlicher und passender Zusammenklang entstehe................... Nicht allein die Antiphonen, sondern auch den Introitus der Messe und Communio-Gesinge habe ich nach den

gleichen Tonarten geordnet, ich habe auch mit

Arripui Antiphonarium, et eum a principio usque in finem per ordinem diligenter revol-

vens, antiphonas, quas in illo adnotatas reperi, propriis, ut reor, distribui tonis; divisiones etiam tonorum, id est differentias, quae in extrema syllaba in versu solent fieri, ut decens et conveniens fiat concinentia, sicut a maioribus nobis traditae sunt, et sicut ipsa harmonicae

disciplinae experientia monstravit, distinctis ordinibus inserere curavi...................... Non

solum autem antiphonas per congruos tonos

distinxi, verum etiam introitus ad Missas, et Communiones: nec non et responsoria, quae nocturnis horis in divinam laudem canuntur, consonantibus sibi tonorum convenientiis

37 Vgl J. P. MIGNE (Hg.), Patrologiae cursus completus, series latina (= MPL) 98, Sp. 200. 38 W. LIPPHARDT, Tonar, in: MGG 13 (Kassel etc. 1966), Sp. 523.

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Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik 103

grofem Eifer die Responsorien, die zu den nichtlichen Stundengebeten zum Lobe Gottes gesungen werden, den ihnen zugeh6rigen Tonarten zugewiesen.

associare summo studio elaboravi.39

Nicht alle Tonare des 9. Jahrhunderts sind so umfangreich wie das des Regino mit iiber 1200 genannten Gesangen. Aurelianus Reomensis, die Commemoratio brevis, die Alia musica oder auch Hucbald integrieren ihre kleineren Tonar-

sammlungen in ihre musikalischen Traktate. Ihnen allen ist es jedoch ein ge- meinsames Anliegen, dem Kirchengesang ein Hilfsmittel an die Hand zu geben, den Cantus korrekt und richtig oder - wie die Commemoratio brevis es nennt -

integer et plenus ausffihren zu k6nnen. Eine Einteilung der liturgischen Gesinge nach den Kirchentonarten hatte

freilich nur Sinn, wenn man voraussetzen konnte, daB die Cantoren auch die Tonarten beherrschten. Und so beschaftigen sich zahlreiche Traktate mit einer ausffihrlichen Darstellung der 8 Modi, ihrer tetrachordalen Gliederung, ihrer

Charakterisierung durch die Finalis, den Tonraum und durch melodische For- meln. Wenn uns heute weithin verschlossen geblieben ist, auf welche Weise die Kirchentonarten innerhalb der Entwicklung des gregorianischen Gesanges ent- standen, so aIBt sich doch die Tatsache, daB die Traktate des 9. Jahrhunderts der Darlegung der Tonarten so eine hohe Bedeutung geben, aus unserer Sicht inter- pretieren. Die Einschitzung von Michael Bernhard ,,Die Pflege des gregoriani- schen Chorals erforderte theoretische Darstellungen, die vom M6nchsstande geleistet wurden"40 kann nur Zustimmung finden. Man muB aber bei dieser Konstatierung nicht Halt machen, sondern k6nnte die Frage anschlieBen ,,Was heiBt ,erfordern'?" Welcher Art waren die Antriebskrifte, die die M6nche dazu bringen konnten, sich mit musikalischen Theorien auseinanderzusetzen?

Entsprechend dem zuvor Dargelegten liegt die Interpretation nahe, einen wesentlichen Antriebsfaktor fiir die rein musiktheoretischen Darlegungen in dem Streben des Klerus zu sehen, in der Liturgie des frinkischen Reiches die eine, vermeintlich einzig richtige Gesangesweise zu verbreiten und durchzuset- zen. Durch ausschlieBlich praktischen Unterricht - so hatte ja die Vergangenheit gezeigt - waren starke regionale Unterschiede nicht zu vermeiden gewesen. Ein theoretisch fundiertes Tonarten-Gebiude, das in Kombination mit der Praxis durch die im Reich verstreuten Kloster- und Stiftsschulen seine Verbreitung fand, konnte eher eine Gewihr daffir bieten, daB in der Kirche einheitlich, end- lich ,,richtig" gesungen wurde. Nicht von ungefaihr macht sich der Dialogus de musica41 noch um die Jahrtausendwende iiber Cantoren lustig, die von der Un- terscheidung der Tonarten nichts verstiinden42. Und auch Hermannus Contrac- tus (gest. 1054) beklagt sich noch etwas spditer, da1B viele Singer haufig die Ton- arten durcheinander brichten und einer Melodie zwei Tonarten zuordneten.43

39 GERBERT, Scriptores, wie Anm. 35, I, S. 230-231. 40

M. BERNHARD, Das musikalische Fachschrifttum im lateinischen Mittelalter, in: F. ZAMINER (Hg.), Geschichte der Musiktheorie 3 (Darmstadt 1990), S. 56. 41 Von BERNHARD, wie Anm. 40, S. 72 als,,Pseudo-Odo" bezeichnet. 42 GERBERT, Scriptores, wie Anm. 35, I, S. 272. 43 GERBERT, Scriptores, wie Anm. 35 II, S. 246.

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104 Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik

Der Wunsch nach musikalischer Eindeutigkeit war zweifellos auch ein we- sentliches Antriebsmoment zur Entwicklung der abendlandischen Notation. MAX WEBER44 hat ausffihrlich dariiber abgehandelt, welch fundamentale Be-

deutung er der Erfindung der Notenschrift als einer Bedingung beimiBt, die wesentlich die okzidentale Musikentwicklung mitbestimmt hat. Die musikhisto- rische Forschung hat kaum Zweifel dariiber, daB die Erfindung der Choralnota- tion in die karolingische Epoche fallt. Bedeutet die Notation fiir den Menschen der Neuzeit, mit Hilfe ihrer Bausteine Neues schaffen zu k6nnen, aufzuschrei- ben und damit festzuhalten, eben zu komponieren, so gilt fiir das friihe Mittel- alter, daB man ,,in Schriftzeichen eine weitere Stiitze fand, die der Disziplinie- rung diente..... Die Notation ist nicht Bauplan fiir das zu Realisierende, sondern Hilfe, um das erklingen zu lassen, was der Uberlieferung entspricht. Die Schrift sichert den Bestand dieser Tradition und schafft ihr Modell".45 Der langen, sich iiber das Mittelalter hin erstreckenden Epoche der Entwicklung von musikali- scher Schrift hat Hucbald versucht, einen Baustein einzuffigen, der sich freilich nicht als tragfahig erweisen sollte. Er sei hier beispielhaft fuir das Ringen um musikalisch-schriftliche Festlegung im 9. Jahrhundert genannt. Sein Versuch, die

Neumen, die bisher dem Singer nicht erm6glichten, eine klare Tonh6henvor- stellung zu entwickeln, sondern nur zur Richtungsweisung dienten, mit der

griechischen Buchstabennotation zu verbinden, fand zwar wenig Nachahmer; die Absicht aber, die hinter seinem ,,Projekt" steckte, wurde klar von ihm for- muliert:

Wenden wir uns nun den Notenzeichen zu, deren

jede einer (oben genannten) Saite zugeordnet ist; dies wird von nicht geringem Nutzen sein fiir die Studierenden. Sie aber wurden zu dem Zwecke

erfunden, daif - in Thnlicher Weise wie die Buch- staben es erm6glichen, daf Klinge und Ausspra- che der W6rter durch die Schrift erkannt werden, so daig der Leser nicht in Zweifel gelassen wird -

jede Melodie notiert und ohne Lehrer abgesungen werden kann, wenn die Zeichen einmal erlernt worden sind. Was mit den Noten, die jetzt iiber- kommen und iublich sind, nicht gelingen kann, die

ja aulerdem entsprechend der Region lokal variie- ren; sie sind aber wenigstens eine Gedichtnis- stiitze. Sie fiihren aber den Leser immer auf unsi-

cherem Weg.......

Nunc ad notas musicas quae unicuique cordarum appositae sunt, non minimum stu- diosis melodiae conferunt fructum, ordo uer- tatur. Hae autem ad hanc utilitatem sunt re-

pertae, ut sicut per litteras, uoces et dictiones uerborum recognoscuntur in scripto, ut nullum

legentem dubio fallant iudicio, sic per has omne melos adnotatum, etiam sine docente, post-

quam semel cognitae fuerint, ualeat decantari.

Quod his notis quas nunc usus tradidit quaeque pro locorum uarietate diuersis nichilominus deformantur figuris, quamuis ad aliquid pro- sint rememorationis subsidium, minime potes

contingere. Incerto enim semper uidentem

ducunt uestigio........46

Hucbald wollte die Unsicherheit der Neumenschrift verbessern, um den Singer in die Lage zu versetzen, auch ohne das Vorsingen eines Lehrers eine Melodie

44 M. WEBER, Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik (Tiibingen 1972), S. 53 ff. 45 BLAUKOPF, wie Anm. 5, S. 174-175. 46 CHARTIER, wie Anm. 21, S. 194.

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Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik 105

absingen zu k6nnen. Er kann die lokalen Abweichungen nicht tolerieren, mochte sie m6glichst eliminieren.

Damit bestitigt sich aufs Neue unsere These: Die christliche Elite, der Klerus, war auf der Suche nach Mitteln, die kultische Musikausiibung in eindeutiger und einheitlicher Weise zu tradieren und zu verbreiten, auf daB sie im ganzen Reich ohne lokale Unterschiede in ,,richtiger" Weise zur Ausfiihrung kame.

Die ,,rechte" Musik bedurfte notwendigerweise ihres Gegenpols. Das ,,mi3B- tonende Durcheinander""47 konnte in musikalischen Kategorien und Begriffen benannt werden. Von nun an sprach man von vitium, von absonium, von sonus falsus.48 Die Scholica Enchiriadis erklrt uns, was unter einem MiBlaut, absonium, zu verstehen sei.

Sch(iiler). Wodurch entsteht dieser Misslaut in den

Klangen (phtongis)? L(ehrer). Wenn sie entweder zu trage oder zu scharf gesungen werden. Denn durch diesen

erstgenannten Fehler in der menschlichen Stimme wird nicht nur die Eigenschaft der Tone (so- norum), sondern auch das ganze Gesangsstiick verdorben. Das geschieht, wenn das, was gesun- gen wird, entweder durch triges Sinken tiefer fdillt oder nicht in geh6rige H6he erhoben wird. Dieser Fehler kann auf einigen Musikinstrumenten nicht vorkommen, weil jedem Tone seine Tonh6he bleibt, sobald einmal die Ordnung der Tone be- stimmt (das Instrument gestimmt) ist.49

Quomodo fit haec absonia in phtongis?

Si aut ignavius pronuntientur aut acutius, quam oportet. Primo namque hoc vitio in hu- manibus vocibus et sonorum qualitas et tota leditur cantilena. Quod fit, ubi, quod canitur, aut segni remissione gravescit aut non rite in sursum cogitur. Quod vitium in quibuslibet musicis instrumentis nequit fieri, eo quod disposito semel ptongorum ordine vox sua sonis singulis manet.50

Der hier beschriebene Vorgang wiirde wohl heutzutage als ein Problem der ,,Intonation", als ,,unsauberes Singen" bezeichnet werden, das heiBt, die Ton- hohe wird nicht exakt getroffen, sie weicht h6rbar nach oben oder unten vom ,,rechten" Ton ab. Die abendlandische Musikentwicklung hat es mit sich ge- bracht, daB die H6rgewohnheit von ,,reiner", ,,sauberer", im Verlauf der letzten Jahrhunderte mehr oder minder temperiert gestimmter Musik zur unverzichtba- ren Selbstverstandlichkeit der Kunstmusik zahlt. Was so naturgegeben er- scheint, war es jedoch nie. Man wird sich schwer tun, in der Volksmusik irgend- eines Landes einen Gesang zu finden, der in unserem Sinne nur eindeutige Ton- hohen aufweist. Musikethnologen wissen um die Schwierigkeiten beim Versuch, auBereuropiische Musik zu transkribieren. Es konnten nur Behelfskonstruktio- nen der Notierung entstehen, die immer mehrdeutig bleiben miissen. Umso wichtiger scheint uns der Hinweis zu sein, daB das H6ren in exakten Tonh6hen im Abendland ein ProzeB gewesen sein muB, der, wenn vielleicht nicht erst in

47 Vgl. Anm. 35. 48 SCHMID, wie Anm. 33, S. 60-61. 49 Ubersetzung von R. SCHLECHT, Musica Enchiriadis von Hucbald, in: MfM 6 (1874), S. 190. 50 SCHMID, wie Anm. 33, S. 61.

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106 Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik

der Karolingerzeit entwickelt, so doch zum ersten Mal im 9. Jahrhundert fiir uns

greifbar beschrieben worden ist. Ebenso interessant wie die Tonh6hendiskussion stellt sich ffir unseren Zu-

sammenhang die Auseinandersetzung der Scolica enchiriadis mit dem Problem der Tonlangen dar.

.......... Zuerst wollen wir zeigen, dass jeder Gesang numerisch vorgetragen werden mufg. Schiiler Was heilft numerisch (numerose) singen? Lehrer. Es heifit Acht haben, wo man (die T6ne)

gedehnter oder kiirzer zu halten hat. Wie man Acht hat auf die Silben, welche kurz und welche

lang sind, so muiR man auch darauf achten, welche

T6ne gedehnt, und welche verkiirzt (correpti) sind, so daig sich das, was lang gehalten wird mit

dem, was nicht lang ist, gesetzmaifig (legitime) verbinde, und der Gesang wie aus Vers- (metricis)

FiiBen bestehend taktiert werden kann (plauda- tur)........... Das heiBt also numerisch singen, den

langen und kurzen T6nen eine gesetzmaifige Dauer zumessen, und nicht stellenweise iiber Gebuihr eilen; sondern die Stimme innerhalb des

Skansionsgesetzes halten, so daig der Gesang in

demselbigen Tempus ende, in dem er begonnen wurde. Willst Du aber hie und da das Zeitmaif der

Abwechselung wegen indern, das ist am Anfang oder gegen das Ende eine langsamere oder schnellere Bewegung anwenden, so muif dieses ums Doppelte geschehen, d.i. das gedehnte Zeit- maB muB ums Doppelte schneller oder das schnellere ums Doppelte langsamer genommen werden................ Dieses numerische Verhiltnis gebiihrt jedem Kunstgesange (doctam cantionem) und er erhilt durch dasselbe seine h6chste Wilrde, man mag ihn langsam oder schnell singen, er mag von Einem oder Mehreren vorgetragen werden.

Durch das numerische Singen geschieht es auch, daB Einer nicht mehr oder minder dehnt oder eilt

als der Andere, sondern die Stimme der Menge wie aus einem Munde erklingt.51

....... Ac inprimis videndum, ut numerose quod- libet melum promatur. Quid est numerose canere? Ut attendatur, ubi productioribus ubi breviori- bus morulis utendum sit, quatinus uti, quae sillabae breves quaeque sint longae, attenditur. Ita qui soni producti quique correpti esse debe-

ant, attendatur, ut ea, quae diu, ad ea, quae non

diu, legitime concurrant, et veluti metricis

pedibus cantilena plaudatur.................. Sic

itaque numerose est canere, longis brevibusque sonis ratas morulas metiri, nec per loca protra- here vel contrahere magis quam oportet, sed infra scandendi legem vocem continere, ut

possit melum ea finiri mora, qua coepit. Verum si aliquotiens causa variationis mutare moram

velis, id est circa initium aut finem protensio- rem vel incitatiorem cursum facere, duplo id

feceris, id est ut productam moram in duplo correptiore, seu correptam immutes duplo lon-

giore................ Haec igitur numerositatis ratio doctam semper cantionem decet, et hac maxima sua dignitate ornatur, sive tractim seu cursim

canatur, sive ab uno seu a pluribus. Fit quoque, ut dum numerose canendo alius alio nec plus nec minus protrahit aut contrahit, quasi ex uno ore vox multitudinis audiatur.52

Die Tonlingen sollen ums Doppelte langsamer oder schneller genommen wer-

den, d.h. also im Verhiltnis 2:1 festgelegt werden. Noch bei Remigius von Au- xerre finden wir eine ausfiihrliche Schilderung der textlichen VersmaBe, der

lamben, des Dactylus, Anapaest usw. mit der gleichzeitigen Forderung, die Be-

tonungen, die accentus, auch bei der musikalischen Ausffihrung eines liturgi-

U51 bersetzung von SCHLECHT, wie Anm. 49, in: MfM 7, S. 9-10. 52 SCHMID, wie Anm. 33, S. 86-87.

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Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik 107

schen Textes zu beriicksichtigen. Die Musica enchiriadis beschreibt nun, wie aus den akzentuierenden Versen quantifizierende Tondauern abgeleitet werden, sprachliche Starkeakzente in musikalische Langen verwandelt werden. Dies ist ein Vorgang, der in einer bislang eher rezitativisch sich am VersmaB des Textes orientierenden Ausfiihrung ein Novum darstellt. Die spitere Unterscheidung der folgenden Jahrhunderte in longa und brevis erscheint hier ansatzweise mit der Angabe duplo longiore als einer Tondauernbestimmung, die sich durch ein mathematisches Verhiltnis definiert.53 Und wiederum erklirt der Verfasser den Antrieb zu der Festlegung: Man brauche eine Reglementierung der Tonlingen, damit der Gesang des Chores ,,wie aus einem Munde" erschalle.

Wie man sich die rhythmische Unterweisung schon in dieser Zeit vorzustel- len hatte, beschreibt uns anschaulich die Commemoratio brevis:

Die Lehrer sollten dies ihren Schiilern mit Eifer einscharfen und von Anfang an den Kindern

Lingen und Dauern beibringen. Sie sollten beim

Gesang irgendwie mit den Fiilen, den Hinden oder durch irgendwelche anderen Schlige (Schlaginstrumente) die Tondauer beibringen, damit sie schon von Jugend an in der Unterschei-

dung von aequales und inaequales geiibt werden und nicht erst schlechtere Gewohnheiten anneh- men. Fir ihre Obung habe ich dieses wenige zu- stande gebracht mit dem Wunsche, dai sie die (musikalische) Disziplin zum Lobe Gottes kennen und in demiitiger Ergebung mit Wissen (scienter) Gott gefillig sind.

Hanc magistri scolarum studiose inculcare discentibus debent et ab initio infantes eadem

aequalitatis sive numerositatis disciplina in- formare et inter cantandum aliqua pedum manuumve vel qualibet alia percussione nu- merum instruere, ut a primaevo usu aequalium et inaequalium distantia calleant nec peiore usu assuescant. Quorum exercitiis haec pauca confeci cupiens eos laudis Dei disciplinam nosse et cum supplici devotione scienter Deo

obsequi.

Die Ausfiihrung des liturgischen Gesanges in musikalischen Kategorien festzu- legen, ihre Tonh6hen und anfainglich auch ihre Tondauern auf bestimmte, weni- ge erlaubte Normen hin zu begrenzen (hierzu geh6ren auch die in der Musica enchiriadis dargelegten Regeln der Mehrstimmigkeit, deren Darlegung den Rahmen dieser Arbeit sprengen wiirden), war ein historischer Vorgang, dessen Antrieb sich aufgrund der Quellenaussagen der Musiktheoretiker mit dem Wunsch nach Eindeutigkeit, Klarheit, Disziplin und Ordnung begriindete. Es bestand die Tendenz, sich musikalisch auf etwas ,,Richtiges" festzulegen. Musi- kalische Festlegung auf das ,,Richtige" implizierte, daB man sich gleichzeitig vom ,,Falschen" und ,,Schlechten" absonderte. Nur so lieB sich eine Grenze de- finieren, die die eigene Musik, d. h. die liturgische Musik des Klerikerstandes, von jeder andersartigen Musik anderer gesellschaftlicher Schichten trennen konnte.

Darum auch treffen wir in den Musiktraktaten auf ein fiir die Karolingerzeit charakteristisches Phanomen: Als ,,richtige" Musik galt nur die liturgische Mu-

53Zur Diskussion um den EinfluB sprachlicher Akzente auf die Ausbildung der Tonlingen vgl. die ausfiihrliche Arbeit von J. STEVENS, Words and Music in the Middle Ages (Cambridge 1986). 54Commemoratio brevis, wie Anm. 33, S. 177.

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108 Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik

sik, die Musik, die der M6nchs- und Klerikerstand selbst betrieb. Letzterer schaute voll Verachtung auf jede auBerhalb der Kirche iibliche Musikausiibung, sei es, daB sie in Verbindung mit heidnisch-kultischen Brauchen auftrat, sei es, daB sie dem Tanze galt. Es wird spiter noch eingehender davon zu sprechen sein. Hier sei zunachst der Aspekt betont, daB die Musiktheoretiker der Karo-

lingerzeit die Existenz einer auBerkirchlichen Musik nahezu ignorierten. Die sehr wenigen kurzen Erwahnungen der unsittlichen heidnischen Musik andern nichts daran, da ,,musica" fiir sie der gregorianische Choral war. Wie A. EKENBERG dies fiir Aurelians Traktat konstatiert - ,,es ist zu bemerken, daB Au- relianus in diesem Text den Kirchengesang unmittelbar mit der Musik iiber- haupt....... in Verbindung setzt"55, so liBt sich insgesamt sagen, daB die Musik- theoretiker, die doch zum Teil sehr allgemein iiber Musik, ihre Entstehung, ihre

Anfange und ihre Wirkungsweise spekulieren, am Ende nur den gregoriani- schen Choral meinen. Sie zitieren zwar heidnische Mythen, wie beispielsweise die Orpheus-Sage zur angeblichen Wirkung von Musik, sind aufgeschlossen gegeniiber dem Bildungswesen der Antike, zitieren heidnische Schriftsteller ohne Bedenken als Autoritaten, formen aber deren Kenntnisse in christlicher

Neuinterpretation um und k6nnen sie damit so vereinnahmen, daB sie sie aus- schlieBlich auf die kirchliche Musikausiibung anwenden. Beispielsweise werden die antiken Lehren von den natiurlichen Wirkungen der musica mutiert zu den musikalischen Wirkungen des liturgischen Gesanges. Wenn namlich Hrabanus Maurus den Affektgehalt der Musik wesentlich dazu bestimmt sieht, die com-

punctio cordis (ungefihr zu verstehen als Betroffenheit, Ergriffenheit, Erhebung des Herzens56) hervorzurufen oder wenn die Commemoratio brevis davon

spricht,

..... dafg es doppelt niitzt, wenn beides geschieht: ..... dupliciter prodest, si utrumque fiat, si scili-

dafg man lieblich singt, wihrend man mit dem cet et animo apud Deum dulciter canitur et Herzen bei Gott ist, und (zugleich) die Siile des homines canoris dulcedo sancto affectu com- Gesanges die Menschen zu heiliger Erbauung movet.57 ffihrt.

so hat eine Verschiebung des Verstdindnisses stattgefunden, bei der jene antiken

allgemein die Affekte als ermutigend, traurig machend, anfeuernd und erl6send tangierenden Wirkungen der Musik zu einem rein christlich-religi6s intendier- ten Effekt einer christlich-liturgischen Musik uminterpretiert werden, die die Herzen zu Gott erheben solle.

Die Musiktraktate insgesamt handeln nur von liturgischer Musik. Die Exi- stenz anderer Musikarten wurde ausgeblendet, als sei sie nicht der Beachtung wert gewesen. Spditestens ffir die Karolingerzeit liiBt sich aufzeigen, da[B inner-

55 A. EKENBERG, Cur cantatur? Die Funktionen des liturgischen Gesanges nach den Autoren der Karolingerzeit (Stockholm

1987), S. 149. 56 Vgl. A. RICHENHAGEN, Studien zur Musikanschauung des Hrabanus Maurus. = Kolner Beitrige zur Musikforschung 162 (Regensburg 1989), S. 113. 57 Commemoratio brevis, wie Anm. 33, S. 157.

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Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik 109

halb des Klerus eine Bewulttheit von der einen Musik existierte, die die Wahr-

nehmung auf die liturgische Musik verengte. Letztere hatte damit eine Wertig- keit erhalten, die der sozialen Wertigkeit des Klerikerstandes innerhalb der Ge- sellschaft durchaus entsprach. Somit schuf sich der Klerus als ein Stand, in dem Musikausiibung eine tagliche Beschaftigung war, indem er ,,seine" Musik h6her bewertete als jene, die um ihn existierte, ein zusditzliches ,,Accessoire" seiner eigenen Bedeutung.

Und so nimmt es nicht Wunder, daft die M6nche ihre Musik sogar ffir natu- ralis, ffir die naturgegebene Musik fiberhaupt hielten. Was in der Antike und noch bei BOETHIUS (um 480 - um 525) als naturgegebene Gesetzmai[igkeit der Musik allgemein galt, wurde nun in Kombination mit einem Verstindnis von der religi6sen Funktion der Musik nur noch auf die kirchliche Musik bezogen. So etwa, wenn Regino von Priim schreibt:

Es gibt in der nattirlichen Musik, das heilt beim Inveniuntur vero in naturali musica, id est, in Gesang, der zu Gottes Lob erklingt, vier Haupt- cantilena, quae in divinis laudibus modulatur,

t6ne. quatuor principales toni.58

Auch aus dem sonstigen Zusammenhang des Traktats geht hervor, daft Regino mit musica naturalis den Gesang meint, ,,der sich in den acht Kirchentonarten vollzieht, also den gregorianischen Choral. Diese Musik wird als natirlich be- zeichnet, weil sie ,von Gott inspiriert' ist und somit im Gegensatz zu einer von Menschen erfundenen Musik steht."59

Den Choral als naturgegeben zu begreifen, wird umso leichter, je mehr sich die mittelalterliche Musiktheorie auf ,,natiirliche" Gesetzmrintigkeiten stiitzen zu kinnen glaubte. Antike Erkenntnisse von physikalischen Gegebenheiten, die die Tonintervalle als Zahlenverhiltnisse faitbar machten, hatten schon bei BOETHIUS zu ausfiihrlichsten Darlegungen geffihrt, deren fiberstarke Gewichtung uns heutigen Menschen kaum mehr nachvollziehbar ist. Fur das frfihe Mittelalter aber bedeutete es: Gab es eine gesetzmidtige mathematische Proportion, so lag diese in der Natur, war naturgegeben und konnte vom Menschen mit Hilfe sei- nes Verstandes erfaitt werden.

Die verstandesmaitige Erfassung wiederum war aber nicht jedem Menschen

gleichermaiten zuganglich. Als Privileg der M6nchs-, Kleriker- und obersten Regierungsschicht wird sie uns im folgenden Abschnitt beschiftigen.

Musik als Bildungsgut

Die zahlreichen Forschungen zum Thema der Bildungspolitik Karls des Grojten kommen insofern zu einem fibereinstimmenden Ergebnis, als sie gemeinsam konstatieren, dat es ein wesentliches Antriebsmoment fuir den Ausbau des Schul- und Bildungswesens war, fuir eine zu entwickelnde Reichsverwaltung die

58 GERBERT, Scriptores, wie Anm. 35, I, S. 232. 59 M. BERNHARD, Studien zur Epistola de armonica institutione des Regino von Priim. = Musikhistor. Kommission d. Bayr. Akademie d. Wissensch. 5 (Miinchen 1979), S. 49.

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n6tigen Kenntnisse zu erwerben. Dies sollte auf der Grundlage einer religi6s fundierten Reichsideologie geschehen, in der die ,,Funktionire" als Multiplika- toren eines christlichen Werte- und Hierarchiesystems wirkten."0 Sie hatten die

Aufgabe, durch Predigt, Gewissensbildung ebenso wie durch die Weitergabe und Uberwachung h6chster Anordnungen und Gesetze auch dem ,,kleinen Mann", ,,der Frau" nahezubringen, was es bedeutete, Teil des Imperium Chri- stianum zu sein.

Die Einheit von Bildung und Macht stellt sich uns beispielhaft in der Person eines Mannes dar, der in mehreren Bereichen ffir die Nachwelt (gestorben 915) Beriihmtheit erlangen sollte: Regino von Priim. Der Abt aus der Eiffel, zundichst Leiter des Klosters im dortigen Priim, spditer in Trier, hat uns ein Musiktraktat hinterlassen, die Epistola de harmonica institutione, einen Tonar zusammengestellt, ein Geschichtswerk ,,Chronica" geschrieben und dariiber hinaus ein Handbuch ffir die Pfarrvisitation verfagt, Libri duo de synodalibus causis et disciplinis ecclesia- sticis, das heute als eine bedeutende Quellensammlung des kanonischen Rechts

gilt.61 Regino war in Altrip am Rhein in der Nihe des heutigen Mannheim als Sohn

einer vornehmen Familie geboren. Wir wissen nicht, wann er ins Kloster zu

Priim eintrat und dort als Benediktiner die Weihen empfing. Auf jeden Fall mugt er die Ausbildung in den Artes liberales durchlaufen haben, wahrscheinlich in der Klosterschule von Priim, die sich zu der Zeit in bliihendem Zustand befun- den haben soll. Im Jahre 892 wird er zum Abt ernannt, wird nach sieben Jahren, so wie er selbst berichtet, gegen seinen Willen aus dem Amt gedrdingt, erhilt aber vom Trierer Erzbischof die Leitung des Martinsklosters zu Trier iibertra- gen. Ebendem Erzbischof Ratbod widmet er auch seinen Musiktraktat. Wenn in seiner Epistola wenig neue, eigene Ideen Reginos zutage treten, sondern Regino im wesentlichen zusammenstellt, was als gelehrtes Wissen seiner Zeit gang und

gabe war, zeugt die Abhandlung doch von Reginos fundiertem Wissen im mu-

sikalisch-liturgischen Bereich. In der Zeit um 906 verfat~t Regino im Auftrag seines Erzbischofs seine ,,An-

weisungen ffir die Pfarrvisitation". Er widmet sie dem Erzbischof Hatto von Mainz und schreibt dazu, da8t er sie als Enkyridion, als Handbuch verfaitt habe, damit der Erzbischof auf seinen Visitationsreisen nicht die schweren Konzilsak- ten (plurima conciliorum volumina) mitftihren miisse.

Visitationsreisen der Bisch6fe in die Pfarreien ihrer Di6zese hatten zu Beginn des 10. Jahrhunderts schon eine lange Tradition. Hatten sie zunichst die Funk- tion ffir den Bischof, sich einen Oberblick iiber seine Di6zese zu verschaffen, die

Titigkeit und zum Teil sittliche Integritait des Pfarrers zu kontrollieren, ihn und seine Gemeinde im kirchlichen Glauben und der sittlichen Haltung zu belehren, so entwickelten sich im 8. Jahrhundert aus den Visitationen heraus die Sendge-

60 Vgl. z.B. W. HAUBRICHS, Bildungswesen (5. - 10. Jahrhundert), in: H. BECK (Hg.), Reallexikon der germanischen Altertumskunde II (Berlin 1976), S. 598-606; ebenso J. FLECKENSTEIN, wie Anm. 25. 6' Vgl. W. HELLINGER, Die Pfarrvisitation nach Regino von Priim, in: Zs. d. Savigny-Stiftung f. Rechtsgesch., Kanon. Abt.

(1962), S. 3.

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Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik 11I

richte.62 Damit besat3en die Bisch6fe staatlicherseits anerkannte Rechtsmittel, christliches Handeln auch mit dem Mittel der Strafe einzufordern. Reginos Ca- nones-Sammlung listet auf, was er an Erlassen zu seiner Zeit vorfand, meist nennt er dabei die Quelle, den Konzils- oder Synodalbeschlutg, auf den er sich beruft. Am Anfang der Schrift hat er ,,Sendfragen" notiert, die die visitierenden

Bisch6fe oder deren Vertreter dem Pfarrer und seiner Gemeinde vorlegen soll- ten. Im Anschlug daran behandelt er im 1. Buch Angelegenheiten der Kleriker, im 2. Buch die der Laien. Und da geht es denn genauso um den Lebenswandel des Pfarrers (ob er Trinker sei, der V6llerei fr6ne, die Z61ibatspflicht verletze u.a.) wie um seine Amtsfiihrung (ob er die Sakramentenspendung korrekt durchffihre u.a.) und seine Fihigkeiten:

Ob er die Worte der Psalmen und die distinctiones

regelrecht auswendig zusammen mit den iiblichen Gesangen vortragen k6nne?

Si psalmorum verba et distinctiones regulariter ex corde cum canticis consuetudinariis pronun- ciare sciat?63

Und

Ob er die Gesange der Stundengebete zu Tag- und Nachtzeiten kenne?

Si cantum nocturnum atque diurnum noverit?64

Fiir den Zusammenhang unserer Problemstellung sind aber die Fragen von be- sonderem Interesse, die sich auf das musikalische Verhalten der Laien beziehen.

Ob er (der Pfarrer) das Volk ermahne, keinesfalls in der Vorhalle der Kirche zu singen oder weibli- che Tinze aufzufiihren; sie sollten lieber in die Kirche hineingehen und das Wort Gottes in Stille horen.

Si plebem admoneat, ut in atrio ecclesiae ne-

quaquam cantent aut choros mulierculae ducant, sed ecclesiam ingredientes verbum Domini cum silentio audiant ?65

Ob er unter Beschw6rung des allmichtigen Gottes es zu verhindern wisse, dafg das gemeine Volk zu

nichtlicher Stunde iiber den Totengribern teufli- sche Lieder singe, wie es Brauch sei, und lautes

Gelichter anstimme ?

Si carmina diabolica, quae super mortuos noc- turnis horis ignobile vulgus cantare solet et cachinnos, quos exercent, sub contestatione Dei

omnipotentis prohibeat ?6

Zitiert wird auch das Concilium Arelatensis mit folgendem Canon:

Ginzlich auszumerzen ist der gottlose Brauch, den das gemeine Volk an Heiligenfesttagen zu iiben pflegt. Die Menschen, die nimlich dem Gottes- dienst beiwohnen sollen, feiern die Vigil mit

Exterminanda omnino est irreligiosa consue- tudo, quam vulgus per sanctorum sollemnitates

agere consuevit, ut populi, qui debent officia divina attendere, saltationibus et turpibus

62 Vgl. HELLINGER, wie Anm. 61, S. 4. 63 WASSERSCHLEBEN, wie Anm. 31, S. 25, Frage 85. 64 WASSERSCHLEBEN, wie Anm. 31, S. 26, Frage 92. 65 WASSERSCHLEBEN, wie Anm. 31, S. 24, Frage 72. 66 WASSERSCHLEBEN, wie Anm. 31, S. 24, Frage 73.

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Tanzen und schandlichen Gesingen, nicht nur sich selbst zum Schaden, sondern mit ihrem Lirm auch die Feier der Gliubigen storend.

invigilent canticis, non solum sibi nocentes, sed et religiosorum officiis perstrepentes.

Derlei Fragen und Vorschriften beziehen sich also darauf, ob der Pfarrer in der zu seiner Pfarrei geharenden Bevolkerung auf der Durchsetzung von kultischen

Regeln besteht, die dem Volk (ignobile vulgus) mit Strenge vorgeschrieben wer- den sollten, da ihre eigene Kultausiibung offensichtlich andere Riten kannte. Und augenscheinlich bestanden einige Bevolkerungsteile, hiufig die Frauen, immer wieder auf der Durchfiihrung ihrer tradierten Riten, sonst ware die

Strenge des Vorgehens gegen derlei Gebraiuche nicht zu verstehen.68 Und streng war das Vorgehen:

Hast Du teuflische Lieder fiber den Totengribern gesungen? Dann erhiltst Du 20 Tage Strafe.

Cantasti carmina diabolica super mortuos?

Viginti dies poeniteas.69

Soweit ein notgedrungen nur sehr kleiner Ausschnitt aus Reginos Biichern zur Pfarrvisitation. Der kurze Einblick kann aber anschaulich verdeutlichen, wie ein

Strang von Machtstruktur hierarchisch von oben nach unten verlief: Basierend auf kaiserlichen Erlassen und/oder Konzilsbeschliissen wurden die Erzbischofe und Bisch6fe beauftragt, die ihnen untergebenen Pfarrer entspechend zu unter- weisen und zu kontrollieren. Die Pfarrer ihrerseits hatten ffir die Einhaltung und

Durchfiihrung der Erlasse in der Bev6lkerung zu sorgen. Mittel der Durchset-

zung waren die Strafbestimmungen bei Zuwiderhandlung. Am Beispiel der Person des Abtes Regino stellt sich uns die Machtfunktion

von Bildung dar. Regino war ein Mann mit hoher Bildung. Zumindest ffir die Bereiche des Kirchenrechts, der Geschichte (s. sein Werk Chronicon), der Musik- theorie und der Liturgie verfiigte er fiber das Wissen seiner Zeit. Er verstand sich als Teil einer Fiihrungselite, die im Selbstverstdindnis ihres christlichen

Auftrags ihr Wissen dazu zur Verffigung stellte, ihre Herrschaftsanspriiche bis in die letzten kultischen Vorschriften hinein durchzusetzen. In diesem Sinne nutzte Regino seine Bildung, um durch seine Canones-Sammlung konkrete Un-

terstiitzung zu geben, daft mithilfe staatlicher Machtbefugnisse das ,,Wirken Gottes" in der Welt manifest werden k6nne. Regino war damit ,,Zulieferer" ffir den Klerus, der auch Funktionen einer staatlichen Verwaltung innehatte, deren Ausbau Karl der Grogte so besonders gef6rdert hatte.

Wenn wir uns nun wieder den musiktheoretischen Schriften zuwenden, so

vorrangig unter der Fragestellung, ob sich der Fiihrungsanspruch der Bildungs- elite in den Traktaten und Abhandlungen wiederfindet, und wenn ja, ob die

67 WASSERSCHLEBEN, wie Anm. 31, S. 178, Cap. 392. 68 Die etwas kontroverse Diskussion zur Beurteilung der Aussagefaihigkeit der Konzilsakten wird hier nicht erneut

aufgenommen, ist nachzulesen u.a. bei D. HARMENING, Superstitio. Uiberlieferungs- und theoriegeschichtliche Untersu-

chungen zur kirchlich-theologischen Aberglaubensliteratur des Mittelalters (Berlin 1979) und R. KUNZEL, Paganisme,

syncretisme et culture religieuse populaire au haut moyen age. Reflexions de mdthode,

in: Annales ESC 47 (1992), S. 1055-

1069. 69 WASSERSCHLEBEN, wie Anm. 31, S. 145, Cap. 304.

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Musiktheorie aus ihrem Fiihrungsverstdindnis heraus fir uns anders verstehbar wird.

Die Musik als Disziplin geh6rte im Bildungssystem des Mittelalters zu den sieben freien Kiinsten, den artes liberales. Dal3 die Musik den quadrivialen ma- thematischen Disziplinen Arithmetik, Geometrie und Mathematik ,,zugeschla- gen" werden konnte, geschah u.a. durch den Umstand, dafg schon die griechi- sche Philosophie, vornehmlich pythagoreischer Ausrichtung, Intervalle als

Zahlenproportionen definieren konnte und sich dadurch mit mathematisch-

physikalischen Methoden der Musik niherte. Die Zahl als Abstraktum, die in der ausgehenden Antike (so schon bei AUGUSTINUS, dann bei BOETHIUS, CASSIODOR, ISIDOR VON SEVILLA) eine Bedeutung gewann, die sie zu einem Prin-

zip von Ordnung und Harmonie stilisierte, wurde zu dem wesentlichen Fun- dament der mittelalterlich-spekulativen Musiktheorie. Auf welche Weise aber die christlichen Schriftsteller die artes liberales und damit auch die musikalische

Disziplin umdefinierten, beschreibt am Anfang des 12. Jahrhunderts sehr an- schaulich der Benediktiner Rupertus von Deutz (gest.um 1130):

Wie Dienerinnen traten die sieben freien Kiinste herein ins heilige und ehrwiirdige Triclinium ihrer Herrin, der Weisheit, und es wurde ihnen befoh-

len, von den hemmungslosen Triviumsdisziplinen fort dem strengen und ernsthaften Lehramt des Wortes Gottes beigesellt sich zu setzen. Vorher waren sie nimlich herumgewandert als laszive,

geschwitzige und wortreiche Migdelein, die nichts ffirchteten, sondern nur ihrer Neugier fr6n- ten.

Ingressae sunt ergo septem artes liberales

tanquam famulae in sacrum et reverendum dominae suae sapientiae triclinium, et quasi de triviis licentiosis ad enim prius per circuitum

lasciviae, garrulae et verbosae puellulae, nihil

sperantes, sed curiose agentes solummodo.70

Wissenschaft stand nunmehr im Dienste des Christentums, Wissen galt der Er- kenntnis der Sch6pfung Gottes und seines Wirkens in der Welt sowie der Liute- rung der menschlichen Seele zur Erlangung des ewigen Lebens. Jetzt symboli- sierte die Zahl nicht mehr nur die Ordnung der Welt, sondern die g6ttliche Ordnung, Proportion und Symmetrie wurden zum Synonym ftir eine durch Gott sich begriindende Einheit und Harmonie von Mikro- und Makrokosmos.7

In diesem Gedankengebiude fand auch die Musiktheorie ihren Platz. Die auf Zahlen und Proportionen riickffihrbaren Tonverhiltnisse wurden als Beweis gedeutet, dajt Musik als Teil der himmlischen Ordnung im Dienste Gottes steht und sogar als Himmels-, Engels- und Sphirenmusik dauerhaft zum Lobe Gottes erklingt. Auf Erden haben die Menschen die Aufgabe, ihre Erkenntnisse und ihr

gr6tgtm6gliches K6nnen daffir einzusetzen, dag der Herr im Psalmengesang gelobt und gepriesen werde.

70 Zitiert nach H. HUSCHEN, Artes liberales, in: MGG 13 (Kassel etc. 1966), Sp. 739. Eine ausfiihrliche Darlegung uiber die Eingliederung der freien Kiinste in die christliche Lehre findet sich z.B. bei

HRABANUS MAURUS in De institutione clericorum.

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Daher ziemt es sich, dafg wir unseres Gottesdien- stes kundig sind, auf da1B wir wissend und in

wiirdevoller Weise seinen heiligen Namen beken- nen und ihn mit seinen Liedern preisen, damit

sowohl unser Gott angenehm und geziemend gelobt werde als dafg auch die Zuhorer zum Lob und zur Verehrung der Werke Gottes entflammen

mogen.

Et ideo peritos nos esse convenit officii nostri, ut scienter et ornate confiteamur nomini sancto eius et gloriemus in carminibus suis, quatinus et Deo nostro iocunda sit decoraque laudatio et audientes in operum Dei laudem et reverentiam exardescant.72

Geziemendes Gotteslob ist nur m6glich, wenn scienter, wissend, gesungen wird, und damit ist in erster Linie bei allen Musiktheoretikern der Karolingerzeit ge- meint, sich in der musikalischen Zahlenspekulation auszukennen. Hucbald

spricht sehr deutlich aus, dag

...................... alles - oder wenn man will: alles wovon diese Disziplin beziiglich der Konsonanzen handelt - in h6chster Harmonie sich durch die

Logik der Zahlen anordnet und ein Abbild des

geordneten und logisch zusammenhingenden Universums ist.

...................... haec omnia, uel uis de quibus ea

<disciplina> tractat consonantiarum, rationabi- litate congruentissima disponantur numerorum

atque ad eorundem sint exemplar uniuersa

composita atque compacta.73

Den Intervallen, dem Rhythmus, der Melodie, allem liegt die Zahl zugrunde. Die T6ne gehen, die Zahlen bleiben.

Das Angenehme und Schdne in der Melodiebil-

dung bewirkt die Zahl durch berechnete Abmes-

sung der T6ne. Was der Rhythmus Angenehmes hervorbringt, sei es in der Melodie oder in ir-

gendwelchen rhythmischen Bewegungen, ist das Werk der Zahl. Die T6ne ziehen schnell voriiber, die Zahlen aber, die dadurch Einbufte erleiden, dafg sie an die K6rperlichkeit der Stimme und an

bewegte Materie gebunden sind, sie bleiben.

Igitur quicquid in modulatione suave est, nu- merus operatur per ratas dimensiones vocum,

quicquid rithmi delectabile prestant sive in modulationibus seu in quibuslibet rithmicis

motibus, totum numerus efficit. Et voces qui- dem celeriter transeunt, numeri autem, qui corporea vocum et motuum materia decolo-

rantur, manent.

Entsprechend iiberschreibt Aurelian das 6. Kapitel seines Traktats ,,Quod habeat musica cum numero maximam concordiam" "iber die hbchste Obereinstimmung der Musik mit der Zahl.

Und nun spielt sich in der Musiktheorie eine Diskussion ab, die uns wieder auf unser Thema, den Aspekt der Macht, zuriickffihrt: Die Theorie - im wesent- lichen das Wissen um die Zahl - beansprucht die Vorherrschaft iiber die Praxis. Diese Diskussion war nicht neu. Sie hatte, so weit wir davon wissen, ihre Ge- schichte schon in der Antike in der Bildungsoberschicht der Griechen. ,,Die Vor-

rangstellung der Theorie vor der Praxis, zu deren Untermauerung die Antike viele Griinde beigebracht hatte, stimmt bekanntermafen mit einer Gesellschaft

72 Commemoratio brevis, wie Anm. 33, S. 157. 73 CHARTIER, wie Anm. 21, S. 137. 74 SCHMID, wie Anm. 33, S. 113.

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und der in ihr praktizierten Lebensform iiberein, die geneigt war, einer auf theo- retischer Beschaftigung beruhenden Vita contemplativa....... den Vorzug zu ge- ben vor einer auf das Handeln gerichteten oder sogar Handarbeit voraussetzen- den Vita activa."75 Auf der Basis der antiken Auslassungen argumentierten auch Augustinus (354 - 430) und Boethius. In ihrer Kontinuitdt empfand sich die Mu- siktheorie des Mittelalters. Mit dem feinen Unterschied, dait jetzt nicht das Biir- gertum, sondern der Klerus die Bildungsschicht verkorperte. Fiir letztere galt es als erwiesen, dafg durch das Wissen um musikalische regulae, durch das Beur- teilen von Musik und Urteilen iiber ihre Ausfiihrung dem Verstand die ,,Herr- schaft" iiber die nur Ausiibenden zukame. So schreibt Regino von Priim:

Aufgerdem sollte man wissen, daBf nicht jener musicus genannt wird, der lediglich mit den Hin- den wirkt, sondern jener der wahre musicus ist, der sich mit ihr natiirlich auseinandersetzen und mit sicherer Urteilskraft ihren Sinn entwirren kann. Die ganze Kunst ndimlich und die gesamte Disziplin hat natiirlicherweise eine h6here Ord-

nung als das Kunstwerk, das durch die Hand und das Tun eines Kiinstlers zustande kommt. Es ist aber viel mehr wert zu wissen, was jemand tut, als zu tun, was man von einem anderen gelernt hat. Die ,,k6rperliche" Kunst ist mit einem untergebe- nen Diener zu vergleichen. Der Verstand regiert wie eine Herrin. Je mehr also das K6rperliche vom Geist iiberragt wird, umso erhabener ist die Wis- senschaft der Musik in ihrer verstandesmfitigen Erkenntnis. So kommt es, daf - weil der Verstand des ausfiihrenden Aktes nicht bedarf - das Werk der Hinde nichtig ist, wenn der Verstand es nicht leitet.

Interea sciendum est, quod non ille dicitur musicus, qui eam manibus tantummodo ope- ratur, sed ille veraciter musicus est, qui de musica naturaliter vobit disputare, et certis rationibus eius sensus enodare. Omnis enim ars, omnisque disciplina honorabiliorem natu- raliter habet rationem, quam artificium, quod manu atque opere artificis exercetur. Multo enim maius est scire, quod quisque faciat, quam facere, quod ab alio discit. Etenim artificium

corporale quasi serviens famulatur; ratio vero

quasi domina imperat. Tanto igitur praeclarior est scientia musicae in cognitione rationis, quantum corpus superatur a mente. Unde fit, ut cum ratio operandi actu non egeat, manuum

opera nulla sint, nisi ratione ducantur.76

Unser Zeitzeuge Aurelian vergleicht sogar (in Ubernahme der Argumentation des Boethius) die Musik mit herrschaftlichen Bauten und Kriegen und erlautert hierzu: So wie Gebaude und Kriege nicht nach denen benannt werden, die sie tatsachlich mit ihren Handen erbauen oder nach denen, die im Kriege kampfen, sondern ihre Namen von denen erhalten, durch deren Leitung und Verstand Gebaude errichtet und Siege errungen werden, so beanspruche auch die theore- tische Musikdisziplin, da sie ja mit dem Verstand die Musik iiberblicke, den Vorrang vor dem nur ausffihrenden Musiker.

In Wahrheit ist der ein musicus, der mit dem

abwigenden Verstand die Wissenschaft des Ge- Is vero est musicus qui ratione perpensa ca- nendi scientiam non servitio operis sed imperio

7s RIETHMULLER, wie Anm. 6, S. 169. Riethmuller fuigt als Anmerkung hinzu: ,,Dahinter steht natiirlich auch das Verhiltnis von Freiheit und Unfreiheit, das selbst noch in der Bezeichnung Septem artes liberales als der sieben eines freien Mannes wiirdigen ,Kiinste' einen terminologischen Niederschlag gefunden hat."

GERBERT, Scriptores, wie Anm. 35, I, S. 246.

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sanges nicht im Dienste der Ausftihrung, sondern im Herrschen durch ,Spekulation' betreibt. Was wir durchaus bei Bauwerken und in der Kriegs- kunst sehen, denn Kriegstriumphe erhalten ihre Namen und Gebiude ihre Inschriften - anders als man denken mag - nicht nach denen, durch deren Handwerk und Dienstleistung sie vollendet wur-

den, sondern nach denen, durch deren Leitung und Verstand sie zustande kamen.

adsumpsit speculationis. Quod omnino in aedificiorum bellorumque opera in contrariam

versum videmus partem, namque eorum no- minibus vel bellorum dicuntur triumphi vel edificia inscribuntur, non quorum opere servi-

tioque perfecta, sed quorum imperio ac ratione instituta.77

Schon die Terminologie von imperium und servitium, von famulari, domina und

superare und der Vergleich mit kriegerischem Triumph versinnbildlichen, wie in der Musiktheorie sehr konkret in Machtkategorien gedacht wurde. So wie Mu- siktheorie sich ausschlieftlich in der Bildungsschicht des Monchs- und Kleriker- standes entwickelte und manifestierte, so beanspruchte sie auch den Herr-

schaftsanspruch des Klerus iiber die Musikausfibung. Sie wulte ja aufgrund ihrer Bildung, was richtige und falsche, gute und schlechte Musik war. Sie stellte aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse Mafgstabe auf, nach denen sie urteilen zu k6nnen glaubte. Musik sollte jetzt unter der Aufsicht eines gebildeten Stan- des zur Ausfuihrung kommen." Man sprach abstrakt vom Vorrang der ratio, kam aber damit nicht umhin, den Verstand konkreter Personen zu meinen, namlich der Elite, die die ratio ffir sich beanspruchte, da nur sie Zugang zu den Bil-

dungseinrichtungen hatte. So vollzog ein Stand mit seiner Theorie die theoreti- sche Begruindung seiner eigenen hierarchischen Uberlegenheit.

Wenn in unserem 1. Abschnitt ,Die ,,richtige" Musik' belegt werden konnte, daB die Musiktheorie dazu beitrug, durch theoretische Festlegung musikalischer

regulae den liturgischen Gesang als die einzig ,,richtige" Musikausiibung zu

begreifen, so lkitt sich als Fazit des 2. Abschnitts dem hinzuffigen, das die Musik sich ihre Bedeutsamkeit und unangefochtene Autorittt zusitzlich dadurch ge- wann, dajt sie sich als mathematische Disziplin in die artes liberales einordnen konnte. Sie hatte offensichtlich die Moglichkeit, mit Hilfe arithmetischer Zahlen- spekulation zu erkennen, dag auch die Musik den himmlisch-kosmischen Ord-

nungsgesetzen gehorcht. Damit war Musik der Erkenntnis zuginglich, einer Erkenntnis, die in der Schlulfolgerung den Vorrang des Verstandes vor der

praktischen Musikausiibung zu rechtfertigen und damit auch den Vorrang des

gebildeten Klerikers zu begruinden wujtte.

77 GUSHEE, wie Anm. 36, S. 77. 7s Ein Ausfluit dieser Hierarchisierung ist die bekannte Musicus-Cantor- Diskussion (u.a. beschrieben bei E. REIMER, Musicus und Cantor, in: Archiv ffir Musikwissenschaft 35 (1978), S. 1-32 und Riethmfiller, wie Anm. 6) in Verbindung mit einer innerklerikalen Hierarchie, die den Cantor zum niederen Klerus zihlt. Hierzu ware noch eine Untersuchung zum Sozialstatus des Cantors innerhalb der kirchlichen Hierarchie zu leisten.

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Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik 117

Die ,,g6ttliche" Musik

Die christliche Bildungsschicht des Karolingerreiches, die das Weltgeschehen als

g6ttlichen Heilsplan interpretierte, begriff konsequenterweise auch die Musik als Teil einer allumfassenden Harmonie, die in Gott ihren Anfang und End-

punkt sah. Die mittelalterliche Vorstellung von einer musica mundana ging auf

kosmologische Harmoniebegriffe der Antike zuriick. Sie erfuhr - ffir uns beson- ders greifbar in den Werken des AUGUSTINUS - eine Akzentverschiebung vom antiken zum christlichen Musikverstandnis. Noch BOETHIUS, bei dem wir die

Dreiteilung in musica mundana, humana und instrumentalis zum ersten Mal vor- finden, versteht die ,,Weltenmusik" ausschlietlich als Musik des natirlichen Kosmos. Die Bahnen der Gestirne sind durch Harmonien miteinander verbun- den. ,,Das Christentum trennt demgegeniiber grundsatzlich Sch6pfung und

Sch6pfer. Die Sch6pfung weist iiber sich hinaus, auf den auiterhalb ihrer ste- henden Sch6pfer. Das ganze Universum ist ein unaufh6rlicher Lobpreis auf Gottes Herrlichkeit. Der dienende, lobpreisende Kosmos tritt neben den in sich zahlhaft geordneten, in sich kreisenden und aus sich heraus t6nenden Kosmos. Neben den autonomen Weltenklang tritt die funktionale Weltliturgie. Die ober- ste Spitze und zugleich das Symbol des Weltenklanges ist die Harmonie der

Spharen. Spitze und Symbol der christlichen Weltliturgie sind die singenden Engel................... Damit bricht gegeniiber der harmonikalen griechischen Musikanschauung eine neue Komponente durch. Ihr kann das Prinzip der im- manenten Zahl nicht mehr allein geniigen. Auch sie wird als vom Sch6pfer hin-

eingegeben verstanden. Die Weltordnung beruht nicht mehr in sich selbst, son- dern wird einem Uberweltlichen

unterstellt.'"79 Nach diesen Ausffihrungen belegt W. HAMMERSTEIN sehr nachvollziehbar,

wie die Spharenmusik sich im mittelalterlichen Verstandnis zusehends mit der himmlischen Engelsmusik vermischt, von ihr fiberlagert oder ffir identisch ge- halten wird. Tatsachlich k6nnen wir dies auch im Musiktraktat des Aurelianus nachvollziehen. Er akzeptiert zunachst die Spharen-Theorie nach antikem Vor- bild und versucht sich noch in seinem 3. Kapitel daran, die Harmonie der Ge- stirne insofern zu diskutieren, ob die Sphirenklinge ffir das menschliche Ohr

h6rbar seien oder nicht. Im 20. Kapitel, dem letzten Abschnitt, trumpft er dann firmlich auf mit der Erkenntnis:

Die Musik iiberragt alle anderen Kiinste. Es wird niemand bezweifeln, daBf auch die Engel nach Art dieser Disziplin Gott ihren Lobgesang am Ster- nenhimmel darbringen, wie es in der Apokalypse zu lesen ist.

Musica ars omnes exsuperat artes. Angeli quoque, quod Deo laudes more huiusce disci-

plinae in arce referant siderea, lecta Apocalypsi nemo quis dubitet.s8

R. HAMMERSTEIN, Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters (Bern 1962), S. 117-118. 8o GUSHEE, wie Anm. 36, S. 132. Nach HAMMERSTEIN, wie Anm. 76, S. 125 handelt es sich bei diesem Zitat um den ersten Hinweis auf Engelsmusik in einem Musiktraktat.

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118 Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik

Engelsmusik hatte im christlichen Glaubensverstandnis eine real existierende

Komponente, und so meinte Aurelian auch den Leser iiberzeugen zu mfissen,

datB die Himmelsmusik mit der real existierenden liturgischen Musik identisch sei. Dazu ffihrte er - gewissermaiten als Beweis - mehrere fiberlieferte Berichte an, unter anderem die zwei folgenden: 1. Der Martyrer Ignatius h6rte Engelsstimmen, wie sie im Himmel zu Gottes

Lob sangen. Er bewahrte sie genau so, wie er sie wahrgenommen hatte, sei- ner Kirche. Von dort aus wurde der Lobgesang auch in anderen Kirchen ver-

breitet.81 2. In der Nacht hielt ein M6nch auf dem Berge Gargano vor den Tiiren der Kir-

che seine Gebete. Da vernahm er den Chor der Engel, der gerade das Re-

sponsorium sang, das anlaitlich eines bestimmten Heiligenfestes in der Kir- che fiblich ist. Nach seiner Ruickkehr nach Rom h6rte er dort, dafg eben die- ses Responsorium vom Klerus anders, als er es in Erinnerung hatte, zur Auf-

ffihrung kam. Daraufhin bestand er sofort und erfolgreich auf den entspre- chenden Korrekturen.82 In der 2. Erzahlung handelt es sich bemerkenswerter Weise wieder einmal

um das Thema des ,,richtigen" Singens: Der M6nch verbessert den liturgischen Gesang des Klerus. Die korrekte Melodie kommt also direkt von ,,oben", sie ist

g6ttlich autorisiert und bedarf somit keiner weiteren Rechtfertigung. Hrabanus Maurus augtert sich da etwas zuriickhaltender. Den Menschen sei

es nicht gegeben, Gott in der ihm angemessenen Weise zu loben und zu preisen, da sie innerhalb der Sch6pfung nur einen unbedeutenden Teil darstellten. Sie

k6nnten nur versuchen, mit ihren begrenzten Fahigkeiten den himmlischen

Gesang nachzuahmen. ,,Der Vergleich der praktischen Musik mit der Musik der himmlischen Liturgie offenbart nach der Auffassung Hrabans nicht nur den

Rangunterschied zwischen diesen beiden Bereichen der Musik, sondern macht auch bewuMt, dagt der unerl6ste Mensch auterstande ist, das musikalische Got- teslob der Himmelsbewohner unverkiirzt wahrzunehmen, geschweige denn, bei seiner Ausffihrung voll und ganz mitzuwirken."83

Die Nahe der liturgischen Musik zur himmlischen Musik, wenn nicht gar ihre Identitat, wie sie Aurelian postulierte, gab der realen Kultmusik eine Posi-

tion, die ihr eine unanfechtbare Autoritat zuschrieb. Eine Musik, die sich als Teil der g6ttlichen Harmonie, ja des ganzen Weltalls verstand, die sich der Engels- musik annaherte und die ausschlietlich zum Lobpreis Gottes gesungen wurde,

trug in sich eine so hohe Wertigkeit, dajt sie tabu-ihnlich nicht mehr hinterfragt werden konnte.

Mit ihrer religiasen Oberh6hung stand sie aber auch weit iiber der Musik-

ausiibung des ,,vulgaren" Volkes (vulgus), ja damit rechtfertigte der Klerus auch sein Verhaltnis zur weltlichen, aufgerkirchlichen Musik, das von Nicht-Beach-

tung fiber Mitachtung bis zur Verachtung reichte. Im Abschnitt ,Die ,,richtige"

81 GUSHEE, wie Anm. 36, S. 129. 82 GUSHEE, wie Anm. 36, S. 132. 83 RICHENHAGEN, wie Anm. 56, S. 83.

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Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik 119

Musik' wurde bereits dargelegt, dajt die Musiktraktate nur auf die liturgische Musik bezogen waren und eine andere als die liturgische Musik nicht beriick-

sichtigten. Weltliche Musik wurde ignoriert. Dieser Nichtbeachtung entsprach in der Scolica enchiriadis zusatzlich die Andeutung der Mijtachtung:

Ubrigens meine ich, daBf der nicht gut singt, der die Lieblichkeit der Kunst fiir Nichtiges miBf-

braucht; wie auch der nicht, der die Kunst nicht am geziemenden Platze anzuwenden weif, wie

wohl nur jeder, der andichtigen Herzens ist, vor Gott angenehm singt.

Ceterum non bene modulari video, si quis in vanis suavitate artis abutitur, quemadmodum nec ipse, qui, ubi oportet, arte uti non novit,

quamvis quilibet devoto tantum corde Domino dulce canit.84

Nicht-liturgische Musik galt als ,,nichtig" und wurde am ,,nicht geziemenden Platz" ausgeffihrt. Die Verachtung weltlicher Musik konnte freilich auf eine schon jahrhundertealte Geschichte zuriickblicken. Seit den Schriften der Kir- chenvater ist es belegt, dat nicht-liturgische Musik eben als nicht christlich galt, man brachte sie mit heidnischem Kult und orgiastischen Riten in Verbindung, sie wurde, wie R. HAMMERSTEIN in seiner Schrift Diabolus in Musica (Bern 1974) dargelegt hat, zum Symbol des Satans. Die ablehnende Haltung des Klerus ge- genuiber jeder Art von Tanzmusik ist dariiberhinaus hinreichend belegt worden.

DaB auch die Karolingerzeit diese Tradition in Kontinuitit fortffihrte, m6ge beispielhaft eine Textstelle des Hrabanus Maurus zeigen. Er beschreibt die Fi- stula, mit der die Fl1te oder ein Rohrblattinstrument gemeint sein kann, die zu- sammen mit der Trommel zum ,,Standard" der mittelalterlichen Tanzmusik

geh6rten, und bezieht sich in seinem Vergleich auf das Buch Daniel (3,5), wo die gefangenen Juden dann, wenn Musikinstrumente - eben auch die Fistula - er- klingen, sich vor der goldenen Statue des Nebukadnezar niederwerfen und das

G6tzenbild anbeten sollten.

Die Fistula steht fir die Verffihrung wie bei Daniel

(geschrieben steht): <Wenn ihr den Klang der Fistula h6rt, dann betet die Statue an>, was die Verworfenen entsprechend der Verftihrung des Teufels auch taten......................... die verfiihreri- schen Worte der B6sen tiuschen umso schlimmer, je sch6ner sie klingen.

Fistula est suggestio, ut in Daniele: <Cum audieritis sonitum fistulae, adorate statuam;> quod reprobi diabolo ad ejus suggestionem consentiunt. ............. quod verba seductoria

pravorum, quo dulcius sonant, eo deterius

decipiunt.s

Sinnenfrohe Tanzmusik als Verfiihrungskunst des Teufels zu verstehen, zieht sich als Argument das ganze Mittelalter hindurch bis weit in die Neuzeit hinein. Sie ist der spiegelbildliche Kontrapunkt zum g6ttlich inspirierten gregoriani- schen Choral, einer asketischen, gerade sinnenfeindlichen, fast bewegungslos inszenierten, minnlichen und strengen Kultausiibung. Im Zusammenhang mit der realen Machtposition des Klerus sind die moralisch-religi6se Oberh6hung der christlichen Liturgie und ihr Gegenpol, die moralisch-religi6se Verdam-

s4 SCHMID, wie Anm. 33, S. 60. 85 HRABANUS MAURUS, Allegoriae in universam sacram scripturam, in: MPL 112, wie Anm. 37, S. 929.

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120 Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik

mung weltlicher Musik, zwei Seiten derselben ,,Medaille": Sie begrfinden und

festigen mit Hilfe religi6ser Kategorien den Machtanspruch der Guten gegen die

B6sen, der kirchlichen Elite gegen das vermeintlich heidnische Volk. Wie die liturgische Musik eng an den Machtanspruch von Kirche und Staat

gekoppelt war, zeigt sich wunderbar in dem Umgang mit der biblischen Figur des David. Fiir die Karolingerzeit sehr charakteristisch ist es, ihn als Gekr6nten darzustellen.86 Die Beschaftigung mit ihm dient uns gleichzeitig als sozusagen ,,kr6nender AbschluBt" in der Beweisfiihrung der vorliegenden Arbeit.

Unter der Uberschrift De laude musicae disciplinae beschaftigt sich Aurelianus Reomensis damit, dafg die musikalische Disziplin ihre Autoritat dadurch besta-

tigt erhalt, daft sie sowohl in der Antike als auch in der Bibel ihrer positiven Wirkungen wegen erwahnt wird. Neben Orpheus, der mithilfe der Musik seine

Eurydice aus der Unterwelt befreit, steht da auch David. Ihm war es ja gelun- gen, mit seinem Gesang und Cithara-Spiel seinen kranken K6nig Saul vom Da- mon zu erl6sen.

............ was konnte diesbeziiglich Gr6f8eres gesche- hen, als was David - wie wir lesen - mit Hilfe dieser Kunst getan hat, als er offenbar Saul mit

seinem Gitarren-begleiteten Gesang vom Ddimon befreite, (nachdem) ihn die gescheiterte dirztliche Kunst aufgegeben hatte.

........ quid praeclarius agi in talibus potuit, quam quod legimus, per hanc artem David

egisse, ut scilicet Saulem cantu citharae a dae- mone liberaret, quem medicorum ars victa

87 desperabat.

In gleichem Zusammenhang erwahnt auch Regino den David in seinem Traktat

(Cap.6, S. 236). Eine ganz andere Interpretation erfihrt David durch Hrabanus Maurus. Richenhagen beschreibt, wie Hraban den Konig David als ein Symbol, einen Typus herausarbeitet, dessen Eigenschaften Jesus Christus ,,vorausbe- deuten".

Gesalbt wird dieser David zum zukiinftigen Ko-

nig, durch jene Salbung kiindet er Christus an. Ungitur iste David in regem futurum denun-

88 tians per unctionem illam Christum.

Damit steht er in der Tradition der Kirchenvater, die auch schon Episoden aus dem Leben Davids typologisch gedeutet hatten.89 So interpretiert Hraban die bei Aurelian und Regino erwihnte Heilung des Saulus als Vorausnahme des Heils- werkes Christi, die Cithara symbolisiert das Kreuz, weil sie aus Holz besteht, die

gespannten Saiten gleichen den gespannten Armen des Gekreuzigten. Davids

Gesang, mit dem er den Ddimon vertreibt, wird mit der Passion Christi gleichge- setzt, der durch sein Leiden die siindige Menschheit von ihrer Schuld befreit.90

David erhilt damit eine Symbolkraft, die in Analogie zu Christus und seiner

86 Auf die Idealisierung christlicher Kaiser als ,,neuer David" seit dem 6.Jh. hat J. ENGEMANN, David, in: Lexikon des

Mittelalters 3, hingewiesen. 87 GUSHEE, wie Anm. 36, S. 58. 88 HRABANUS MAURUS, Commentaria in Libros IV Regum, 1,16, in: MPL 109, wie Anm. 37, Sp. 49. 89 Vgl. ENGEMANN, wie Anm. 86. 90 Vgl. RICHENHAGEN, wie Anm. 56, S. 148.

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Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik 121

Leidensgeschichte die historische Pers6nlichkeit des K6nigs David in gott-ahnli- che Nahe riickt und die Grenzen zwischen K6nigtum und G6ttlichkeit unscharf werden lassen. Was karolingische Herrscher nicht beanspruchten, eine theokra- tische Interpretation ihrer Herrschergewalt, schimmert doch in Hrabans Aus- fiihrungen durch. Die Vermischung von K6nigtum und G6ttlichkeit symboli- siert die religi6se Autorisierung des Herrschers, die Akzeptanz seiner Autoritat von seiten der kirchlichen Autoritat, die Symbiose von kirchlicher und weltli- cher Macht.

Und nun liefert uns Hrabanus Maurus eine Interpretation, die gar nicht deutlicher die These unserer Arbeit untermauern k6nnte. Er vergleicht die drei musikalischen Begleiter des K6nigs Asaph, Heman und Idithun mit dem ge- samten Klerikerstand (omnem ordinem ecclesiastici ministerii), der gemeinsam mit dem K6nig musizierend das Gotteslob darbringt.

Zusammen mit den Altesten des Volkes wihlte und sonderte David drei leitende Cantoren aus,

Asaph, Heman und Idithun, auf daBf sie selber zusammen mit ihren S6hnen weissagten mit Ci- thara, Psalter und Cymbal, wie es ihnen als Dienst

aufgetragen worden war. Dies bedeutet, dat der wahre David, unser K6nig und Herr, es will, daiB der gesamte Klerikerstand im heiligen Glauben an die Dreifaltigkeit in Unterwirfigkeit seinen Dienst tue. Und kein anderer kann ihm geziemend das Lob singen, als wer ihn im Bekenntnis zum Vater, Sohn und Heiligen Geist in Glauben, Hoffnung und Liebe lobt.

Elegit David ac segregavit cum senioribus

populi tres principes cantorum, Asaph scilicet, et Heman et Idithun, ut ipsi cum filiis suis

prophetarent in citharis et psalteriis et cymbalis secundum deputatum sibi officium, ut praesi- gnaret, quia verus David, rex et Dominus no- ster, omnem ordinem ecclesiastici ministerii in sancta Trinitatis fide ministranda suum offi- cium agere vult; nec alius ei laudes digne ca- nere potest, nisi qui in confessione Patris et Filii et Spiritus sancti per fidem, et spem et chari- tatem illum laudat.91

Der selber musizierende, gottnahe K6nig in Begleitung seiner kirchlichen ,,Mini- sterialen", des Klerus! Das Bild bringt die wesentliche Frage unserer Machtdis- kussion auf einen Punkt: Musik im Dienst einer Symbiose von kirchlich-weltli- cher Macht, die ihren Kulminationspunkt in den h6chsten Funktionen des Staa- tes findet.

Der Deutung des Hrabanus entspricht sehr genau ein Beispiel aus der dar- stellenden Kunst, das ich dieser Abhandlung zum Schlujt beifuigen m6chte. Die Darstellung des musizierenden K6nigs David war ja auch ein beliebtes Thema der christlichen Kunst des Mittelalters, wie uns zahlreiche iiberlieferte Bilder bezeugen. Dabei erscheint David fast immer als ein michtiger K6nig, meist auf einem Thron sitzend und mit den Insignien eines Herrschers geschmiickt.92 In- teressanterweise existiert auch eine bildliche Darstellung aus der Vivian-Bibel von 845/846, also gerade aus der Schaffenszeit des Hrabanus Maurus (Abb. 1, S. 125). Dieses Bild des Psalmificus David Rex veranschaulicht Hrabans Sicht-

91 HRABANUS MAURUS, Commentaria in Libros II Paralipomenon, in: MPL 109, wie Anm. 37, Sp. 395. 92

DaIt sich die Darstellungsweise in spaiteren Jahrhunderten durchaus wandelte und dem David auch andere Rollen zugeteilt wurden, hat W. SALMEN, Konig David - eine Symbolfigur in der Musik (Freiburg/Schweiz 1995) beschrieben.

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122 Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik

weise auf eindriickliche Art. Der musizierende K6nig David symbolisiert in seiner relativen Gr6ote und mit der Krone auf dem Haupt die konigliche Wiurde. Zwei Wachter zur Rechten und zur Linken betonen in ihrer martialischen Rii-

stung die weltliche Machtstellung ihres Konigs. Die (hier 4) Musikanten beglei- ten den K6nig beim Psalmenspiel.

Die Uberschrift des Bildes erklrt, wie man es zu ,,lesen" hat. Der Titel lautet namlich:

Konig David erstrahlt als Psalmensinger in Ruhm, und der kundige Klerikerstand wei1f sein (Gottes) Werk mit Musik von hoher Kunst zu singen.

Psalmificus David resplendet et ordo peritus Eius opus canere musica ab arte bene.

Schluflbetrachtung

Wenn die vorliegende Arbeit den Titel erhielt ,,Die Macht der Musik", so ge- schah dies mit der Absicht, auf die doppeldeutige Sichtweise von musikalischer Macht Bezug zu nehmen. Wir sind es gewohnt, im gangigen Sprachgebrauch die affektive Kraft von Musik als Macht in rein isthetischem Sinne zu verstehen. Dem sollte mit der Untersuchung ein soziologisches Verstandnis entgegenge- setzt werden, das Musik als Ausdrucksmittel von Gesellschaft versteht und das damit immer auch Teil hat an den Machtverhaltnissen innerhalb der Gesell- schaft. So wurde mit der Untersuchung ein methodischer Ansatz versucht, mit dem soziologische und musikhistorische Betrachtungsweisen sich in der Fokus-

sierung auf den Blickpunkt der Macht gegenseitig durchdringen, was zu ande- ren Fragen und zu anderen Interpretationen fiihrt. Es war nicht Ziel der Unter-

suchung, nach Gesetzmaigigkeiten zu fragen, sondern anhand eines relativ kur-

zen, begrenzten Zeitraums der karolingischen Herrschaft, fiir den sich die

Quellensituation als recht zufriedenstellend erwies, zu verfolgen und zu be-

schreiben, ob und wie Machtausiibung im musikalischen Bereich stattfand. Das

Hauptaugenmerk lag dabei auf der Analyse der Musiktheorie, wenngleich der

Beschreibung ,,realer Machtausiibung" notwendigerweise auch Platz einge- raumt wurde.

Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildete das Faktum, dag sich die Musiktheorie der Karolingerzeit deutlich dem Klerikerstand zuordnen lat. Der Klerus wurde in seiner Verquickung mit der staatlichen Macht als ein Stand

definiert, der einen wesentlichen Anteil hatte an der sozialen Macht, an allen vier von M. MANN so definierten Machtquellen Okonomie, Militir, Politik und

Ideologie. Es konnte aufgezeigt werden, dag es im Bereich musikalischer Praxis Macht-

ausiibung mit legislativen und rechtsprechenden Mitteln, also politischen Machtmitteln gegeben hat, dag musikalisch unliebsames Verhalten von der kirchlich-staatlichen Fiihrung untersagt wurde und per Jurisdiktion verhindert werden sollte.

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Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik 123

Auf dieser Basis wurde hinterfragt, ob auch die Musiktheorie Anhaltspunkte daffir biete, sie als ideologisches Machtmittel zu verstehen. Die Analyse der musiktheoretischen Texte ergab Hinweise daffir, dag sich der Klerikerstand der musikalischen Theorie als eines Machtmittels bedient hat, ja dag die spezielle Ausformung seiner Theorie im Lichte des Machtaspekts begriindbar wird.

Ideologische Machtmittel bestehen nach M. MANN daraus, dag Menschen ein Monopol auf drei Ebenen errichten: a) sie stiften gesellschaftlichen Sinn, b) sie setzen Normen fiir das gesellschaftliche Miteinander und c) sie schreiben asthetische Wertungen und rituelle Praktiken vor.

Die Monopolisierung aller drei Ebenen geschah durch das Machtbiindnis von Klerus und K6nigtum im Karolingerreich. Sie schlug sich in der Musiktheo- rie nieder. Die musiktheoretische Auseinandersetzung ist davon gepragt, dag sich der Klerikerstand bemiihte, die Kultmusik als die ,,seinige" zu usurpieren und zu monopolisieren, ihr einen gesellschaftlichen Sinn durch eine christlich- motivierte Bedeutung ,,iiberzustfilpen", Normen fiir die Musikausiibung aufzu- stellen und die Art und Weise der Auffiihrungspraxis vorzuschreiben und zu kontrollieren.

Der Klerus hatte sich also den Prozeg der Monopolisierung von Musikaus- iibung so stark zu eigen gemacht, dag auch die Musiktheorie zutiefst davon durchdrungen war. Die Untersuchung konnte zeigen, wie die Musiktheoretiker es explizit zu ihrem Ziel erklirten, endlich Regeln und Normen fiir ihre ver- meintlich ,,richtige" liturgische Musik aufzustellen, um Abweichungen und ,,falsches" Singen zu unterbinden, sie konnte deutlich machen, dag der Klerus seine liturgische Musik verabsolutierte als die einzig wahre, moralisch gute Mu- sik. Sie zeigte augerdem auf, dag das Monopol des Klerus auf die Musik mit der

h6heren Bildung und dem besseren Wissen begriindet wurde und dag schlieg- lich Musiktheoretiker die Musik mit g6ttlicher Autoritat ausstatteten. Damit erhielt die christliche Kultmusik auch theoretischerseits einen hohen, iiber jede andere Musikausiibung erhabenen Stellenwert im gesellschaftlichen Geffige. Das heigt gleichzeitg: Mithilfe der Musiktheorie schuf sich der Klerikerstand die theoretische Begriindung seiner gesellschaftlichen Dominanz auch im musikali- schen Bereich.

Zwei Uberlegungen, die sich aus dem dargelegten Ergebnis der Arbeit fol- gern lassen, sollen die Ausfiihrungen beschliegen: 1. Es ist der Faktor ,,Macht", der erklirt, warum die Musikentwicklung des

Abendlandes, die ihren Ausgangspunkt wesentlich in der liturgischen Musik des Klerikerstandes nahm, gleichzeitig die Trennung von Kunst- und Volks- musik vollzog, also die Unterscheidung in eine Musik der michtigen Ober- schicht und eine Musik der ,,einfachen" Bev61kerung. Die verachtete Musik des Volkes im Gegensatz zur hochbewerteten Musik der gesellschaftlichen Oberschicht mag in der Zeit karolingischer Machtentfaltung ihre Festlegung erfahren haben. Die soziale Bindung der ,,Kunstmusik" an die oberen gesell-

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124 Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik

schaftlichen Schichten blieb die ganze abendlandische Musikgeschichte hin- durch bestehen und geh6rt mit zu ihrer Definition.

2. Die Untersuchung legt nahe, dag beim Aufbau und Erhalt von Macht An-

triebskrifte frei wurden, die dazu beitrugen, einen musikalischen Bestand zu ordnen, zu systematisieren, ihn fiir sich iiberschaubar zu machen, in Nota- tionsform festzuhalten, rational zu durchdringen und in Regeln fagbar zu machen. Dies war aber der Ausgangspunkt und - wie anzunehmen ist - auch die Voraussetzung der musikalischen Entwicklung abendlandischer Kunst- musik. Das heigt also, dag die Teilhabe an der sozialen Macht ein wichtiges Agens war, eine musikalische Entwicklung einzuleiten, die paradoxerweise mit dem Aufstellen von innermusikalischen Regeln und dem Festlegen auf bestimmte musikalische Verhaltensweisen zwar den gesellschaftlichen Status eines Standes fuir einige Jahrhunderte festigen konnte, gleichzeitig aber zu musikalischen Neuerungen nie dagewesener Art fiihren sollte.

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Irmgard Jungmann: Die Macht der Musik 125

Abb. 1: Titelbild zum Psalter, Vivian-Bibel, Tours vollendet 846. - Paris, Bibliotheque nationale, Lat. 1,fol.215 v. In: W. BRAUNFELS, Die Welt der Karolinger und ihre Kunst (Miinchen 1968), Abb. 291.

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No

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