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Die bürgerliche Gesellschaft und ihr Subjekt Zur begründungsanalytischen/historischen Reinterpretation der Marxschen Öko- nomiekritik und der Kritisch-Psychologischen Kategorialanalyse oder: Eigentum, Freiheit und Gleichheit als allgemeine Handlungsprämissen Eingereicht als Diplomarbeit am Institut für Kritische Psychologie der Freien Universität Berlin Wintersemester 1995/96 von Wolfgang Theil Mehringdamm 27 10961 Berlin Tel. 694 7562 Betreuer: Dr. Wolfgang Maiers

Die bürgerliche Gesellschaft und ihr Subjekt. Eigentum, Freiheit und Gleichheit als allgemeine Handlungsprämisse

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Diplomarbeit, PI der FU Berlin 1997.

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  • Die brgerliche Gesellschaft und ihrSubjekt

    Zur begrndungsanalytischen/historischen Reinterpretation der Marxschen ko-nomiekritik und der Kritisch-Psychologischen Kategorialanalyse

    oder:

    Eigentum, Freiheit und Gleichheit als allgemeine Handlungsprmissen

    Eingereicht als Diplomarbeit

    am Institut fr Kritische Psychologie der Freien Universitt Berlin

    Wintersemester 1995/96

    von

    Wolfgang Theil

    Mehringdamm 27

    10961 Berlin

    Tel. 694 7562

    Betreuer: Dr. Wolfgang Maiers

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    Inhalt

    Inhalt 3Vorwort 6

    1. Kapitel: Entwicklung des Fragenkatalogs 8

    1. Thesen 122. Erste Annherung 183. Theoriegeschichtliche Bezugspunkte 28

    Marx: wissenschaftlicher Sozialismus 29Freud: Psychoanalyse 31

    Holzkamp: Kritische Psychologie 334. Przisierung der Fragestellung/Programm 385. Zusammenfassung 41

    2. Kapitel: Ungereimtheiten der Marxschen Kapitalismuserklrung 43

    1. Thesen 432. Marx` Historisierung der kapitalistischen Produktionsweise 44

    Historischer Vergleich 47Historische Rekonstruktion 50

    2. Ware und Geld, Privateigentum und Wert 523. Verwandlung von Geld in Kapital 67

    Systematisch 70Historisch 82

    4. Leitfaden (Paradigma) von Marx Rekonstruktion: Hherent-wicklung als Resultat eines Widerspruchs von Produktiv-krften und Produktionsverhltnissen 91

    5. Theoretische und praktische Folgen des Kapital-Zirkels 946. Zusammenfassung 100

    3. Kapitel: Ungereimtheiten der kritisch-psychologischen Kategorial-analyse 103

    1. Thesen 1032. Unmittelbarkeitsdurchbrechung zur antiken brgerlichen Ge-

    sellschaft: Ware, Geld, Privateigentum, Wert und Arbeitstei-lung in der Kritischen Psychologie 107

    3. Menschwerdung und Eigentum: das brgerliche Menschen-bild der Kritischen Psychologie 125Methodisches 125

    Arbeitsteilung, verallgemeinerter Produzent/Nutzer, produkti-ve Bedrfnisse 136

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    Sexuelle Bedeutungs-Bedrfnisdimensionen: unspezifischbiosozial? 144

    Freiheit, Intersubjektivitt, bewutes Verhalten 1464. "Klassenherrschaft" und rHf/vHf 1555. Zusammenfassung 162

    4. Kapitel: Begrndungsanalytische Theorie des Kapitalismus beiHeinsohn/Steiger 167

    1. Thesen 1672. Eigentum vs. Besitz 172

    Begriffliche Konfusion von Eigentum und Besitz 173Unauffindbarkeit des Eigentums in der feudalen Befehlsge-sellschaft: Differenz feudaler Lehensbeziehungen und br-gerlich-schuldrechtlicher Vertragsbeziehungen 183Eigentum, Person, Rechtssubjekt 191Entstehung des Eigentums in der Antike 199Exkurs: mythische berlieferung - historische Empirie oderPhantasiegebilde? 203Enstehung des Eigentums in der Neuzeit 208

    3. Eigentum als Handlungsprmisse 214Eigentum, individualisiertes Existenzrisiko, Liquidittsprmie 216

    4. Zins, Naturaldarlehen, Wechsel 2205. Geld 228

    Glubiger A 231Schuldner B 232Gesamtbetrachtung 233

    6. Markt: Arbeit&Schuld, Arbeitsteilung, Ware, Konkurrenz, Pro-fitstreben 236

    7. Akkumulation, Fortschritt 2408. Krise: Boom, Rezession, Depression, Arbeitslosigkeit 2429. Zusammenfassung 245

    5. Kapitel: Konsequenzen 248

    1. Verhltnis der Einzelwissenschaften 2492. Verdrngung auf kulturhistorisch: gesellschaftliche Episteme

    und historische Psychologie 2533. Historische Psychologie und abendlndische Bewutseins-

    form 2754. Bedingungen zureichender Sozialwissenschaft 279

    6. Anhang 281

    1. Marx Zweifel am "Kapital" 2812. Wer ist Gunnar Heinsohn? 286

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    3. Dokumentation: Ungeklrtheit sozialwissenschaftlicher Basis-kategorien 295Eigentum/Entstehung der abendlndischen Zivilisation in derAntike 295

    Staat 296Herrschaft 296

    Geld 296Fortschritt/Wachstum/Entwicklung in Kapitalismus und Real-sozialismus 299

    Wirtschaftstheorie insgesamt 301Soziologie 303Marxsche Theorie 304

    7. Literaturverzeichnis 305

    1. Wissenschaftlicher Sozialismus: Marx/Engels 3052. Psychoanalyse: Freud 3053. Kritische Psychologie: Holzkamp et. al. 3064. Theorie der Eigentumsgesellschaft: Heinsohn/Steiger 3075. Katastrophismus 3096. Kritik des Tauschparadigmas 3107. Fundamentale Wertkritik: KRISIS 3118. Sonstige verwendete Literatur 3129. Eigene Vorarbeiten 314

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    Vorwort

    Diese Arbeit ist aus Fragestellungen entstanden, die sich im Zuge meiner Beschfti-gung mit Kritischer Psychologie und Marxscher Theorie innerhalb der letzten 3 Jahreergeben haben. Ein guter Teil Auffassungen, die ich hier zur Diskussion stelle, sind imKontext eines von mir und Markus Jensch ab dem Winteresemster 1995/96 veranstal-teten Projekttutoriums mit dem Titel "Perspektiven der Marxschen konomiekritik" ent-wickelt worden.

    Bestand fr mich die Marxsche Leistung vor allem in der Historisierung der Gesell-schaftstheorie und in der Ent-ontologisierung bzw. Ent-naturalisierung spezifisch br-gerlicher Kategorien ("Wert"), so besteht das Zentrum der Kritisch-PsychologischenArbeiten m.E. im Begriff der "subjektiven Handlungsgrnde" als Zentrum gegen-standsadquaten psychologischen und m.E. auch soziologischen Forschens.

    Die Bedeutung des gesellschaftstheoretischen Ansatzes von Heinsohn und Steiger(Theorie der Eigentumsgesellschaft) fr die Kritische Psychologie besteht nun darin,da er es erlaubt, den Zusammenhang von individueller, familialer und gesellschaftli-cher Reproduktion in der Eigentumsgesellschaft bedeutungs-begrndungsanalytisch aufden Begriff zu bringen bzw. verstndlich zu machen (Zentrum: Eigentum und brg.Recht als allgemeiner Handlungsprmissenkontext) und damit die Probleme der Ver-mittlung von Gesellschaftstheorie und Psychologie, die in der versuchten VerbindungKritischer Psychologie und Marxscher Theorie wie auch anderen versuchtenMarx/Freud-Synthesen noch immer stecken, auflsbar zu machen. Damit wird ein "um-greifenderes und eindringenderes Verstndnis menschlicher Subjektivitt in der brger-lichen Gesellschaft"1 dadurch ermglicht, da die im allgemeinen Handlungsprmissen-kontext "brgerliches Recht" begrndete Form der fr erfolgreiche individuelle Repro-duktion erforderlichen Handlungsbegrndungen (inclusive des Profitmotivs) dechiffrier-bar und die in diesem Kontext entstehenden Begrndungswidersprche (die "Verdrn-gung" nahelegen knnen) begrifflich fabar werden.Die einfache Idee hinter dieser berlegung lautet schlicht: wenn die brgerliche Gesell-schaft verstndlich werden soll, mu (a) das fr alle gleichermaen geltende und daherabstrakt-allgemeine brgerliche Recht als Handlungsprmissenkontext analysiert und(b) dieses brgerliche Recht begrndungsanalytisch auf seine historischen Entste-hungszusammenhnge in Antike und Neuzeit hin untersucht werden. Aus ersteremresultiert dann Wirtschaftstheorie als begrndungsanalytische Darstellung brgerlicherHandlungszusammenhnge.

    Es scheint offensichtlich, da "kulturelle Zwnge" in erster Linie im Rechtssystem zusuchen sind. Dennoch werden dessen begriffliche Zentren kaum je als Handlungspr-missen analysiert. Das liegt m.E. daran, da diese "naturrechtlich" fr selbstverstndlichund naturgegeben gehalten bzw. jenseits historisch und interkulturell formationsverglei-chender Analyse a priori dem Wesen des Menschen zugeschlagen und so blindvorausgesetzt werden2. Es handelt sich dabei um das Eigentum sowie die Vertragsfrei-

    1 U. Holzkamp-Osterkamp: Motivationsforschung 2 - Die Besonderheit menschlicher Be-drfnisse - Problematik und Erkenntnisgehalt der Psychoanalyse. Ffm.: Campus 1976, S. 186 - imfolgenden zitiert als M 22 Das gilt - trotz Marx Fetischismuskritik - auch fr Marxisten

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    heit und die Gleichheit vor dem Gesetz, die historisch fr die antike und moderne) br-gerliche Gesellschaft spezifisch sind und den Kern des brgerlichen Rechts bilden.

    Die Arbeit ist insgesamt sehr ausfhrlich geraten und enthlt viele Wiederholungen. Dashngt damit zusammen, da die hier vertretenen Ansichten weder konventionell noch"fertig" und in allen Konsequenzen ausgearbeitet sind und ich daher versucht habe,mglichst genau darzustellen, um einigermaen verstndlich zu sein. Die Ausfhrlich-keit versteht sich aber auch daraus, da die hier einer Kritik unterzogenen Theorien vonMarx und Holzkamp durch auergewhnliche begriffliche Komplexitt imponieren undsich die Schwchen und Fehler aus diesen komplexen Begriffskonstruktionen nichtimmer leicht herausdestillieren und klar verdeutlichen lassen (man mu dazu derenbegriffliche Wendungen notgedrungen zunchst einmal mitmachen). Ich meine den-noch, an den neuralgischen Punkten dieser Theorien anzusetzen, ihre Fehler offenzule-gen und diese Fehler in Anstzen zu berwinden bzw. (angesichts des mehr provisori-schen Charakters des 4. Kapitels) wenigstens die Richtung und die begrifflichen Angel-punkte dieser berwindung aufzuzeigen.Ich denke, da sich mithilfe der bedeutungs-begrndunsanalytisch argumentierendenzivilisationstheoretischen Arbeiten von Heinsohn und Steiger eine ganze Reihe vonAporien und Rtseln auflsen lassen, die die Sozialwissenschaften bis heute plagen.Das gilt auch fr die Psychologie und das dort gngige brgerliche Menschenbild, dashier begrndungsanalytisch als Produkt einer historisch bestimmten Form gesellschaft-licher Reproduktion, der Eigentumsstruktur, dechiffriert werden soll.

    Danken will ich Markus Jensch fr gute Zusammenarbeit bei der Vorbereitung undDurchfhrung unseres Projekttutoriums "Perspektiven der Marxschen konomiekritik",Klaus Holzkamp, Ute Osterkamp, Wolfgang Maiers, Robert Kurz und Peter Klein frtheoretische Anregungen, Gunnar Heinsohn fr unerschrocken konsequentes und un-konventionelles Denken und die schnelle Zusendung diverser Manuskripte, meinemBruder Claus Theil fr die Mglichkeit der Benutzung seines Computers, meinen Elternfr die Ermglichung intensiven Studiums in den Semesterferien.

    Berlin-Kreuzberg, Juni 1996

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    1. Kapitel: Entwicklung des Fragenkatalogs

    "Kein Schler, kein Student, aber auch kein Wissenschaftler oderLaie soll an endgltig bewiesene Tatsachen glauben, auch wenn esso in den Lehrbchern dargestellt wird ... ." (W. Nagl, Gentechnolo-gie und Grenzen der Biologie, Darmstadt 1987, S. 126f., zit n. Zei-tensprnge 1/95, S.58)

    "Die Aufklrung, lngst einer bedrohlichen Dialektik geziehen...,sollte erst einmal beginnen drfen und dann von neuem beurteiltwerden." (G. Heinsohn, Was ist Antisemitismus? Der Ursprung vonMonotheismus und Judenha, Ffm.: Eichborn 1988, S. 70)

    Die hier verfolgte Fragestellung zielt auf die Basisstrukturen der abendlndischen Zivili-sation3 in ihrer Bedeutung fr die widersprchliche Befindlichkeit der in ihr lebendenMenschen. Darin eingeschlossen ist die historische Frage nach den Anlssen und Zu-sammenhngen der Entstehung und nach den Grnden der aktuellen Krise dieser kei-neswegs naturgegebenen/ewigen, sondern historisch besonderen Formation gesell-schaftlicher Reproduktion4. Sie zielt ab nicht auf Kritik, sondern auf einen begrn-dungstheoretischen Begriff dieser Formation (begrndungstheoretische Anatomie derbrgerlichen Gesellschaft), ohne den eine zureichend begrndete Entscheidung froder gegen diese Formation gesellschaftlicher Reproduktion gar nicht mglich ist undbeinhaltet ein breites Spektrum an alltagspraktischen, historischen, kulturvergleichen-den und theoretischen Bezgen. Neben inhaltlichen Klrungen mu sie auch nocheinen sog. Diplomarbeitsschein abwerfen.

    Die gleich folgenden Stze sind nicht Dogmen, also ein fr allemal feststehende Tatsa-chenaussagen, sondern Thesen. Thesen sind Zwischenergebnisse eines Forschungs-prozesses, in denen bisherige, die Struktur des Gegenstands betreffende Resultate undEinsichten zusammengefat sind und in denen weitere Fragestellungen und For-schungsaufgaben stecken. Thesen sind zu diskutieren und zu kritisieren. Sie werden

    3 Vorlufig sollen hier - zum besseren vorlufigen Verstndnis dessen, was mit abend-

    lndischer Zivilisation gemeint ist - einige ihrer typischen Merkmale aufgelistet werden: Eigentum,Freiheit/Gleichheit, Staat, patriarchalische Familie, Zins, Geld, soziokonomische Klassen, Ar-beitsteilung; fr ihre moderne Ausprgung auch kontinuierlicher wiss.-techn. Fortschritt. Dieabendlndische Zivilisation als Form gesellschaftlicher Reproduktion lt sich idealty-pisch/deskriptiv abgrenzen gegenber zwei fundamental anderen Formationstypen: stammesge-sellschaftlichen und feudalen Formationen, die in historisch und geographisch unterschiedlichenAusprgungen existiert haben bzw. existieren. Mehr dazu in Kapitel 4.4 s.a. W. Theil/M. Jensch: Perspektiven der Marxschen konomiekritik nach dem Kollapsdes Realsozialismus und des Arbeiterbewegungsmarxismus, Antrag an die zentrale Projekttutori-enkommission des Akademischen Senats der Freien Universitt Berlin auf Frderung eines Pro-jekttutoriums, unverff., Berlin 1995.

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    aber nicht aus sich heraus, sondern erst auf dem Hintergrund ihres Zustandekommens -als Resultate eines nachzuvollziehenden Erkenntnisprozesses - verstndlich. DieseErluterung soll der Rest des Textes mit seinen Quellennachweisen besorgen.

    Die hier formulierten Thesen zielen auf die Grundbegriffe der Sozialwissenschaften.Angezielt ist ein Paradigma, also ein Set allgemeiner Begriffe, das es erlaubt, die heuteablaufenden gesellschaftlichen Prozesse ebenso wie in diesen Prozessen verorteteindividuelle Probleme so in den Blick zu nehmen, da sie zusammenhngend - dasheit nicht: undifferenziert, sondern zunehmend differenziert, aber unverzerrt - ver-stndlich werden. Dabei steht der Forschungsprozess allerdings noch am Anfang. Beider Formulierung des Paradigmas geht es zunchst um die Grundbegriffe, die die Per-spektive auf den Gegenstand bestimmen und die Gegenstandsausschnitte bestimmen,die berhaupt in den Blick geraten knnen. Ist diese Perspektive von vorneherein schiefangelegt, ist zu erwarten, da im Erkenntnisproze Anomalien und Widersprche auf-tauchen, die irgendwann - um wieder Kohrenz zu erreichen - einen Paradigmenwech-sel erforderlich machen. Die gegenwrtige Sozialwissenschaft ist seit langem in einersolchen Situation. Ihre oft geleugnete, von selbstdenkenden Forschern jedoch um-standslos zugegebene Ratlosigkeit hinsichtlich der Basisstrukturen/Zentralmerkmaleihres Gegenstands soll hier durch einige Zitate prominenter Fachvertreter belegt wer-den:

    "Die Soziologie steckt in einer Theoriekrise. Eine im ganzen recht erfolgreiche empiri-sche Forschung hat unser Wissen vermehrt, hat aber nicht zur Bildung einer fachein-heitlichen Theorie gefhrt. Als empirische Wissenschaft kann die Soziologie den An-spruch nicht aufgeben, ihre Aussagen an Hand von Daten zu berprfen, die der Rea-litt abgewonnen sind, wie immer alt oder neu die Schluche sein mgen, in die mandas Gewonnene abfllt. Sie kann gerade mit diesem Prinzip jedoch die Besonderheitihres Gegenstandsbereiches und ihre eigene Einheit als wissenschaftliche Disziplinnicht begrnden. Die Resignation geht so weit, da man dies gar nicht mehr versucht.(...) Vorherrschend kehren diejenigen, die sich fr eine allgemeine Theorie interessie-ren, zu den Klassikern zurck. Die Einschrnkung, durch die man sich das Recht ver-dient, den Titel Theorie zu fhren, wird durch Rckgriff auf Texte legitimiert, die diesenTitel schon fhren oder unter ihm gehandelt werden. Die Aufgabe ist dann, schon vor-handene Texte zu sezieren, zu exegieren, zu rekombinieren. Was man sich selbst zuschaffen nicht zutraut, wird als schon vorhanden vorausgesetzt. (...) Die Orientierungan groen Namen und die Spezialisierung auf solche Namen kann sich dann als theo-retische Forschung ausgeben."5"

    "Trotz einer mehr als zweihundertjhrigen Diskussion ist der Staatsbegriff ungeklrtgeblieben."6

    "Die schwerste Herausforderung fr den Theoretiker besteht darin, da die Existenzvon Geld in dem am besten entwickelten Modell der Wirtschaft nicht unterzubringenist."7

    "Sozialwissenschaftliche Analysen im Bereich der politischen Herrschaft leiden untereiner charakteristischen Unbestimmtheit ihrer Grundbegriffe, die auf eine eigentmlicheWeise mit ihrem ehrwrdigen Alter und ihrer zentralen Bedeutung fr solche Analysen

    5 N. Luhmann: Soziale Systeme. Grundri einer allgemeinen Theorie. Ffm.: Suhrkamp1986, S. 76 N. Luhmann: Soziale Systeme, Grundri einer allgemeinen Theorie. Ffm.: Suhrkamp1986, S. 6267 Frank H. Hahn: Money and Inflation. Oxford: Basil Blackwell, 1982, S. 1

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    konterkarieren. Was z.B. Macht und Herrschaft eigentlich sind, gewinnt selten ei-ne begrifflich przise und analytisch fruchtbare Fassung."8

    "Gewhnlich wird die Meinung vertreten, da Eigentum keine historische Kategorie ist,sondern zu den Naturrechten des Menschen gehrt. Wenn man Privateigentum alsnatrliches, absolutes und unveruerliches Recht betrachtet hat, ist es nur legitim, dieFrage zu stellen: Warum hat es zu allen Zeiten so viele Spekulationen ber seinen Ur-sprung gegeben?"9

    "Die Behauptung, da die Nationalkonomie bis heute nicht wei, was Geld ist, mu imersten Moment berraschen: Geld gehrt offensichtlich in den Aufgabenbereich derNationalkonomie, gehrt sogar zu den wichtigsten Topoi der Wissenschaft. Dennochstimmt die Behauptung. Denn es ist gngige Praxis der scientific community seit altersher, da sie irgendetwas als Geld definiert, das dann ihren wissenschaftlichen berle-gungen den jeweils angemessenen Rahmen liefert. (...) Aber die Beliebigkeit des Geld-begriffs offenbart ... eine fehlende oder zumindest unzureichende Klrung der Geld-funktion."10

    "Im Bewutsein und in der Wirklichkeit der verschiedenen Gesellschaften der Gegen-wart spielen die Produktivitt der gesellschaftlichen Arbeit und ein hierauf bezogenerwissenschaftlich-technischer Fortschritt eine groe Rolle. Dies ist so, obwohl die Fra-gen nach der politisch-moralischen Bedeutung und nach den geschichtlich-gesellschaftlichen Grnden dieser Produktivitt und dieses Fortschritts sehr umstrittenund eigentlich nirgendwo hinreichend beantwortet sind ... die gezielte Umsetzung vonWissen in Fortschritt von Technik wird zur wissenschaftlich-technischen Revolution,ein bislang eigentlich nur phnomenologisch gefater, also ein Schein-Begriff."11

    "Diese (Untersuchung ber die Begriffe System und Wandel, WT) war zu demSchlu gekommen, da es eine taugliche grundstzliche Darstellung des Gegen-standsbereichs dieser Wissenschaft, welche gesellschaftliches oder soziales als so-wohl gleichfrmiges wie vernderliches Begriffe, bislang nicht gibt, weshalb Soziologenja meist nicht so richtig wissen, wovon sie reden. Wie es scheint, hat sich an diesemZustand der Soziologie - recht eigentlich: an ihrer Gegenstandslosigkeit - inzwischennichts wesentliches gendert ... ."12

    P.C. Martin gar fat provozierend zusammen:"Was ist Kapitalismus? Keiner wei es. Auch Sie wissen es nicht."13

    Diese Zusammenstellung - mehr Zitate finden sich im Anhang - kann getrost als dochernchterndes remierendes Resultat von 200 Jahren sozialwissenschaftlicher "For-

    8 V.M. Bader et. al.: Einfhrung in die Gesellschaftstheorie. Gesellschaft und Staat beiMarx und Weber. Ffm: Campus 19769 T.J.F. Riha: De-Socialization and Creation of Property and Wealth: The Origins of PrivateProperty in Post-Communist Society. In: Third Congress of the International Society for the Inter-communication of New Ideas (ISINI), Boston: Northeastern University, 24. bis 26. August 1995, S.2, zit. n. Heinsohn/Steiger: Eigentum, Zins und Geld - ungelste Rtsel der Wirtschaftswissen-schaft. Manuskript, Uni Bremen 1996, S. 41 (Buchverffentlichung erscheint im Juni bei Rohwolt),unsere Herv.; aus diesem Manuskript "Eigentum, Zins und Geld" wird im folgenden unter demKrzel "EZG" zitiert. Da mir nur ein Manuskript vorlag, die Zitate aber auch in der Buchverffentli-chung nachprfbar sein sollen und deren Seitenzahlen mit dem Manuskript nicht bereinstimmenwerden, zitiere ich nicht mit Seitenangaben, sondern in der Form Kapitel/Abschnitt/Absatz. Sobedeutet z.B. B / 3 / 2 Kapitel B, Unterabschnitt 3, Absatz 2.10 H. Riese: Geld: Das letzte Rtsel der Nationalkonomie. In: W. Schelkle, M. Nitsch:Rtsel Geld. Annherungen aus konomischer, soziologischer und historischer Sicht. Marburg1995; unsere Hervorhebungen11 K.H. Tjaden: Mensch, Gesellschaftsformation, Biosphre. ber die gesellschaftlicheDialektik des Verhltnisses von Mensch und Natur. Marburg: VAG 1992, S. 15/22, unsere Herv.12 ebd., S. 13, unsere Herv.13 P.C. Martin/W. Lftl: Der Kapitalismus. Mnchen: Wirtschaftsverlag Mller-Langen/Herbig1986, S. 13

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    schung" gelesen werden. Wurde dieser Zustand im Zuge der 68er Marxrezeption im-merhin einmal offen ausgesprochen und unter den Rubriken Relevanzproblem undTheorie-Praxis-Problem diskutiert, wobei ein vorwissenschaftlicher Zustand der Ge-sellschaftstheorie (und Psychologie) festgestellt wurde, so wurde dieser dennoch bisheute nicht berwunden. Das wird heute in der Regel nicht einmal mehr als unange-nehme Tatsache bemerkt, sondern fr normal und unaufhebbar ausgegeben. Damitwird aber die Lsung der Zentralprobleme der Gesellschaftstheorie von vornehereinverunmglicht, weil schon die entscheidenden Fragen gar nicht mehr gestellt werdenknnen. Relevanzproblem und Theorie-Praxis-Problem werden versiegelt. Resultat istdas Betreiben von Theorie lediglich noch als Passion - ohne den Anspruch aufRealittsaufschlu. Da derartige "Forschungen" beim allgemeinen Publikum wenigInteresse finden, kann nicht berraschen. Leider jedoch bleibt es nicht bei der Peinlich-keit der TheorieprotagonistInnen, die lediglich deshalb selten auffllt, weil die Damenund Herren von den Universitten beim Publikum noch immer einen unbedingten Vor-schu an Respekt genieen, der sich wohl nicht zuletzt aus der Unverstndlichkeit ihrerTexte speist. Die verdrngte Ratlosigkeit der Sozialwissenschaften hat auch praktischeAuswirkungen. Denn StudentInnen, die eine derartige Ausbildung durchlaufen haben,drfen sich nach ihrem Studium Eigentmer einer Arbeitskraft nennen, die zu allemfhig, aber zu nichts zu gebrauchen ist (so ein gngiger Spruch ber AbsolventInnensozialwissenschaftlicher Studiengnge wie Politologie, Soziologie, Psychologie) - weilnmlich die Gesellschaftstheorie mit der tatschlichen Praxis wenig zu tun hat, sie nichtaufschlieen oder anleiten kann.

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    1. Thesen

    1. In den Sozialwissenschaften gibt es ein unerkanntes und blind vorausgesetztesParadima, das (fast) alle Theoriebildung steuert und den integrativen Erkenntnisfort-schritt blockiert, weil es die gesellschaftlichen Basisstrukturen des Abendlandesfalsch abbildet und immer wieder in Aporien mndet (Individuum/Gesellschaft, Psy-chologie/Soziologie, Subjekt/Objekt, Willensfreiheit/Auendeterminismus etc.). DieTheoriesituation der Sozialwissenschaften ist durch akkumulierte Anomalien in derTheorie und Ratlosigkeit in der Praxis gekennzeichnet14. Theoretische Dissoziation,Theorie/Praxis-Bruch und Relevanzkrise, drftige analytische Ausbeute und prakti-sche Unfhigkeit sind die Symptome.

    2. Das unerkannt vorausgesetzte Paradigma ist das Tauschparadigma15, das im Para-digma des Evolutionismus16 grndet. Empirisch nicht berprfte, spekulative evolu-tionistische Konstruktionen der Entstehung der abendlndischen Zivilisation aus derAusdifferenzierung des Gtertauschs haben dazu gefhrt, da die Spezifika dieserFormation: Eigentum, Freiheit, Zins, Geld, Fortschritt - nie zureichend verstandenwurden.

    3. Um die auf sandigem Grund gebaute und wackligen Theoriegebude der Sozialwis-senschaft zum Einsturz zu bringen, ist der Hebel an zwei Angelpunkten anzusetzen:am Tauschparadigma und an Subjektlosigkeit/Subjektapriorismus.

    4. "Darwin was wrong!"17

    5. Karl Marx ist an einem zureichenden Verstndnis des Kapitalismus gescheitert,weswegen er sein Hauptwerk, Das Kapital - Kritik der Politischen konomie18 un-

    14 Fr die Wirtschaftstheorie vgl. zusammenfassend Arne Heise: Paradigmenwechsel unddie monetre Theorie der Produktion. In: H.J. Stadermann, O. Steiger: Der Stand und die nchsteZukunft der Geldforschung. Festschrift fr Hajo Riese zum 60. Geburtstag. Berlin:Duncker&Humblot 1993, S. 177-183. Fr die Psychologie vgl. K. Holzkamp: Die bewindung derwissenschaftlichen Beliebigkeit psychologischer Theorien durch die Kritische Psychologie. In:ders.: Gesellschaftlichkeit des Individuums. Kln: Pahl-Rugenstein 1978. Fr die Soziologie vgl. N.Luhmann: Soziale Systeme - Grundri einer allgemeinen Theorie, Ffm: Suhrkamp 1986, Einleitung.Luhmanns Vorschlag einer facheinheitlichen Therorie beinhaltet aber zentrale Mngel hinsichtlichdes Geldes und der Rolle von subjektiven Handlungsgrnden.15 Gunnar Heinsohn/Otto Steiger: Eigentum, Zins und Geld. Ungelste Rtsel der Wirt-schaftwissenschaft. Manuskript, Uni Bremen 1996, erscheint im Juni bei Rohwolt ((im folgenden:EZG). Die Entstehung der Konzeption von Heinsohn und Steiger ist im Literaturverzeichnis durchdie wesentliche Stationen markierenden Publikationen dokumentiert.16 Zur Dokumentation der im Gang befindlichen Ablsung des Evolutionismus durch denKatastrophismus in den Naturwissenschaften vgl. C. Blss: Jenseits von Darwin - neue Perspekti-ven der Naturgeschichte. Ffm: Eichborn 1988; H. Illig: Chronologie und Katastrophismus. Graefel-fing: Mantis 1992 und G. Heinsohn: Ursprung und Niedergang des Opfers und der Gtter. Grund-legung der Religionstheorie. Manuskript, Bremen 1996, S. 32-4617 K.L. Feder, M.A. Park: Human antiquity. An Introduction to Physical Anthropology andArcheology. Mountain View/CA: Mayfield 1989, S. 42 (an US-Colleges verwendetes Lehrbuch)18 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der Politischen konomie. Erster Band: Der Produktions-proze des Kapitals. Marx-Engels-Werke (MEW) 23, Berlin: Dietz 1972 - im folgenden zitiert alsMEW 23. Desgl. wird Band 2, Der Zirkulationsproze des Kapitals. Marx-Engels-Werke 24, Berlin:Dietz 1974:, zitiert als MEW 24 und Bd. 3: Der Gesamtproze der kapitalistischen Produktion.Marx-Engels-Werke 25, Berlin: Dietz 1974 als MEW 25

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    fertig in der Schublade liegenlie. Seine von Adam Smith bernommene, vom evo-lutionistischen Paradigma des Widerspruchs von Produktionsverhltnissen undProduktivkrften angeleitete spekulative Erklrung der Entstehung des Geldes ausdem Gtertausch (Tauschparadigma) und die dann nur noch als Zirkel mgliche Er-klrung des Kapitals (Zinses) bildet das theorieverderbende Moment des Kapital,das in theoretische Aporien fhrt (von denen die Kritische Psychologie das Subjekti-vismus/Objektivismus19-Dilemma aufgreift, ohne es konkret lsen zu knnen, es je-doch prinzipiell lsbar macht) und ihm und den Epigonen den Zugang zur Wirklich-keit verbaut.

    6. Sigmund Freud scheiterte mit seiner Psychoanalyse ebenfalls an der Entwicklungeines Begriffs dessen, was er diffus Kultur nannte. Er durchbrach aber mit seinerpsychoanalytischen Methode auf fr seine Zeit bahnbrechende Weise die aus dem19. Jahrhundert berkommene (und wissenschaftshistorisch/-soziologisch erst nochverstndlich zu machende) Elimination subjektiver Handlungsgrnde aus der Wis-senschaftssprache und mu als bahnbrechender und kompromiloser Denker aner-kannt werden. Dies gilt unbeschadet seiner falschen Theoretisierungen.

    7. Die Kritische Psychologie folgt in ihren Kategorialanalysen20 Marx in seinemScheitern und fllt in ihrem Marx/Freud-Syntheseversuch z.T. sogar hinter Marx Ah-nungen und Einsichten (hinsichtlich Wert, Geld, Warenfetischismus) zurck. In ihrerebenfalls spekulativ-evolutionistischen statt empirisch-historischen Rekonstruktionder als Menschwerdung verkannten Genese der antiken brgerlichen Gesell-schaft reproduziert sie den Marxschen Zirkel und entwirft unerkannt ein biologisti-sches brgerliches Menschenbild. Sie erlaubt aber mit ihrem - der Psychoanalyseverwandten und von dieser inspirierten - Begriff der subjektiven Handlungsgrn-de, das Problem einer zureichenden Erklrung der abendlndischen Zivilisation er-neut aufzuwerfen und richtig zu formulieren, wenn der sehr miverstndliche Begriffder doppelten Mglichkeit nicht zur zirkulr personalisierenden subjektivistischenKurzschlu-Hypostasierung der Herrschenden genutzt und damit einmal mehr einzureichendes Verstndnis der brgerlichen Gesellschaft (und feudaler Gesellschaf-ten) blockiert wird21.

    19 Zum Subjektivismus/Objektivismus-Widerspruch bei Marx, an den sich in der Rezepti-onsgeschichte die bis heute unaufgelste Dichotomie strukturalistischer/konomistischer undsubjektivistischer/politizistischer Interpretationen anschlo vgl. MEW 23, S. 16/285f./790. Eineneue Runde im alten Streit hat eingeleitet W. Seppmann: Subjekt und System. Zur Kritik desStrukturmarxismus. Lneburg: Zu Klampen 1993. Deutlich gesehen und schn beschrieben (DasSubjekt ist eine Marionette, die selber die Fden zieht, S. 57), aber ebenfalls nicht aufgelst hatdas Problem Robert Kurz: Subjektlose Herrschaft. Zur Aufhebung einer verkrzten Gesellschafts-kritik. KRISIS, Beitrge zur Kritik der Warengesellschaft 13, 1993, S. 17-95. Kurz gibt dort ganzinspirierende Vorschlge und Skizzen zur Auflsung der Problems: Unbewut sei ebenso wie dieForm der Vergesellschaftung auch die Form des Bewutseins. Hieran werden wir im 5. Kapitel mitdem Begriff der Liquidittsprmie auf Eigentum begrndungsanalytisch anknpfen knnen.20 Klaus Holzkamp: Grundlegung der Psychologie. Ffm: Campus 1983; im folgenden zitiertals GdP21 Zum Hin-und Herschwanken der Kritischen Psychologie zwischen Subjektivismus undObjektivismus hinsichtlich der Verantwortlichkeit der Herrschenden fr kapitalistische Verhlt-nisse und der selbstlufigen (subjektlosen) Reproduktion kapitalistischer Herrschaft vgl. M 2,S. 439, FN 23; GdP, S. 199/200 (Selbstlauf, der durch Klassenherrschaft nur zustzlich abgesi-chert wird); ebd., S. 558ff., wo die Diskussion des Problems angekndigt wird, die dann nie statt-gefunden hat; K. Holzkamp: Persnlichkeit - Funktionskritik eines Begriffs, Forum Kritische Psy-chologie 22, 1988, S. 132.

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    8. Auch die brgerliche Gesellschaftswissenschaft hat bisher keinen zureichendenBegriff des Kapitalismus entwickelt.

    9. Es gibt mithin bisher keinen tauglichen Begriff der brgerlichen Gesellschaft,der deren Basisstrukturen auf konsensfhige und kohrente Weise verstnd-lich machen knnte.

    10. Ein zureichender Begriff der abendlndischen Zivilisation mu im Begrndungsdis-kurs formuliert sein, d.h. den Subjektivismus/Objektivismus-Streit (auch: konomis-mus/Politizismus, Kollektivismus/Individualismus, Gesellschaft/Individuum, objektiveBestimmtheit/subjektive Bestimmung, Soziologie/Psychologie etc.) aufheben. Ermu eine begrndungsanalytische Darstellung brgerlicher Handlungszusam-menhnge liefern, d.h. die in gesellschaftlichen Bedeutungen als Handlungsprmis-sen begrndeten typischen Handlungsproblematiken (und Begrndungswiderspr-che samt typischen, widerspruchseliminierenden Reaktionsbildungen) der unter-schiedlichen Kategorien von Akteuren in der Eigentumsgesellschaft verstndlichmachen. Er mu die Trennung von Gesellschaftstheorie und Psychologie auf-heben.

    11. Die berwindung des Tauschparadigmas durch die Eigentumstheorie des Zin-ses und des Geldes oder die Theorie der Eigentumsgesellschaft von GunnarHeinsohn und Otto Steiger stellt auf der Ebene der Klarstellung der Grundbegriffedie begrifflichen Mittel fr die Entwicklung eines Begriffs der brgerlichen Gesell-schaft - ab jetzt: Eigentumsgesellschaft - bereit, der die oben formulierten Kriterienerfllt und die benannten Aporien knackt/eliminiert/verstndlich macht.

    12. Diese Theorie ist mit der kritisch-psychologischen Zentralkategorie der subjektivenHandlungsgrnde kompatibel, sie ist implizit im Begrndungsdiskurs formuliert. DieKritische Psychologie kann durch wissenschaftstheoretische Reflexion hier Klarheithinsichtlich der verwendeten Wissenschaftssprache (Aussageformen) schaffen22.

    13. Die Eigentumstheorie des Zinses ist als Bedeutungs-Begrndungsanalyse des br-gerlichen Rechts - in dessen Zentrum das Eigentum (Freiheit, Gleichheit) steht, kon-struiert und basiert auf einer begrndungsanalytischen historischen Analyse derHerkunft desselben.

    Das neue Paradigma der Bedeutungs-Begrndungstheorie von Eigentum, Zins undGeld oder Theorie der Eigentumsgesellschaft ermglicht die integrative Reinterpre-tation berkommener Klrungsversuche wie Kritik der Politischen kono-mie/wissenschaftlicher Sozialismus (Marx), Psychoanalyse (Freud), Kritische Psy-chologie (Holzkamp), Allgemeine Theorie der Beschftigung, des Zinses und desGeldes (Keynes), Monetrkeynesianismus (Riese), etc. Es ist in alle Richtungenausbaufhig und erhellt die Schlsselzusammenhnge der dissoziierten sozialwis-senschaftlichen Einzeldisziplinen. Es ist problemlos anschlufhig auch fr Be-triebswirtschaftslehre und Rechtswissenschaft (BGB).

    14. Damit besteht die Mglichkeit der Aufhebung der wissenschaftshistorisch aus dem19. Jahrhundert berkommenen Dissoziation der sozialwissenschaftlichen Arbeits-teilung - hier fand eine eine Ausdifferenzierung statt, die der komplementren be-

    22 Hier hoffe ich auf die noch unverffentlichte Arbeit von Maiers zum Problem der Wissen-schaftlichkeit (in) der Psychologie.

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    grifflichen Integration ermangelte und so keinen integrativen Erkenntnisfortschrittermglicht, sondern die Anhufung beziehungsloser Einzelbefunde (beschnigendPluralismus genannt) gebracht hat.

    15. Die wissenschaftshistorischen Grnde der Dissoziation der sozialwissenschaftlichenEinzeldisziplinen wren in einer Verzerrung des Blicks durch Verschiebung derGrundbegriffe zu suchen, deren Grnde zu rekonstruieren wren. Zu fragen wrenach der Rolle (a) des Evolutionismus, (b) des mechanistischen Paradigmas, (c) derElimination des Subjekts und seiner Handlungsgrnde aus der sw. Wissenschafts-sprache (d) nach den im realhistorischen Proze begrndeten Motiven der damali-gen Macher von Wissenschaft, die diese begriffliche Verschiebung mit ihren fatalentheoretischen Konsequenzen fr sie subjektiv funktional erscheinen lieen.

    Einige zu erwartende, aus Miverstndnissen resultierende Einwnde mssen hiergleich ausgerumt werden. Der hier vertretene Paradigmenwechsel, der besagt, dabrgerliche Verhltnisse bisher nie zureichend begriffen wurden, besagt keineswegs,da hier nun eine Theorie prsentiert wird, die mit Ausschlielichkeitsanspruch auftrittund alles erklrt, whrend die bisherigen Theorien alle falsch, unbrauchbar unddaher als uninteressant zu verwerfen seien, was ja antipluralistischer Dogmatismus sei.So gngig dieser Einwand ist, so abenteuerlich naiv ist das wissen(schaft)stheoretischeHintergrundverstndnis, das ihm zugrundeliegt.

    Ein Paradigmenwechsel, wie er hier vorgeschlagen wird, bezieht sich lediglich auf dieGrundbegriffe der konomie/Gesellschaftstheorie. Ich behaupte, da im neuen Para-digma der Eigentumstheorie des Zinses die allgemeinen Basisstrukturen (Prmissen-Grnde-Zusammenhnge) der brgerlichen Gesellschaft richtiger abgebildet werden alsin klassischer (Smith-Marx) und neoklassischer konomie (die auch die Grundlagensoziologischer Theorie-Synthesen (Habermas, Luhmann)) abgeben. Es handelt sich umeine Neuanordnung oder Neusortierung der Grundbegriffe, die einen neuen Blick aufsGanze ermglichen, einen Perspektivenwechsel, der den Gegenstand und die auf ihnbezogenen Theorien in einem neuen Licht erscheinen lassen. Ein begrifflicher Rahmenist zu zimmern. Ein begrndungsanalytisches Begriffsnetz ist zu knpfen, das den Blickneu rastert und grob vorstrukturiert und dabei den begrifflichen Hebel diesmal an denKnackpunkten ansetzen lt. In ganz grober Form haben Heinsohn und Steiger diesesNetz bereits geknpft.

    Was das neue Paradigma taugt, mu sich (a) an seiner gegenstandsaufschlieendenKraft und (b) an seiner Integrationskraft bestehenden Theorien gegenber erweisen.Lassen sich innerhalb des neuen Paradigmas die bestehenden Theorien kohrent rein-terpretieren, d.h. knnen deren innere Widersprche/akkumulierte Anomalien aufgelstund kann dem Kern der Theorie im neuen Paradigma ein Geltungsbereich/Set von Gel-tungsbedingungen zugewiesen werden, taugt das Paradigma zu integrativem Erkennt-nisfortschritt und stellt eine Verbesserung dar, die sich als Verbesserung der Hand-lungsfhigkeit dem Gegenstand gegenber geltend macht.

    Eine Wissenschaft kommt ohne einen derart monistischen Anspruch konsensfhigerGrundbegriffe, an kohrente und konsensfhige paradigmatische Fundierung nicht aus.Das bedeutet keinen Widerspruch zur Mglichkeit, innerhalb des konsensfhigen Para-digmas Differenzierungen vorzunehmen, die durch produktiven Diskurs zwischen kon-kurrierenden Ansichten ausgetragen werden mssen und auf der Basis der gemeinsa-

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    men Grundbegriffe berhaupt erst ausgetragen werden knnen (fehlen sie, redet mananeinander vorbei). Dabei steht das Paradigma selbst jederzeit zur Disposition, mualso, wenn neue, immanent unaufhebbare Aporien, Widersprche und Rtsel akkumu-liert werden, modifiziert oder verworfen/aufgegeben werden. Ein derart monistischerAnspruch bedeutet also nicht etwa Dogmatismus, sondern das genaue Gegenteil da-von: fehlt nmlich ein bergreifender, konsensfhiger theoretisch-begrifflicher Bezugs-rahmen, ist zwischen entgegengesetzten Positionen gerade kein produktiver Diskursmglich, der zu integrativem Erkenntnisfortschritt fhren knnte; vielmehr mu der Streitergebnislos abgebrochen werden, weil die Erkenntnisvoraussetzungen inkompatibelsind und - werden sie nicht selbst zum Gegenstand der Diskussion gemacht - nur dog-matisch beibehalten werden knnen. Die Folge ist die Inkommensurabilitt der entge-gengesetzten Positionen und permanentes Aneinandervorbeireden, das in der Regelzum Abbruch des fruchtlosen Diskurses fhrt23 und damit eine Blockierung des Er-kenntnisfortschritts, also der Entwicklung von Handlungsfhigkeit dem Pro-blem/Gegenstand gegenber.

    Nicht das Beharren auf monistischer Theoriebildung24innerhalb eines konsensfhi-gen, jederzeit zur Disposition stehenden Paradigmas, sondern unreflektierter Pluralis-mus fhrt also zu forschungsbehinderndem Dogmatismus. Diejenigen, die monistischenSyntheseversuchen gegenber den Vorwurf des Domatismus erheben und sich plura-listische Beliebigkeit auf die Fahnen schreiben, sind also ironischerweise die tatschli-chen Dogmatiker. Im Paradigma begrndungsanalytischer Handlungserklrungen ms-sen sich z.B. wissenschaftliche Theorien ebenso wie religise und mythologische Textedurch historische Rekonstruktion ihres Entstehungs-/Produktionskontexts verstndlichmachen lassen.

    Daher wiederhole ich: Monismus in diesem Sinn bedeutet also"nie: Widerspiegelung der kompletten Realitt des Gegenstandes. Auch nicht:: Aus-schpfung aller Mglichkeiten der Erkenntnis des Gegenstandes."25

    In dieser Arbeit wird gezeigt, da die Marxsche Kritik der Politischen konomie und dieHolzkampsche Kritische Psychologie im Rahmen der Eigentumstheorie des Zinses und

    23 Z.B. nimmt Klaus Holzkamp in seinem Artikel Die historische Methode des wissenschaft-lichen Sozialismus und ihre Verkennung durch J. Bischoff. In: Das Argument 84, 1974, S. 1-75(wiederabgedruckt in K. Holzkamp: Gesellschaftlichkeit des Individuums. Kln: Pahl-Rugenstein1978 - im folgenden zitiert als HMWS) die historisch-empirisch falsche Marxsche Warenformanaly-se/Geldtheorie zum Modell fr die Entwicklung der kritisch-psychologischen funktionalhistorischenAnalyse. Holzkamp beharrte darauf, da die Marxsche Geldtheorie als logisch-historischeinterpretiert werden msse. Bischoff dagegen erklrte eine logisch-historische Interpretation frfalsch, um ohne Aufgabe der Marxschen Geldtheorie H.J. Backhaus Einwand Rechnung tragen zuknnen, "da diese Theorie gar nichts anderes darstellt als eine Summierung haltloser wirtschafts-historischer Spekulationen." (H.J. Backhaus (Hg.): Gesellschaft - Beitrge zur Marxschen Theorie11, Ffm: Suhrkamp 1978, S. 52). Die Kontroverse zwischen Bischoff und Holzkamp wurde ergeb-nislos abgebrochen. Beide Autoren hatten die Richtigkeit der Marxschen Theorie vorausgesetzt undihre Kontroverse fr bloe Interpretationsprobleme gehalten. Da Meister Marx mit seinemtauschparadigmatischen Geldbegriff selbst falsch gelegen haben knnte, wurde nicht in Erwgunggezogen.24 s.a. K. Holzkamp: Die berwindung der wissenschaftlichen Beliebigkeit psychologischerTheorien durch die Kritische Psychologie. In: Gesellschaftlichkeit des Individuums, Aufstze, Kln:Pahl-Rugenstein 1978.25 N. Luhmann: Soziale Systeme. Grundri einer allgemeinen Theorie. Ffm: Suhrkamp1986, S. 9

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    des Geldes reinterpretiert und integriert werden knnen, womit die unaufgelsten Pro-bleme der Synthese von Kritischer Psychologie und Marxscher Theorie aufgehobenwerden. P.C. Martin hat verschiedene konomische Theorien innerhalb der Eigentum-stheorie des Zinses und des Geldes erfolgreich reinterpretieren knnen26. Eine Synthe-se der Eigentumstheorie des Zinses und des Monetrkeynesianismus der BerlinerSchule (H. Riese, H.J. Stadermann und andere) bahnt sich an27. Damit ist der Test desneuen Paradigmas bereits im Gang. Einsteiger in die Diskussion sind willkommen.

    Der hier vorgeschlagene Paradigmenwechsel steht im bergreifenden Kontext einesumfassenderen Paradigmenwechsels. Dieser vollzieht sich in den historischen Wissen-schaften (Natur- und Gesellschaftswissenschaften) als Wechsel vom Evolutionismuszum Katastrophismus28. Der durch Lyell und Darwin popularisierte gradualistische Evo-lutionismus ist theoriegeschichtlich wesentlich mitverantwortlich fr das den sozialwis-senschaftlichen Theorienfortschritt blockierende Tauschparadigma, der historischenFiktion der Geldherkunft aus der allmhlichen Ausdifferenzierung des Gtertauschs,was in dieser Arbeit am Beispiel der Marxschen Theorie (als Abschlu der klassischenkonomie) gezeigt wird. Fr die neoklassische konomie wre die These vom Zusam-menhang von Evolutionismus und Tauschparadigma gesondert via wissenschaftshisto-risch/-soziologischer Rekonstruktion zu berprfen.

    Damit komme ich zur Begrndung der oben formulierten Thesen. Ich mchte zunchstversuchen, (1) den Kern und die theoriegeschichtliche Herkunft meines Erkenntniszielsknapp zu umreien, (2) die Inkonsistenzen wichtiger theoriegeschichtlich berkomme-ner Antworten anzusprechen, um (3) mein - an G. Heinsohn und O. Steiger anschlie-endes und dem Anspruch nach konsistenztrchtigeres - Programm der Formulie-rung einer Antwort und den dazugehrigen Argumentationsgang zu skizzieren.

    26 P.C. Martin/W. Lftl: Der Kapitalismus. Mnchen 1986.27 H.J. Stadermann: Geldwirtschaft und Geldpolitik. Einfhrung in die Grundlagen. Wiesba-den: Gabler 1994.28 H. Illig: Chronologie und Katastrophismus. Graefelfing: Mantis 1992; C. Blss: Jenseitsvon Darwin. Neue Perspektiven der Naturgeschichte. Ffm: Eichborn 1988; G. Heinsohn: Ursprungund Niedergang des Opfers und der Gtter. Grundlegung der Religionstheorie. Manuskript, Univer-sitt Bremen, erscheint 1997 bei Rohwolt, S. 32-46

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    2. Erste Annherung

    Welcher Zusammenhang besteht zwischen den Basisstrukturen der abendlndischenZivilisation und den widersprchlichen subjektiven Befindlichkeiten und sozialen Bezie-hungen der in ihr lebenden Menschen? Die abendlndische Zivilisation sei hier in ersterAnnherung Eigentumsgesellschaft29 genannt. Die typische Befindlichkeit in dieser sollhier in Anlehnung an einen bekannten Aufsatz S. Freuds Unbehagen in der Kultur hei-en, das in Form widersprchlicher Motivations-/Begrndungskonstellationen erfahrenwird, die bei Unfhigkeit zu unter realistischem Realittsverlust vollzogener Verdrn-gung bzw. Weginterpretation einer Seite des Widerspruchs schlimmstenfalls zu Hand-lungsunfhigkeit (psychische Strungen)30 fhren knnen. Die Formen des Unbeha-gens knnen bis hin zu Selbstzerstrung wider besseres Wissen gehen (wie etwa beider Zerstrung der natrlichen Lebensgrundlagen).Die Krisenphnomene, die diese Zivilisation in ihrer heutigen Version kennzeichnen,sind hinlnglich bekannt und brauchen daher hier nicht erneut aufgelistet zu werden.Mangel herrscht nicht an Krisenbeschreibungen und mehr oder weniger lautstarkenKlagen, sondern an einer zureichenden Analyse. Nur eine solche knnte ihr gegenberwirklich handlungsfhig machen. Ich behaupte, da dieser Mangel in der Unfhigkeitder Gesellschaftswissenschaften begrndet liegt, die Basisstrukturen der abendlndi-schen Zivilisation, bes. ihrer dynamischen modernen Version, zureichend verstndlichmachen zu knnen.

    Damit habe ich die Hypothese formuliert, da wesentliche Dimensionen jenes Unbeha-gens nicht naturgegeben, sondern in historisch und kulturell spezifischen gesellschaftli-chen Reproduktionszusammenhngen begrndet sind. Bereits diese These knnteangezweifelt werden. Ich mu sie hier jedoch zunchst als (unbewiesene) Hypothesestehenlassen, um der Frage berhaupt nachgehen zu knnen. Schon jenseits der przi-sen Klrung der typischen Begrndungszusammenhnge jenes Unbehagens gibt esjedoch Beobachtungen, die meine Hypothese vorlufig begnden helfen knnen. Dennich bin nicht der erste, der sie formuliert.

    Kulturvergleichende ethnopsychiatrische Beobachtungen haben gezeigt, da bestimmteTypen psychischer Strungen, z.B. Schizophrenie, an ganz bestimmte kulturelleStrukturen gebunden sind:

    Alsheimer/Wulff stellten whrend eines mehrjhrigen Aufenthalts in Hu fest, da dieVietnamesen in ihrer Sprache keine Mglichkeit haben, die uns selbstverstndliche

    29 Den Terminus Eigentumsgesellschaft bernehme ich von Gunnar Heinsohn und Otto

    Steiger. Er tritt an die Stelle der heute gebruchlichen Begriffe abendlndische Zivilisation, br-gerliche Gesellschaft, Kapitalismus, Marktwirtschaft und Geldwirtschaft. Die Grnde frdiese Begriffsentscheidung werden im Teil 4 ausfhrlicher dargelegt. Ich unterscheide mitHeinsohn/Steiger zwei Formen der Eigentumsgesellschaft: antike und moderne. In der modernenForm herrscht allgemeine Freiheit/Gleichheit: die freie Lohnarbeit tritt an die Stelle der antikenSklaverei. Mehr dazu in Teil 3.30 Da zivilisatorische Normalitt und psychische Strung ziemlich nahe beieinander-liegen knnen und sich eher graduell als prinzipiell voneinander unterscheiden, kann als bahnbre-chende Einsicht der Psychoanalyse verbucht werden. Auch in der lapidaren Bemerkung des galli-schen Stammesmitglieds Obelix gegenber den der antiken Version der abendlndischen Zivilisa-tion entstammenden Rmern: "Die spinnen, die Rmer!" ist ein Moment dieser Einsicht festgehal-ten.

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    Form der individuellen Identitt auszudrcken und da ihnen auch die logische Formder Identitt bzw. die darin grndenden Kategorien des rationalen Denkens fremd sind.Andrerseits konnte er kein einziges Mal unter seinen zahlreichen vietnamesischen Pa-tienten Ich-Strungen in Form von Strungen des Ich-Bewutseins (als Schizophrenie)feststellen.31

    Unbehagen ist im Lauf der abendlndischen Theoriegeschichte immer wieder deskriptivmit Zins (Kapital) und Geld in Verbindung gebracht worden, die hufig als naturwidrigbezeichnet wurden, ohne da diese Phnomene jedoch begriffen worden wren. Meistlassen sich hier lediglich Klagen, moralische Urteile oder Ratlosigkeit feststellen. EineZitatauswahl soll hier prsentiert werden. Aristoteles (384-322 v. Chr.) etwa schreibt:

    Der Zins aber ist Geld vom Geld, so da von allen Erwerbszweigen dieser der natur-widrigste.32

    und unterscheidet die dem guten Leben zugeordnete, auf die Befriedigung begrenzterBedrfnisse gerichtete konomik von der auf schrankenlosen Reichtumserwerbgerichteten Chrematistik33. Eine Erklrung des Zinses gibt er nicht. Sophokles (496-406 v. Chr) klagt ber das Geld:

    Denn kein so schmhlich bel, wie des Geldes Wert,Erwuchs den Menschen: dies vermag die Stdte selbst,zu brechen, dies treibt Mnner aus von Hof und Herd;Dies unterweiset und verkehrt den edlen SinnRechtschaff `ner Mnner, nachzugeh `n ruchloser Tat,Zeigt an die Wege bser List den SterblichenUnd bildet sie zu jedem gottverhaten Werk.34

    William Shakespeare (1564-1616) schreibt:Gold! kostbar, flimmernd, rotes Gold!Soviel hiervon, macht schwarz wei, hlich schn;schlecht gut, alt jung, feig tapfer, niedrig edel.... Ihr Gtter! warum dies? warum dies, Gtter;

    Er ist offensichtlich ratlos. Die Gtter drften hier kaum zuverlssige Auskunft geben.Daher kann Shakespeare weiter unten nur noch fluchen:

    ... Verdammt Metall,Gemeine Hure du der Menschen.35

    Max Weber schreibt um 1920 ber die protestantische Ethik und den Geist des Kapita-lismus:

    Vor allem ist das Summum bonum dieser Ethik: der Erwerb von Geld und und immermehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genieens, so gnzlichaller eudmonistischen oder gar hedonistischen Gesichstpunkte entkleidet, so rein alsSelbstzweck gedacht, da es als etwas gegenber dem Glck oder dem Nutzen deseinzelnen Individuums jedenfalls gnzlich transzendentes und schlechthin irrationales(!) erscheint. Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehrdas Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materi-

    31 R. W. Mller: Geld und Geist. Zur Entstehung von Identittsbewutsein und Rationalitt

    seit der Antike. Ffm: Campus 1977, S. 1132

    Aristoteles: De Republica, lib. I, c.10, zit. n. Marx, MEW 23, S. 17933

    vgl. Marx Zusammenfassung in MEW 23, S. 167, FN 634

    Sophokles: Antigone. zit. n. Marx, MEW 23, S. 14635

    Shakespeare: Timon of Athens, zit. n. Marx, MEW 23, S. 146

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    ellen Bedrfnisse bezogen. Diese fr das unbefangene Empfinden schlechthin sinnloseUmkehrung des, wie wir sagen wrden, natrlichen Sachverhalts (!) ist nun ganz of-fenbar ebenso unbedingt ein Leitmotiv des Kapitalismus, wie sie dem von seinem Hau-che nicht berhrten Menschen fremd ist Aber sie enhlt zugleich eine Empfindungs-reihe, welche sich mit gewissen religisen Vorstellungen eng berhrt. Fragt man nm-lich: warum denn aus Geld mehr Geld gemacht werden soll, so antwortet BenjaminFranklin, obwohl selbst konfessionell farbloser Deist, in seiner Autobiographie daraufmit einem Bibelspruch, den, wie er sagt, sein streng calvinistischer Vater ihm in der Ju-gend immer wieder eingeprgt habe Siehst Du einen Menschen rstig in seinem Beruf,so soll er vor Knigen stehen. Der Gelderwerb ist - sofern er in legaler Weise erfolgt -innerhalb der modernen Wirtschaftsordnung das Resultat und der Ausdruck der Tch-tigkeit im Beruf, und diese Tchtigkeit ist, wie nun unschwer zu erkennen ist, das wirkli-che A und O der Moral Franklins, wie sie in der zitierten Stelle ebenso wie in allen sei-nen Schriften ohne Ausnahme uns entgegentritt."36

    Auch er sieht also - hnlich wie Aristoteles - im schrankenlosen Gelderwerb eine sinn-lose Umkehrung des natrlichen Sachverhalts, die vom Standpunkt der Bedrfnisbe-friedigung aus irrational sei. Er zeigt auch, wie Erklrungsversuche dieses Gelder-werbs schnell in religise Apriorismen abgleiten, die nichts erklren, sondern zureichen-de Erklrungen blockieren. Eine zureichende Erklrung fr den schrankenlosen Gel-derwerb liefert Weber selbst aber ebenfalls nicht.

    Klaus Holzkamp bringt 1983 das Unbewute und die damit verbundene unbehaglicheSelbstfeindschaft mit dem Kapital in Verbindung, welches fr ihn nicht mit denHerrschenden oder ihrer Rationalitt identisch ist, ansonsten bei ihm aber sehrunbestimmt bleibt:

    Das Unbewute ist weder eine anthropologische Letztheit, noch ist es irrational. Es istvielmehr das Implikat der subjektiven Begrndetheit eines Handlungsrahmens, der sichder Rationalitt der Herrschenden, letzlich des Kapitals, unterwirft, wobei sich geradedadurch, da das Individuum in diesem Rahmen rational handelt, es sich selbst zumFeinde werden mu.37

    Wir sehen also: die empirische Korrelation von Unbehagen (i.w.S.) und bestimmtenZivilisationsmerkmalen - Zins und Geld - ist oft bemerkt worden (naturwidrig,schmhlich bel, schlechthin irrational, Selbstfeindschaft). Wie aber sieht es mitder Erklrung dieser Phnomene aus?

    Zins und Geld keine Naturprodukte, sondern von Menschen geschaffen. Tiere kennensie nicht, sogenannte primitive Gesellschaften ebenfalls nicht. Zins und Geld sindhistorisch und kulturell spezifische Phnomene, wie die ethnologische Forschung immerwieder hervorgehoben hat. Es sollte also auch nicht schwer sein, ihre Herkunft undBedeutung zu begreifen und sie damit ggf. beherrschbar zu machen.

    Machen wir daher nun einen Sprung in die Moderne, das Zeitalter der Wissenschaft.Vielleicht hat ja der wissenschaftliche Fortschritt mittlerweile alles wesentliche berZins und Geld geklrt, und es handelt sich lediglich um ein Research-Problem. Wasknnen uns also die Vertreter der Sozialwissenschaft ber Geld sagen, in deren Zu-stndigkeitsbereich die Erklrung offensichtlich fllt? Wo kommt es her? Wer hat es zuwelchem Zweck geschaffen? Was hat es mit der Zivilisation zu tun und wieso kommenprimitive Gesellschaften offensichtlich auch ohne Geld aus?

    36 M. Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Gtersloh: GTB1991, S. 4437

    GdP, S. 381

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    Betrachten wir zunchst die Geldentstehung. Wie enstand aus einer traditionalen, sta-tionren Subsistenzreproduktion eine dynamische geldwirtschaftliche Produktion?`

    Im 1930 erschienenen "Treatise on Money" des konomen, der als einziger Revoutio-nr der Wirtschaftstheorie des 20. Jahrhunderts gilt, John Maynard Keynes, lesen wirhierzu dunkle Vermutungen:

    "Geld, wie auch andere Wesensmerkmale der Zivilisation, ist eine viel ltere Institution,als man uns noch krzlich glauben machen wollte. Seine Ursprnge verlieren sich inden Nebelzeiten des schmelzenden Eises; sie mgen sich wohl bis in jene paradiesi-schen Perioden zwischen den Eiszeiten zurckerstrecken, als das Wetter schn undder unbeschwerte Geist der Menschen empfnglich fr neue Ideen - zu den Inseln derHesperiden oder Atlantis oder zu einem Eden Zentralasiens."38

    Der konom Wilhem Roepke informiert hierzu 1937, knapp 1500 Jahre nach Sophoklesund 17 Jahre nach Weber und 7 Jahre nach Keynes:

    Niemand wei, wie das Geld zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte entstan-den ist.39

    44 Jahre spter hren wir von Katsushito Iwai:"Geld ist ein paradoxes Wesen. Sein Ursprung ist - hnlich dem der Sprache - ein Rt-sel der Menschheitsgeschichte."40

    Rtsel der Menschheitsgeschichte! Wieder kollabiert ein guter Teil des von Holzkamptreffend so genannten Weltbilds der bekannten Tatsachen und gelsten Probleme,das an Schulen und Universitten von den zustndigen Bildungsbeamten und den soam laufenden Band weiterproduzierten denkfaulen Verwaltern des theoretischen StatusQuo so gern vermittelt wird.

    Und 1984 berichtet Joachim Hltz ber seine Recherchen:"Das Problem ist nun aber, da ber die Entstehung des Geldes in der Literatur ber-haupt kein Konsensus besteht. Wie ich noch zeigen werde, geben die zahlreichenGeldentstehungslehren, die in den letzten Jahrhunderten aufgestellt worden sind, aufdie Fragen, wann, wo, wie und warum Geld entstanden ist, die unterschiedlichstenAntworten."41

    Es gibt jedoch auch konomen, die die Ratlosigkeit der oben zitierten Autoren nichtteilen und auch von unterschiedlichen Geldentstehungstheorien nichts zu wissen schei-nen. Fr diese Autoren scheint berhaupt kein Klrungsbedarf zu bestehen, da alleswesentliche lngst geklrt sei und es gar keine offenen Fragen gebe. So belehrt unsetwa der bekannte konom John Kenneth Galbraith:

    38 J.M. Keynes: A Treatise on Money. Vol. 1: The Pure Theory of Money (1930), in: TheCollected Writings of John Maynard Keynes. Vol. 5. London: Macmillan 1971, S. 11f., zit. n. EZG,D / 1 / 439

    W. Roepke, Die Lehre von der Wirtschaft, Wien 1937, S. 78, zit. n. G. Heinsohn, Privat-eigentum, Patriarchat, Geldwirtschaft. Eine sozialtheoretische Rekonstruktion zur Antike. Ffm:Suhrkamp 1984, S. 28 - im folgenden zitiert als PPG40

    Katsuhito Iwai, Disequilibrium Dynamics. A Theoretical Analysis of Inflation and Unem-ployment, New Haven and London: Yale University Press, 1981, S. 113

    ("Money is a paradoxical entity. Its origin is, like that of language, an enigma inthe human history")41

    Joachim Hltz, Kritik der Geldentstehungstheorien. Carl Menger, Wilhelm Gerloff undeine Untersuchung ber die Entstehung des Geldes im alten gypten und Mesopotamien, Berlin:Dietrich Reimer, 1984 (Mainzer Ethnologische Arbeiten Band 5) S. VI

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    Auf der ersten Stufe sind die Dinge - ganz wie man es erwarten mu (?, WT) - nochwunderbar einfach. Es war doch ausgesprochen schwierig fr einen Schafbesitzer, dersich einen Leinenrock nach der letzen Mode (!) wnschte, einen Mann zu finden, derhbsche Leinensachen hatte und selbst ein Schaf wollte. Deshalb haben sich irgend-wann in der Vorgeschichte (!) Leute darauf geeinigt, eine bequeme Tauschware einzu-fhren, die leicht transportabel und haltbar war und die sie fr alles, was sie verkaufenwollten, anzunehmen bereit waren. Diese konnten sie dann halten und zu der Personbringen, von der sie etwas kaufen wollten. Sie konnten sie aber auch nur behalten undso zu Wertbesitzern werden. Dieser Vorgang fhrt dann zu den eher langweiligen Kli-schees unserer Lehrbcher. Geld ist ein Mittler des Tauschprozesses und deshalb einTauschmittel: es mit im Tausch den Wert anderer Dinge und ist somit ein Wertmes-ser. Da es gehalten werden kann, ist es auch ein Wertaufbewahrungsmittel. Millionenvon Studenten wurden mit diesen Krzeln traktiert, und sie sind auch ganz richtig.42

    Irgendwann in der Vorgeschichte wird also der Urspung des Geldes verortet; sonder-lich przise ist das allerdings nicht. Da das Geld irgendwie und irgendwann in grauerVorzeit zur Erleichterung des sich von selbst evolutionr allmhlich ausdifferenzieren-den Gtertauschs geschaffen worden sei, ist tatschlich eine empirisch nie geprftedogmatische Wahrheitssetzung, mit der seit Adam Smith tatschlich Millionen von Stu-denten traktiert werden - was allerdings ihre Richtigkeit keineswegs garantiert. DieMarxsche Version dieser tauschparadigmatischen spekulativen Gelderklrung - er sichtdas Geld zur Erleichterung des Austauschs eines unerklrten berschusses an denGrenzen der ursprnglichen Gemeinwesen in die Welt kommen - wird uns untennoch ausfhrlich beschftigen. Hier mssen wir jedenfalls schon unseren Dank an Joa-chim Hltz aussprechen, da er die Dogmen ("ganz richtig") der konomen nicht nach-betet, sondern empirisch konstatiert, da es nicht nur noch andere Geldursprungstheo-rien gibt als die, der die Masse der konomieprofessoren jenseits jeglicher ernsthafterempirischer Prfung, sondern in gewohnheitsmiger Praxis der Reproduktion des inden Bchern der Fachautoritten gelesenen huldigt, sondern auch, da keine dieserTheorien konsensfhig ist. Festhalten knnen wir hier jedoch, da das nicht nur vonGalbraith und den Lehrbuchautoren praktizierte systematische Ignorieren der Unge-klrtheit der Grundbegriffe der Gesellschaftswissenschaft eine eigene wissenschaftshi-storische und wissenschaftssoziologische/-psychologische Untersuchung wert wre, diedie Frage zu beantworten htte: was soll mit dem Vermeiden des Stellens der wesentli-chen Fragen vermieden werden?

    Was hat die heutige Wirtschaftswissenschaft ber die Bedeutung des Geldes fr dieWirtschaftssubjekte und ber seine Funktionen, seine Rolle im Proze der Zivilisationsonst noch zu sagen? Es gibt auch konomen, die hinsichtlich eines offensichtlichzentralen Begriffs wie dem des Geldes wesentlich selbstkritischer als Galbraith zu Wer-ke gehen.

    R.W. Clower etwa kann uns berichten:Die heute verfgbaren Theorien ber Geld gehren zu den unfertigsten Bestandteilender konomischen Analyse. Geld mag im wirklichen Leben eine offensichtliche Rollespielen. In der herrschenden Geldtheorie ist seine Stellung jedoch alles andere alsdurchsichtig.43

    42 J.K. Galbraith/N. Salinger: Almost Everyones Guide to Economics, Har-

    mondsworth/Middlesex 1981, S. 87f., zit. n. PPG, S. 32f.43

    R.W. Clower, Monetary Theory - Selected Readings, Hammondsworth 1969, S. 7, zit. n.PPG, S. 28

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    ber das bestentwickelte Modell der Wirtschaft, der neoklassischen allgemeinenGleichgewichtstheorie, die seit einigen Jahrzehnten alle Nobelpreistrger fr konomiestellt, werden wir von F.H. Hahn informiert:

    "Die schwerste Herausforderung fr den Theoretiker besteht darin, da die Existenzvon Geld in dem am besten entwickelten Modell der Wirtschaft nicht unterzubringenist"44

    In der Wirtschaftswissenschaft also ist das Geld, das doch im Alltag die alles bestim-mende zentrale Rolle spielt, gar nicht unterzubringen. Die Nobelpreise scheinen alsooffensichtlich fr etwas anderes als Gesellschaftserklrung vergeben zu werden.

    Nun gibt es neben den Sozialwissenschaften durchaus noch andere Quellen, die manbei der Frage nach Herkunft, Bedeutung und Funktion des Geldes befragen knnte.Bekanntlich gibt es in den Sozialwissenschaften einen Theorie-Praxis-Bruch. Besagtdieser vielleicht im Endeffekt lediglich, da nur die Praktiker Bescheid wissen, die Theo-retiker aber nicht?

    berlegen wir also, wie im Alltag ber Geld gedacht wird.So unsicher die Leute sich darber sind, was Geld ist und wo es herkommt, so sicherscheinen sie sich jedoch einer Tatsache zu sein: Sie haben zuwenig davon. Mindestensim Vergleich zu den anderen und dem, was die dafr arbeiten. Und erst recht im Ver-hltnis zu denen, die vom Staat oder aus der Verzinsung von Eigentum ohne ArbeitGeld kassieren. Oder gar Studenten, die bekanntlich als faul gelten und fr ihre Ausbil-dung nichts bezahlen mssen. Diese selbst sind wiederum ebenfalls der Meinung, siebekmen nicht genug und wrden lediglich abgezockt. Mehr Geld an die Unis!! Geldscheint immer und berall knapp zu sein. berall gibt es einen Kostendruck, berallmu gespart werden. Die, an denen gespart werden soll, sagen wiederum, da das mitder Geldknappheit berhaupt nicht stimme. Das Geld sei da, und der Sparzwang seilediglich dem bsen Willen der Herrschenden geschuldet, die von ihrem (in Kisten, garswimmingpools la Dagobert Duck?) angehuften Geld nichts herausrcken wollenoder es an der falschen Stelle ausgeben. Es sei von diesen blo mglichst militanteinzuklagen. Gegebenenfalls solle lieber bei anderen gespart werden, am Bestenjedoch gar nicht.Alle diese Leute wissen zwar nicht, was Geld ist und wo es herkommt, auch nicht, wodas ganze Geld, das angeblich da sein soll, eigentlich rumliegt und was es da macht.Es interessiert sie auch gar nicht. Sie kommen meist auch nicht darauf, einmal etwasnher nachzufragen. Aber sie wissen immerhin: alles dreht sich um Geld. Geld ist im-mer irgendwie knapp. Und wer keins hat, der ist dumm dran. Denn er kriegt z.B. nix zuessen oder keine Wohnung. Menschsein allein reicht dazu offensichtlich in unsererZivilisation nicht. Man mu auch viel arbeiten, weshalb manche Sozialwissenschaftlerdiese Gesellschaft zuweilen auch Arbeitsgesellschaft genannt haben. Und Arbeitenist z.B. ein bischen schwierig ohne Arbeitsplatz oder bewirtschaftbares Eigentum berdie eigene Arbeitskraft hinaus, das doppelt freien Lohnarbeitern bekanntlich fehlt. Ar-beiten will zwar eigentlich keiner so recht. Aber am lautesten wird geschrieen, wennman keinen Arbeitsplatz kriegt. Oder, wer Geld hat, kann sein Geld fr sich arbei-ten lassen. Das wird dann von selber mehr, wenn es auf der Bank rumliegt und Zinsenabwirft. Daher kommt es darauf an, dafr zu sorgen, da mglichst viel von diesem

    44 Frank H. Hahn: Money and Inflation. Oxford: Basil Blackwell, 1982, S. 1

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    Geld in je meiner Tasche klimpert. Oder besser noch: auf der Bank angelegt ist. Denndas gibt doch ein gutes Gefhl der Sicherheit.

    Ohne Geld kann keiner berleben, obwohl man es bekanntlich, wie einmal ein weiserIndianer gesagt haben soll, nicht essen kann45. "Geld regiert die Welt". Und da sollkeiner wissen, wo es herkommt? Nichtmal die Banken? Wieso es Geld berhaupt gibt?Und wieso es auch Gesellschaften ohne Geld gibt? Soll das ein Witz sein oder ist es diebittere Wahrheit? Gegenfrage. Kann eine Sozialwissenschaft, die das Geld nicht ver-steht, sich berhaupt Wissenschaft nennen?

    Money makes the world go round, das wei jedes Kind. Aber wieso eigentlich? Daswei offensichtlich keiner so genau. So schwer kann doch diese Frage nicht zu beant-worten sein! Offensichtlich leider doch. Angesichts der Tatsache, da man beim Re-cherchieren der Frage, wie das mit dem Geld ist lediglich auf fadenscheinige undleicht widerlegbare, also nicht berzeugende Erklrungen, offen eingestandene Ratlo-sigkeit oder zirkulre Erklrungen (s.u.) stt, fhlt man sich an den Spruch erinnert:Alles klar, keiner wei Bescheid!.

    Nun aber mal im Ernst. Es gibt ja noch ganz andere Rtsel, die vielleicht irgendwas mitGeld zu tun haben knnten. Der Widerspruch zwischen Natur und Kultur (Gesell-schaft, Zivilisation) und die Frage nach der Entstehung der Kultur aus der Naturdurchzieht als Aporie46 die gesamte abendlndische Theoriegeschichte47. Die Beob-achtung, da rastlose Berufsarbeit (Max Weber) und der dazugehrige Berufsstre,die korrespondierende, als schlechtes Gewissen erlebte protestantische Pflichtethik48

    und die Unfhigkeit zum entspannten Genieen, das vom schlechten Gewissen perma-nent durchkreuzt wird ("eigentlich sollte ich noch arbeiten") etc. spezifisch fr dieabendlndische Zivilisation sind und in traditionalen Stammesgesellschaften fehlen, istwohl unstrittig49. Das zuncht als Fortschritt vielbewunderte, seit dem 1972er Berichtdes Club of Rome dann auch viel beklagte "Wachstum", dessen Korrelat auf individuel-ler Seite die abstrakte Forderung nach "Leistung(sbereitschaft/motivation)" und "Innova-tivitt" ist, scheint - wie der Marxist Karl Hermann Tjaden konstatiert, ebenfalls unbe-griffen zu sein:

    "Im Bewutsein und in der Wirklichkeit der verschiedenen Gesellschaften der Gegen-wart spielen die Produktivitt der gesellschaftlichen Arbeit und ein hierauf bezogenerwissenschaftlich-technischer Fortschritt eine groe Rolle. Dies ist so, obwohl die Fra-gen nach der politisch-moralischen Bedeutung und nach den geschichtlich-gesellschaftlichen Grnden dieser Produktivitt und dieses Fortschritts sehr umstritten

    45 steht auf so einem Aufkleber drauf, den in den 80ern Grn-Alternative gern ans Heckihrer Rostlaube gepappt haben46

    Aporie: Ausweglosigkeit, Unmglichkeit, eine philosoph. Frage zu lsen [grch. aporia; zuaporos weglos, ratlos]. (Deutsches Wrterbuch, hg. v. Gerhard Wahrig, Berlin: Bertelsmann1968, S.430)47 Der Versuch der Kritischen Psychologie, mit der logisch-historischen Rekonstruktionder Unmittelbarkeitsdurchbrechung diese Aporie aufzulsen, wird unten noch ausfhrlich zuuntersuchen sein.48 vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Gtersloh:GTB 1991.49 s.a. E. Bll: Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral, die eine schne Beschreibung deszivilisatorischen Phnomens der rastlosen Berufsarbeit liefert. vgl. auch R. Kurz: Postmarxismusund Arbeitsfetisch. Zum historischen Widerspruch in der Marxschen Theorie. KRISIS, Beitrge zurKritik der Warengesellschaft 15, 1995, S. 95-127

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    und eigentlich nirgendwo hinreichend beantwortet sind ... die gezielte Umsetzung vonWissen in Fortschritt von Technik wird zur wissenschaftlich-technischen Revolution,ein bislang eigentlich nur phnomenologisch gefater, also ein Schein-Begriff."50

    Und der konom Fredmund Malik schreibt:"Die Betriebswirtschaftslehre sucht die Quellen der Wirtschaftdynamik vorwiegend infolgenden Bereichen: Dem Gewinn und der Gewinnmaximierung/-optimierung als ober-stem Ziel der Unternehmensfhrung; der Wachstumsorientierung von Unternehmernund Managern als Folge des Kostendrucks und/oder als generellem, nicht weiter hin-terfragtem Wert (Stillstand bedeutet Rckschritt); der Figur des dynamischen Unter-nehmers, sei es als Entrepreneur oder Intrapreneur; dem allgemeinen Konkurrenz-druck; der Produktivittsverbesserung als Folge technischen Fortschritts und/oder neu-er Wissensbestnde; der Innovation als Folge technischen Fortschritts und/oder neuerWissensbestnde. Gleichzeitig befassen sich weder die Betriebswirtschaftslehre alsWissenschaft noch die Praxis mit den Fundamenten und Mechanismen einer Geldwirt-schaft. Eine auf Geld basierende Wirtschaft wird genauso als Selbstverstndlichkeitaufgefat, wie der Fisch das Wasser als Selbstverstndlichkeit nimmt; sie ist sozusa-gen ein a priori. Mit der Geldwirtschaft verbundene Phnomene sind zwar Gegenstandvon Analysen und Entscheidungen - wie z.B. Inflation, Hhe und Bewegungstendenzenvon Zinsstzen usw. - nicht aber die Geldwirtschaft als solche. (...) Die Kenntnis desGesamtsystems Geldwirtschaft und jene der Vorgnge innerhalb der Unternehmensind aber unverzichtbar, wenn man die Dynamik einer Geldwirtschaft, deren Entste-hung und Ursachen, verstehen will."51

    All diese Formulierungen legen die Vermutung nahe, da es um die Gesellschaftswis-senschaften nicht besser bestellt ist als Klaus Holzkamp es 1977 fr die Psychologiekonstatieren mute52: sie befinden sich im vorparadigmatischen, krasser: vorwissen-schaftlichen Zustand.

    Hier soll nun nicht a priori fr oder gegen Zivilisation, rastlose Berufsarbeit, Wohl-stand oder Nichtwohlstand, Klassenherrschaft, Fortschritt usw. Partei genommenwerden. Diese Phnomene sollen vielmehr verstndlich gemacht werden. Eine begrn-dete Entscheidung dafr oder dagegen kann nicht am Beginn, sondern erst amEnde einer derartigen Untersuchung stehen. Am Beginn steht ein Problem, das nichtlsbar ist, weil es nicht begriffen ist und daher unklar ist, wo die Hebel anzusetzen sind.Konkrete und differenzierte Strategien knnen nur aus einer differenzierten Analyseresultieren, fr die hier die Grundbegriffe gesucht werden. Abstraktes Einfordern einerParteilichkeit fr irgendeine Sache des Fortschritts und der Gerechtigkeit53, ohneda deren Inhalt analytisch fundiert und klar kommunizierbar wre, knnen weder be-friedigen noch differenzierte problembezogene Handlungsanleitungen geben. Sie kn-nen als hilflose moralische Apelle trotz allen guten Willens in dieser Form nicht ber-zeugen, sondern bestenfalls den Ausgangspunkt einer zureichenden Analyse markie-ren. Deren Ergebnis darf aber nicht durch irreversible Parteinahme a priori schonvorherbestimmt werden. Dies verzerrte die Analyse und schlge im Ergebnis lediglichauf die Handlungsfhigkeit dem Gegenstand gegenber zurck (ein gerade im Marxis-mus - aber nicht nur dort - wohlbekanntes Phnomen). De facto hat die Konzentration

    50 K.H. Tjaden: Mensch, Gesellschaftsformation, Biosphre. ber die gesellschaftlicheDialektik des Verhltnisses von Mensch und Natur. Marburg 1992, S. 15/22, meine Herv.51 F. Malik: Verschuldung und Wachstumszwang. In: H.C. Binswanger/P.v. Flotow: Geldund Wachstum. Zu Philosophie und Praxis des Geldes. Stuttgart/Wien 1994, S. 125f., meine Herv.52 K. Holzkamp: Die berwindung der wissenschaftlichen Beliebigkeit psychologischerTheorien durch die Kritische Psychologie. Zeitschr. f. Sozialpsychologie 8, 1977, S. 1-22 und 78-97.53 M 2, S. 442

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    auf derartige Begriffe oder besser Begriffslosigkeiten m.E. zureichende Gesellschafts-analyse bereits jahrzehntelang schwer behindert.Es kann auch nicht angehen, die Marxsche Theorie - obwohl sie tatschlich als For-schungsprogramm gegenber herrschenden Forschungsprogrammen Vorzge aufweist- einfach als richtig vorauszusetzen und eine kritische berprfung zu unterlassen. Diesschon deshalb nicht, weil Marx sein Hauptwerk (von ihm selbst mehrfach "die ganzeScheie" tituliert54) bekanntlich entnervt unfertig in der Schublade liegenlie. DieseArbeit unterscheidet sich also von bisherigen kritisch-psychologischen Arbeiten darin,Marx nicht einfach ohne ernsthafte berprfung zu bernehmen oder - neuerdings - alsKomplementrversion unkritisch fallenzulassen. Vielmehr wird die Frage nach denSchwachpunkten seiner Theorie aufgeworfen, um eine zureichende (und das heitletzlich auch: konsensfhige) Gesellschaftstheorie schreiben zu knnen.Im Verlauf der Untersuchung mu sich zeigen, ob typische, in den Strukturen derabendlndischen Zivilisation begrndete Motivationskonflikte herausgearbeitet werdenknnen, die die Hypothese vom kulturell begrndeten Unbehagen sttzen und belegenknnen.

    Wenn man den Zusammenhang bestimmter Leiden mit der Struktur der Gesellschaftund den widersprchlichen Anforderungen, die sie fr die Individuen bereithlt zu-nchst einmal akzeptiert, ergibt sich ein breites Spektrum weiterer Fragen, die in unter-schiedliche Wissensgebiete hineinfhren. Einige knnten lauten:

    Warum sind die Individuen von ihrem Leben unter diesen Umstnden zwar nichtunbedingt begeistert, akzeptieren es aber letztlich doch als unvermeidlich, oft ohnesich weitere Gedanken ber Alternativen zu machen?

    Warum schaffen die Menschen die sie bedrckenden Verhltnisse nicht einfach ab?Wissen sie nicht, was dazu zu tun wre? Woran das Unbehagen liegt? Halten sie esfr naturgegeben? Oder haben sie blo Angst vor den Herrschenden oder herr-schenden Instanzen, wie die Kritische Psychologie meint? Oder haben sie keinepraktisch umsetzbare Idee, wie man es denn sonst machen knnte?

    Welche Alternativen nichtrepressiver Gesellschaftlichkeit wren berhaupt denk-bar und wie knnten diese konkret aussehen? Wie mte sie von der gegebenenGesellschaftsstruktur differieren? Was htte man sich von einer solchen anderenForm der gesellschaftlichen Reproduktion zu erwarten? Was bliebe gleich, was n-derte sich? Wieso erfllten sich die Erwartungen in die gehabte Alternative Realso-zialismus nicht?

    Was ist berhaupt das Repressive an der modernen Gesellschaft? Die Herr-schenden, wie manche Marxisten meinen? Die unpersnliche Macht des Kapi-tals, wie manche anderen Marxisten meinen? Gar der liebe Gott, der einem ohnerastlose Berufsarbeit und sexuelle Enthaltsamkeit (auer bei der ehelichen Kinder-produktion) die Heilsgewiheit nicht gibt, wie die Protestanten meinen? Und wiekonnte eine Gesellschaft, die offensichtlich biologische Bedrfnisse unterdrckenkann, berhaupt jemals geschaffen werden? Mu man nicht annehmen, da Men-schen eine derartige Gesellschaft kaum aus freien Stcken selbst geschaffen ht-ten? Bei den fr sie typischen Leiden also doch unaufhebbar naturgegebene vorlie-

    54 z.B. MEW 29, S. 312

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    gen? Die biologische Bedrfnisse unterdrckende Gesellschaft mu ja von Men-schen geschaffen worden sein, die selbst nur durch biologische Bedrfnisse moti-viert sein konnten! Wo aber ein biologisches Bedrfnis zur Selbstunterdrckungherkommen soll, das bleibt zunchst rtselhaft. Die gngige religise Deutung die-ses Leidens als Strafe Gottes mu zwar einerseits selbst begrndungsanalytischverstehbar zu machen sein, kann aber andererseits in derart isolierter Form nicht alsErklrung akzeptiert werden, sondern wre selber zu erklren.

    Die Gesellschaft ist kein Subjekt, sondern Produkt des Zusammenwirkens desHandelns einzelner in historisch (selbst-)geschaffenen gesellschaftlichen Bedeu-tungsstrukturen. Wenn daher gesagt wird, die Gesellschaft unterdrcke die Ein-zelnen, ist das keine Erklrung, sondern erst einmal eine oberflchliche Beschrei-bung, vielleicht sogar irrefhrend. Die Unterdrckung etc. wird von den Menschenselbst produziert, obwohl sie auch darunter leiden. Bei der Herrschaft handelt essich also offensichtlich um Selbstbeherrschung. Wie aber kann das sein? Das ist einWiderspruch, der doch zweifellos so zutrifft. Ist die Unterdrckung also doch natur-gegeben? Aber wie soll die Natur natrliche Bedrfnisse unterdrcken? Ist vielleichtder Begriff der Demokratie (Volksherrschaft: alle Gewalt geht vom Volk aus) als"Selbstbeherrschung des Volks" ein Hinweis in Richtung auf die Frage nach Ur-sprung und Begrndungszusammenhang der "Herrschaft"?

    Wer knnte warum ein Interesse an der Schaffung derartiger gesellschaftlicherStrukturen gehabt haben, und woher dieses historisch und kulturell besondere - daja nicht berall und immer vorliegende - Interesse? Was sagt z.B. die Geschichts-wissenschaft ber die Entstehung dieser abendlndischen Zivilisation?

    Gibt es nicht auch Leiden, die nichts mit der Gesellschaft zu tun haben, sondernbiologisch bedingt und unaufhebbar sind? Und wie kann man gesellschaftlich be-grndete und biologisch bedingte Leiden auseinanderhalten?

    Warum mndet das so gngige (und nicht ganz unberechtigte) Jammern ber dieGesellschaft so oft in leere Phrasendrescherei und Skandieren jahrzehnte- bisjahrhundertealter Parolen einerseits und passive Resignation andererseits, so selten(bis nie) aber in eine zureichende und konsensfhige Analyse dessen, was passiert?Was machen eigentlich die ganzen Gesellschaftswissenschaftler und Historiker, dieoffensichtlich dazu da sind, hier Klarheit zu schaffen? usw. usf.

    Dieser Fragenkatalog mutet ziemlich umfangreich an. Ich kann schon die Einwndehren: seien Sie doch bescheiden, berheben sie sich nicht!55 Beschrnken Sie sich aufeine oder zwei der oben aufgelisteten Fragen - da haben Sie immer noch genug zu tun.Ich kann leider nicht zustimmen, da hier Bescheidenheit eine Tugend sein soll. Denndiese Vorstellung enthlt eine unerkannte Voraussetzung: da nmlich die oben aufge-listete Fragen und Rtsel nichts miteinander zu tun haben und daher auch gesondert,jedes fr sich allein, bearbeitet werden msse. Diese Vorstellung lt auer acht, daes fr die Fragen und Rtsel gemeinsame Grnde geben knnte: fehlende bergreifen-de Einsichten, die den Zusammenhang der Fragen herstellen.56 Vielleicht knnen dann

    55 So in etwa Wolf Dieter Narr, in seinem Gutachten zum Antrag auf Frderung eines Pro-jekttutoriums, Titel: "Perspektiven der Marxschen konomiekritik" von mir und M. Jensch56 Diese "Methode" ist von Heinsohn aus dem Vorgehen Velikovskys nachtrglich heraus-abstrahiert worden und wird von ihm "parallele Rtselkumulation" genannt.

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    all diese Fragen von dieser bergreifenden Einsicht her gemeinsam aufgelst werden.Falls dem aber so wre, kann es nichts schaden, unbescheiden alle scheinbar isoliertenund ganz disparaten offenen Fragen gemeinsam im Hinterkopf zu behalten, wenn mansich ans Verstehen der gesellschaftlichen Basisstrukturen macht.

    Wenn diese Fragen beantwortet werden sollen, mu offensichtlich zunchst genauergeklrt werden, welche Aspekte der gesellschaftlichen Strukturen es eigentlich genausind, unter denen gelitten wird und wo diese herkommen, also, wieso es sie berhauptgibt. Diese Frage ist nicht neu, weshalb sie auch heute kaum einer mehr ernsthaft stel-len mag. Viele Theoretiker haben sich bereits daran versucht, dicke Bcher sind dar-ber geschrieben worden. Manche Theoretiker meinten, sie im Gegensatz zu ihrenKollegen beantwortet zu haben. Die Kollegen meinten wiederum, da Sie und nicht dieAnderen die Antwort htten. Wieder andere gaben zu, ratlos zu sein. Spter kamenauch Theoretikerinnen dazu. Sie stellten zustzlich fest, da all dies etwas mit demMann oder dem Mnnlichen zu tun haben msse. Und schlielich gab es auchTheoretikerInnen, die meinten, man solle die Forschung lieber gleich einstellen, weilman sowieso nichts herausbekommen knne, was ber philosophische und pseudowis-senschaftliche Spekulationen hinausgehe (eine sich in jngerer Zeit hherer Beliebtheiterfreuende Meinung). Einige dieser vielen Theoretiker sind mir bekannt. Deren Antwor-ten sollen zwecks weiterer Annherung an den Problemkern kurz skizziert werden.

    3. Theoriegeschichtliche Bezugspunkte

    Zwei fr die moderne Theoriegeschichte sehr einflureiche Klrungsversuche stammenvon Karl Marx (1818-1883), dem Begrnder des sogenannten wissenschaftlichen Sozia-lismus, dessen Theorie zwischen 1917-1989 im Realsozialismus in praktische Hand-lungsanleitungen umgesetzt und damit auch realgeschichtlich ungemein einflureichwurde, und von Sigmund Freud (1856-1939), Begrnder der Psychoanalyse.Beide Denker bildeten zentrale Quellen/Bezugspunkte der sog. 68er-Bewegung.Dieser Bewegung entstammt die Kritische Psychologie um Klaus Holzkamp (1927-1995)und KollegInnen, das Forschungsprogramm von Gunnar Heinsohn (*1944) und OttoSteiger (*1937?), das mit den Begriffen Eigentum, Zins und Geld, Bevlkerung undHexen, Religion und Judenha zu umreien ist und die fundamentale Wertkritik derNrnberger KRISIS-Gruppe um Robert Kurz, Ernst Lohoff, Peter Klein und NorbertTrenkle (alle *ungefhr 1944)57 .Mit diesen AutorInnen ist der rezeptionsgeschichtliche Hintergrund meiner Fragestellunggrob umrissen: mit deren Arbeiten habe ich mich vorrangig beschftigt, und an ihrenErgebnissen setze ich an. Ich mchte daher in aller Krze und Vorlufigkeit die Ergeb-nisse, Intentionen und Probleme dieser Anstze in Erinnerung rufen, um von da ausFragestellung und Programm der vorliegenden Arbeit prziser zu formulieren. Dabeiskizziere ich zunchst die Programme von Marx und Freud, da diese die gemeinsamenBezugspunkte der anderen 3 der 68er Marxrezeption entstammenden Programme bil-den. Dann gehe ich auf die Kritische Psychologie ein, deren problematische Implikatio-nen den Ausgangspunkt meiner Fragestellungen bildeten; die Aufgabenstellung dieser

    57 Die wichtigsten Publikationen dieser Autoren, die die Grundlage meiner berlegungen

    bilden, sind im Literaturverzeichnis sortiert aufgelistet.

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    Arbeit wird von da her entwickelt. Auf Heinsohn und Steiger gehe ich ausfhrlich inKapitel 4 ein, weshalb ich mir eine Zusammenfassung hier spare (eine ausfhrlichererDarstellung von deren Programm findet sich im Anhang 2: Wer ist GunnarHeinsohn?). Die KRISIS bildete fr die Entstehung der hier enwickelten Position ehereine Durchgangsstufe, soda auf deren Arbeiten jeweils dort hingewiesen wird, wo ichmich auf sie beziehe.

    Marx: wissenschaftlicher Sozialismus

    Marx fhrte das Unbehagen in der Kultur auf Klassenherrschaft, spter auf Waren-fetischismus58 /die Wertform der Arbeitsprodukte59 und im Zusammenhang damitauf Geld und Kapital zurck, deren inneren Zusammenhang er aber nicht eindeutigaufklrte60. Er war berzeugt, damit das Rtsel des Kapitalismus, das der Menschen-geist seit mehr als 2000 Jahren vergeblich zu ergrnden gesucht61 habe, gelst zuhaben. Bei seiner Analyse interessierte sich Marx weniger fr die subjektiven, in gesell-schaftlichen Bedingungen/Bedeutungen begrndeten Handlungsintentionen der Akteu-

    58 Karl Marx: Das Kapital. Erster Band: Der Produktionsproze des Kapitals. (MEW 23)

    Berlin: Dietz 1956. Kapitel 1: Ware und Geld, Abschnitt 4: Der Fetischcharakter der Ware und ihrGeheimnis, S. 99-109. Alle Marx-Zitate entnehme ich aus der Marx/Engels-Werkausgabe desBerliner Dietz-Verlages. Das Kapital wird im folgenden zitiert als MEW 23 (Bd. 1), MEW 24 (Bd.2),MEW 25 (Bd.3). Es handelt sich dabei um die Bnde 23-25 der Dietz-Werkausgabe.59

    Fr den frhen Marx sind Warenfetischismus und Wertform der Arbeitsproduktenoch kein wichtiges Thema, obwohl er bereits in den Pariser Manuskripten von 1844 die mit demGeld verbundenen Phnomene eindrucksvoll beschreibt (nicht: erklrt). Der Klassenkampf ist frihn das wesentliche, wie der bekannte erste Satz des Kommunistischen Manifests (1848) zeigt:"Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkmpfen" (MEW 4,462). In der Kritik der Politischen konomie (Bd. 1: 1867), seinem Hauptwerk dagegen, spielenKlassenherrschaft und Klassenkampf keine wesentliche Rolle mehr. Sieht man in den Index, sofindet sich die grte Menge (11) an Eintrgen zu Klassenkampf unter Klassenkampf der Ar-beiter fr die Verkrzung des Arbeitstags. Im Zentrum stehen fr Marx in der Kritik der Politischenkonomie die konomischen Kategorien Gebrauchswert/Wert, Ware, Geld, Mehrwert, Kapital,Lohnarbeit, Akkumulation, Grundeigentum. Der spte Marx scheint im Klassenkampf lediglicheine immanente Bewegungsform des Kapitalismus zu sehen (vgl. aber die kurze Stelle MEW 23,791). Fr den nachmarxschen Marxismus dagegen waren Wert, Ware, Geld usw. kaumproblematische Kategorien. Sie blieben unhinterfragt vorausgesetzt. Alles drehte sich fr sie umden Klassenkampf, der fr den spten Marx lediglich eine Oberflchenkategorie der modernenGesellschaft darstellte, die am Ende des dritten Bandes des Kapital (MEW 25, 892f.) angetipptwird, ansonsten aber keine wesentliche Rolle in der Theorie spielt. Damit aber war die MarxscheKritik der Politischen konomie auf marxistische konomie verkrzt. - vgl. dazu R. Kurz, E Lohoff:Der Klassenkampffetisch, Marxistische Kritik 7, 1989, S. 10-42.60

    Diese von Marx nie aufgelste Dichotomie hat rezeptionsgeschichtlich zum permanentenStreit zwischen objektivistischen (konomistischen, strukturalistischen; z.B. Althusser) und subjek-tivistischen (politizistischen, subjektapriorischen; z.B. Lenin) Interpretationen seiner Theorie ge-fhrt. Dieses Problem des Verhltnisses von objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmungbildete das Ausgangsproblem der Kritischen Psychologie als marxistische Subjektwissenschaft.Ohne dieses Problem der Marxschen Theorie wre eine Kritische Psychologie nicht ntig gewesen.Die Kritische Psychologie ermglicht mit ihrem Begriff der subjektiven Handlungsgrnde imPrinzip die Lsung des Problems. Sie kann es dann aber nicht mit der Marxschen Analyse deskapitalistischen Reproduktionsprozesses zurckvermitteln, sondern behlt zunchst subjektaprio-risch/politizistische Positionen bei, um zuletzt nur noch abstrakt und diffus von restriktiven Ver-hltnissen zu reden. Eine berprfung der Marxschen Theorie im Licht der Kategorie der sub-jektiven Handlungsgrnde wird nicht in Erwgung gezogen. Die Dichotomie verweist auf tiefereProbleme der Marxschen Theorie, die an einer zureichenden Erklrung kapitalistischer Handlungs-zusammenhnge letzlich scheitert; sein theoretischer Objektivismus ist ein Aspekt diesesScheiterns. Unten mehr dazu.61

    MEW 23, S. 12.

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    re, als fr die objektiven Bewegungsformen und Entwicklungstendenzen, die sich ausdem Zusammenwirken der ihre Produkte als Trger von Wert betrachtenden Akteureergeben. Seine Analyse gipfelt dann auch nicht in Prmissen-Grnde-Zusammenhngen, sondern im Wertgesetz, welches sich fr ihn

    ...als regelndes Naturgesetz gewaltsam durchsetzt, wie etwa das Gesetz der Schwere,wenn einem das Haus ber dem Kopf zusammenpurzelt.62

    Analysen typischer subjektiver Begrndungskonstellationen der Akteure und ihrer Pr-missen in gesellschaftlichen Bedeutungen spielen in seiner Analyse des Kapitalismuskeine wesentliche Rolle. Sexualitt, Geschlechterverhltnis und Familienformen interes-sierten Marx nur am Rande. In seiner Bevlkerungstheorie argumentiert er nicht be-grndungsanalytisch und interessiert sich nicht fr die Motive der Lohnarbeiter hinsicht-lich ihres sex-life, ihrer Familiengrndung, Fortpflanzung und Verhtung. Bedrfnisun-terdrckung und Unbehagen machte Marx nicht in der Sphre der biologischen Repro-duktion und des Geschlechter- und Generationenverhltnisses, sondern v.a. in derSphre der materiellen Reproduktion, d.h. im kapitalistischen Produktionsproze aus,was ihm heute von FeministInnen als Mnnlichkeit angekreidet wird.

    Marx setzte sich zum Ziel, durch Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen, unterdenen die Individuen leiden, ihnen die Ursachen ihres Leidens klarzumachen und sodazu beizutragen, diese Ursachen zu gegebener Zeit aus der Welt schaffen zu knnen.Von der sozialistischen Bewegung versprach er sich die Beseitigung des Kapitalismus,dessen Vorteile (Fortschritt und Entwicklung) er im Kommunismus dialektisch aufgeho-ben, dessen Nachteile (Ausbeutung, anarchische Konkurrenz) jedoch beseitigt sehenwollte63. Die Frage nach dem historischen Ursprung von Kapitalismus, Wertform derArbeitsprodukte, Geld, Privateigentum und Klassenherrschaft etc. stellte sich Marx sehrernsthaft, ohne sie jedoch befriedigend beantworten zu knnen. Dieses Scheitern ge-stand Marx offiziell nicht ein, sondern gab seine historisch