Upload
others
View
4
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
Tina Hüttl, Chorinerstr. 7, 10119 Berlin, Tel. 030-48496287, [email protected]
Alexander Meschnig, Emdenerstr. 32, 10551 Berlin, Tel. 030-3917171, [email protected]
Der Verlust der kulturellen Hegemonie Gewerkschaften im Spiegel der Printmedien
Studie im Auftrag der Hans-Böckler Stiftung
September 2004
Projektnummer 2004-586-3
2
Abkürzungsschlüssel der verwendeten Printmedien:
Tages- und Wochenzeitungen
Berliner Berliner Zeitung
BILD Bild Zeitung
Bams Bild am Sonntag
FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung
FR Frankfurter Rundschau
FTD Financial Times Deutschland
HB Handelsblatt
ND Neues Deutschland
StuttN Stuttgarter Nachrichten
StuttZ Stuttgarter Zeitung
SZ Süddeutsche Zeitung
Tages Tagesspiegel
taz die tageszeitung
Welt Die Welt
Wams Die Welt am Sonntag
WiWo Wirtschaftswoche
ZEIT Die Zeit
Magazine
Focus Focus
Spiegel Der Spiegel
Stern Der Stern
3
Inhaltsverzeichnis
1. Ausgangslage ................................................................................................ 5
2. Fragestellung und Untersuchungsaufbau................................................... 9
2.1. Einleitung .............................................................................................. 9
2.2. Einstellungen und Medien..................................................................... 9
2.3. Auswahl ...............................................................................................12
2.4. Auswertungsmethode ..........................................................................14
3. Gewerkschaftliche Kernthemen in den Printmedien ................................ 17
3.1. Flächentarifvertrag und Tarifverhandlungen ........................................17
3.1.1. Argumentationsmuster der Kommentare ................................ 18 Hindernis im Wandel ................................................................................................... 19 Arbeitslosigkeit als Tarifeffekt...................................................................................... 20 Garant des sozialen Friedens ..................................................................................... 22 Flexibler als sein Ruf ................................................................................................... 23 3.1.2. Die Bewertung der Gewerkschaften ....................................... 25 Monopolisierung der Tarifverhandlungen.................................................................... 25 Gewerkschaft kontra Steuerzahler .............................................................................. 27 Tarifpartei - nicht mehr und nicht weniger................................................................... 28 Gewerkschaftliche Doppelmoral.................................................................................. 29
3.2. Kündigungsschutz................................................................................31
3.2.1. Argumentationsmuster der Kommentare ................................ 32 Mehr Jobs durch weniger Schutz ................................................................................ 33 Kein Beschäftigungswunder durch Lockerung............................................................ 34 Symbolthema für Gewerkschaften und Regierung ..................................................... 35 Leistungs- statt Sozialauswahl .................................................................................... 36 3.2.2. Die Bewertung der Gewerkschaften ....................................... 37 Neinsager der Nation .................................................................................................. 37 Geballte Meinungsmacht............................................................................................. 39 Sozialromantiker und Heilslehrer ................................................................................ 39
3.3. Arbeitszeitflexibilisierung......................................................................41
3.3.1. Argumentationsmuster der Kommentare ................................ 43 Freizeitweltmeister Deutschland ................................................................................. 43 Verkürzung aus Solidarität .......................................................................................... 45 Flexibilität ist Realität................................................................................................... 46 35-Stunden-Woche als ein hirnrissiges Beglückungsprogramm ................................ 47 3.3.2. Die Bewertung der Gewerkschaften ....................................... 48 Die Front der Besitzstandswahrer ............................................................................... 48 Neoliberale Verschwörung als Stammtisch-Rhetorik .................................................. 48 Lebensentwurf von gestern ......................................................................................... 50
4
3.4. Querschnittsthema Arbeitslosigkeit ......................................................52 Sozial ist, was Arbeit schafft........................................................................................ 52 3.4.1. Gewerkschaften sind das Problem, nicht die Lösung ............. 53 Arbeitslosigkeit wegen zu hoher Löhne ...................................................................... 55 Arbeitslosigkeit aufgrund zu geringer Lohndifferenzen............................................... 56 3.4.2. Gewerkschaften wollen keine Lösung des Problems.............. 57
3.4.3. Gewerkschaften bieten nur veraltete und falsche Lösungen .. 58
3.4.4. Exkurs: Die Ausbildungsplatzabgabe ..................................... 59
4. Das mediale Bild der Gewerkschaften ....................................................... 63
4. 1. Interpretation der Ergebnisse...............................................................63
4.1.1. Häufigkeiten und Tendenzen .................................................. 63
4.1.2. Adressat.................................................................................. 66
4.1.3. Themensetzung ...................................................................... 67
4.2. Haupteinwände gegen Gewerkschaften ..............................................68
4.2.1. Repräsentationsproblem......................................................... 69
4.2.2. Realitätsproblem..................................................................... 71
4.2.3. Glaubwürdigkeitsproblem ....................................................... 73
4.2.4. Machtproblem ......................................................................... 75
4.3. Oppositionspaare .................................................................................77
4.4. Sprachanalyse .....................................................................................79
4.4.1. Attribute .................................................................................. 79
4.4.2. Metaphern............................................................................... 81
4.4.3. Headlines................................................................................ 83
5. Verhältnis von Medien und Gewerkschaften............................................. 85
5.1. Lob der Gewerkschaften ......................................................................85
5.2. Rolle der Gewerkschaften....................................................................88
5.3. Die Medien sind schuld! .......................................................................89
5.4. Schlussfolgerungen..............................................................................92
6. Zitierte Artikel (2003) und Literatur ............................................................ 97
5
1. Ausgangslage
In den letzten Jahren lässt sich in den unterschiedlichsten Medien die Dominanz
eines �neoliberalen Diskurses� beobachten, der insbesondere gewerkschaftliche
Überzeugungen und Grundwerte als nicht mehr zeitgemäß und überholt erscheinen
lässt. Im Ringen um kulturelle Hegemonie und verbindliche gesellschaftliche
Grundwerte wird den Gewerkschaften eine fast durchgehend negative Rolle
zugeschrieben. Medial erscheinen sie vor allem als �Verweigerer� und �Blockierer�
von �notwendigen Reformen" der modernen Arbeitswelt. Die Gewerkschaften sind
heute in eine Defensivrolle gedrängt, aus der es ihnen nicht gelingt, sich zu befreien.
Das ist zumindest auf den ersten Blick die Ausgangslage gewerkschaftlicher Politik.
Folgt man den Überschriften und Titelzeilen der Printmedien in Deutschland wird die
Diagnose eines negativen Images in der über die Medien erzeugten öffentlichen
Wahrnehmung der Gewerkschaften vielfach bestätigt. Eine kleine Auswahl von Titeln
des Jahres 2003 soll an dieser Stelle zur Verdeutlichung genügen: �Neinsager der
Nation� (WiWo, 13.2.), �Lobby des Stillstands� (Spiegel, 5.5), �Flucht aus der
Wirklichkeit� (SZ, 8.5) oder �Reaktionäre von links� (Tages, 6.2). Andere Schlagzeilen
sahen die Gewerkschaften �Auf dem Weg ins Abseits� (SZ, 5.4) und manche
befürchteten, dass ganz Deutschland �Im Griff der Nein-Sager� (Focus, 17.3) den
Anschluss an die Wissensgesellschaft verpasse, ein �Blockierter Aufbruch� (FR,
10.2.) sei aufgrund der negativen Effekte gewerkschaftlicher Dogmen längst Realität.
Schließlich stellte das TV-Kulturmagazin polylux im Februar 2004 noch den
Zusammenhang zum internationalen Terrorismus her: Die Gewerkschaften wurden in
der Sendung schlicht als �Arbeitnehmer-Hamas� betitelt.
Der letzte Begriff verweist bereits auf einen der Hauptvorwürfe gegen
gewerkschaftliche Politik, die sich, so der Grundtenor, nur noch um klassische
Arbeitnehmer kümmere und das Gros der Arbeitslosen und prekär Beschäftigten
sträflich vernachlässige. Am Augenscheinlichsten zeigt sich die Schwäche
gewerkschaftlicher Positionen denn auch in der medialen Debatte rund um die
Reformen des Arbeitsmarktes und die zukünftige Arbeitsgesellschaft. Vermittelt über
die Medien werden Gewerkschaften im wesentlichen als die Vertreter des
traditionellen Arbeitnehmers, dessen Arbeitszeit und -umfang, Lohn, Urlaub etc.
reguliert ist, in der Öffentlichkeit identifiziert. Demgegenüber machen sich die Medien
6
zum Fürsprecher insbesondere von Arbeitslosen, die durchgängig als Opfer
verfehlter gewerkschaftlicher Arbeitsmarktpolitik vorgeführt werden.
Auch wenn durchaus in den internen Debatten und Grundsatzpositionen der
Gewerkschaften auf die Transformation der Arbeitsgesellschaft eingegangen wird
(siehe etwa: Zukunftsreport IG Metall, Grundsatzreferate in den Einzelgewerk-
schaften und des DGB), dringt davon wenig an die Öffentlichkeit. Das Image der
Gewerkschaften wird durch diese Studien in der öffentlichen Wahrnehmung kaum
berührt.
Entscheidend ist letztlich die Wirkmächtigkeit der vorgegebenen Bilder, die den
öffentlichen Diskurs bestimmen. Letzterer geht inzwischen von einer radikalen
Veränderung historisch tradierter Arbeitsformen aus. Zwar werden garantierte Löhne
und Arbeitszeiten, feste Stellenbeschreibungen und vorhersehbare Routineabläufe
nach wie vor existieren. Eine breite mediale Öffentlichkeit sieht aber schon heute
darin nur noch Marginalien und Modelle der Vergangenheit. So wird etwa das
Sicherheitsdenken (siehe etwa die Debatte um den Kündigungsschutz) längst als
Wunschdenken abgetan oder die Erosion stabiler Arbeitsverhältnisse als ein nicht
mehr aufhaltbarer Prozess im Zuge der Globalisierung betrachtet. Solche
Denkweisen und Werte sind zum gesellschaftlichen Mainstream geworden, der einen
bestimmten Automatismus nicht mehr weiter hinterfragt: Der Kündigungsschutz
verhindert die Schaffung neuer Arbeitsplätze, zeitliche Arbeitsregelungen sind in
einer globalen Konkurrenzökonomie überholt, Freiheit, Selbstständigkeit und
Eigenengagement werden von Gewerkschaften behindert, Arbeitslose bleiben
aufgrund überhöhter Lohnforderungen der Gewerkschaftsfunktionäre auf der Strecke
usw.
Eine vom Institut für Demoskopie in Allensbach im April 2003 durchgeführte
Imagestudie wollte von den Befragten wissen: �Sind die Gewerkschaften eher Motor
oder Bremser bei den anstehenden Reformen des Arbeitsmarktes?� Über die Hälfte
der Befragten, nämlich 52 Prozent, schätzten die Gewerkschaften als �Bremser� ein,
34 Prozent für neutral und lediglich 14 Prozent sahen sie als Motor für zukünftige
Reformen. (zit. in FAZ, 16.4.)
Die Frage bleibt, ob das durch die Meinungsforschungsinstitute regelmäßig
bestätigte negative Image der Gewerkschaften tatsächlich generalisiert werden darf?
Für unsere Studie maßgeblich ist die sich daran anschließende Frage, inwiefern die
Printmedien an dieser Bewertung beteiligt sind, indem sie voreingenommen über
7
gewerkschaftliche Politik berichten. Ist der von den Medien ständig eingeforderte
�notwendige Reformbedarf� des Arbeitsmarktes und die tiefen Einschnitte in unser
Sozialsystem tatsächlich zum anerkannten Paradigma geworden, dem sich nur noch
die Gewerkschaften verweigern? Sind diese wesentlich in den 90er Jahren
entstandenen Denkmuster inzwischen gesellschaftlicher Konsens? Damit ist die
stillschweigende oder lautstarke Zustimmung zu Veränderungen gemeint, die als
quasi naturgesetzlich erscheinen und für die insbesondere das Schlagwort der
Globalisierung als unhinterfragbare Chiffre fungiert.1 Ohne großen Druck oder Zwang
finden - trotz zaghafter Proteste - gesellschaftliche Projekte, wie etwa die Agenda
2010, breite Zustimmung auch bei denjenigen, die davon früher oder später betroffen
sein werden - oder Mitglied in einer Gewerkschaft sind. So ergab eine Forsa-
Umfrage im Mai 2003, dass nur 29 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder den
Reformplänen der Regierung Schröder ablehnend gegenüberstehen. Dass die in der
Agenda 2010 für die Gewerkschaften größtenteils unannehmbaren Forderungen von
einer ursprünglichen Arbeiternehmerpartei und traditionellem Bündnispartner, der
SPD, ausgehen, macht die Sachlage noch um einiges schwieriger.2
Für die Herstellung von Hegemonie, also breiter öffentlicher Zustimmung ohne
Zwangsmittel, sind die Medien, neben den politischen Repräsentanten und ihren
entsprechenden Experten, der entscheidende Faktor. Die Gewerkschaften können
dem nur eine sehr geringe öffentliche Wirkung entgegensetzen. Prinzipiell gilt
außerdem dass die Massenmedien �kapitalistisch� funktionieren, indem sie ihre Ware
Information verkaufen müssen, was für die Gewerkschaften den Verdacht nährt,
dass Arbeitgeberpositionen damit von vornherein besser wegkommen. �Aus
historischen und aus ständig aktuellen Gründen sehen die Gewerkschaften in den
Massenmedien die Produzenten einer ihnen kritisch bis feindlich gegenüber-
stehenden politischen Öffentlichkeit. � Aber gleichzeitig machen sie die Erfahrung,
ein selbstverständlicher und gefragter Akteur für die Massenmedien zu sein.� (Arlt
1998, S. 119)
1 Ein anderer vielstrapazierter Begriff ist seit einiger Zeit � insbesondere auf der Ebene der sozialen
Sicherungssysteme - der demographische Faktor, gegen den es ebenfalls keine Argumente zu geben scheint und der quasi naturwüchsig alles Vorhandene zerstört.
2 Der 14. März 2003 gilt allgemein als �schwarzer Tag� der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Genau an diesem Tag verkündete Kanzler Schröder sein Reformprogramm Agenda 2010. Was diese Rede für das Verhältnis von Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung in der Zukunft bedeutet, lässt sich nicht vorhersagen. Eines ist aber sicher: die Verhältnisse sind komplizierter geworden.
8
Die zunächst pauschale Auffassung einer Kennzeichnung von Gewerkschaften als
�Blockierer� und �Verhinderer� von Zukunftsentwürfen lässt sich bei genauerer
Untersuchung der Printmedien nicht durchgängig halten. Zwar kann man sicherlich
davon sprechen, dass den Gewerkschaften an sich eine negative Rolle
zugeschrieben wird. Als wichtiger Gesprächspartner werden sie aber durchaus für
unterschiedliche Themen (noch) ernst genommen. Für die Mehrheit der
kommentierenden Journalisten und Autoren sind die Gewerkschaften aber das
Problem und nicht die Lösung für die zukünftigen Fragen einer veränderten Lebens-
und Arbeitswelt. Dementsprechend negativ sind die entworfenen Bilder.
Das allgemein vorherrschende Image und die mit ihm assoziativ verknüpften Bilder
sind heute die entscheidenden Faktoren für eine erfolgreiche und hegemoniale
Politik. Dafür gilt es aber Antworten auf drängende Probleme zu finden, die nicht
allein in der Reproduktion vertrauter Muster bestehen können. �Auch wenn ihnen
(den Gewerkschaften; die Verf.) das neoliberale Gefasel von den angeblich
gewaltigen Strukturproblemen zu Recht auf die Nerven geht, müssen sie Stellung
beziehen zu Themen, die den Menschen auf den Nägeln brennen, wie die Renten-
und Gesundheitspolitik oder die Folgen der Globalisierung. Nein sagen zu dem, was
aus Berlin kommt, ist zu wenig. Vielmehr sind Alternativen gefragt, vielleicht sogar
Utopien...� (FR, 9.7.)
9
2. Fragestellung und Untersuchungsaufbau
2.1. Einleitung
Die Gewerkschaften sind von ihrer historischen Entstehung als Arbeiterbewegung
genuin mit dem kapitalistischen Arbeitsverhältnis verwoben, dessen Konfliktpotenzial
nach wie vor im Mittelpunkt gewerkschaftlicher Politik steht. Der Fokus unserer
Studie richtet sich deshalb auf das Image der Gewerkschaften in der medialen
Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt. Anhand ausgewählter Kernthemen, die im
�Reformjahr� 2003 die Medien beschäftigten, wie etwa dem Flächentarifvertrag oder
dem Kündigungsschutz wird untersucht, wie Gewerkschaften in ihrem Verhältnis zur
modernen Arbeitsgesellschaft in den Printmedien dargestellt werden und zwar
zunächst unabhängig von der Frage, ob Realität und Bild tatsächlich überein-
stimmen.
Ziel unserer kleinen Studie ist es, anhand der Nachrichten-, Wirtschafts- und
Kulturseiten ausgewählter Tages- und Wochenzeitungen sowie Magazine eine
möglichst konkrete Deskription der Argumentationsmuster pro oder contra
Gewerkschaften in der Zukunftsdebatte um die Arbeitsgesellschaft zu erstellen. Mit
den ihnen medial zugeschriebenen Positionen müssen sich Gewerkschaften
auseinandersetzen, wenn sie nicht �objektiv� gegen alle recht haben wollen.
2.2. Einstellungen und Medien
�Groups can remain dominant only if they have the resources to reproduce their
dominance. This is not only true economically, but also socially, culturally and
especially ideologically." (Van Dijk, 1991, S. 32)
Im Informationszeitalter ist jede gesellschaftliche Gruppierung und Organisation auf
die Medien angewiesen, erst über sie können sie kommunizieren und konsensuale
Wirkung erzielen. Die Massenmedien im Allgemeinen und die Nachrichtenmedien im
Besonderen reflektieren unvermeidbar das Kräfteverhältnis zwischen den
verschiedenen gesellschaftlichen Interessensgruppen und spielen eine wichtige
Rolle bei dessen ständiger Reproduktion. Insbesondere zwischen den Vertretern der
Kapital- und Arbeitsseite bestehen nach wie vor Interessensgegensätze, auch wenn
10
gerade die Medien diese Gegensätze heute relativieren und stattdessen den Aspekt
der gemeinsamen Interessen in den Vordergrund stellen3. Eine typische Aussage
lautet daher: "Wir leben in einer Zeit, in der es nicht mehr um Arbeit versus Kapital,
sondern um Arbeit versus Arbeitslosigkeit geht.�(Lothar Späth im HB 11. Juni).
Die Medien sind also keineswegs als neutrale Arenen zu charakterisieren, vielmehr
sind sie selbst Teil einer ideologischen Konfiguration. Auf sehr unterschiedliche
Weise können sie Partei ergreifen, am offensichtlichsten etwa:
durch die Gewährung oder Verweigerung des Zuganges zur Nachrichtenproduktion.
durch ihren Output und die Art und Weise der Berichterstattung.
Die Frage der Repräsentation von Gewerkschaften in den Informationsmedien
scheint uns � wie auch unsere Recherche nach Forschungsliteratur bestätigt - aus
der �akademischen Mode" gekommen. Im Focus der v.a. gewerkschaftsnahen
Forschung stehen heute hauptsächlich ökonomische Fragen, etwa nach der Zukunft
der Flächentarifverträge oder einer angemessenen Lohnpolitik. Wie jedoch
Gewerkschaften und ihre Positionen von den Medien wahrgenommen werden, ist
häufig nur von marginalen Interesse.
Wir hoffen, die Forschungslücke hinsichtlich der Beziehung zwischen Gewerk-
schaften und Medien ein Stück weit mit Inhalt zu füllen. Die These unserer Studie
lautet, dass die Gewerkschaften selbst die Wirkmächtigkeit ihres (negatives) Bildes
in der Öffentlichkeit unterschätzen und ihm zu wenig entgegensetzen. Doch gerade
in ökonomischen Umbruchszeiten, in denen soziale Errungenschaften zur
Disposition stehen, ist die Rolle der Medien wichtiger denn je.
Unumstritten ist seit den 70er Jahren4 die Agenda-Setting-Funktion der
Massenmedien. Von Seiten der Agenda-Setting-Forschung wurde die These
aufgegriffen, dass die Themen, die von den Medien als besonders wichtig erachtet
und entsprechend stark thematisiert werden, auch von der Bevölkerung als die
aktuell bedeutsamen Themen rezipiert werden.
3 Ein Ergebnis unserer Medienanalyse besteht darin, dass der Widerspruch von Kapital und Arbeit
heute von vielen Kommentatoren als aufgehoben betrachtet wird. Insbesondere für Unternehmen gälte: �Den Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital, den die Funktionäre auf Tagungen und Kongressen gerne herbeireden, gibt es in den Betrieben längst nicht mehr.� (FAZ, 1.9.) Die tatsächlichen Veränderungen des Gegensatzes von Arbeit und Kapital in einer zunehmend immateriellen Wissensindustrie sollen an dieser Stelle aber nicht geleugnet werden.
4 Das Konzept der Agenda-Setting-Forschung wurde von McCombs und Shaw in ihrer Chapel-Hill-Studie entwickelt. Ziel dieser Studie war es, die Wirkung der Medien durch ihre Themenauswahl auf die Wähler und ihre Wahl bei der Präsidentschaftswahl in den USA im Jahre 1972 zu erforschen. (siehe: McCombs/Shaw 1972)
11
Die Wirkungsforschung dagegen beschäftigt sich mit der Frage, mit welchem Erfolg
Massenmedien die Meinungsbildung in der Bevölkerung beeinflussen. Da in diesem
Prozess viele Faktoren beteiligt sind, ist es äußerst schwierig, den unmittelbaren
Einfluss von Presse und Rundfunk zu erfassen5. Die Wissenschaftlerin Elisabeth
Noelle-Neumann entwickelte das Konzept der �Schweigespirale": Bei strittigen
Themen finde sich der Einzelne stets auf einer von beiden Seiten. Stellt er fest, dass
er mit der herrschenden Meinung übereinstimmt, verbalisiere er sie laut und häufig.
Merkt er jedoch umgekehrt, dass seine Überzeugung an Boden verliert, wird er
immer unsicherer und schweigsamer. Diese verschiedenartigen Verhaltensweisen
beeinflussen ihrerseits die Häufigkeitsverteilung von Meinungen und führen mitunter
zu einem Meinungswandel beim unsicher gewordenen Einzelnen. Somit komme
durch die Tendenz zum Reden der einen und zum Schweigen der anderen ein
Prozess in Gang, der eine Meinung immer fester und fester als herrschende Meinung
etabliere. (vgl. Meyn 2001)
Betrachtet man die Daten zum derzeitigen Image der Gewerkschaften wird deutlich,
was sich im Sinne Noelle-Neumanns als herrschende Meinung etabliert hat. Die
Frage einer vom Institut für Demoskopie in Allensbach im April 2003 durchgeführten
Imagestudie lautete: �Wenn Sie das Wort Gewerkschaft hören � woran könnten Sie
da vor allem denken?� Die meisten Assoziationen waren mit negativen Begriffen
verbunden: Streik (90 Prozent), Funktionäre (78 Prozent), Macht (72 Prozent),
Tradition (68 Prozent), Bürokratie (59 Prozent), Blockade (56 Prozent), Unbeweglich
(45 Prozent). Weitaus seltener fielen positive Begriffe, am häufigsten wurden
genannt: Sozial (54 Prozent), Gerechtigkeit (36 Prozent), Reformen (36 Prozent) und
Modern (21 Prozent) (Umfragwerte u.a. zitiert in der FAZ, 16.4.)
Ein ähnlich düsteres Meinungsbild ergab die Forsa-Meinungsumfrage im August
2003. Drei Viertel aller Bundesbürger halten gewerkschaftliche Politik für veraltet (73
Prozent). Selbst unter den Gewerkschaftsmitgliedern scheint die Unterstützung für
Gewerkschaften und ihre Politik stark abgenommen zu haben: Nur die Hälfte der
5 Dass Medien mehr sind als der bloße Spiegel der Gesellschaft, darauf verweist Thomas Petersen,
Projektleiter beim Allensbacher Institut für Demoskopie: �Es gibt eine ganze Reihe von sehr deutlichen Hinweisen darauf, dass die Bevölkerung in ihrer Meinungsbildung in Bezug auf politische Fragen in sehr vielen Fällen dem Tenor der Berichterstattung nachfolgt.� Kombiniere man die Resultate von Inhaltsanalysen mit den Ergebnissen von Meinungsumfragen, zeige sich, �dass die Bildung der Bevölkerungsmeinung in ihrer Tendenz sehr eng den Inhalten der Massenmedien nachfolgt � und nicht etwa umgekehrt�. Die publizistische Forschung könne keinen einzigen Fall nennen, bei dem sich erst die Meinung der Bevölkerung verändert habe und dann die Medieninhalte.
12
Mitglieder sehen Gewerkschaften noch positiv (2002 waren es noch 78 Prozent).
Zudem fordern 77 Prozent mehr Kompromissbereitschaft bei der Agenda 2010
(Polis-Umfrage Ende Mai 2003).
2.3. Auswahl
Die Datenbasis ist sehr umfangreich. Sie resultiert aus der Inhaltsanalyse der
Medienberichterstattung über Gewerkschaften sowie vier ausgewählten Themen, die
im Jahr 2003 von politischer Bedeutung waren und die öffentliche Diskussion
dominierten. Von den verschiedenen Medien wurden ausschließlich Printmedien
berücksichtigt.
Die Fokussierung auf den Bereich der Tages-, Wochenzeitungen und Magazine (und
hier ausschließlich auf Meinungsbeiträge) erfolgt v.a. aus dem Grund, da hier noch
Raum für differenzierte Stellungnahmen und Bewertungen gewerkschaftlicher Politik
zu finden sind - im Gegensatz etwa zum Fernsehen, das sich bei den Nachrichten
zumeist auf wesentlich kürzere Beiträge beschränken muss.
Folgende vier Themenschwerpunkte rund um das Arbeitsverhältnis, die eng mit
Gewerkschaften, deren Anliegen und Aufgaben verknüpft sind, wurden als
Gegenstand der Inhaltsanalyse ausgewählt: Artikel zu (Flächen-)Tarifverträgen bzw.
-verhandlungen, dem Kündigungsschutz, der Arbeitszeitflexibilisierung sowie zum
Querschnittsthema Arbeitslosigkeit. Ausgewählt wurden ferner auch sämtliche
Beiträge, die sich inhaltlich im wesentlichen mit Fragen der Zukunft, Krise oder
Spaltung von Gewerkschaften auseinandersetzen.
Der Untersuchungszeitraum der Inhaltsanalyse erstreckt sich vom 1. Januar 2003 bis
31. Dezember 2003.
Für die Ermittlung der thematisch relevanten Beiträge wurden die Nachrichten-,
Wirtschafts- und Feuilletonteile von insgesamt fünfzehn regionalen und
überregionalen Qualitätszeitungen, von zwei Wochenblättern und drei wöchentlichen
Magazinen (siehe Auflistung der Medien im Abkürzungsschlüssel zu Beginn)
ausgewertet. Ziel der sehr breit angelegten Auswahl ist es, ein möglichst großes
Spektrum von konservativen, bis hin zu eher links oder liberal eingestuften Medien
abzudecken. Zudem wurde die auflagenstärkste Zeitung Deutschlands, die
Boulevardzeitung Bild, mit in die Analyse aufgenommen.
13
Für die Inhaltsanalyse berücksichtigt wurden nach erster allgemeiner Durchsicht
ausschließlich meinungsbetonte Beiträge, also Kommentare, Leitartikel und
Debattenbeiträge von Journalisten sowie externen Experten, die in den jeweiligen
Medien veröffentlicht wurden. In den Wochenmagazinen ist das Genre des
Kommentars eher selten zu finden. Die hieraus gewählten längeren Beiträge sind
jedoch in der Regel an sich nicht meinungsneutral verfasst. (Eine Liste der zitierten
Kommentare ist im Literaturverzeichnis aufgeführt.)
Für die Recherche konnten wir auf den Pressespiegel, der täglich von der
Presseabteilung bei Verdi6 erstellt wird, zurückgreifen. Unsere Intention ging dahin,
den Pressespiegel als das zu lesen, was er ist: Ein Spiegel für das Spektrum der
verschiedenen Meinungen. Nach unserer Erfahrung wird in den meisten
Öffentlichkeitsabteilungen (nicht nur der Gewerkschaften) zwar sorgfältig ein
Pressespiegel erstellt, vielfach wird er aber nur unzureichend zur Analyse der
eigenen inhaltlichen Arbeit herangezogen. In Bezug auf das Verhältnis von
Gewerkschaften und Massenmedien allgemein schreibt der langjährige Presse-
sprecher des DGB, Hans-Jürgen Arlt:
�Der Deutsche Gewerkschaftsbund und die massenmediale Öffentlichkeit: Er nimmt
es nicht so wichtig, hineinzukommen, und es ist ihm nicht wichtig, etwas
herauszulesen. Letzteres belegt der praktische Umgang mit dem Instrument
Pressespiegel. Er wird bestenfalls als Erfolgskontrolle der PR-Arbeit und als
Kontrolle der journalistischen Arbeit genutzt, nicht als Spiegel, in dem auch
eventuelle Vermittlungsschwierigkeiten der eigenen Politik zu sehen sind.� (Arlt 1998,
S. 227; Herv. die Verf.) Die Massenmedien dienen so �nicht als Orientierung für
eigenes Handeln, sondern als Folie, die es erlaubt, solche Öffentlichkeiten als
defizitär darzustellen, in welchen er (der Gewerkschaftsbund; die Verf.) sich schlecht
behandelt sieht.� (ebd., S. 228)
6 Die Presseabteilung von Verdi wertet täglich, bzw. am Tage ihres Erscheinens die Politik,
Wirtschaft- Feuilleton-, Kultur- und Sportseiten der genannten Medien aus. Eine Ausnahme bilden die Samstags- und Sonntagsausgaben der Tageszeitungen, die am Montag ausgewertet werden. Hauptkriterium für die Auswahl ist zunächst einmal der �Niederschlag" der Arbeit der Verdi-Pressestelle. Des weiteren sind alle Meldungen wichtig, die im weitesten Sinne mit den Gewerkschaften in Verbindung gebracht werden können. Dazu gehört in erster Linie die Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik. Aus Platzgründen können Meldungen über europäische und internationale Gewerkschaften, sowie Berichte zu den internationalen Arbeitsbeziehungen und zum komplexen Themenfeld der Globalisierung nur in Ausnahmefällen berücksichtigt werden. Die Auflage des Pressespiegels bewegt sich in der Größenordnung um 120 Exemplare und zirkuliert ausschließlich im Haus. An dieser Stelle nochmals unser Dank an die Presseabteilung von Verdi für die großzügige Überlassung des Auswertungsmaterials.
14
Mit unserer Studie wollen wir anregen, dass die Gewerkschaften sich vermehrt mit
der medialen Kritik auseinandersetzen. Die �Medien-Krise� der Gewerkschaften
resultiert zum einen aus dem Vermittlungsproblem ihrer Inhalte. Zum zweiten
müssen Gewerkschaften jedoch auch anhand der Medien kritisch prüfen, ob ihre
Politik, ihre Werte und Überzeugungen noch konsens- und zukunftsfähig sind.
Die Ermittlung der thematisch relevanten Beiträge unterliegt nicht dem Anspruch auf
Vollständigkeit. Wichtiger als tatsächlich jeden Meinungsbeitrag zu erfassen, der im
Jahr 2003 zu Gewerkschaften an sich sowie den genannten Themenschwerpunkten
veröffentlicht wurde, erschien uns, eine möglichst große qualitative Auswahl zu
treffen.
Dabei erfolgte die Auswahl zunächst neutral und war stichwortgeleitet. Sämtliche
Meinungsbeiträge des Pressespiegels wurden gesichtet. Ausgewählt wurden zum
einen Beiträge, die sich als Gegenstand der Berichterstattung explizit mit Gewerk-
schaften und ihrer zukünftigen Rolle auseinandersetzen. Zum zweiten wurden
Beiträge herausgefiltert, die sich mit einem der bereits genannten vier Themen-
schwerpunkte, etwa Tarifverträge, Kündigungsschutz etc., beschäftigten. Ein zweites
Auswahlkriterium für diese Beiträge bestand ferner darin, dass die Themen dabei im
Bezug zu einer oder den Gewerkschaften an sich stehen mussten.
2.4. Auswertungsmethode
Die von uns getroffene Auswahl ist mit etwa insgesamt ca. 260 Meinungsbeiträgen
so groß, dass bei der qualitativen Auswertung die Tendenzen der Berichterstattung
erkennbar sind. Knapp die Hälfte der Beiträge beschäftigt sich mit Gewerkschaften
im allgemeinen. Etwa 140 Beiträge widmen sich den Gewerkschaften im
Zusammenhang mit einem der vier genannten Themenschwerpunkte.
Für die Inhaltsanalyse wurde folgendermaßen vorgegangen:
Für jeden Beitrag kann eine bestimmte Anzahl von Aussagen festgestellt werden.
Zum Beispiel erhält der Satz �Die Gewerkschaften blenden allerdings aus, dass sich
die ausländische Konkurrenz nicht nach deutschen Tarifverträgen richtet. Der
globalisierte Wettbewerb macht nicht Halt an den deutschen Grenzen." (StuttZ,
10.12.) zwei Aussagen:
15
1) Die inhaltliche Aussage: der deutsche Tarifvertrag ist aufgrund des globalen
Wettbewerbs nicht mehr zu halten,
2) die bewertende Aussage: die Gewerkschaften verweigern sich dieser Tat-
sache/Realität.
Bei der Analyse der Meinungsbeiträge wird daher versucht, die inhaltliche Ebene der
Argumentation von der wertenden Beurteilung der Gewerkschaften getrennt zu
betrachten.
Im jeweils ersten Teil unserer Texte zu den gewerkschaftlichen Kernthemen (Teil 3,
bis auf das Querschnittsthema Arbeitslosigkeit) werden zunächst die inhaltlichen
Argumente verschiedenen Oberkategorien zugeordnet. So werden beispielsweise
Aussagen in den Kommentaren, die sich auf die flexible Handhabung von
Flächentarifverträgen in Betrieben oder deren faktische Flexibilität beziehen, unter
dem Hauptargument: "Flächentarifverträge sind flexibler als ihr Ruf" untergeordnet
und dargestellt.7 Wir beabsichtigen damit, die gängigen Argumentationsmuster und
Konfliktlinien nachzuzeichnen, auf die Gewerkschaften inhaltlich antworten müssen.
In einem zweiten Schritt haben wir dann ausdrücklich auf Gewerkschaften bezogene
Aussagen untersucht. Auch diese werden wieder (wie bei den Hauptthemen) unter
verschiedene wertende Hauptaussagen subsummiert und dargestellt. Dabei lassen
sich in der Regel verschiedene Abstufungen der Werturteile über Gewerkschaften in
den Meinungsbeiträgen unterscheiden.
So finden sich bei den Beiträgen zu Flächentarifverträgen etwa eine große Anzahl
von Kommentaren, die das �Tarifkartell" gemeinsam als Flexibilitätshindernis für den
�Stillstand" verantwortlich machen, andere Kommentatoren sind in der Tendenz noch
kritischer und sehen eine �Alleinschuld" ausschließlich bei den Gewerkschaften.
Auf diese Weise können wir Pro- bzw. Contra-Haltung der Medien zu den einzelnen
Themen/Konflikten sowie zu den Gewerkschaften ermitteln. Es lässt sich ebenso
feststellen, inwieweit die verschiedenen Medien den jeweiligen Konflikt konsonant
oder kontrovers thematisieren.
Für die anschließende Einordnung und Interpretation der im Kapitel 3 gefundenen
Ergebnisse werden dann die Kommentare, die sich auf einem allgemeineren Level
mit Gewerkschaften beschäftigen, mit herangezogen (Kapitel 4). Diese sind
7 In einem Kommentar können sich demnach eine Vielzahl von inhaltlichen Aussagen finden, die
unter verschiedenen Oberargumenten aufgeführt werden. Bei der Auszählung der Häufigkeiten haben wir jeden Kommentar jedoch auf sein Hauptargument festgelegt und nur einmal gezählt.
16
thematisch in drei Kategorien unterteilbar: Beinahe alle Artikel widmen sich der Krise,
Spaltung oder Zukunft von Gewerkschaften.8 Die hier vertretenen Meinungen der
Kommentatoren dienen dazu, die konkreten Ergebnisse der Studie zu den einzelnen
Themenfeldern wie Tarifverträge, Kündigungsschutz etc. zu präzisieren. Anhand von
ihnen kann geprüft werden, ob die Tendenzen und Wertungen der Berichterstattung
über gewerkschaftliche Kernthemen auch auf einer höheren Ebene der Abstraktion
verallgemeinerbar sind.
8 Ein großer Anteil der Medienberichterstattung über Gewerkschaften entfällt auf Personaldebatten,
die in dieser Studie nicht berücksichtigt werden. Jedoch wurden Artikel, die sich in personalisierter Form mit der Krise, Spaltung oder Zukunft der Gewerkschaften beschäftigt, mitausgewertet.
17
3. Gewerkschaftliche Kernthemen in den Printmedien
3.1. Flächentarifvertrag und Tarifverhandlungen
Kalendarium der Ereignisse
Kommentare zu Tarifthemen stellen zahlenmäßig im Jahr 2003 den größten Teil in
den Printmedien dar. So findet sich in der FR eine Serie von insgesamt acht
Kommentaren die sich in ausgewogener Weise mit den gängigen Vorurteilen gegen
Tarifverträge beschäftigen. Insbesondere wird nicht nur in der FR betont, dass
bereits heute innerhalb des Tarifsystems ein breites Instrumentarium zu flexiblen
Lösungen für Betriebe existiert, dass vielfach angewendet wird.
Die Kündigung des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst durch das Land Berlin
im Januar zieht eine breite Diskussion über die Verantwortung der Gewerkschaften
für den Steuerzahler und Bürger nach sich, die als die eigentlichen Betroffenen
tariflicher Forderungen im öffentlichen Dienst vorgestellt werden. Während verdi und
das Land Berlin sich vor Gericht wieder finden droht auch das Land Bayern im März
mit dem Austritt aus der Tarifgemeinschaft. Im April beschließt schließlich Baden
Württemberg seinen Ausstieg. Im Juli kommt es in Berlin doch noch zu einer
Tarifeinigung (außer bei der Lehrergewerkschaft): die Tarifparteien einigen sich auf
weniger Arbeit und - sozial gestaffelt - weniger Lohn.
Den ganzen Sommer über gibt es in den Medien Diskussionen über Sinn und
Funktion von Flächentarifverträgen. Vielfach wird zur Verteidigung der Flächentarife
angeführt, dass sie flexibler als ihr Ruf sind. Stimmen, insbesondere der politischen
Opposition und der Wirtschaft, die für eine Abschaffung der Tarifautonomie plädieren
und für die Kanzler Schröder eine Zeit lang offen scheint, werden im September
durch ein Machtwort abgeschmettert: Schröder sichert den Gewerkschaften zu,
Abstand von der Idee gesetzlicher Tariföffnungen genommen zu haben. Dennoch
warnt Jürgen Peters beim Gewerkschaftstag der IG Metall im Oktober die SPD vor
einem Bruch mit den Gewerkschaften.
Bei der Tarifrunde der IG Metall im November fordert die Gewerkschaft vier Prozent
Lohnerhöhung während die Arbeitgeber längere Arbeitszeiten wollen. Zeitgleich
berät der Vermittlungsausschuss über eine gesetzliche Tariföffnung. Im Dezember
kommt es zu einem Kompromiss: die Tarifautonomie bleibt unangetastet, die CDU
18
lenkt ein. Dennoch verstummen auch gegen Jahresende die Debatten um die
Abschaffung des Flächentarifvertrages nicht.
Meinungsspektrum im Zahlen
Flexibilität bei Flächentarifverträgen bereits vorhanden (18 Beiträge)
Flächentarifvertrag schafft Arbeitslosigkeit (6 Beiträge)
Kritik an Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften (5 Beiträge)
Politik muss Macht des Tarifkartells brechen (5 Beiträge)
Globaler Wandel trifft Branchen unterschiedlich (5 Beiträge)
Berlin und Kündigung Flächentarifvertrag (5 Beiträge)
Eindeutig pro Flächentarifvertrag (4 Beiträge)
Konzerne und Betriebsräte wollen Flächentarifvertrag behalten (4 Beiträge)
Zeitarbeit und Tarifvertrag (3 Beiträge)
3.1.1. Argumentationsmuster der Kommentare
Auf die Frage, welcher Argumentationslinie die Printmedien bezüglich Tarifverträgen
bzw. -verhandlungen folgen, gibt es unterschiedliche Antworten. Ein Analysekomplex
beschäftigt sich mit der allgemein konstatierten Transformation unserer Lebens- und
Arbeitswelt, die neuartige Konzepte auch für tarifliche Bündnisse erfordere. Während
ein Teil der Presse einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit
und Tarifverträgen herstellt und sie dementsprechend modifizieren oder, was
seltener gefordert wird, abschaffen will, weisen eine große Anzahl von Kommentaren
auf die bereits faktische Flexibilität der Flächentarifverträge hin und plädieren für eine
Beibehaltung der jetzigen Regelungen mit maximaler Ausnutzung ihrer Spielräume.
Der allgemeinste Nenner der gewerkschaftskritischen Kommentare stellt die explizite
Aufforderung an die Politik dar, jetzt doch endlich zu handeln, um Schlimmeres zu
vermeiden. Dabei werden die Arbeitgeberverbände fast mit den selben Worten wie
die Gewerkschaftsspitze kritisiert. Beide zusammen bilden für die überwiegende
Mehrheit der Presse ein �Tarifkartell,� das wie jedes andere Kartell zu negativen
Effekten � insbesondere für Arbeitslose � führe.
19
Hindernis im Wandel
Ein Hauptargument in den Printmedien gegen Flächentarifverträge betrifft die viel
zitierte Transformation unserer Arbeitsgesellschaft. Die Wirtschafts- und Arbeitswelt
sei vielfältiger denn je, differenzierte und individualisierte Arbeitsbedingungen
erforderten neue Lösungen. Kollektive Regelungen seien angesichts unterschied-
licher Realitäten für Arbeitnehmer heute nicht mehr sinnvoll, so etwa die FR vom
10.12. Die neuen Bedingungen, die auch neue Antworten fordern, werden im
wesentlichen durch folgende Punkte gekennzeichnet:
1. wir befinden uns in einer Wirtschaftskrise.
2. es haben sich die Formen der Arbeit sehr differenziert, was allgemeine
Regelungen und historische Vorbilder obsolet mache. So schreibt etwa die
FTD vom 15.7. in einem Kommentar: �Während ihre (gemeint sind die
Gewerkschaften; die Verf.) Visionen immer noch die Modellrolle des Arbeiters
im Industriebetrieb umkreisen, der wirtschaftlich und politisch unmündig
erscheint, hat sich das wirtschaftliche und politische Umfeld gewaltig
gewandelt. (...) Die Mehrzahl der Arbeitnehmer unterliegt nicht mehr dem
traditionellen Arbeitszeitmodell, und ihre Bereitschaft zu streiken schwindet.�
3. es wird darauf verwiesen, dass die wirtschaftliche Lage in Branchen und
Regionen sich sehr unterschiedlich gestaltet. Standortbedingte und
einzelbetriebliche Realitäten fordern individuelle Lösungen. Insbesondere die
Mittelständler würden von Arbeitgeberverband und Gewerkschaften mit ihren
spezifischen Problemen nicht wahrgenommen. Der Fokus ihrer Tarifpolitik
richte sich immer noch nach den Prinzipien der Großkonzerne aus: �Die
branchenweit einheitlichen Konditionen, auf die sich Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbände verständigen, orientieren sich viel zu oft an den großen
Konzernen und überfordern viele der mittelständischen Betriebe.� (Welt, 24.9.)
4. unter dem Schlagwort Globalisierung wird vielfach darauf hingewiesen, dass
die globale Konkurrenz von den Gewerkschaften in ihrer Tarifpolitik
systematisch ausgeblendet wird. Mit dem Fall nationaler Grenzen würden alle
Schranken der Beschränkung von Konkurrenz, dem Hauptziel von
Tarifverträgen, fallen. �Die Gewerkschaften blenden allerdings aus, dass sich
die ausländische Konkurrenz nicht nach deutschen Tarifverträgen richtet. Der
20
globalisierte Wettbewerb macht nicht Halt an den deutschen Grenzen.
Tarifverträge schützen deshalb ebenso wenig vor Entlassungen wie noch so
gut gemeinte Kündigungsschutzgesetze.� (StuttZ, 10.12.) Und die SZ fasst die
Veränderungen knapp in einem Satz zusammen: �Tatsächlich ist der
Flächentarif unter Globalisierungsdruck geraten.� (SZ, 5.9.) und
5. es wird des Öfteren auch darauf verwiesen, dass der globale Wandel einzelne
Branchen und Unternehmen sehr unterschiedlich trifft (etwa: HB, 25.9., SZ,
5.9., taz, 16.8.) eine Individualisierung von Regelungen sei deshalb
unabdingbar um in einer stark ausdifferenzierten, globalen Wirtschaft zu
bestehen: �Dabei ist in einer immer stärker globalisierten Welt die
wirtschaftliche Entwicklung volatil, der heftige strukturelle Wandel trifft
Branchen und Betriebe ganz unterschiedlich. Doch der Flächentarif in seiner
bestehenden Form verhindert noch immer, dass Betriebe flexibel und
differenziert auf das wirtschaftliche Umfeld reagieren.� (HB, 25.9.)
Wenngleich massive Kritik an der �Starrheit� der Flächentarifverträge geäußert wird,
fällt doch auf, dass praktisch kein Kommentator sich zugleich von der Tarifautonomie
verabschieden will, wie das die FDP und eine Zeit lang auch die CDU gefordert
hatten. Die Tarifautonomie wird immer noch als integraler Bestandteil deutscher
Politik und Arbeitskultur verstanden. �Die Probleme können jedoch kein Grund sein,
um sich � wie Teile der Wirtschaft und Marktliberale es wünschen � von der
Tarifautonomie zu verabschieden. Dazu ist sie zu wertvoll.� (FR 10.12.)
Arbeitslosigkeit als Tarifeffekt
Ein direkter Zusammenhang zwischen der gewerkschaftlichen Tarifpolitik und der
hohen Anzahl Arbeitsloser wird in den Kommentaren verschiedener Medien
gezogen. Aber auch die Arbeitgeberverbände sehen sich mit dem Vorwurf einer
falschen Verhandlungspolitik konfrontiert. Schuld an der Arbeitslosigkeit hat das
�Tarifkartell�, ein Begriff der sofort negative Assoziationen auslöst, denn ein Kartell ist
per se wirtschaftsfeindlich, antiliberal und mit einer implizit kriminellen Aura
umgeben. Das Kartell aus Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, so mehrere
Kommentatoren, trage die Verantwortung für die momentane Misere auf dem
Arbeitsmarkt: �Mit dem unbeirrbaren Festhalten an Flächentarifverträgen sind die
21
Lohnkosten in vielen Unternehmen so in die Höhe getrieben worden, dass den
Betrieben nichts übrig blieb, als sich in Personalabbau, in Entlassungen und
Frühverrentungen zu retten. Die enorme Arbeitslosigkeit ist der Preis für das Wirken
des Tarifkartells.� (Welt 10.7.) Ähnlich argumentiert die SZ: �Denn dass beide Lager
den Flächentarif zum Schaden der Arbeitslosen missbraucht haben, ist unbestritten:
Wer die Löhne erhöht, obwohl die Wirtschaftsleistung schrumpft, erhöht den Preis
eines Gutes, obwohl es weniger nachgefragt wird. Jeden Händler würde das direkt in
die Pleite führen.� (SZ, 4.12.)
Gefordert wird deshalb eine Abkehr vom starren Prinzip des Flächentarifs durch
unterschiedlichste Öffnungsklauseln. �Will man Beschäftigungschancen verbessern,
muss man die Protagonisten des Flächentarifs durch die Option abweichender
Regelungen unter Konkurrenzdruck setzen.� (HB, 8.9.)
Als Fürsprecher der Arbeitslosen fordern einige Kommentatoren Abweichungen im
Flächentarifvertrag zugunsten von Arbeitslosen und die Zustimmung der
Gewerkschaften für solche Maßnahmen. �Solche beschäftigungsorientierten
Abweichungen unter Beachtung der Tarifautonomie würden viele betriebliche
Bündnisse aus ihrer rechtlichen Grauzone herausholen und der Beschäftigungs-
sicherung beim Günstigkeitsvergleich den Vorrang geben, den sie angesichts von
vier Millionen Arbeitslosen haben müsste. Die Gewerkschaften sollten sich zu einem
solchen Reformkonsens zur Modernisierung des Tarifvertragsrechts nicht
verweigern.� (HB, 26.8.)
Mehrmals wird gefordert, dass die Arbeitsplatzsicherheit im Günstigkeitsprinzip9
verankert werden soll, um Entlassungen und Betriebsschließungen zu vermeiden.
�Der Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände und die Union wollen,
dass künftig auch der Erhalt des Arbeitsplatzes als �günstiger� gilt. Wenn der
Betriebsrat zustimmt, soll der Lohn gesenkt oder die Arbeitszeit erhöht werden
können. Im Gegenzug verzichtet der Arbeitgeber auf Kündigungen oder schafft neue
Stellen. Die Gewerkschaften sollen kein Vetorecht bekommen.� (SZ, 24.9.) Das
Günstigkeitsprinzip spiele bis dato eine negative Rolle, in dem die darin enthaltenen
Regelungen Arbeitslosigkeit geradezu herbeiführen helfen. �Im Extremfall führt das
Günstigkeitsprinzip infolge der Rechtssprechung dazu, dass ein Job gleich ganz
9 Paragraf 3, Absatz 4 des Tarifvertragsgesetzes enthält das so genannte Günstigkeitsprinzip. Es
bedeutet, dass Abweichungen von Tarifverträgen nur dann zulässig sind, wenn sie entweder durch den Tarifvertrag gestattet oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers beinhalten.
22
drauf geht, selbst wenn der Arbeitnehmer kürzer arbeiten und einen niedrigeren Lohn
akzeptieren würde.� (SZ, 26.9.)
Garant des sozialen Friedens
Trotz der massiven Kritik an den bestehenden tarifpolitischen Verhältnissen geht
kaum einer der Kommentatoren so weit, eine radikale Abschaffung des
Flächentarifvertrages zu fordern. Die Tatsache, dass auch viele Arbeitgeber in
Umfragen für die Beibehaltung des Flächentarifvertrages votieren, hat vielseitige
Gründe. Ein wesentliches Argument dafür ist für viele, dass der Faktor Arbeit
dadurch in Deutschland kalkulierbar bleibt. Der FTD-Kommentator Wolfgang
Münchau hält aber genau diese Auffassung für ein schockierendes und falsches
Argument. Arbeitgeber sollten sich, so seine Überzeugung, nicht erpressen lassen,
denn der Tarifvertrag sei eine Preisabsprache, also i.e. unlauterer Wettbewerb.
�Normalerweise verbieten wir Kartelle, ein Tarifvertrag aber ist die ultimative
Preisabsprache. Wie schön wäre es, wenn man das Bundeskartellamt auf die
Tarifparteien loslassen dürfte, statt diese Behörde dafür einzusetzen, überfällige
industrielle Umstrukturierungen zu blockieren.� (FTD, 22.7.) Münchau fordert am
Ende seines Beitrages die Unternehmen unmissverständlich dazu auf, aus den
Verbänden auszutreten.
Mit dieser Forderung steht er zwar nicht ganz alleine, die Meinung der Mehrheit der
Kommentatoren vertritt er aber damit bei weitem nicht. Insbesondere das Argument
des �sozialen Friedens� wird vielfach als Beleg für die Nützlichkeit von Tarifverträgen
angeführt: �Die Branchentarifverträge beschränken den Arbeitskostenwettbewerb in
Deutschland, nehmen den Unternehmen zeit- und kostenträchtige Tarifverhandlun-
gen ab, sichern den Betriebsfrieden und verhindern �Häuserkämpfe�. Sie geben den
Betrieben in der vernetzten Wirtschaft Planungs- und Liefersicherheiten.� (HB, 26.8.)
Dass die meisten großen Konzerne den Flächentarifvertrag behalten wollen
berichten etwa das HB (24.9.) und das Magazin der Spiegel (15.9.) unisono. Dieser
Wunsch ist sogar so groß, dass Vertreter der Industrie bei Kanzler Schröder dafür
votieren. �Die meisten großen Konzerne wollen am liebsten am Flächentarifvertrag
festhalten und wurden deshalb sogar im Kanzleramt vorstellig.� (HB, 24.9.) Stimmen
23
Pro Flächentarif sind in unterschiedlichsten Printmedien immer wieder zu finden
(etwa: Berliner, 4.12., FR, 26.11., FR, 5.11., HB, 26.8.)10
Neben der Arbeitgeberseite wollen die meisten Betriebsräte den Flächentarif
ebenfalls behalten, so berichten zumindest einige Kommentatoren anhand
empirischer Daten. Eine Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaft-
lichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung ergab, dass 42 Prozent der
Betriebsräte eine �Verbetrieblichung der Tarifpolitik� für problematisch halten. Die taz
schreibt dazu: �Sie sehen sogar explizit einen Bedarf an �Rezentralisierung�: die
Hälfte der Betriebsräte wünschen sich eine stärkere Nutzung des Instruments der
Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifnormen.� (taz, 5.8.) Dieser Wunsch hat mit
dem Gefühl einer Überforderung zu tun, da eine genaue Einschätzung der
ökonomischen Lage von Seiten der Betriebsräte ja zur Voraussetzung eine präzise
Kenntnis der betriebswirtschaftlichen Kernzahlen ihres Betriebes als auch der
Gesamtbranche verlangt. Ein Wissen, über das nur die Tarifparteien wirklich
verfügen. ��Lieber weniger Einkommen aber dafür einen sicheren Arbeitsplatz� � das
kann im Einzelfall zutreffen. Aber nur die Tarifvertragsparteien können einigermaßen
sicher einschätzen, ob ein Unterschreiten der Tarifvertragsbedingungen notwendig
ist und den Beschäftigten nützt.� (FR, 26.11.)
Flexibler als sein Ruf
Einen breiten Raum nehmen Kommentare in unterschiedlichsten Printmedien ein, die
betonen, dass die geforderte Flexibilität bei den Tarifverträgen schon längst
Allgemeingut geworden ist. Nur einige wenige Stimmen dazu: �Wer heute noch die
Starrheit von Tarifverträgen kritisiert und unbekümmert mehr Flexibilität fordert, hat
vermutlich seit Jahren keines dieser Abkommen mehr gelesen.� (FR, 27.11.)
�Übertrieben sind außerdem Klagen, das Tarifsystem sei unflexibel. Wahr ist
vielmehr, dass die Gewerkschaften � mit wenigen, empörenden Ausnahmen � Not
leidenden Betrieben sehr wohl Abweichungen vom Tarifstandard erlauben.� (SZ,
10 Dass der Flächentarif auch in Europa kein Auslaufmodell ist, berichtet die FR vom 5.12. �In
Europa kann von einem Trend zu einer Dezentralisierung der Tarifvertragssysteme keine Rede sein� Ausnahme bleibt hier lediglich Großbritannien. Und �entgegen manchen Behauptungen schneiden Länder mit Flächentarifvertragssystemen in wirtschafts- und beschäftigungspolitischer Hinsicht keineswegs schlechter ab.� (ebd.)
24
20.6.) Und der ansonsten sehr gewerkschaftskritische Spiegel fasst in einem Satz
zusammen: �Der Flächentarifvertrag ist besser als sein Ruf� (Spiegel, 15.9.)
Dass Gewerkschaften und Betriebsräte in vielen Fällen eine flexible und individuelle
Handhabung von Tarifverträgen zulassen, wird öfters positiv erwähnt. Die Flexibilität
bei Tarifverträgen sei längst schon vorhanden, insbesondere im Osten werde sie
nicht nur geduldet sondern auch aktiv von den Gewerkschaften unterstützt. �Es ist
nicht wahr, dass die Gewerkschaften Abweichungen von Tarifverträgen massiv und
systematisch boykottieren. Wahr ist, dass bereits in den vergangenen Jahren mehr
als ein Drittel aller Firmen � mit Zustimmung der Gewerkschaftssekretäre � von den
Standards der Tarifverträge abgewichen ist und eigene, unternehmensspezifische
Modelle entwickelt hat.� (Berliner, 5.12.; inhaltlich ähnlich argumentiert auch die ZEIT
vom 4.12.)
Als Instrumentarium für eine Öffnung starrer Tarifverträge werden mehrmals
Arbeitszeitkorridore vorgeschlagen. Dabei werden die Gewerkschaften selbst als die
Vertreter eines solchen Modells angeführt. �Die von Gesamtmetall geforderten
Arbeitszeitkorridore weisen den richtigen Weg: Je nach Situation des Betriebes
sollen Geschäftsführung und Betriebsrat nicht nur kürzere, sondern auch längere
Arbeitszeiten vereinbaren können.� (FAZ, 21.11.) Angesichts der realen Praxis
fordert das HB eine Transformation der Tarifverträge in flexible Instrumente, die der
betrieblichen Wirklichkeit näher kommen als die herrschenden Regelungen. �Die
Flucht durch solche Notausgänge (tarifliche Öffnungsklauseln und Härtefallrege-
lungen) würde überflüssig, wenn Branchentarifverträge von vornherein Entgelt- und
Arbeitszeitkorridore vorsähen.� (HB, 26.8.) Die Konsequenz daraus muss lauten:
�Flächentarifverträge müssen zu Rahmentarifverträgen mit Entgelt- und
Arbeitszeitkorridoren werden.� (HB, 14.10.)
In zehn Prozent der Fälle träfen Betriebsräte und Unternehmen auch
Vereinbarungen von denen die Gewerkschaft nichts erfahre, sie bewegten sich also
in der Grauzone der Illegalität.
Schlechter als die Betriebsräte vor Ort kommen ihre Pendants auf
Unternehmensseite weg: �Während die Arbeitgeber etwa jedes siebte beabsichtigte
Bündnis blockierten, haben die Betriebsräte nur ein Prozent platzen lassen.� (FR
29.11.) Insgesamt gehen viele Kommentatoren davon aus, das die Forderungen
25
nach Öffnungsklauseln für Tarifverträge Scheingefechte sind, die Realität hat
individuelle Abweichungen längst schon zum Standard gemacht.11
Abschließend sei hier noch die WiWo (27.11.) zitiert, die im Streit um den
Flächentarifvertrag ein salomonisches Urteil spricht: �Das Schöne an der Diskussion
ist nicht nur, dass Rhetorik und Realität längst auseinander fallen, sondern dass alle
(mehr oder weniger) Recht haben: Die Tarifpartner sind flexibel und nicht flexibel
genug. Die Deutschen müssen länger arbeiten und kürzer treten können. Die
Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen muss mit Lohnkürzungen erhalten und die
Arbeit intelligenter verteilt werden.� (Herv. im Orig.)
3.1.2. Die Bewertung der Gewerkschaften
Monopolisierung der Tarifverhandlungen
Angesichts der Kritik an den Tarifparteien verwundert es nicht, wenn in den
Printmedien ein Akteur angerufen wird, der ansonsten selbst mit einem negativen
Image behaftet ist: die Politik. Von ihr erwarten viele einen �Imperativ des Handelns�,
um das festgefahrene Tarifkartell wieder in Bewegung zu bringen. Die
Arbeitgeberverbände werden in ihrer Rolle dabei fast genauso scharf kritisiert wie die
Gewerkschaften. Sogar den Begriff des Blockierers, ansonsten Synonym mit
Gewerkschaften gesetzt, muss die Arbeitgeberseite sich gefallen lassen: �Die
Sozialpartner schaffen es nicht, selbständig das Tarifsystem so zu modernisieren,
dass Betriebe und ihre Mitarbeiter flexibel auf Krisen reagieren können. Die
Blockierer auf beiden Seiten haben einen Kompromiss verhindert.� (SZ, 4.12.)
Vorgeworfen wird �beiden Seiten� eine Monopolisierung der Tarifverhandlungen ohne
Einbeziehung der betroffenen Instanzen. Der Funktionär als die negative Figur per se
wird als Verantwortlicher ausgemacht. �Aber beide, die Funktionäre von Arbeitgebern
und Gewerkschaften, wollen nicht, dass Betriebsräte und Betriebsleitungen über
Lohnhöhe und Arbeitszeit entscheiden. Selbst wenn eine Mehrheit der Beschäftigten
11 Auf die Tatsache, dass auch Arbeitsverhältnisse unter Tarif längst schon Realität in Deutschland
sind, verweist in populistischer Manier die Bild-Zeitung: �Doch zehntausend Arbeitnehmer in vielen Branchen werden von solchen Verhandlungen (Tarifverhandlungen) nichts haben. Sie schuften bereits jetzt unter Tarif, weil sie keinen besseren Job finden.� (BILD, 2.3.) Angeführt werden zwei Angestellte privater Wachfirmen die 4,12 bzw. 4,49 Euro Brutto pro Stunde verdienen. Wenngleich sich die BILD-Zeitung als die �Stimme des kleinen Mannes� stilisiert, trifft sie hier ein wichtiges Thema.
26
es will! Die Funktionäre von Gewerkschaften und Arbeitgebern kommen mir so vor
wie zwei angeschlagene Boxer, die sich bis zum Gong umklammern. Damit ja keiner
umfällt. (BILD, 15.7.)12
Und das Handelsblatt konstatiert knapp: �Die Regelungsmacht des Kartells aus
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden muss gebrochen werden.� (HB, 25.9.)
Einige Kommentatoren fordern: Wenn die Tarifparteien keine Lösung für die
Probleme des Arbeitsmarktes finden können, dann sollen sie de facto, nach einer
Fristsetzung, entmachtet werden. �Per Gesetz sollten Arbeitgeber und
Gewerkschaften ein Jahr bekommen, um sich in Tarifrunden doch auf
Öffnungsklauseln zu einigen. Anderenfalls muss ihnen aber das Vetorecht gegen
Lohnabschlüsse auf Betriebsebene automatisch entzogen werden.� (SZ, 4.12.)
Prinzipiell zielt die Forderung der überwiegenden Mehrheit der Kommentare darauf,
dass die Politik die Macht der Funktionäre brechen muss. Die FAZ fragt lediglich
noch rhetorisch: �Welche Anstöße braucht die Politik noch, um die Macht der
Funktionäre durch gesetzliche Öffnungsklauseln zu durchbrechen?� (FAZ 11.11.)
Immer wieder wird die Politik angerufen jetzt doch endlich zu handeln. Manchmal
fordern vereinzelte Stimmen auch, der Flächentarif selbst solle zur Disposition
stehen. �Die Politik sollte jetzt handeln. Es geht nicht darum, die vom Grundgesetz
geschützte Freiheit der Koalition zu beschneiden. Aber dem Flächentarif muss sein
monopolistisches Privileg genommen werden. Mit Öffnungsklauseln, die vom
Zustimmungswohl der Tarifparteien abhängen, ist es freilich nicht getan. Der
Flächentarif selbst muss sich dem Wettbewerb alternativer Lohnfindung stellen. Was
ist das für ein illiberales Land, in dem Belegschaften und Management durch
gesetzliches Verbot nicht über ihr Einkommen befinden dürfen? Dürften sie es, sie
hätten die Chance Beschäftigung auszubauen.� (FAZ, 31.10
Manche Kommentatoren verlangen eine generelle Änderung des Betriebsver-
fassungsgesetzes, damit die Unternehmen selbst ihre eigene Tarifpolitik gestalten
können. �Wenn Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände nicht in der Lage sind,
sich auf eine solche Flexibilisierung des Flächentarifvertrages zu verständigen, sollte
der Gesetzgeber das Tarifkartell aufbrechen und mit einer Änderung des
12 Der Autor des Kommentars ist wieder einmal Hans-Olaf Henkel der sich in der Attitüde des
Kritikers von Gewerkschaften aber insbesondere auch seiner ehemaligen Arbeitgeberfreunde zusehends gefällt. Denn für �fast genauso schädlich� wie die Gewerkschaften halte er die Arbeitgeberverbände. Beide seien �Bestandteil dieses Tarifkartells.� (zit. nach: ND vom 15.7.)
27
Betriebsverfassungsgesetzes die Betriebe ermächtigen, ebenfalls Tarifpolitik zu
betreiben:� (Welt, 24.9.)
Ebenfalls gefordert wird, dass Freiräume für Arbeitgeber und Gewerkschaften in
puncto Arbeitszeit und Entlohnung an die Betriebe weitergegeben werden.
Vorschläge für generelle Öffnungsklauseln sollen dann als angenommen gelten,
wenn zwei Drittel der Belegschaft und der Betriebsrat zustimmen.
�Betriebsvereinbarungen über eine Abweichung vom Flächentarif sollten generell
möglich sein, sofern eine qualifizierte Mehrheit der Belegschaft dies für sinnvoll hält.�
(HB, 25.9.)13
Gewerkschaft kontra Steuerzahler
Ein spezielles Problem innerhalb der Kommentare zum Tarifsystem ist der
Öffentliche Dienst. Exemplarisch ist dafür die Berichterstattung über die Kündigung
des Flächentarifvertrages durch das Land Berlin. Überwiegend wird dieses Verhalten
begrüßt. Mit der Polarisierung von Arbeitnehmer und Steuerzahler (der letztendlich
der Leidtragende hoher Tariflöhne im Öffentlichen Dienst sei) wird der Konflikt
zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaften auf ein gesellschaftlich hoch
aufgeladenes Terrain verschoben: der �arme Steuerzahler� wird, wie der Arbeitslose,
zum �Opfer� gewerkschaftlicher Politik und erhält in den Printmedien seine eigene
Lobby. Berlin gilt daher als Vorzeigefall, der anderen Ländern Mut machen soll.
�Berlin macht Ernst und steigt aus dem ruinösen Flächentarifvertrag aus. Ein
Beispiel, das den anderen öffentlichen Arbeitgebern dringend zur Nachahmung
empfohlen sei. Denn offenbar ist dies die einzige Möglichkeit, den Verdi-
Gewerkschaftsvorsitzenden Frank Bsirske noch daran zu hindern, die öffentlichen
Kassen und damit die Steuerzahler auszuplündern.� (FAZ, 8.1.)14 Gefordert werden
in diesem Zusammenhang dringende Reformen im öffentlichen Dienst: dazu gehören
ein Personalabbau in der klassischen Verwaltung, die Privatisierung öffentlicher
Dienstleistungen und die Abschaffung starrer Tarifstrukturen (siehe: ZEIT, 2.1.,
ähnlich FAZ, 8.1. oder Spiegel, 13.1.)
13 Was diese �qualifizierte Mehrheit� konkret bedeutet wird nicht genauer ausgeführt. 14 Berlin und die Kündigung des Flächentarifvertrages sind ein Dauerthema 2003. Die Einigung im
Tarifstreit auf weniger Geld und weniger Arbeit wird dann von allen Seiten begrüßt: �Nach dem Rezept� �weniger arbeiten ohne Lohnausgleich� sinken die Einkommen � sozial gestaffelt � netto
28
Einige Kommentare empfehlen, in der Wirtschaftspolitik nicht die Versäumnisse der
Tarifpolitik zu wiederholen. Im Gegenteil soll die Wirtschaftspolitik sich aus den
Förderstrukturen weitgehend zurückziehen. �Schon gar nicht darf die staatliche
Wirtschaftspolitik als Reparaturbetrieb für tarifpolitisches Fehlverhalten herhalten,
etwa indem sie sich in Form einer Ausweitung der aktiven Arbeitsmarktpolitik in
Ostdeutschland in die Pflicht nehmen lässt, wie das insbesondere von
Gewerkschaftsseite verlangt wird.� (FAZ, 2.7.)
Vereinzelt fordern Kommentatoren auch eine Einschränkung des Streikrechts. Denn
in einem Arbeitskampf im öffentlichen Dienst stehen sich �Arbeitnehmer und
Steuerzahler� gegenüber (FAZ am S., 5.1.). Aufgabe der Politik sei es aber den
Bürger vor übertriebenen Forderungen und gesellschaftlichem Chaos (etwa vollen
Mülltonnen, Zusammenbrechen der Infrastruktur etc.) zu schützen.
Tarifpartei - nicht mehr und nicht weniger
Dass die Gewerkschaften im Kern Tarifparteien sind, wird in den Printmedien des
Öfteren ausgesprochen. Den Gewerkschaften wird damit ihr Platz in der Gesellschaft
zugewiesen. �Sie sollten sich künftig viel stärker auf ihr ureigenes Terrain
konzentrieren, anstatt sich in der Politik zu verhaspeln. Die Gewerkschaften sind
keine politischen Umverteilungsmaschinen. Sie sind Tarifparteien- nicht mehr und
nicht weniger. (Welt, 7.10., vgl. auch Berliner, 29.9.)15
Das gewerkschaftsfreundliche ND macht in diesem Zusammenhang in einem Artikel
vom 10.7. deutlich, dass die Gewerkschaften nur als starke Tarifparteien eine
gewichtige gesellschaftliche Stimme erhalten. Nach der �Niederlage� im Streik für die
35-Stunden-Woche im Osten und der Akzeptanz von Öffnungsklauseln bei den
Metallern als auch beim wenig erfolgreichen Streit mit dem Land Berlin schreibt der
Kommentator: �Als Tiger gesprungen, als Bettvorleger gelandet � bei den deutschen
Gewerkschaften läuft alles schief. (ND 10.7.) Da bereits das Kerngeschäft der
Gewerkschaften, die Tarifpolitik, in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit versage,
zwischen vier und acht Prozent. Als Gegenleistung gibt es eine Beschäftigungsgarantie bis 2009. Das ist wahrlich neu im deutschen öffentlichen Dienst.� (Welt, 2.7.)
15 Die Debatte um die Auflösung des Flächentarifvertrages ist ein essentieller Angriff auf das gewerkschaftliche Selbstverständnis: �Verliert der Flächentarif aber mangels Masse oder mangels Realitätsbezug diese Funktion (Referenzmaßstab für viele Betriebe zu sein; die Verf.), so wird er alsbald auch kein Fundament mehr für eine auf die Gesamtbranche bezogene Gewerkschafts-arbeit abgeben.� (HB, 23.6.)
29
bliebe politisch kaum mehr Kraft für andere Themen übrig. �Nur wenn sie (die
Gewerkschaften; die Verf.) tariflichen Erfolg haben, können sie ins gesellschaftliche
Gespräch eingreifen. Doch Erfolge im Kerngeschäft sind unmöglich, solange diese
Debatte aus Schimpftiraden gegen Arbeitnehmervertreter besteht.� (ND, 10.7.)
Gewerkschaftliche Doppelmoral
Ende Oktober schreibt das Handelsblatt stellvertretend für viele ähnlich lautende
Kommentare: �Die derzeit so große Kluft zwischen kompromisslosem politischem
Anspruch und schwer überschaubarer tarifpolitischer Realität ist einer der Gründe,
weshalb die Gewerkschaften so sehr an Anziehungskraft verlieren.� (HB, 23.10.).
Der Widerspruch zwischen einem tarifpolitischen Pragmatismus einerseits und der
fundamentalistischen Haltung in politischen Fragen andererseits mache
gewerkschaftliche Politik zunehmend unglaubwürdig. Gefordert wird eine �neue
Ehrlichkeit�, die endlich Schluss macht mit den offensichtlichen Widersprüchen ihrer
Haltung zu anstehenden Problemen:
�Die Gewerkschaften würden sich selbst einen Gefallen tun, wenn sie sich offensiv
zu ihrer flexiblen Praxis bekennen und daraus eine Strategie entwickeln würden. (...)
Zudem müssen qualitative Ziele wie Weiterbildung und Beschäftigungssicherheit
stärker in den Vordergrund treten. Es ist unglaubwürdig, wenn Gewerkschaften
einerseits in Tarifrunden lauthals mehr Geld fordern, und andererseits still und leise
mit ungezählten Betrieben Sonderregelungen vereinbaren, um Stellen zu erhalten.
Weil sie diese falsche Doppelstrategie jahrelang praktiziert haben, hat sich bei vielen
Bürgern der Eindruck festgesetzt, Gewerkschaften würden nichts gegen die Jobkrise
tun. Tatsächlich wurde viel getan. Allerdings haben Gewerkschaften keine klare
Strategie gegen Massenarbeitslosigkeit und die gesellschaftliche Ausgrenzung von
Jobsuchenden � ebenso wenig wie Arbeitgeber-Verbände und Politik.� (FR, 29.9.)
Ohne eigene Konzepte und Vorschläge werde die Gewerkschaft �nicht aus der Ecke
der Blockierer herausfinden.� (FAZ, 1.9.) Die neue Aufgabe der Gewerkschaften
müsse sich an den wirtschaftlichen Notwendigkeiten und weniger an Standes-
interessen orientieren. �Die Gewerkschaften werden weiter gebraucht. Sie müssen
ihre Rolle aber neu definieren und sich Ziele suchen, die im Einklang mit
wirtschaftlicher Vernunft stehen. Dazu gehören die Rückkehr zu längeren und vor
30
allem flexibleren Arbeitszeiten und niedrigere Mindestlöhne für gering Qualifizierte.�
(FTD, 15.7.)
Resümee
Das traditionelle Kerngeschäft der Gewerkschaften, die Tarifpolitik, findet in den
Printmedien breite Aufmerksamkeit. Neben personalisierten Beiträgen, bilden
tarifpolitische Kommentare den größten Teil der Auseinandersetzung mit den
Gewerkschaften. Drei Punkte lassen sich dabei festhalten:
Erstens werden die veränderten Realitäten einer globalisierten und
ausdifferenzierten Arbeitswelt den kollektiven und �nationalen� Lösungen der
Gewerkschaften gegenübergestellt. Der Flächentarifvertrag in seiner jetzigen Form
erscheint so als nicht mehr zeitgemäß. Zweitens macht sich die Presse, in
Abgrenzung zu einer als den reinen Mitgliederinteressen unterstellten wahrenden
gewerkschaftlichen Politik, zum Fürsprecher von Arbeitslosen und Steuerzahlern. Die
(angeblich) starren Tarifverträge werden als Hauptproblem für die Schaffung von
Arbeitsplätzen bzw. für die Verschuldung der Kommunen und Länder identifiziert.
Drittens werden Betriebsräte vor Ort und Gewerkschaftsfunktionäre gerne
gegeneinander ausgespielt. Während der Betriebsrat im Unternehmen vielfach als
kooperativ erscheint ist der Funktionär der sprichwörtliche Blockierer. Dass die
betriebliche Realität längst den Dogmatismus der Funktionäre absurd macht, ist ein
weit verbreitetes Argument. So wird durchaus zugestanden, dass der
Flächentarifvertrag flexibel gehandhabt wird. Die Rhetorik der Gewerkschaftsführung
sei aber nach wie vor von fundamentalistischen Haltungen geprägt. Eine
Abschaffung des Flächentarifvertrages wird nur von wenigen Kommentatoren
verlangt. Die in Deutschland vorherrschende Kompromisskultur und die Wahrung
des sozialen Friedens sind für viele ein starkes Argument für die Beibehaltung der
jetzigen Regelungen.
31
3.2. Kündigungsschutz
Kalendarium der Ereignisse
Losgetreten wird die Debatte um den Kündigungsschutz im Januar des von Kanzler
Schröder angekündigten Reformjahres 2003 durch Wolfgang Clement. Eine
Lockerung des Kündigungsschutzes, so der Minister, würde vor allem in kleinen
Betrieben die Schwelle für Neueinstellungen senken. Bisher verhindere der enge
deutsche Kündigungsschutz die Schaffung neuer Arbeitsplätze insbesondere im
Mittelstand, da Betriebe bis zu fünf Mitarbeitern sich scheuten, aufgrund der dann
greifenden strafferen Kündigungsregelung mehr Leute einzustellen. Im Februar
signalisiert Verdi ihrerseits Bereitschaft, über eine Änderung des Kündigungs-
schutzes nachzudenken, was der Verdi-Vorsitzende Bsirske allerdings kurz darauf
widerruft.
Die Schwelle, von der an ein strafferer Kündigungsschutz gilt, war erst in der
vergangenen Legislaturperiode auf Druck der Gewerkschaften durch Clements
Vorgänger Walter Riester von zehn auf fünf Mitarbeiter herabgesetzt worden. Zur
Änderung des Kündigungsschutz-Rechts reicht jedoch eine Mehrheit im Bundestag
aus. Die Gewerkschaften befanden sich in der Defensive. Um ihr Image als
�Neinsager der Nation� (FTD, 27.2) nicht weiter zu befördern und stattdessen als
�konstruktive Gestalter" (ebd.) wahrgenommen zu werden, signalisierten die der
Lockerung ablehnend gegenüber stehenden Gewerkschaften jedoch letztlich
Gesprächsbereitschaft. Am Rosenmontag kam es im Bundeskanzleramt zu einem
Treffen zwischen DGB, Kanzler Schröder und den Spitzen der Arbeitgeberverbände.
Vor allem in den ersten beiden Monaten des Jahres werden in der Presse die
beinahe täglich wechselnden Reformkonzepte des Kündigungsschutzes
kommentiert. Clements Vorschlag ist zunächst, die derzeitige Schwelle von fünf auf
acht Mitarbeiter anzuheben und danach im Falle betriebsbedingter Kündigungen,
Abfindungszahlungen gesetzlich zu fixieren. Ebenfalls von ihm in die Diskussion
eingebracht wird die Einführung einer Gleitregelung. Immer wieder beschäftigt das
Thema Kündigungsschutz auch im Sommer die Medien. Folgendes Reformpaket
wird schließlich verabschiedet: Der gesetzliche Kündigungsschutz gilt künftig nur
noch für Betriebe mit mindestens elf Beschäftigten (bisher fünf). In kleineren
Betrieben sind nur die neu eingestellten Mitarbeiter vom Kündigungsschutz
32
ausgenommen. Bis fünf Mitarbeiter gilt gar kein Kündigungsschutz. Für bereits
bestehende Arbeitsverhältnisse ändert sich nichts.
Meinungsspektrum in Zahlen
Reform Kündigungsschutz geht nicht weit genug (5 Beiträge)
Lockerung schafft mehr Jobs (4 Beiträge)
Lockerung schafft keine Jobs (3 Beiträge)
Symbolthema Kündigungsschutz (3 Beiträge)
Dänen sind bei flexiblen Kündigungsschutz Vorbild (2 Beiträge)
Sozialauswahl hemmt Leistungskraft der Betriebe (2 Beiträge)
Gesetzlich festgelegte Abfindungen (1 Beitrag)
Änderung Kündigungsschutz als Glaubwürdigkeitskrise der Regierung (1 Beitrag)
3.2.1. Argumentationsmuster der Kommentare
Die Reform des Kündigungsschutzes wird in den untersuchten Meinungsbeiträgen
unter verschiedenen Schwerpunkten diskutiert. Die große Mehrheit der Kommentare
befindet, dass der Kündigungsschutz die Neuschaffung von Arbeitsplätzen
verhindere und daher reformbedürftig sei. Er verteuere den Faktor Arbeit und
verursache hohe Lohnnebenkosten, die letztlich am Arbeitsmarkt als
Einstellungshindernis und Flexibilitätsbremse wirkten.
Generell beklagt eine Mehrheit, dass die von Minister Clement geplanten
Änderungen nicht tiefgreifend genug seien. Nur eine verschwindend geringe Zahl
von Kommentatoren steht der Reform des Kündigungsschutzes kritisch gegenüber
und sieht in einer Lockerung die Gefahr noch höherer Arbeitslosigkeit.
Ein zweiter großer Analysekomplex beschäftigt sich mit dem Kündigungsschutz als
Symbolthema für einerseits die Gewerkschaften und anderseits die Regierung, die
mit den Änderungen ihre Reformfähigkeit beweisen soll. Beinahe ohne Ausnahme
wird die politische Klasse aufgefordert, endlich zu handeln und Mut gegenüber den
Gewerkschaften zu zeigen. Einige Kommentare greifen das Thema unter juristischen
Aspekten auf. Sie verlangen gesetzlich festgelegte Abfindungen im Falle von
arbeitgeberseitigen Kündigungen. Auch die bisherigen Regelungen zur
33
Sozialauswahl sollen nach Meinung vieler Stimmen reformiert werden. Als �Vorbild"
eines deregulierten Arbeitsmarktes mit niedriger Arbeitslosigkeit (fünf Prozent) und
lockeren Kündigungsschutzregelungen wird Dänemark genannt.
Mehr Jobs durch weniger Schutz
Bis auf drei Ausnahmen befürworten alle Kommentare die Lockerung des
Kündigungsschutzes. Eine ablehnende Haltung gegenüber der von Clement
angestoßenen Reform findet sich höchstens dahingehend, dass sie vielen
Journalisten und Experten nicht weit genug geht. Eine typische Forderung lautet, die
Reform des Kündigungsschutzes müsse in weitreichendere Reformen eingebettet
werden.
Die gängige Argumentationslinie der Medien in Bezug auf den Kündigungsschutz
lautet folgendermaßen: Wenn der Kündigungsschutz erst einmal gelockert sei, dann
stellten die Firmen mehr Leute ein, weil sie sie bei Bedarf auch leichter wieder los
würden. Folglich verhindere der starre Kündigungsschutz Beschäftigungszuwächse
und verursache Arbeitslosigkeit. Die Stoßrichtung dieser Argumentation bringt die
FTD vom 20.1. in ihrer Überschrift besonders prägnant auf den Punkt: �Mehr Jobs
durch weniger Schutz". Der Journalist Christoph Keese schreibt: �Der
Kündigungsschutz ist eine ernste Flexibilitätsbremse und Einstellungshindernis
ersten Ranges. Wer sich als Vorkämpfer für Bürokratieabbau geriert, ohne den
Kündigungsschutz anzutasten, macht sich lächerlich." (FTD, 20.1.)
Bei genauerer Analyse zeigt sich: Empirisch belegen können die
Flexibilisierungsbefürworter diese These nicht. Die Argumentation des
gewerkschaftskritischen FTD-Redakteurs Christoph Keese ist besonders gewagt, die
darin implizit enthaltene Wertung des Kündigungsschutzes ist jedoch durchaus nicht
singulär: Keese kommt zum Schluss, dass ein verminderter Kündigungsschutz
letztendlich auch mehr Sicherheit für die Beschäftigten bedeute: �Erlaubt man ihr
diese Flexibilität, schwankt die Beschäftigung mit der Konjunktur. Menschen verlieren
zwar hin und wieder ihren Job, finden aber schnell wieder einen neuen: Ihre
ökonomische Sicherheit steigt, weil sie nicht vom Wohl und Wehe eines einzelnen
Arbeitgebers abhängen. Behindert man die Flexibilität hingegen per
Kündigungsschutz, heuern Unternehmen so wenig neue Leute wie möglich an. Die
Abhängigkeit der Mitarbeiter von der Firma steigt." (FTD, 20.1.)
34
Zwei Kommentare verweisen auf das �Vorbild Dänemark" (FR, 16.12.; Wams, 25.5.)
und werten die dortige Flexibilität als Beleg für die These eines Zusammenhanges
zwischen lockerem Kündigungsschutz und einer Belebung des Arbeitsmarktes:
�Obwohl jeder vierte Däne einmal pro Jahr ohne Job ist, liegt die Arbeitslosenquote
bei nur fünf Prozent." (Wams, 25.5.) Daher sieht die Wams in ihrer Überschrift die
�Kündigung als Chance�(ebd.) an.
Der einzig wirkliche Versuch zu belegen, welche Wirkung der Kündigungsschutz auf
die Schaffung von Arbeitsplätzen hat, wird in einem längeren Beitrag des
Arbeitsmarkexperten Günter Schmid unternommen, der in der FR vom 8. Juli
kommentiert (Abdruck aus WZB-Mitteilungen = Wissenschaftszentrum Berlin für
Sozialforschung). Im internationalen Vergleich gebe es keinen Hinweis für einen
signifikanten Zusammenhang zwischen Kündigungsschutzregeln und Höhe der
Arbeitslosigkeit oder Beschäftigung. Zwar beschleunige sich die Beschäftigungs-
dynamik ohne Kündigungsschutz, dies gelte aber sowohl für Einstellungen im Falle
eines Aufschwungs als auch für Entlassungen im Falle eines Abschwungs. Schmid
spricht sich gegen die Veränderung der Kündigungsschutzschwellen aus. Für
erfolgsversprechender hält er, die Sozialauswahl und Abfindungsregeln zu
reformieren.
Alle anderen Meinungsbeiträge, die für eine Lockerung des Kündigungsschutzes
plädieren, bewegen sich auf der Ebene von Behauptungen.
Kein Beschäftigungswunder durch Lockerung
Es gibt nur einige wenige Ausnahmen in 2003, die von der gängigen
Argumentationslinie abweichen. Auffallend ist, dass alle diese Kommentare in der FR
abgedruckt wurden. Dass Unternehmen durch eine Lockerung des
Kündigungsschutzes ihren Mitarbeitern leichter kündigen können und folglich in
Krisenzeiten Leute schneller entlassen werden und damit die Arbeitslosigkeit noch
gesteigert werden könnte, ist in der Presse in nur zwei Kommentaren zu lesen (FR,
26.2.; FR, 6.2.). So lässt die FR vom 6. Februar einen Gastkommentator
(Arbeitsrechtler) zu Wort kommen, der die These vertritt, mit der Lockerung des
Kündigungsschutzes steige die Arbeitslosigkeit. �Die Unternehmen könnten den
Einsatz der Arbeitskräfte noch besser an den jeweiligen Bedarf anpassen. Die
Erfahrungen von 1996 bis 1998, als die Erwerbslosenzahl trotz oder wegen der
35
damaligen Deregulierung stieg, belegten dies." Noch ein weiteres Mal stellt sich die
FR gegen den üblichen Strom, allerdings mit einer anderen Schlagrichtung. Im
Kommentar vom 18. Januar empört sich der Autor darüber, dass Clement sich über
sein Wahlversprechen hinwegsetzt, die Schutzrechte der Arbeitnehmer zu wahren.
Am Ende hält der Autor die Reform des Kündigungsschutzes jedoch angesichts der
�chronischen Massenarbeitslosigkeit" für �legitim" (ebd.).
Ebenfalls etwas differenzierter argumentiert die SZ vom 1. März: �Die Lockerung wird
kein Beschäftigungswunder von heute auf morgen schaffen, sie wird die hohe
Arbeitslosigkeit nicht nennenswert drücken. (...) Wer das behauptet, schwindelt oder
kennt sich nicht aus." Die Argumentation zielt auf den Symbolwert des Themas ab.
Es gelte die Reformfähigkeit Deutschlands zu beweisen: �Die Reform wäre ein
wichtiges Signal an die Unternehmen. (...) Sie würde psychologische Barrieren
einreißen". Das Fazit lautet daher ähnlich wie in den anderen Kommentaren: �Also
mehr Jobs - aber später."
Symbolthema für Gewerkschaften und Regierung
Ein wichtiger Analysekomplex in den Kommentaren rückt den Symbolwert des
Themas Kündigungsschutz in den Mittelpunkt. �Die Gewerkschaften haben den
Kündigungsschutz zum Herzensanliegen hochstilisiert�, schreibt etwa die FTD vom
27. Februar. �Der Kündigungsschutz bleibt Reizthema der Republik�, lautet auch die
SZ-Unterzeile (21. 2.) zur Überschrift �Bloß nicht bewegen.�
Den Widerstand der Gewerkschaften gegen eine Änderung und ihre Drohung, das
Bündnis für Arbeit zu verlassen, führen beinahe alle Kommentatoren nicht auf
inhaltliche Bedenken zurück, sondern auf ein reines Machtgebaren und strategische
Überlegungen der Gewerkschaften: �Im Gegenzug bleiben die Gewerkschaftsbosse
mehrheitlich bei ihrer Blockade. Wer sich als erster bewegt, läuft schließlich auch
Gefahr, bei internen Machtkämpfen an Boden zu verlieren.� (SZ, 21.2.).
Aber auch für die Regierung wird der enorme Symbolwert des Gesetzes betont - hier
allerdings mit einer wohlwollenden Blickrichtung: �Die Wirtschaft macht daran fest, ob
die Regierung tatsächlich bereit ist, Hemmnisse für Unternehmer zu beseitigen."
(FTD, 27.2.). Minister Clement wird vor einem �Gesichtsverlust� gewarnt, �falls er
nicht Wort halte." (ebd.). Und die SZ vom 1. März schreibt: �Aber Clement muss hart
bleiben. Er hat wissentlich und willentlich ein Symbolthema aufgegriffen und
36
vollmundig eine Reform angekündigt. Schreckt er am Ende zurück, wäre dies eine
politische Selbstenthauptung.�
Ebenfalls ersichtlich ist, dass für die Mehrzahl der Journalisten die von Clement
geplanten Änderungen nicht weit genug gehen. Im Zusammenhang mit dem Bündnis
für Arbeit schreibt die FTD (22.1.): �Wie klein das Karo (im Bündnis für Arbeit; die
Verf.) ist, zeigt der Kündigungsschutz, der als Maximalzumutung gilt, von der aus die
Konsenssuche erst beginnen soll." Weiter: �Deutschland leidet schon zu lange an
faulen Kompromissen. Gefragt sind kompromisslose Reformen, die in Besitzstände
einschneiden." Auch ein Kommentar im Tagesspiegel adressiert vor allem die
Gewerkschaften: �Clement muss den Gewerkschaftlern in der SPD klar machen,
dass er mit seinen Veränderungen erst am Anfang steht. Und dass es noch viel
schmerzhaftere Veränderungen geben muss, damit die Konjunktur wieder in Fahrt
kommt (...). Die Machtprobe mit den Gewerkschaften ist noch lange nicht zu Ende."
(Tages, 9.9.). Für die FTD vom 5. Mai mindert die Vorsicht beim �Einstieg in den
Ausstieg aus dem Kündigungsschutz" die Erfolgschancen. �Trotzdem ist der Plan
vernünftig." Und die FAZ vom 20. Januar schreibt: �Gedacht ist allenfalls an eine
leichte Lockerung der Schwelle, von der an Kündigungsschutz greift." Aber der
Schritt zeige �politischen Mut" vor allem gegen die Gewerkschaften.
Konstruktive Gegenvorschläge der Journalisten gehen dementsprechend
hauptsächlich in die Richtung, wie aus Clements Reförmchen eine ordentliche
Reform werden könnte: Ein Arbeitsrecht-Experte im Tagesspiegel schreibt
beispielhaft: �Nennenswerte Impulse für den Arbeitsmarkt könnten nur erwartet
werden, wenn der Beginn des Kündigungsschutzes von zwei auf sechs Jahre
Beschäftigungsdauer hinaus geschoben und der Schwellenwert auf 20 Arbeitnehmer
angehoben wird." (Tages, 12.8.)
Leistungs- statt Sozialauswahl
Viele Kommentare in den Printmedien widmen sich der geltenden Sozialauswahl bei
betriebsbedingten Kündigungen. Sie fordern unisono, diese gleich neu mit zu regeln.
�Es geht nicht an, dass Unternehmen in wirtschaftlicher Not sich zuerst von ihren
jungen Leistungsträgern trennen müssen", schreibt das HB vom 20. Februar und gibt
damit die Richtung der Kritik wider. Eine typische Forderung lautet daher: Die
Sozialauswahl müsse gelockert werden, an ihre Stelle ein rationelleres
37
Abfindungssystem treten. Was bisher vor Gericht ausgehandelt wurde, solle in
Zukunft per Gesetz klar definiert sein.
Auch hier wird hauptsächlich aus Sicht der Unternehmen argumentiert. Sicherheit
wird nicht länger als erstrebenswertes Gut für die Arbeitsplätze von Arbeitnehmern
erachtet. Die Meinung der Mehrheit lautet: Die Arbeitgeber bräuchten mehr
Rechtssicherheit und Flexibilität, wenn es darum geht, junge Leistungsträger im
Unternehmen zu behalten. Auf die Spitze treibt es die SZ vom 1. März. Maßstab für
ein transparentes Abfindungssystem soll der ökonomische Wert der Mitarbeiter sein:
�Am Ende soll es dazu kommen, dass die Frage einer Kündigung nicht länger
vorrangig unter juristischen Gesichtspunkten behandelt, sondern nach ökonomischen
Zweckmäßigkeiten entschieden wird. Je enger die betriebliche Loyalität oder die
persönliche Schutzwürdigkeit des Mitarbeiters ist, desto höher wird die Abfindung zu
bemessen sein."
Häufig kommentieren die Medien auch das geltende Arbeitsrecht bzw. die
unübersichtliche Rechtslage bei arbeitgeberseitigen Kündigungen. Kritisiert wird die
Rechtssprechung, die die Trennung von Mitarbeitern für Arbeitgeber zum
�unkalkulierbaren Vabanquespiel macht (...) mit der hinlänglich bekannten Folge,
dass unbefristete Einstellungen immer seltener werden." (HB, 20.2.). Die gesetzliche
Festlegung der Höhe von Abfindungen bei arbeitgeberseitigen Kündigungen findet
bei allen Kommentaren große Zustimmung - auch bei den wenigen Kommentatoren
in der FR, die der Änderung des Schwellenwertes eher kritisch gegenüberstehen.
Nur wenn Abfindungen gesetzlich geregelt würden, könnte die Mehrzahl der
Kündigungsschutzprozesse überflüssig werden.
3.2.2. Die Bewertung der Gewerkschaften
Neinsager der Nation
Die üblichen Bezeichnungen für Gewerkschaften und ihre Funktionäre als
Verhinderer notwendiger Reformen finden sich auch beim Thema Kündigungsschutz
in fast allen Kommentaren. Hier nur eine kurze Zusammenstellung: �Neinsager der
Nation", �jahrelange Blockadepolitik", �Image der Betonköpfe zu Recht eingehandelt"
(alle FTD, 27.2.) oder �üblicher Abwehrreflex" (HB, 20.2.). Und die SZ prognostiziert
den Gewerkschaften: �Wer sich nicht bewegt, bleibt allein zurück" (SZ, 21.2.). Im
38
Kontrast dazu attestieren die überwiegende Anzahl der Kommentare den Reformern
und insbesondere Minister Clement ein �bemerkenswertes Maß an Mut" (StuttZ,
18.1.).
Allerdings verweisen einige Beiträge der Printpresse in diesem Zusammenhang auch
auf die Zugeständnisse und Gesprächsbereitschaft der Gewerkschaften - sei es um
ihr Image als Neinsager loszuwerden oder schlicht aus ihrer Defensivposition heraus.
So schreibt etwa die FTD am 27. Februar: �Doch inzwischen ist der Reformdruck
gewaltig genug, um selbst Beton zu sprengen.� Interessant ist, dass die Kommentare
den Gewerkschaften stets dann Positives abgewinnen, wenn sie Schwäche zeigen
und Zweifel an ihren bisherigen Positionen äußern. In der Regel finden sich
unbestimmte (und nicht durch Zitate belegte) Formulierungen, die den
Gewerkschaften Unsicherheit bzw. eine Spaltung im eigenen Lager unterstellen: �Die
Zweifel im Gewerkschaftslager wachsen. Und mit ihnen die Bereitschaft, das
Problem noch mal neu zu überdenken", schreibt etwa das HB am 20. Februar.
Mit dem Blockierer-Image parallel geht der Vorwurf an die Gewerkschaften, gegen
die eigentliche Interessen ihrer Mitglieder zu handeln: �Die Gewerkschaften täten im
Interesse ihrer Klientel gut daran, den Vorstoß Clements nicht zu blockieren.� (HB,
20.2.). Die SZ vom 21. Februar schreibt: �Die Gewerkschaften entfremden durch ihr
Festhalten an der Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen immer mehr
junge Menschen von ihnen." Nur ein Meinungsbeitrag (Berliner, 9.1.) zitiert Mitglieder
und Arbeitnehmer, die längere Arbeitszeiten und Gehaltskürzungen bzw. geringe
Lohnforderung hinnehmen wollen, wenn dafür der Kündigungsschutz bestehen
bleibe. Doch auch hier äußern die zitierten Arbeitnehmer das Gefühl, �von Verdi in
dieser Sache nicht unbedingt vertreten zu werden."
Die Stuttgarter Zeitung vom 18. Januar sieht zwar durch den Widerstand der
Gewerkschaften die Interessen der Gewerkschaftsmitglieder vertreten, jedoch nicht
die der Arbeitslosen: �Dass die Gewerkschaften gegen Clements Absichtserklärung
in Sachen Kündigungsschutz mobil machen, ist so legitim wie erwartbar. Die
Gewerkschaften vertreten die Interessen ihrer Mitglieder, der Arbeitsplatzinhaber.
Die Arbeitslosen interessieren sie nur am Rande.�
39
Geballte Meinungsmacht
Viele Kommentare prangern auch die (angebliche) Meinungsmacht der
Gewerkschaften an: Der Tagesspiegel vom 9. September kommentiert: �Deren (IG-
Metall, Verdi & Co) wichtigste Truppen sitzen in der Bundestagsfraktion der
Sozialdemokraten. Dort gehören immer noch zwei von drei Abgeordneten einer
Gewerkschaft an. So gelingt es ihnen weiterhin trefflich, Clements Vorhaben bei der
Lockerung des Kündigungsschutzes zu torpedieren�". Der FAZ-Kommentar vom 27.
September schließt: �Der Modernisierungskanzler und sein Superminister verbeugen
sich einmal mehr vor Peters, Bsirske & Co." Am deutlichsten formuliert wiederum
FTD-Redakteur Keese die Kritik an der �gewerkschaftlichen Meinungsmacht". Er
vertritt die These der �kalkulierten politischen Rückkopplung" - fast schon eine
Verschwörungstheorie: �Ein Minister macht einen mutigen Vorschlag, kurz darauf hat
der DGB seine Meinung fertig, droht dem Minister am Telefon und prustet seine
Position auf einer Pressekonferenz heraus. Wenig später treten die Demoskopen in
Aktion und fragen 1000 Bürger vor dem Abendbrot, ob sie gerne gekündigt werden.
Das klare Nein bestätigt die gewerkschaftliche Mehrheit der SPD-Bundestagsfraktion
in ihrer vorgefassten Meinung und der Vorschlag ist tot." (FTD, 20.1.). Keeses Fazit
lautet: �Gegen die Meinungsmacht der Gewerkschaften richtet die Bundesregierung
inzwischen kaum noch etwas aus." (ebd.)
Die gängigen Schlussfolgerungen seitens der Meinungsführer in den Medien lesen
sich daher im Sinne von Aufforderungen, keine Furcht vor Gewerkschaften zu haben
oder Mut zu beweisen. �Doch schon beim Kündigungsschutz reicht es nur zu
kosmetischen Änderungen (�) aus Furcht vor den Gewerkschaften". (FAZ, 27.9.).
Auch den Gewerkschaften wird Mut abgesprochen, hier allerdings der �Mut zur
Realität", wie die Überschrift des HB vom 20. Februar lautet. Die FAZ vom 20.
Januar verlangt von der Regierung den Kündigungsschutz zu ändern, �wollte sie
beweisen, dass die Bürger ihre Stimme ihnen und nicht dem deutschen
Gewerkschaftsbund gegeben haben".
Sozialromantiker und Heilslehrer
Immer wieder werden die Gewerkschaften auch mit der Vergangenheit assoziiert: So
endet der Kommentar des HB vom 20. Februar: �Oder sie (die Gewerkschaften; die
40
Verf.) stellen sich mit ihrer Idealvorstellung einer Arbeitswelt, wie sie vor 20 Jahren
einmal bestand, vollends ins Abseits." Die Gewerkschaften werden als resistent
gegenüber der veränderten Lebens- und Arbeitswelt beschrieben, ihre Politik
orientiere sich nach wie vor am Arbeitnehmer des Industriezeitalters. Konsens nach
innen werde von ihnen durch externe Feindbilder konstruiert, die die moderne
Arbeitswelt bereitstelle.
Am auffallendsten ist jedoch, dass durchgehend alle Medien stellvertretend die Rolle
als Fürsprecher der Arbeitslosen übernehmen. bzw. der Unternehmen, nicht aber der
Beschäftigten. Beispielhaft argumentiert hier etwa die BILD (20.1.): �Es kann nicht
angehen, dass ein kleiner Handwerker den sechsten Mitarbeiter nie einstellt, weil er
bei Auftragsmangel alle Beschäftigten �durchhalten� müsste und damit den ganzen
Betrieb riskiert. Daher muss die starre 5er Grenze flexibler gemacht werden."
In dieser Logik werden die Gewerkschaften als Hauptschuldige für die hohe
Arbeitslosigkeit (die durch den Kündigungsschutz mitverursacht wird) genannt. Auch
hier tut sich an Heftigkeit der Anschuldigungen wieder die FTD hervor: �Einer der
Hauptgründe ist die geistige Erstarrung der Gewerkschaften, die ihre Suche nach
dem besten Weg zugunsten einer ideologischen Heilslehre aufgeben haben. Sie
verteidigen den Kündigungsschutz als absolute Größe, obwohl er Arbeitplätze
vernichtet, Wachstum bremst und den Einzelnen in einer Scheinsicherheit wiegt, die
nur solange besteht, bis sein Betrieb an den Rigiditäten scheitert und Konkurs
anmeldet." (FTD, 20.1.) So vernichtend ist das Urteil nicht in allen Medien, aber die
Richtung der Kritik an den Gewerkschaften ist doch ähnlich.
Resümee
Beim Thema Kündigungsschutz lässt sich eine ganz eindeutige Haltung der
Printpresse gegen die Gewerkschaften feststellen. Bis auf drei Ausnahmen
befürworten alle Kommentatoren eine Lockerung des Kündigungsschutzes. Der
Widerstand der Gewerkschaften gegen eine Änderung wird von ihnen heftig kritisiert.
Den Gewerkschaften wird beim Thema Kündigungsschutz klar die Rolle der
Blockierer und Modernisierungsverweigerer zugeschrieben. Zwischen den
Einzelgewerkschaften wird dabei nicht differenziert. Beinahe alle Kommentatoren
problematisieren eine Konfliktlinie, die zwischen den Gewerkschaften auf der einen
Seite und Minister Clement, den Unternehmern und den Arbeitslosen auf der
41
anderen Seite verläuft. Die Kommentatoren machen sich in den allermeisten Fällen
die Perspektive der Arbeitslosen oder Unternehmer zu eigen. Am schwersten wiegt
der Vorwurf an Gewerkschaften, die Arbeitslosen auszugrenzen. Denn eine
überwiegende Mehrheit argumentiert, dass sich mit einer Lockerung des
Kündigungsschutzes mehr Arbeitsplätze schaffen ließen. Die These, Arbeitgeber
trauten sich mehr Leute einzustellen, da sie sie schneller wieder loswerden können,
wird jedoch nur in zwei Fällen begründet, aber selbst hier nur mit dem Verweis auf
die niedrigeren Arbeitslosenzahlen in Ländern mit liberalen Kündigungsschutzregeln.
Deutlich zeigt sich eine Sonderrolle der FR, aus der alle der Änderung kritisch
gegenüberstehenden Beiträge stammen. Als Gegenpol zu der gewerkschafts-
freundlich eingestellten FR kristallisiert sich beim Thema Kündigungsschutz die FTD
heraus, die in ihren Kommentaren durch besonders harte Kritik an den
Gewerkschaften auffällt. Allgemein wird die Kritik an den Gewerkschaften mit einem
Appell an den Minister (oder die Regierung) verbunden, hart gegen ihre
Blockadepolitik durchzugreifen bzw. Mut zu beweisen.
Hinsichtlich der verschiedenen Reformmodelle ist sich die Printpresse allerdings
nicht ganz so einig. Welches Modell - also Veränderung des Schwellenwertes oder
Gleitregel - präferiert wird, ist sehr unterschiedlich. Es zeigt sich aber: selbst wenn
der überwiegenden Mehrheit die von Clement vorgeschlagenen Änderungen nicht
tiefgreifend genug sind, plädiert kein einziger Kommentator dafür, den
Kündigungsschutz ganz und gar abzuschaffen.
Auch die Festschreibung von gesetzlichen Abfindungen im Falle arbeitgeberseitigen
Kündigungen wird ohne Ausnahme befürwortet. Die bisherige Abfindungspraxis
transparenter zu gestalten und juristische Prozesse bei Kündigungen schneller
abzuwickeln, ist ein konsensuales Anliegen.
3.3. Arbeitszeitflexibilisierung
Kalendarium der Ereignisse
Zu Jahresbeginn berichtet die Presse fast täglich vom Widerstand der Gewerkschaft
Verdi gegen das Ladenschlussgesetz. Im Mai droht Verdi erstmals offen mit Streiks
im Einzelhandel, da keine Einigung im Tarifstreit erzielt werden konnte. Während der
42
�Lange Samstag� vom Einzelhandel gefeiert wird, protestieren Verdi-Mitglieder gegen
die verlängerten Öffnungszeiten. Die Verdi-Kritik entzündet sich insbesondere an den
großen Discountern wie Lidl oder Aldi. Im Dezember des Jahres prüfen dann die
Verfassungsrichter das Ladenschlussgesetz. Positiv wird im Februar die Einigung
zwischen Gewerkschaftsvertretern und Arbeitgebern in den Tarifverhandlungen für
Zeitarbeit bewertet. Großen Raum nehmen im Mai und Juni die (zumeist negativen)
Kommentare zum Streik für die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland und die
anschließende Niederlage der IG Metall und der daraus resultierende Führungsstreit
ein. Die Presse ist auch über den Wettbewerbsvorteil längerer Arbeitszeiten im
Osten einig. Gefordert wird von den Gewerkschaften eine flexiblere Haltung,
insbesondere auch deshalb, da in den allermeisten Betrieben bereits differenzierte
Arbeitszeiten ausgehandelt werden.
Der eigentliche Anlass für eine verstärkte Diskussion um eine Flexibilisierung der
betrieblichen Arbeitszeiten ist aber ein Vorschlag der CDU-Vorsitzenden Angela
Merkel im September des Jahres. Merkel fordert längere Arbeitszeiten, nur so könne
Deutschland im internationalen Wettbewerb bestehen. Während Teile der politischen
Klasse und Wirtschaftsvertreter eine Verlängerung der Arbeitszeiten ausrufen,
reagieren zumindest zwei deutsche Vorzeigeunternehmen in entgegengesetzter
Manier. Sowohl die Deutsche Telekom als auch das Unternehmen Opel kündigen an,
die Arbeitszeit (ohne Lohnausgleich) zu verkürzen, um drohende Entlassungen zu
vermeiden und kurzfristige Einsparungen zu erreichen. Dies löst eine breite
Diskussion um die Frage aus, was denn nun Jobs schaffe, Arbeitszeitverlängerung
oder -verkürzung? Ende des Jahres werden schließlich unterschiedliche Modelle der
„Lebensarbeitszeit“ und Lebensarbeitskonten in den Printmedien diskutiert
Meinungsspektrum in Zahlen
Für Arbeitszeitverlängerung (12 Beiträge)
Für Arbeitszeitverkürzung (8 Beiträge)
Flexibilität von Arbeitszeiten längst Realität (10 Beiträge)
Lohnflexibilität gefordert (4 Beiträge)
Flexible Ladenöffnungszeiten (5 Beiträge)
35-Stunden-Woche im Osten (6 Beiträge)
Arbeitszeitkorridore (3 Beiträge)
43
3.3.1. Argumentationsmuster der Kommentare
Angefacht wird die Debatte rund um die Verlängerung bzw. Flexibilisierung der
Arbeitszeit neben politischen Vorgaben durch in den Medien lancierte Begriffe wie
�Freizeitweltmeister� oder �Urlaubsparadies Deutschland.� (beide BILD, 7.10.)
Insbesondere die BILD-Zeitung macht sich zumindest punktuell zum Motor einer
Bewegung, die in einer Arbeitszeitverlängerung die Lösung für die wirtschaftlichen
Probleme sieht: In einem Artikel mit dem Titel �10 bittere Wahrheiten über unser
Land�, heißt es unter Punkt 6 (Arbeitszeiten): �Die Deutschen sind Weltmeister bei
Urlaub und Freizeit. Das treibt die Lohnkosten zusätzlich hoch. Folge: immer mehr
Firmen verlagern Jobs ins Ausland. Die Wahrheit ist. Die Deutschen müssen länger
arbeiten, sonst können wir auf den Weltmärkten einpacken. BILD sagt: Tut endlich
was!" (BILD, 7.10.)16
Genauso häufig finden sich aber auch gegenteilige Kommentare, die für eine
Arbeitszeitverkürzung plädieren. Eine große Anzahl der Kommentatoren verweist
darüber hinaus auf die Tatsache, dass bereits die gegenwärtige Situation in den
Unternehmen sich durch vielfältige und flexible Lösungen in puncto Arbeitszeit
auszeichnet. Die Debatte um Arbeitszeitverlängerung oder -verkürzung sei folglich
eine Scheindebatte, die im wesentlichen um symbolische Werte und politischen
Einfluss geführt werde. Die Gewerkschaften stehen dabei auf der Seite derjenigen,
die in der Arbeitszeitverkürzung das richtige Signal für den Arbeitsmarkt sehen.
Freizeitweltmeister Deutschland
Drei Wochen nach dem die BILD-Zeitung für längere Arbeitszeiten appellierte,
schreibt der ehemalige BDI-Chef Hans-Olaf Henkel in einer BILD-Kolumne: �Wir
verlieren Arbeitsplätze, weil die deutsche Arbeitsstunde zu teuer ist. (...) Pro Jahr
arbeiten die Amerikaner 2000 Stunden, die Japaner 1900, die Holländer 1650. Die
16 Mit dieser Meinung scheint BILD aber nicht die Stimmung in der Bevölkerung zu treffen:
�Arbeitslose sollen neue Jobs finden, wenn Arbeitsplatzbesitzer länger arbeiten? Das können zwar die Experten erklären, verstehen die Deutschen aber nicht. Denn für 62 Prozent entstehen neue Stellen eher durch kürzere Arbeitszeiten, für 29 Prozent durch Mehrarbeit� (Welt, 5.12.)
44
Deutschen mit Abstand am wenigsten: 1540! Statt durch weniger Lohn kann man die
deutsche Arbeit auch durch längere Arbeitszeiten billiger machen.� (BILD, 30.10.)17
Die Gewerkschaften sind implizit in der laufenden Diskussion als die Gruppe
identifiziert, die für Arbeitszeitverkürzung steht und dadurch die Schuld an der hohen
Arbeitslosigkeit mitträgt. �Man fragt sich, was eigentlich die Gewerkschaften seit
mehr als 25 Jahren dazu treibt, die Wochen- und Lebensarbeitszeit zu verkürzen und
damit Einkommen je Beschäftigten zu mindern, ohne dass dafür Arbeitslose Erwerb
und Verdienst finden.� (SZ, 23.5.)
Die ihnen zugeschriebenen Positionen werden im einzelnen kritisch unter die Lupe
genommen. Zunächst einmal, so der allgemeine Tenor, basiere die Argumentation
der Gewerkschaften auf ökonomischen Fehlern. So sei etwa das Argument der
niedrigen Lohnstückkosten in Deutschland genauer betrachtet, vollkommen falsch:
�Richtig ist auch, dass sich die Gewerkschaften in die Tasche lügen, wenn sie immer
nur darauf hinweisen, dass ja die Lohnstückkosten, also die Arbeitskosten unter
Berücksichtigung der Produktivität, in Deutschland nur mäßig oder gar nicht steigen.
In die Lohnstückkosten fließen abgebaute oder ausgewanderte Arbeitsplätze gar
nicht ein, die Statistik sieht also schöner aus als sie ist.� (SZ, 16.10.)
Um die Arbeitskosten, die von der Presse als Hauptproblem benannt werden, zu
senken, werden im wesentlichen drei Ziele genannt: Erstens der Abbau der
Lohnnebenkosten, zweitens eine maßvolle Lohnpolitik und drittens größere
Flexibilität für Branchen, Betriebe und einzelne Arbeitnehmer. Letztlich aber bleibt:
�Um das deutsche Lohnkostenproblem zu beheben, muss die Wochenarbeitszeit
angehoben werden.� (FAZ, 23.7.)
Als ökonomischen Denkfehler bezeichnen einige Kommentatoren das
Umverteilungskonzept der Gewerkschaften. Deren Vorstellung, dass es eine Art
festes Arbeitsvolumen gibt, dass nur umverteilt werden müsste, um Arbeitsplätze zu
schaffen, sei falsch. Der DGB-Vorsitzende Sommer hatte zu Jahresbeginn einen
Vorschlag gemacht, besser Qualifizierte sollten auf einen Teil ihrer Arbeitszeit
zugunsten Arbeitsloser verzichten. Dazu, so das Gegenargument, müssten aber
qualifizierte Kräfte gefunden werden, die die Arbeit überhaupt machen könnten, oft
eine Unmöglichkeit und als Forderung vollkommen wirklichkeitsfremd. �Deshalb geht
17 Dass die �Deutschen im europäischen Vergleich nicht weniger arbeiten wird in der ZEIT vom 25.9.
thematisiert: �die tatsächlichen Arbeitsstunden sind höher als die tarifvertraglich geregelten, nämlich 36,1 Stunden (in der EU: 35,5).�
45
die Forderung der Gewerkschaften nach mehr Teilzeit bei Gutqualifizierten am
Thema vorbei.� (Welt, 17.1.)
Verkürzung aus Solidarität
Die Kommentare und Plädoyers für eine Verkürzung der Arbeitszeit sind in den
Printmedien ebenso reichlich vorhanden wie das Gegenkonzept einer Verlängerung.
Ihre Befürworter stammen, neben einzelnen Journalisten, meist aus gewerkschafts-
nahen Kreisen oder sympathisierenden Wissenschaftlern, die in verschiedenen
Kommentaren für eine Arbeitszeitverkürzung werben. Hier nur einige wenige
Stimmen dazu: �Es gibt keinen Grund für eine sachliche Tabuisierung von
Arbeitszeitverkürzung, sie birgt in sich ein Stück Solidarität, außerdem geht noch ein
Signal aus, das Politik und Wirtschaft wenig schätzen: Wachstum wird nicht
unbegrenzt gedacht.� (FR, 4.11.) �Die Forderung nach Arbeitszeitverlängerung
verstößt fundamental gegen das Ziel der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und
auch gegen die Generationengerechtigkeit� (taz, 25.1.), kommentiert Helmut
Spitzley, Professor für Arbeitswissenschaften in der taz. Die Arbeitszeitverlängerung
ist keine Lösung unserer Wirtschaftsprobleme, so der Tenor eines Artikel des Leiters
des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans Böckler
Stiftung: �Die gesamtwirtschaftliche Produktion würde zwar zulegen, sie wäre aber
allein ein Ergebnis der verlängerten Arbeitszeit. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die
durch die verlängerten Arbeitszeiten ausgeweitete Produktion nicht oder nur teilweise
auf eine entsprechende Binnennachfrage trifft.� (FR, 5.8.) Als einzige Ausnahme ist
hier die Angebotsseite mitproblematisiert, die von Arbeitgeberseite und neoliberalen
Denkern zumeist ausgeblendet wird. Dazu merkt auch die FTD vom 29.10. an:
�Solange die Konjunktur nicht in Schwung kommt, sind neue Arbeitsplätze durch
Mehrarbeit eine Illusion�.
Als Grund für die gesellschaftliche Akzeptanz der Debatte um die Verlängerung der
Arbeitszeiten wird vielfach kritisch angeführt, dass die Rede von
Arbeitszeitverlängerung strategisch besser ankommt als die von Lohnkürzungen.
�Die zusätzliche Arbeitszeit soll unbezahlt bleiben. Es handelt sich letztlich um
Lohnsenkung. (...) Dennoch ist, wie wir gesehen haben, Lohnsenkung per Mehrarbeit
derzeit fast schon populär. Die Ursache liegt im Standortdenken. Viele sehen im
46
Dumping die einzige Chance, dass ausgerechnet ihr Betrieb, ihre Region oder gar
das ganze Land sich gegen Konkurrenz behaupten kann". (FR, 14.11.)18
Flexibilität ist Realität
Ein Großteil der Kommentare sind in Bezug auf die Frage Verlängerung oder
Verkürzung neutral, verweisen jedoch auf die betriebliche Wirklichkeit, in der die
Flexibilität von Arbeitszeiten schon längst Alltag ist. So hat die tarifliche Arbeitszeit
seit 1991 nur um zwei Prozent abgenommen, dagegen sind flexible Arbeitszeiten
sprunghaft angestiegen. In 78 Prozent der Betriebe existieren mittlerweile
Zeitkontenmodelle. Um Jobs zu erhalten hätten bereits Tausende Betriebe flexible
Zeiten eingeführt (vgl. FR, 1.11.) �Selbst das IW (das Institut für Wirtschaft; die Verf.)
gibt zu, dass die tariflichen Arbeitszeiten in Deutschland deutlich flexibler geworden
sind, ehemals starre Wochenpensen sind passe, heißt es in einer Studie. Es gehe
also weniger darum, die Arbeitszeit zu verlängern, als darum die Tarifverträge für
flexible Arbeitszeitmodelle zu öffnen.� (Welt, 7.10.) Der deutsche Arbeitsmarkt sei gar
nicht unflexibel, berichtet auch die FR vom 28.8.: deutsche Unternehmen können seit
langem befristet (max. 2 Jahre) Leute einstellen. Bei den unter 20 Jährigen hat jeder
Dritte einen befristeten Arbeitsplatz, bei den 20-24 Jährigen jeder Vierte. Die Anzahl
der Teilzeitbeschäftigten ist von 1991-2002 um 46 Prozent gestiegen, die Anzahl der
Vollzeitbeschäftigten im Gegensatz dazu um 14 Prozent gesunken. (vgl. FR, 28.8.)
Allgemein wird gefordert, die Arbeitszeiten durch Tarifparteien stärker zu
flexibilisieren und nicht lediglich Symbolthemen wie den arbeitsfreien Samstag oder
Sonntag in den Vordergrund zu stellen. Ideal wären Arbeitszeitkorridore zwischen 25
und 45 Stunden ohne Zuschläge (dafür Freizeit). Unter der Überschrift �Fairteilen�
entwickelt Walter Lochmann (Fachbereichsleiter bei Verdi Hessen ) in der FR (6.12.)
ein Vier-Phasen-Modell demographischer Lebensarbeitszeit. Nach der Ausbildung
bis zur Familiengründung sollten maximal 40 Stunden gearbeitet werden, in der
Familien- und Weiterbildungsphase dann maximal 30 Stunden, nach der
Familienphase wieder maximal 40 Stunden um schließlich fünf bis zehn Jahre vor
18 Auf die Angst vor Arbeitslosigkeit verweist auch ein Kommentar in der SZ: �Die deutschen
Unternehmer nutzen die Gunst der Stunde. Konjunkturflaute, Finanznot des Staates, Kürzungen und Personalabbau überall � die Menschen sind demütig geworden und fast schon dankbar für ihren Arbeitsplatz. Und die einst mächtigen Gewerkschaften sind in ihrem Bestreben, weiter die alten Schlachten zu schlagen, auf dem besten Weg zur Selbstenthauptung� (SZ, 18.9.)
47
dem Renteneintritt individuelle Regelungen zu finden. Auch der VW-Personalchef
Hartz plädiert schon im September für ein neues Lebensarbeitskonzept (Die Welt,
7.10.) Am 19. September behaupten SZ und HB unisono: �Hartz geht in die richtige
Richtung!�
35-Stunden-Woche als ein hirnrissiges Beglückungsprogramm
Kein Thema hat den Gewerkschaften im vergangenen Jahr wohl mehr geschadet als
der gescheiterte Streik für die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland. Noch im
Oktober verweist die Welt auf den innergewerkschaftlichen Schaden: �Das
Streikdebakel vom vergangenen Sommer ist noch lange nicht aufgearbeitet� (Welt,
14.10.) Die längeren und flexibler gehandhabten Arbeitszeiten im Osten werden von
der Presse fast durchgehend als ökonomisch sinnvoll und überlebenswichtig für die
Betriebe erachtet. Unterstellt wird, dass die IG Metall aus Prestigegründen einen
vollkommen aussichtslosen und schädlichen Arbeitskampf lieferte, ein �hirnrissiges
Beglückungsprogramm�.
�Deutschlands Gewerkschaftsgiganten laufen zu Höchstform auf. Gerade hat Verdi
alles dafür getan, den Personalabbau im öffentlichen Dienst weiter zu beschleunigen,
da macht sich die IG Metall auf, den Arbeitnehmern in den neuen Ländern den
letzten noch verbliebenen Wettbewerbsvorteil zu rauben. Als hätte die Gewerkschaft
aus den katastrophalen Folgen der übereilten Lohnangleichung in den neunziger
Jahren nichts gelernt, sollen nun auch noch die Arbeitszeiten gleichgemacht
werden". (FAZ, 14.1.) Weitere Stimmen lauten: �Die IG Metall setzt mit der
Verkürzung der tariflichen Wochenarbeitszeit einen wichtigen Standortvorteil der
neuen Bundesländer aufs Spiel, schwächt die Wettbewerbskraft der Ostbetriebe und
gefährdet Arbeitsplätze� (HB, 28.1.) �Löhne und Arbeitszeit im Osten müssen Schritt
mit der eigenen Produktivität halten, nicht mit Vergleichszahlen im Westen. Dass die
IG Metall das ignoriert und stattdessen Irrlehren verbreitet, schwächt ihren Stand als
ernst zu nehmender Gesprächspartner weiter.� (FTD, 23.6.)
Gefordert wird vielfach, dass die IG Metall den Streik abbrechen und gleichzeitig im
Westen die 40-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich wieder eingeführt werden soll,
nur dann könnte die Gewerkschaft �Hunderttausende Jobs retten und neu schaffen.�
(HB, 28.1.) Verlangt werden flexible Modelle für Arbeitszeitkorridore, da ansonsten
die Gewerkschaften noch mehr als bisher im Osten marginalisiert würden: �Die
48
Gewerkschaften machen das mit, oder sie werden an die Wand gedrängt�, so
beispielhaft Andreas Winkler, Hauptgeschäftsführer der sächsischen Metall AG im
Focus (10.11.).
3.3.2. Die Bewertung der Gewerkschaften
Die Front der Besitzstandswahrer
Auch bei der Frage nach einer Flexibilisierung der Arbeitszeiten haftet den
Gewerkschaften bei einem Teil der Presse das Image �Besitzstandswahrer� an, die
notwendige Prozesse und Veränderungen in Deutschland erfolgreich blockieren.
Wieder werden streng Reformer (das können bestimmte Politiker, Arbeitgeber oder
Experten sein) den Bewahrern (im wesentlichen Gewerkschaftsfunktionäre und die
SPD-Linke) gegenübergestellt. Auf den einfachsten Nenner bringt diese Dichotomie
die SZ in einem ansonsten ausgewogenen Kommentar zur Frage pro oder kontra
Arbeitszeitverlängerung. �Gegen diejenigen, die hier zu Lande in mehr Arbeit den
Weg zu mehr Beschäftigung und Wohlstand sehen, steht die Front der Bewahrer,
allen voran die Gewerkschaften.� (SZ, 5.11.) Obschon der Kommentator sich einer
Wertung bezüglich der ökonomischen Wirkung einer Arbeitszeitverlängerung enthält,
ist die Haltung gegenüber den Gewerkschaften, wie der Begriff Bewahrer suggeriert,
eindeutig negativ.
Am schwersten wiegt auch hier der Vorwurf eine Politik gegen Arbeitslose und eine
reine Klientelpolitik zu betreiben. Die mangelnde Flexibilität bei der
Arbeitszeitgestaltung wird als Ursache für die hohe Arbeitslosigkeit und den Abbau
weiterer Arbeitsplätze verantwortlich gemacht. Der Schuldige dafür scheint aber
bereits gefunden wie ein polemischer Kommentar in der FAZ beweist: �Man müsse
die Arbeitszeit den Klauen des Marktes entreißen, fordert er (Klaus Zwickel; die
Verf.). Die Beschäftigten, die demnächst ihre Stelle verlieren werden, wissen
zumindest, wem sie das verdanken.� (FAZ, 14.1.)
Neoliberale Verschwörung als Stammtisch-Rhetorik
Ein typischer Vorwurf an die Gewerkschaften lautet, dass sie sich von ihrer eigenen
Basis entfernt haben. Der betriebliche Alltag funktioniere schon lange ganz anders
49
als sich das die Funktionäre vorstellen würden. Als Negativrolle steht der Funktionär
im Kontrast zum �einsichtigen� Betriebsrat und den Arbeitnehmern vor Ort, die die
Rhetorik vom Klassenkampf längst aufgegeben haben. �Mit ihrer Mischung aus
moribunden Wirtschaftstheorien, Phantasien vom Endkampf gegen die neoliberale
Weltverschwörung und Widerstandsromantizismen aller Art entfernen sich die
Funktionäre immer weiter vom betrieblichen Alltag.� (HB, 21.5.) Als Hauptargument
gilt die Tatsache, dass die Realität in den Unternehmen schon wesentlich flexibler als
angenommen ist. Interessanterweise wird dieses Argument auch von den Medien
aufgegriffen, die ansonsten stets die starre und unflexible Situation auf dem
deutschen Arbeitsmarkt beklagen. Dieser Widerspruch wird aber nicht entkräftet oder
aufgelöst. So können die Gewerkschaften mit den immer gleichen Rezepten
identifiziert werden: �Statt in die längst fällige Debatte um neue Standards bei
Entlohnung und sozialer Bedürftigkeit qualifiziert einzugreifen, ergehen sich die
Gewerkschafter in Stammtisch-Rhetorik.� (Welt, 14.7.)
Häufig werden auch die Meinungen von Betriebsräten angeführt, die in Abgrenzung
zu den Gewerkschaftsfunktionären die �Stimme von unten� repräsentieren. So zitiert
etwa die Wams einen Betriebsrat zur Frage der 35-Stunden-Wochen in
Ostdeutschland: �Die wollen gar nicht streiken. Zu groß sei die Angst der Menschen
um ihren Arbeitsplatz, die Sorge, dass Betriebe ihre Standorte nach Osteuropa
verlagern. Die Gewerkschaftsfunktionäre, sagt ein Abgeordneter, müssten
aufpassen, dass sie sich nicht zu sehr von der Basis entfernten.� (Wams, 18.5.)
Auf der Suche nach Spaltungstendenzen und Widersprüchen innerhalb der
Arbeitnehmervertreter werden auch einzelne Gewerkschaften aufgrund ihrer
Flexibilität und Kompromissfähigkeit hervorgehoben. So wird, in Abgrenzung zur IG
Metall, etwa Verdi in punkto Flexibilität öfters in der Presse gelobt: Verdi mache, im
Gegensatz zur IG Metall, eine intelligente Politik. Beispielhaft sei hier etwa der
Beschäftigungspakt mit der Post (Zwei Tage Mehrarbeit und flexible Arbeitszeiten,
dafür eine Beschäftigungsgarantie bis 2008), berichtet die Welt vom 7. Juli. Auch die
FAZ lobt ausdrücklich Verdi (7.7.). Insbesondere die Reformfähigkeit von Verdi im
öffentlichen Dienst wird im Jahr 2003 mehrmals positiv erwähnt: �Es geht um eine
Revolution und die Gewerkschaften sind dabei. (...) Entgelte nach Leistung,
Arbeitszeitkonten, Führungsposten nur noch auf Zeit � und das ganze im öffentlichen
Dienst. Jede Woche treffen sich Arbeitsgruppen aus Vertretern der Gewerkschaft
Verdi und der Arbeitgeber, um die Konzepte weiter auszuarbeiten.� (SZ, 25.10.)
50
Die innergewerkschaftlichen Konflikte und die Auseinandersetzungen zwischen den
Einzelgewerkschaften werden in der Presse genüsslich ausgebreitet, die hier
genügend Stoff für alle relevanten Themen findet. Eine �gute Gewerkschaft� ist stets
jene, die im Sinne von Wirtschaft und Arbeitgebern Politik macht.
Lebensentwurf von gestern
Ein letzter wichtiger Kritikpunkt in der Flexibilitätsdebatte ist die Überzeugung, dass
die Gewerkschaften bei der Flexibilisierung der Arbeitszeiten den veränderten
gesellschaftlichen Realitäten nicht genügend Rechnung tragen. Der Slogan vom 1.
Mai 1956 �Samstags gehört Vati mir!� sei zwar damals richtig gewesen, entspräche
aber nicht mehr den heutigen Lebensverhältnissen: �Fast 50 Jahre später kultivieren
diese Sozialromantik nur noch Kirchen und Gewerkschaften (...). Familienstrukturen
und Lebensentwürfe der Deutschen haben sich grundlegend gewandelt. Viele
Singles - und jeder dritte Haushalt wird hier zu Lande inzwischen von ihnen bewohnt
� würden durchaus eine mit Zulagen versehene Arbeit am Sonntag bevorzugen, falls
ihnen der Arbeitgeber unter der Woche einen Ausgleich gewährt.� (HB, 25.8.)
Auch die taz macht auf die veränderten Lebensbedingungen aufmerksam. Eine
Forderung wie die nach Vollbeschäftigung basiere auf bestimmten gesellschaftlichen
Grundwerten, insbesondere dem Ausschluss von Frauen, die heute nicht mehr als
selbstverständlich gelten können: �Die in der Rückschau idealisierte Vollbe-
schäftigung der Sechzigerjahre war eine Vollbeschäftigung für Männer, die darauf
beruhte, dass die Mütter zu Hause blieben. Vollbeschäftigung muss heute politisch
anders definiert werden. (...) Die Arbeitnehmerorganisationen haben bei Tariffor-
derungen immer noch den männlichen Alleinverdiener im Kopf, der ein halbes
Dutzend hungrige Mäuler ernähren und deshalb unbedingt einen Familienlohn nach
Hause bringen muss. Diesen Lebensentwurf mag es weiterhin geben, aber er kann
nicht alleiniger Maßstab der Normalität sein.� (taz, 29.7.)
Die Gewerkschaften werden hier mit den traditionellen Arbeits- und Lebensverhält-
nissen einer Industriegesellschaft gleich gesetzt. Für die Individualisierung und
Erosion von Arbeits- und Lebensbiografien hätten die Gewerkschaften aber kein
Konzept zur Verfügung. Ein Beitrag in der FR fasst diese Transformationen in Bezug
auf die Frage nach der Flexibilisierung der Ladenöffnungszeiten so zusammen:
51
�Flexibilisierte Arbeitsverhältnisse und multilokale und individualisierte Haushalts-
und Familienformen kreieren eine Form und ein Ausmaß von Zeitstress, wie es noch
vor wenigen Jahren undenkbar war. Unter diesen Bedingungen müssen Zeitgestal-
tungen im örtlichen Nahbereich viel mehr als bisher unter dem Aspekt betrachtet
werden, ob sie dem sozialen Zusammenhalt, der Vereinbarkeit von Lebenssphären,
der Erhöhung der Lebensqualität dienlich sind. Unter diesem Aspekt müssen Arbeit
und Behördenzeiten ebenso betrachtet werden wie Schul-, Hort- und sonstige
Dienstleistungen oder Mobilitätszeiten � aber eben auch Ladenöffnungszeiten.�
Resümee
Im Gegensatz zu anderen Themen werden die Gewerkschaften in puncto
Arbeitszeitflexibilität nicht ausschließlich negativ bewertet. Vielfach wird die
praktische Flexibilität bei der Handhabe von Arbeitszeiten von Seiten der
Gewerkschaften und insbesondere der Betriebsräte betont. Diese relativ ausge-
wogene Beurteilung liegt v.a. daran, dass selbst unter Wirtschaftsexperten über die
verschiedenen Lager verteilt, Unklarheit über die Auswirkungen herrscht. Was denn
nun mehr Arbeit und Beschäftigung bringen soll (Verkürzung oder Verlängerung),
bleibt eine offene Frage. So versuchen Wirtschaftsexperten unterschiedlicher
Couleur sich in der Presse gegenseitig zu widerlegen, ohne jedoch überzeugende
Lösungen anbieten zu können. Die Gewerkschaften werden zwar für manche
Kommentatoren als �Bremser� flexibler Gestaltung angeführt, das aber zumeist in
Bezug auf die Forderung der 35-Stunden-Woche im Osten, die unisono als
ökonomischer Unsinn abgewertet wird. Auf der betrieblichen Ebene wird ihnen aber
eine �vernünftige� Rolle zugesprochen. Da es unzählige praktische Beispiele für
flexible Arbeitszeithandhabungen gibt, ist es hier kaum möglich das Gegenteil zu
behaupten ohne sich dem Vorwurf des Uninformierten auszusetzen.
52
3.4. Querschnittsthema Arbeitslosigkeit
Sozial ist, was Arbeit schafft
Das Thema Arbeitslosigkeit liegt im Schnittpunkt von allen hier bisher verhandelten
Themen rund um Arbeit und Gewerkschaften. Denn letztendlich geht es bei allen
Reformvorhaben - sei es die Lockerung des Kündigungsschutzes oder die Reform
des Tarifrechts - um den Abbau der Arbeitslosigkeit. So werden etwa auch die
sozialen Einschnitte der Hartz-Kommission politisch als Agenda für mehr
Beschäftigung begründet. Ebenso sollte die Agenda 2010 für mehr Wachstum und
Beschäftigung und damit für eine Stabilität der sozialen Sicherungssysteme sorgen.
Die Thematisierung der Arbeitslosigkeit ist kein Resultat politischen Agenda-Settings.
Sie unterliegt nicht konjunkturellen Schwankungen (wenn man einmal von der
periodisch wiederkehrenden Veröffentlichung der neuen Zahlen aus Nürnberg
absieht, die in der Tagespresse kommentiert werden), sondern findet sich im ganzen
Jahr der Auswertung und bei allen untersuchten Themenschwerpunkten wieder. Die
Verringerung der Arbeitslosigkeit ist die Quintessenz und Legitimation aus allen
Reformvorhaben der noch immer dem Wachstum verpflichteten Arbeitsgesellschaft.
Nichts schwächt die Gewerkschaften so eklatant wie die Zahl von fast fünf Millionen
Arbeitslosen. Stellvertretend für die meisten Kommentare schreibt die Welt am 1.
Juli: �Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit und für Generationengerechtigkeit hat
oberste Priorität - nicht die Chimäre von der �sozialen Gerechtigkeit��
Populär ist die Forderung an die SPD, vor allem aber auch an die Gewerkschaften,
ihren Begriff von Gerechtigkeit angesichts der hohen Arbeitslosigkeit neu zu
überdenken. Auch im Gutachten des Sachverständigenrates zur gesamtwirtschaft-
lichen Entwicklung stehen die Gewerkschaften im Jahr 2003 im Ruf einen
beschäftigungsfeindlichen Kurs zu fahren. Wie jedoch beurteilt die Printpresse den
Anteil der Gewerkschaften an der hohen Arbeitslosigkeit? Werden sie als die allein
�Schuldigen für die Arbeitsmarktmisere� verantwortlich gemacht?. Die analysierten
Kommentare, die sich explizit mit Gewerkschaften und dem Problem der
Arbeitslosigkeit auseinandersetzen, sind zum überwiegenden Teil von folgenden drei
Haltungen gegenüber den Gewerkschaften geprägt:
53
1. Gewerkschaften sind das Problem, nicht die Lösung
2. Gewerkschaften wollen keine Lösung des Problems
3. Gewerkschaften bieten nur veraltete und falsche Lösungen und
4. soll in einem kleinen Exkurs die Ausbildungsplatzabgabe genauer betrachtet
werden.
Der Exkurs widmet sich dem Sonderthema der Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen
bzw. der Lehrstellenlücke. Das aufgrund seiner Zukunftsdimension hoch symbolisch
aufgeladene Thema beschäftigte v.a. im Oktober 2003 die Medien.
3.4.1. Gewerkschaften sind das Problem, nicht die Lösung
Der überwiegende Anteil der Kommentare ist der Meinung, dass die Gewerkschaften
angesichts der hohen Arbeitslosigkeit �nicht die Lösung, sondern Teil des Problems"
sind, wie es die FAZ auf den einfachen Nenner bringt. Allerdings unterscheiden sich
die Kommentare im Maß ihrer Schuldzuweisungen und hinsichtlich ihrer
Begründungsschemata.
Ein kleinerer Anteil sieht in den Gewerkschaften lediglich eine von vielen Bremsen
bei der Belebung des Arbeitsmarktes und macht die Tarifparteien insgesamt - also
Arbeitgeber und -nehmervertreter - für die hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich. Als
weitere Bremser identifizieren die Kommentatoren häufig die Politik (die immer
wieder vor Lobbyisten einknickt), die SPD Linke (oft mit dem Verweis, wie hoch der
gewerkschaftliche Organisationsgrad unter ihnen ist) und das System Korporatismus
selbst. �Wenn es gelingt, den deutschen Korporatismus mit seinen Gewerkschaften,
Wirtschaftsverbänden und Kammern zu durchbrechen, wird auch die
Beschäftigungsschwelle von zwei Prozent Wirtschaftswachstum kein Dogma mehr
sein." (Tages, 31.7.)
Der Vorwurf an die Tarifparteien lautet zumeist, dass sie als Interessensgruppen in
aller Regel ihre Geschäfte zu Lasten der Arbeitslosen abschließen. Arbeitgeber
werden also nicht für Entlassungen und fehlende Neueinstellungen kritisiert, sondern
dafür, sich auf zu hohe Lohnforderungen einzulassen19. Die ZEIT vom 10. April
19 Auch die �Fünf Wirtschaftsweisen" werfen Arbeitgebern und Gewerkschaften in ihrem Gutachten
2003 vor, in den vergangenen fünf Jahren den Verteilungsspielraum, den die Zunahme der Arbeitsproduktivität eröffnet hat, �markant überzogen" zu haben. �Damit haben sie nicht nur den Arbeitslosen keine Chance geboten, neue Arbeitsplätze einzunehmen, sondern auch eine Vernichtung von Arbeitsplätzen bewirkt�, so die Ökonomen.
54
schreibt dazu: �Arbeitgeber und Gewerkschaften (also Arbeitsplatzbesitzer)
vereinbaren, um des lieben Friedens willen, zu hohe Löhne (und lassen sich die
Tarife auch noch von der Regierung für allgemeinverbindlich erklären) - die
wegrationalisierten Arbeitskräfte liefern sie gemeinsam in Nürnberg ab.�
Rationalisierungen der Arbeitgeberseite werden in der Regel nicht in Frage gestellt.
Auch analysiert kein Meinungsbeitrag, der die Tarifverhandlungen zwischen
Arbeitgebern und Gewerkschaften zum Thema hat, inwieweit etwaige höhere
Lohnabschlüsse tatsächlichen Produktivitätszuwächsen in einzelnen Branchen
entsprechen. In diesem Typus von Kommentaren ist folglich zwar die Kritik an die
Tarifparteien, also Arbeitgeber und -nehmervertreter, gerichtet, die Forderungen,
etwas zu ändern, treffen meistens jedoch die Gewerkschaften allein oder
stellvertretend die Regierung, die die Macht der Gewerkschaften beschneiden soll.
Einen wesentlich größeren Anteil stellen die Kommentare, die in den
Gewerkschaften die Hauptverantwortlichen und bisweilen sogar Hauptverursacher
der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland sehen. Zumeist ist der Vorwurf ein
doppelter: Gewerkschaften werden nicht nur dafür verantwortlich gemacht,
Arbeitslosen keine Chancen zu eröffnen, sondern auch Arbeitsplätze zu vernichten.
Die negative Haltung der Printpresse gegenüber den Gewerkschaften zeigt sich bei
der Thematisierung der Arbeitslosigkeit vor allem darin, was in den Kommentaren
fehlt: Es findet keine Auseinandersetzung mit der Verantwortung der Industrie und
der Unternehmer statt, Arbeitsplätze zu schaffen (bzw. nicht abzubauen). Ebenso
werden Fusionen, Management-Fehler, Outsourcing-Praktiken und Rationali-
sierungen nicht thematisiert und in Frage gestellt. Im Gegenteil: Für den Abbau von
Arbeitsplätzen seitens der Unternehmen wird häufig Verständnis aufgebracht:
Angesichts der Forderung der IG Metall, die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland
einzuführen, schreibt der Kommentator in der Welt: �Da alle Unternehmen über einen
Kamm geschoren werden, trifft es wirtschaftlich Schwächere besonders hart. Ein
weiterer Abbau von Arbeitsplätzen ist unvermeidlich, die Lage der Arbeitnehmer
verschlechtert sich. (...) Das Treiben der Gewerkschaften, die wieder einmal gegen
alle ökonomische und soziale Vernunft handeln, muss ein Ende haben." (Welt, 24.6.)
Da die Logik zumeist davon ausgeht, dass Gewerkschaften die Verursacher und
Schuldigen an der hohen Arbeitslosigkeit sind, wird die moralische Last und der
Handlungsimperativ klar auf Seiten der Gewerkschaften verortet. Dass auch die
Stimmung der Leser angesichts immer neuer Horrornachrichten von Arbeitsämtern
55
und Konjunkturforschern gegen die Gewerkschaften steht, suggeriert die
Kommentatorin in der taz vom 2 Juli, wenn sie schreibt: �Als unsichtbarer Dritter wird
sie (die Leserschaft; die Verf.) bei künftigen Tarifverhandlungen stets mit am Tisch
sitzen - und zwar auf Seiten der Arbeitgeber.�
Verbunden wird die Kritik an den Gewerkschaften oft mit Appellen an die Regierung,
den Kanzler oder den Wirtschaftsminister Clement, den �Ballast aus
Konsensgesellschaft, Gewerkschaften und Traditionslinken über Bord zu werfen."
(FAZ, 7.2.) Das HB macht die Kritik an den Gewerkschaften besonders deutlich:
�Nein, gleich muss der Tarif für alle sein, damit keine Ungerechtigkeit herrsche im
Lande. Es scheint als sei Wahlfreiheit die größte Bedrohung für die Gewerkschaften.
Das ist ökonomischer Totalitarismus schlimmster Prägung." (HB, 13.1.)
Arbeitslosigkeit wegen zu hoher Löhne
Hinsichtlich der Begründung, warum Gewerkschaften die Verantwortung für die hohe
Arbeitslosigkeit tragen, ist ein eindeutiger Trend auszumachen. Als Argumente
führen die analysierten Kommentare am häufigsten die hohen Lohnkosten (durch zu
hohe Tarifabschlüsse) bzw. die mangelnde (Lohn-)Flexibilität an. Die meisten
Kommentare beschreiben die Lohn- und Tarifpolitik der Gewerkschaften als
beschäftigungsfeindlich. Im Mittelpunkt der Kritik standen im Auswertungsjahr 2003
insbesondere die Lohnabschlüsse im öffentlichen Dienst und die IG-Metall Forderung
von vier Prozent in der Tarifrunde im November 200320. Gewerkschaften, so das
Argument, machten durch zu hohe Tarifforderungen bzw. -abschlüsse den Faktor
Arbeit zu teuer (vgl. etwa HB, 13.1.; SZ, 28.11.; Welt, 11.11.). Dahinter verbirgt sich
die These, dass nur bei hohem Beschäftigungsstand der Verteilungsspielraum
ausgeschöpft werden kann, in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit Gewerkschaften
dies aber nicht tun dürften. Als Konsequenz fordern die Kommentatoren daher eine
lohnpolitische Zurückhaltung.
Die konträr gegenüberstehende Kaufkrafttheorie des Lohnes wird entweder nicht
diskutiert oder als unwissenschaftlich bezeichnet. Ein Gastkommentator (Professor
für Volkswirtschaft) höhnt im FAZ-Standpunkt vom 25. November: �Ganz nach der
20 Besonders die Forderung der IG Metall wurde überwiegend als �überzogen" (SZ, 28.11.), sogar
als �markant überzogen (HB, 12.11.) bezeichnet angesichts des �bescheidenen Aufschwungs" (ebd.).
56
Art des Baron von Münchhausen muss man bei Tariferhöhungen nur Mut zeigen, -
und schon zieht sich die Wirtschaft aus der Krise heraus. Einfältiger geht es nicht,
aber in den Köpfen der Gewerkschaftsfunktionäre ist offenbar viel Platz für solches
Denken." Und weiter: �Eine Gewerkschaft wie die IG-Metall (das gleiche gilt für Verdi)
will partout nicht akzeptieren, dass angesichts einer hohen Dauerarbeitslosigkeit eine
Tariflohnpolitik betrieben werden muss, die in der Grundlinie anders ausgerichtet ist,
als sie es bei einer Vollbeschäftigung sein könnte. (...) Wo aber bleiben die
Beschäftigungschancen der Arbeitssuchenden? Mit ihrer Tarifforderung gibt die IG
Metall die Antwort: Sie bleiben auf der Strecke."
Ein weiterer externer Kommentator (Professor für Volkswirtschaft) fordert in der Welt
vom 24. Juni sogar: �Die Gewerkschaften verhindern mit einer beschäftigungsfeind-
lichen Lohn- und Tarifpolitik, dass die Arbeitslosigkeit abgebaut wird. Für dieses
Verhalten müssen sie zur Kasse gebeten werden, wenn es darum geht, die von
ihnen mitverursachte Arbeitslosigkeit zu finanzieren. In Zukunft sollten deshalb die
Beiträge nicht nur durch Arbeitnehmer und Unternehmen aufgebracht werden, auch
die Gewerkschaften müssen ihren Beitrag leisten. Damit würden sie für ihr lohn- und
tarifpolitisches Handeln mehr als bisher haften."
Eng daran schließt sich die Argumentation, dass Gewerkschaften nicht nur durch
ihre zu hohen Tarifabschlüsse die Lohnkosten in die Höhe treiben, sondern dass sie
auch hohe Lohnnebenkosten verursachen, die nun der Schaffung von neuen Jobs
entgegenstehen. Stellvertretend für viele hier nur die Stimme der FTD: �Die
jahrzehntelange Gewerkschaftspolitik, Lohnersatzleistungen immer weiter in die
Höhe zu treiben und so die Arbeitslosen ruhig zu stellen, ist gescheitert. Geführt hat
das nur zu dramatisch hohen Lohnnebenkosten, die vor allem Geringqualifizierten
jede Chance auf einen neuen Job nehmen.� (FTD, 10.7.)
Arbeitslosigkeit aufgrund zu geringer Lohndifferenzen
Am zweithäufigsten sehen die Kommentatoren in der hohen Arbeitslosigkeit ein
Resultat der fehlenden Lohnflexibilität (für die ebenfalls die Gewerkschaften
verantwortlich gemacht werden). Die meisten Kommentare beziehen sich in ihrer
Argumentation dabei insbesondere auf den Ausbau eines Niedriglohnsektors: Die
Kritik an den Gewerkschaften lautet hier vor allem, sie würden mit ihrer Weigerung,
einer stärkeren Lohnspreizung zuzustimmen vor allem Geringqualifizierte und
57
Langzeitarbeitslose ausgrenzen. So kommentiert das HB: �Solange die
Sozialabgaben auf dem derzeitigen Niveau verharren, und die Gewerkschaften sich
einer stärkeren Spreizung der Löhne verweigern, wird sich die Situation auf dem
Arbeitsmarkt nicht zum Positiven wenden." (HB, 15.8.) Und am 29. August schreibt
dieselbe Zeitung: �Die Gewerkschaften werden nur dann wieder als
Interessensvertretung akzeptiert, wenn sie endlich etwas gegen die wachsende
Arbeitslosigkeit tun. Das Grundgesetz weist ihnen dabei eine eindeutige Aufgabe zu:
die Lohnfindung. Aktuell heißt das für sie vor allem, den Exodus einfacherer Jobs ins
Ausland zu stoppen, indem sie niedrigere Löhne für Geringqualifizierte zulassen.
Werden die Gewerkschaften ihrer Verantwortung nicht bewusst, dürfen sie sich nicht
wundern, wenn ihnen die Politik schon bald das Mandat entzieht." (HB, 29.8.)
Einige wenige Kommentatoren weiten ihre Kritik an der zu geringen Flexibilität auch
generell auf andere Bereiche als den Lohn aus. Auch hier sind die Gewerkschaften
der Adressat: So schreibt der Tagesspiegel vom 31. Juli, dass der Arbeitsmarkt
insgesamt zu unflexibel ist. Er atme nicht und könne sich dem konjunkturellen Auf
und Ab nicht anpassen, �weil starre Tarifregeln, Kündigungsschutz, hohe
Einstiegslöhne und überflüssige Vorschriften verhindern, dass die Beschäftigung in
den Betrieben der Auftragslage schnell angepasst werden."
3.4.2. Gewerkschaften wollen keine Lösung des Problems
Ein weiterer Vorwurf, mit dem Gewerkschaften sich auseinandersetzen müssen,
lautet, sie seien an der Lösung des Arbeitslosigkeitsproblems nicht interessiert. Die
meisten Kommentare sind sich einig, dass Gewerkschaften ausschließlich die
Interessen ihrer arbeitenden Mitglieder vertreten. �Die Arbeitslosigkeit liegt dagegen
nicht in ihrem Blickfeld�, schreibt die ZEIT vom 9. Januar als eine von vielen. Am
deutlichsten beschreibt die FTD den Interessenskonflikt der Gewerkschaften
zwischen ihren Mitgliedern und Arbeitslosen: �Er (Jürgen Peters; die Verf..) sieht sich
ausschließlich als Anwalt seiner Mitglieder. Wer Beiträge zahlt, genießt Schutz. Wer
nicht dabei ist, darf nicht auf ihn zählen. Selten zuvor hat ein IG-Metall Chef den
Konflikt zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen so unmissverständlich auf den Punkt
gebracht: Die Gewerkschaften sind für Arbeitsplatzinhaber da, wer seine Arbeit
verliert, verliert auch seine Stimme.� (FTD, 14.7.)
58
Einige Kommentatoren gehen sogar soweit, den Gewerkschaften ein bewusstes
Täuschungsmanöver an der Bevölkerung zu unterstellen. So schreibt die FTD: �Vor
allem hat die Bevölkerung erkannt, welche Mär die Behauptung ist, dass die
Gewerkschaften mit ihrem Widerstand gegen Reformen auf dem Arbeitsmarkt den
�armen Arbeitslosen� Gutes tun wollen." (FTD, 10.7.) Ähnlich auch die ZEIT:
�Jahrzehntelang war es den Gewerkschaften (wie den anderen Machtverbänden)
gelungen, ihre eigenen, eigensüchtigen Interessen ins Mäntelchen des Gemeinwohls
zu hüllen. (...) Irgendwie müssen die Leute erkannt haben, dass die Metaller in
Wahrheit für die Zerstörung weiterer Arbeitsplätze in Ostdeutschland streiken....�
(ZEIT, 3.7.)
3.4.3. Gewerkschaften bieten nur veraltete und falsche Lösungen
Mit dem Vorwurf an die Gewerkschaften, nicht an der Lösung interessiert zu sein,
geht parallel die Kritik an Gewerkschaftskonzepten zur Lösung des
Arbeitslosenproblems. Vorschläge seitens der Gewerkschaften, die auf eine
Umverteilung der Arbeit zielen, werden oft als nicht mehr zeitgemäße, veraltete
Lösungen bezeichnet oder als wissenschaftlich längst widerlegt und/oder falsch
dargestellt. Eine typische Haltung der Kommentatoren ist es, den Gewerkschaften
(meist in personalisierter Form: den Funktionären) Wirtschaftskompetenz und -
kenntnisse abzusprechen. Insgesamt setzen sich jedoch nur überraschend wenige
Kommentare mit gewerkschaftlichen Vorschlägen zur Lösung des Arbeitslosen-
problems auseinander.
Insbesondere Lösungsansätze, die in einer Umverteilung von Arbeit bestehen,
werden zumeist als �utopisch�, �von gestern�, oder �realitätsfern� (vgl. etwa FTD,
15.1.) abqualifiziert. Dabei wird die Theorie der begrenzten Menge an Arbeit21 dem
Gewerkschaftslager zugeschrieben und als ökonomisch falsch bezeichnet. Mit
�Sommers Welt" überschreibt die FTD vom 15. Januar ihren Kommentar zum
Vorschlag des DGB-Vorsitzenden Michael Sommer, durch Teilzeitarbeit bzw.
Verkürzung mehr Arbeitsplätze zu schaffen. �Der Vorschlag wird wenig bewegen,
aber er sagt viel über das realitätsferne Weltbild der Gewerkschaftsführung. (...) Die
Tätigkeit von Fach- und Führungskräften ist zudem oft nur schwer teilbar." Und
weiter: �Sommers Pakt für Beschäftigung geht stattdessen von der Vorstellung aus,
59
Arbeit - und Arbeitslosigkeit - könnten doch unter einer größeren Anzahl von
Menschen aufgeteilt werden. Alle könnten ein bisschen arbeiten, wenn alle auch ein
bisschen arbeitslos sind, sprich: sich zeitweise von ihrem Job zurückziehen. Eine
dynamische Wirtschaft, die neue Jobs schafft, kommt in diesem Modell nicht vor. Sie
wird auch zuverlässig verhindert." Kritisch dazu auch dieselbe Zeitung am 10 Juli:
�Auf dem Prüfstand ist auch das Gewerkschaftsmantra von der begrenzten Menge
an Arbeit, die nur umverteilt werden müsse, damit die Arbeitslosigkeit sinkt. Es liegt
dem Kampf um die 35-Stunden-Woche zu Grunde und wurde für alle sichtbar in
Ostdeutschland ad absurdum geführt. Selbst Metallarbeitern in den ostdeutschen
Bundesländern war klar, dass ein solcher Ansatz eher zum Jobverlust führt." (FTD,
10.7.)
3.4.4. Exkurs: Die Ausbildungsplatzabgabe
Angestoßen wurde eine erneute Debatte um eine gesetzlich verordnete
Zwangsabgabe, mit der ausbildungsunwillige Betriebe bestraft werden sollen, zuerst
durch Bundeskanzler Schröder, der in seiner Regierungserklärung vom März 2003
mit der Abgabe drohte. Später wurde die Diskussion erneut aufgenommen durch die
SPD-Fraktion und ihren damaligen Fraktionsführer Müntefering. Es handelte sich
dabei jedoch hauptsächlich um eine strategisch motivierte Offensive - es galt die
Partei-Linke und die Gewerkschaften vor dem Parteitag der SPD zu besänftigen. Die
Gewerkschaften fordern schon lange die Ausbildungsplatzabgabe. Wie kaum ein
anderes Thema ist der Lehrstellenmangel � geht es doch dabei um die Arbeitslosen
von morgen - mit emotionaler und symbolischer Wirkkraft besetzt.
Dennoch fanden die Gewerkschaften mit ihrer Forderung, Betriebe, die zu wenige
Lehrlinge ausbilden, mit einer Ausbildungsplatzabgabe zu belegen weitgehend keine
Verbündeten. Die mediale Berichterstattung über die Ausbildungsplatzabgabe ist ein
weiterer Beleg dafür, auf wie wenig Zustimmung gewerkschaftliche Vorschläge in
den Medien 2003 stoßen. Ein nicht geringer Teil der Kommentatoren schreiben die
Brisanz des Thema eher klein und sehen den Ruf der Gewerkschaften nach einer
Ausbildungsplatzabgabe als verfehlt an. �Die Gewerkschaften warnten vor einer
Lehrstellenkatastrophe. Ein halbes Jahr später ist dieses Horrorszenario
zusammengebrochen. Die Lehrstellenlücke ist auf 20 000 geschrumpft. 95 Prozent
21 Ein hierfür gern zitiertes Bild ist: Arbeit als Kuchen, der nur einmal verteilt werden kann.
60
der Lehrstellenbewerber haben einen Ausbildungsplatz. Doch wer glaubt, damit sei
das Gespenst verschwunden, sieht sich getäuscht.� (Welt, 6.11.)
Die überwiegende Mehrheit in der Printpresse kommentiert jedoch die politisch
strategische Funktion der Ausbildungsabgabe und versteht sie als lästige
Konzession an die mächtigen Gewerkschaften. �Mit der Realität und den Problemen
auf dem Lehrstellenmarkt hat diese Politik nichts mehr zu tun. Gedacht war des
Kanzlers Drohung als Bonbon für die SPD-Linke und die Gewerkschaften, denen die
Agenda 2010 etliche Grausamkeiten zumutete. Diese Funktion hat sie auch heute
noch�. (Welt, 6.11.) Auch das HB sieht keinen Sinn in einer Abgabe, es sei denn den
des politischen Kuhhandels willen: �doch wenn er auf dem Parteitag seine Agenda
durchbringen will, muss er wohl oder übel den Preis an Linke und Gewerkschaften
zahlen, die sich damit eine jahrzehntelangen Traum erfüllen können.� (HB, 6.11.)
Laut FAZ vom 11. September würde sich die Situation auf dem Lehrstellenmarkt
durch eine Abgabe eher verschlechtern: �Ginge es nach dem Kanzler und seinem
Wirtschaftsminister wäre die Idee auch schon längst begraben. Denn beide wissen,
dass eine solche Abgabe die Lage auf de Lehrstellenmarkt noch verschlechtern
würde. (...) Dennoch könnte sich Schröder � um die vermeintliche �soziale Balance�
zu wahren - veranlasst fühlen, dem Drängen der Parteilinken und der Gewerkschaf-
ten auf eine Ausbildungsabgabe nachzukommen.�
Fast durchwegs werden die Gewerkschaften in dieser Debatte als unkooperativ und
interessengeleitet dargestellt. Das HB ist der Meinung, dass es Gewerkschafts-
vertretern vor allem darum geht, �per Ausbildungsplatzabgabe die Kontrolle über die
Berufsausbildung von den Unternehmen weg und hin zum Staat zu verlagern.� (HB,
10.10.) Ein ähnliches Motiv sieht auch die FAZ: �Denn eine Abgabe hätte -
abgesehen von den kontraproduktiven ökonomischen Wirkungen � vor allem einen
Effekt: Sie würde die Gewerkschaften von der Verantwortung befreien, aus eigener
Kraft für ein hinreichendes Lehrstellenangebot zu sorgen.� (FAZ, 11.9.)
In die Kritik geraten die Gewerkschaften auch wegen der Kurz-Ausbildungen.
Mehrere Kommentare beklagen die zu langen Ausbildungszeiten, für die die
Gewerkschaften plädieren. Auch hier sind sie wieder dem Vorwurf ausgesetzt, gegen
die Interessen der Betroffenen zu handeln und auf �stur zu stellen�, wie es das HB
vom 29. Juli (vgl. auch HB, 10.10.) formuliert. Dabei müsste es doch eigentlich laut
HB �im ideologisch aufgeladenen Kleinkrieg zwischen Gewerkschaften und
Arbeitgebern um die zweijährige Kurzausbildung� (...) �weit weniger um handfeste
61
eigene Interessen� gehen �als um die Jugendlichen selbst.� (HB, 29.7.) Selbst eine
Schmalspurausbildung sei in diesen Zeiten besser als keine.
In eine ähnliche Richtung, aber noch einen Schritt weiter, geht die Kommentatorin
des HB vom 6. November, indem sie den Gewerkschaften indirekt selbst schuld für
die zu geringe Zahl an Ausbildungsplätzen gibt. Sie schreibt: �Auch die Tarifverträge
über die in einzelnen Branchen abschreckend hohen Lehrlingsvergütungen haben
die Arbeitgeber selbst unterschrieben.� (HB, 6.11.). Und die FTD fordert von den
Gewerkschaften statt �nutzloser Appelle�, dass �Lehrlinge auf einen Teil ihres
Gehalts verzichten dürfen. Die Lehrlingsgehälter und Prüfungsgebühren sind
angesichts der momentanen Konjunkturkrise zu hoch.� (FTD, 29.7.)
Im Gegensatz zu den Gewerkschaften wird die Wirtschaft in der Mehrzahl der
Kommentare als �kooperativ� dargestellt. �Anders als von Gewerkschaftlern
unterstellt, ist in den Unternehmen sowie bei den Industrie und Handelskammern
(IHK) und Handwerkskammern die Bereitschaft gewachsen, das System der dualen
Ausbildung einer Prüfung zu unterziehen. Erstmals deutet sich sogar ein gewisser
Wille der Wirtschaft an, kollektiv die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass alle
Schulabgänger ausgebildet werden.� (HB, 10.10.)
In der Diskussion um die Ausbildungslage stechen drei Kommentare hervor, die zwar
nicht die von den Gewerkschaften geforderte Ausbildungsumlage befürworten, doch
den Vorstoß der Gewerkschaften begrüßen und Handlungsbedarf anerkennen. Die
Berliner Zeitung vom 29. Januar leitet ihren Kommentar mit dem Satz ein: �Der
deutsche Gewerkschaftsbund hat Recht: Die Lage auf dem Lehrstellenmarkt ist
besorgniserregend.� Allerdings folgt dem Lob sogleich die Kritik, dass es nicht weiter
hilft, den Arbeitgebern die alleinige Schuld in die Schuhe zu schieben, wie dies
Gewerkschaften tun würden. Sie müssten sich vielmehr �fragen lassen, ob sie nicht
selbst zur Lehrstellenmisere beigetragen haben�. Die SZ vom 9. Oktober sieht
ebenfalls ein �Drama der Lehrstellen� (Überschrift) und beschäftigt sich mit dem
Vorschlag des DGB, Ausbildungsplätze durch Umlage der Kosten auf alle
Unternehmen zu finanzieren. �Vieles spricht für eine solche Lösung�, pflichtet der
Kommentator den Gewerkschaften bei. �Weil Ausbildung für den einzelnen Betrieb
teuer sein kann, sollten sich alle an der Finanzierung beteiligen. Das wäre gerecht
und praktikabel.� Statt jedoch nach dem Gesetzgeber zu rufen, sollten die
Gewerkschaften lieber nach dem Vorbild am Bau mit den Arbeitgebern
62
Branchenfonds zur Finanzierung der Ausbildung einrichten. Bemessungsgrundlage
für die Zahlungen der Betriebe könnte deren Wertschöpfung sein, so die SZ.
Einzig die FR vom 10. Oktober widmet einen längeren Meinungsbeitrag dem
Problem der fehlenden Qualität der Ausbildung, nicht nur den fehlenden Lehrstellen,
der von der Gastkommentatorin Ingrid Sehrbrock, Mitglied des Bundesvorstand des
DGB, verfasst wurde.
63
4. Das mediale Bild der Gewerkschaften
4. 1. Interpretation der Ergebnisse
4.1.1. Häufigkeiten und Tendenzen
Zunächst gilt festzuhalten, dass kein Medium die Gewerkschaften als Gegenstand
der Kommentierung vollständig ignorieren kann. Im wesentlichen wird über
Gewerkschaften berichtet, wenn sie entweder schlagzeilenträchtige Meldungen
möglich machen (Streik, Machtmissbrauch) oder gesellschaftlich relevante Themen
auch die Gewerkschaften betreffen. Die Hälfte (etwa 120) aller von uns gefundenen
Meinungsbeiträge bezog sich auf die Gewerkschaften allgemein, im einzelnen
wurden zumeist deren momentane Krise oder Zukunft thematisiert. Die andere Hälfte
behandelte Gewerkschaften im Zusammenhang mit den von uns in Punkt 3
dargestellten Themenschwerpunkten.
Auf die Frage, wer denn nun am häufigsten über Gewerkschaften berichtet, lässt sich
folgende Einteilung machen. Häufig berichten die Frankfurter Rundschau, die
Financial Times Deutschland, Die Welt und die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Eine
durchschnittliche Kommentierung finden wir in der ZEIT, dem Neuen Deutschland,
der Süddeutschen Zeitung, dem Tagesspiegel und der Berliner Zeitung. Am
wenigsten berichten die tageszeitung, die BILD, die Stuttgarter Zeitung und die
großen Magazine wie Focus, Spiegel, Stern oder die Wirtschaftswoche. Letztere
kommentieren und berichten v.a. über gewerkschaftliche Themen im Zusammen-
hang mit einem (unterstellten) Machtmissbrauch. Die zumeist sehr langen Artikel
gehen dabei äußerst scharf mit den Gewerkschaften ins Gericht und polemisieren
zum Teil gegen ihre Politik und ihren Einfluss.
Wenn man die Tendenz der herangezogenen Printmedien in fünf Stufen von Positiv
bis zu Negativ einteilt, kommt man zu folgender Kategorisierung: Ausschließlich
positiv berichtet kein einziges Printmedium, als einzige Zeitung überwiegend positiv
das Neue Deutschland. Relativ neutral ist die Frankfurter Rundschau (insbesondere
durch ihre häufigen Experten-Kommentare), die BILD-Zeitung22, der Tagesspiegel
22 Interessanterweise ist es die BILD-Zeitung, die öfters prekäre und unzumutbare
Arbeitsverhältnisse thematisiert. Als selbsternannte Stimme des �kleinen Mannes� oszilliert die BILD-Zeitung zwischen der Befürworterin einer harten ökonomischen Praxis und beklagt
64
und die Berliner Zeitung. Überwiegend Negativ dagegen die Kommentare in Der
ZEIT, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung und auch der
tageszeitung. Ausschließlich negative Kommentare finden wir in: Financial Times
Deutschland, Spiegel, Handelsblatt, der Wirtschaftswoche und dem Focus.
Insbesondere eine nur flüchtige Übersicht der Titel der von uns etwa 260
untersuchten Artikel zeigt sofort die negative und vielfach polemische Haltung der
Presse gegenüber den Gewerkschaften.23
Manche Zeitschriften wie die Frankfurter Rundschau, die Süddeutsche Zeitung, die
tageszeitung, BILD, das Neue Deutschland oder das Handelsblatt lassen des öfteren
Experten kommentieren, vereinzelt auch Gewerkschafter oder gewerkschaftsnahe
Wissenschaftler (insbesondere Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung und
Neues Deutschland). Die Frankfurter Rundschau widmete 2003 eine achtteilige Serie
den �gängigen Vorurteilen� zu Tarifverträgen, die sehr differenzierte Beiträge von
Gastkommentatoren beinhaltete und in der Süddeutschen Zeitung wurde eine
mehrteilige Serie zum Kündigungsschutz abgedruckt.
Es fällt weiter auf, dass es keine speziell auf Gewerkschaftsthemen angesetzten
Kommentatoren innerhalb einer Zeitung zu geben scheint. Für die Printmedien hat
der ehemalige Pressesprecher des DGB, Hans-Jürgen Arlt, folgende Beobachtung
gemacht: �Hier sinkt zum einen die Zahl der kontinuierlichen Gewerkschafts-
beobachter, die Redaktionen selbst haben tendenziell nur noch Interesse an
punktuellen Kontakten, nämlich immer dann, wenn gewerkschaftliches Tun oder
Unterlassen schlagzeilenträchtig wird.� (Arlt 1998, S. 219) Auch wenn viele
verschiedene Kommentatoren in den jeweiligen Medien zu Wort kommen, lässt sich
dennoch festhalten, dass einige wenige Journalisten sehr häufig über
Gewerkschaftsthemen schreiben. Namen, die in der Auswertung immer wieder
auffielen, sind insbesondere: Christoph Keese (FTD), Nico Fickinger (FAZ), Robert
Jacobi, Jonas Viering (beide SZ) oder etwa Christoph Schilz (Welt)
Da die Printmedien über keine eigenen Ressorts verfügen, die sich mit den
Gewerkschaften auseinandersetzen, lässt sich eine Angliederung gewerkschaftlicher
Themen im wesentlichen an die Wirtschaftsredaktionen beobachten. Das Feld des
gleichzeitig aber auch ihre negativen Auswirkungen. Dass dies bisweilen in ein und derselben Ausgabe erfolgt, legt den Schluss nahe, dass BILD durch das Fehlen einer geschlossenen �Ideologie� definiert ist. Alle Themen haben prinzipiell Platz, sofern sie verkaufsfördernd (sprich emotionalisierend) wirken.
23 Siehe dazu die kleine Auflistung von Überschriften in Kap. 4.4. und die Literaturliste im Anhang.
65
Kommentars ist so überwiegend den Wirtschaftsredakteuren überlassen worden. Als
Wirtschaftsthema �wird die Gewerkschaftspolitik, wie alle Politik, primär als
Kostenfaktor behandelt.� (Arlt 1998, S. 118) So bleibt im wesentlichen die Frage
bestehen, ob die von den Gewerkschaften forcierte Politik bereits die
�Schmerzgrenze� in Punkto Arbeitskosten für Unternehmen, Wirtschaft und
Gesellschaft überschritten hat. Die überwiegende Mehrheit der Presse antwortet
darauf mit einem Ja.
Was die von uns analysierten Themen betrifft, lassen sich durchaus Abstufungen in
der Bewertung finden. Während die Themen rund um den Flächentarifvertrag und die
Arbeitszeitflexibilität durchaus noch eine relativ ausgewogene Kommentierung
erfahren, werden sowohl die Themen Kündigungsschutz als auch Arbeitslosigkeit
fast ausschließlich negativ mit den Gewerkschaften verbunden. Diejenigen
Kommentare, die sich mit den Gewerkschaften an sich (Personal, Zukunft, Krise)
beschäftigen, sind darüber hinaus noch weitaus einheitlicher in ihrer negativen
Beurteilung.
Eine mögliche Ursache für die Ablehnung gewerkschaftlicher Politik und ihrer
Anliegen könnte in der Arbeitsrealität der Journalisten selbst begründet sein. In den
meisten Fällen arbeiten Redakteure und insbesondere freie Journalisten innerhalb
flexibler Verhältnisse. Wie bei allen �Symbolanalytikern24�(Reich 1997, S. 189ff.) ist
die Trennung von Arbeit und Freizeit tendenziell aufgehoben. Mit den Forderungen
der Gewerkschaften bezüglich der Arbeitszeiten und Arbeitsverhältnisse können sie
sich deshalb selten identifizieren25. Schon aus diesem persönlichen Grund halten sie
eine Arbeitnehmervertretung für veraltet und inadäquat.
24 Der zitierte Autor Robert Reich, Arbeitsminister der Regierung Clinton, unterscheidet drei
Hauptkategorien von Arbeit: routinemäßige Produktionsdienste, kundenbezogene Dienste und symbolanalytische Dienste. Für Menschen, deren Arbeit darin besteht, Symbole, also Sprache, Zeichen, Schrift oder Information zu �manipulieren�, findet Arbeit überall da statt, wo sich Menschen austauschen. Ob Mediendesigner, Rechtsanwälte, Journalisten oder Psychoanalytiker, für sie alle bedeutet Arbeit mehr als nur die individuelle Reproduktion über einen Arbeitslohn. Auch Jeremy Rifkin verwendet in seinem bekannten Buch Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft den Begriff des Symbolanalytikers für die Kennzeichnung der neuen Arbeitseliten.
25 Gerade einmal sechs Prozent der befragten Journalisten bekunden, sie verstünden das Gebaren der Gewerkschaften im Streit um die 35-Stunden-Woche. (siehe dazu FAZ, 1.7.)
66
4.1.2. Adressat
Wer ist nun der Hauptadressat, an den sich die Botschaft richten soll? Und für wen
wird überhaupt gesprochen? Wie schon in der Darstellung der Kernthemen mehrfach
betont, sind es insbesondere die Arbeitslosen und Steuerzahler, für die die Medien
sprechen wollen. Da jeder von uns heute potenziell arbeitslos werden kann und
(beinahe) alle Steuern zahlen, sind diese beiden Gruppen emotional am besten dazu
geeignet, inhaltliche Positionen zu begründen. Neben diesen beiden psychisch hoch
besetzten Gruppen sind es Unternehmer und Selbstständige, die für die Medien die
Leidtragenden gewerkschaftlicher Politik sind. Auch sie erhalten in den Medien einen
Fürsprecher und eine Lobby. Seltener nehmen die Printmedien auch die Perspektive
von Kindern und Jugendlichen ein, deren Zukunft meistens in düsteren Farben
gemalt wird. Die Printmedien wollen also für die �Schwächsten� sprechen.
Arbeitnehmer gehören eben nicht zu dieser Gruppe und werden ohne
Unterscheidung ihrer wirklichen Arbeitsverhältnisse als Starke definiert (siehe dazu
auch Punkt 4.3) .
Insbesondere Frauen und die große Zahl an prekär Beschäftigten kommen praktisch
nicht als Referenzfiguren in den Kommentaren vor. Ein weiteres Ergebnis ist: Wie die
Arbeitswelt real aussieht und für den Einzelnen aussehen kann wird nicht verhandelt.
Es ist zu vermuten, dass die sozialen Verschiebungen der neuen Arbeitswelt in den
Medien längst akzeptiert sind und als notwendige Effekte der Globalisierung
erscheinen. So wird über die tatsächlichen Arbeitsbedingungen von Arbeit-
nehmer/innen in Deutschland, die insbesondere für Frauen oftmals prekär sind,
nichts mitgeteilt. (Eine Ausnahme stellt höchstens das Neue Deutschland dar). Die
Akzeptanz der neoliberalen Theoreme und ihrer Logik wird nur selten hinterfragt und
wenn, dann im wesentlichen im Zusammenhang mit ökonomischen Zweifeln über
ihre Auswirkungen auf dem globalen Arbeitsmarkt. Nur einzelne externe
Kommentatoren (zumeist gewerkschaftsnahe) verweisen explizit auf die sozialen
Folgen einer hemmungslosen Durchsetzung ökonomischer Prinzipien. Zumindest
wird also Gegenstimmen, wenngleich sehr begrenzt, Raum gegeben.
67
4.1.3. Themensetzung
Grundsätzlich folge die Pressedarstellungen über Gewerkschaften einer einfachen
Botschaft, schreibt Hans-Jürgen Arlt im Jahr 1998: �Als Information wird vermittelt,
dass die Gewerkschaft Arbeitnehmerinteressen entweder zu stark oder zu schwach
wahrnimmt und entsprechend Wirtschaftsinteressen zu wenig oder zu stark
berücksichtigt.� (Arlt 1998, S. 117) Letzteres Argument, die Gewerkschaften würden
ihre Politik zu sehr an wirtschaftlichen Interessen orientieren, lässt sich im
Untersuchungszeitraum 2003 in keinem einzigen Kommentar finden. In den letzten
fünf Jahren scheint sich also einiges zuungunsten der Gewerkschaften verschoben
zu haben.
Die in den Medien schließlich lancierten Themen sind im wesentlichen konjunktur-
abhängig und werden in den überwiegenden Fällen von der Tagespolitik und weniger
von Arbeitgeberseite, geschweige denn von den Gewerkschaften gesetzt. So wurde
z. B. die Debatte um den Kündigungsschutz durch den SPD-Minister Clement
ausgelöst. Auch die Arbeitszeitdebatte rückte erst durch Angela Merkels Forderung
nach längeren Arbeitszeiten in den Mittelpunkt des medialen Interesses. Seltener
schaffen die Wirtschaft oder einzelne Unternehmen Fakten (etwa Standortver-
lagerung), auf die die Politik reagieren muss.
Allgemein lässt sich folgendes Schema für die Themensetzung festhalten: einzelne
Politiker testen stellvertretend aus, was gesellschaftlich auf Akzeptanz stößt und was
nicht. Ist die Empörung zu groß, wird oftmals der Versuchsballon zurückgenommen
und später wieder ins Spiel gebracht. Auf eines können sich die Protagonisten
jedoch verlassen: Die Gewerkschaften reagieren zunächst mit einem reflexhaften
Nein und machen erst bei zu hohem öffentlichen Druck Abstriche und
Zugeständnisse. Selten jedoch setzen sie eigene Themen und wenn ja, werden sie
in der Öffentlichkeit praktisch nicht wahrgenommen. Als etwa der VW-Personalchef
Peter Hartz im September für ein neues Lebensarbeitskonzept (Welt, 7.10.) plädiert,
griff er einen Gedanken der Gewerkschaften auf. So hatte etwa der Verdi-
Fachbereichsleiter Walter Lochmann26 schon Monate zuvor in der FR denselben
Gedanken geäußert. Am 19. September behaupten SZ und HB unisono: �Hartz geht
in die richtige Richtung!� Im Gegensatz dazu fand Lochmanns Vorstoß keinen
26 Walter Lochmann ist der Leiter des Fachbereichs 5, Bildung, Wissenschaft und Forschung des
Verdi Landesbezirks Hessen.
68
größeren medialen Widerhall. Dieser Einzelfall reflektiert eine allgemeine Tendenz
der Berichterstattung über Gewerkschaften: �Negative� Nachrichten, wie etwa Streiks
oder hohe Lohnforderungen, werden breit thematisiert, während über
gewerkschaftliche Initiativen, Kompromisse oder differenzierte Gegenvorschläge
kaum berichtet wird.
Soziokulturelle Themen sind entgegen unserer ursprünglichen Erwartung relativ
selten vorhanden und finden auch keinen Niederschlag in den Feuilletons der
Presse. Die Zukunft der Arbeitsgesellschaft und insbesondere die Identitäts-
problematik einer veränderten Arbeitskultur sind auf einzelne, zumeist sehr
reflektierte Beiträge, beschränkt. Daneben werden auch Themen wie
Selbständigkeit, neues Unternehmertum oder die im letzten Jahr vielzitierten Ich-AGs
ebenfalls erstaunlich selten aufgegriffen. Diese Lücke hängt sicherlich auch mit
unserer Auswahl zusammen, die Magazine wie etwa brand eins, das im Schnittpunkt
von Arbeit, Kultur und Lifestyle angesiedelt ist, nicht berücksichtigt, da sie keinen
direkten Bezug zu den Gewerkschaften herstellen. Für die Elite der heutigen
Arbeitsgesellschaft, die �Symbolanalytiker, kommen Gewerkschaften als spezielles
Thema nicht vor. Hier sind sie als Realität, mit der man sich auseinander setzen
müsste, eigentlich auch nicht mehr vorhanden.
4.2. Haupteinwände gegen Gewerkschaften
Aus der Medienanalyse ergeben sich einige allgemeine Argumentationsmuster, mit
denen Gewerkschaften sich auseinandersetzen müssen, wollen sie in Zukunft ihr
Image wieder verbessern. Insbesondere die Diskussion, dass es sich bei den
Gewerkschaften um eine �geheime Macht� innerhalb des Staates handele, die
Reformen auf dem Arbeitsmarkt verhindere, sind schwer zu widerlegen. Genau
deswegen gefährden sie jedoch das gewerkschaftliche Image. Da der Mangel an
Geheimnis in einer Demokratie stets Verschwörungstheorien begünstigt, werden
Bilder einer im Dunklen agierenden Kraft gerne akzeptiert.
Es lassen sich folgende vier Hauptvorwürfe an die Gewerkschaften von Seiten der
Kommentatoren unterscheiden: Erstens die mangelnde Repräsentation, zweitens die
Nicht-Anerkennung der Realitäten, drittens das Glaubwürdigkeitsdefizit und viertens
der Machtmissbrauch. Alle genannten Vorwürfe, mit Ausnahme der Realitätsver-
69
leugnung sind nicht neu. Neu ist allerdings, dass alle Argumente gegen die
Gewerkschaften heute gleichzeitig erhoben werden und so in ihrer Massivität und
Häufigkeit auf ein verändertes Verhältnis der Presse zu den Gewerkschaften deuten.
4.2.1. Repräsentationsproblem
Wie jede Gruppe in der Gesellschaft, die im Namen aller (hier der Arbeitnehmer)
sprechen will, ziehen auch die Gewerkschaften den Vorwurf auf sich, nur eine kleine
(meist mit privilegiert gleichgesetzte)27 Minderheit zu vertreten. Die Masse der
Arbeitnehmer habe einem Edukationismus längst abgeschworen. Mit dieser
Begründung wird unmittelbar eine Interessensvertretung für Arbeitnehmer an sich
abgewertet. Die Idee einer kollektiven Repräsentation wird als ein Modell der
Vergangenheit vorgeführt: �Verdi riskiert, sich in eine gesellschaftliche Isolation zu
manövrieren. Es ist doch nicht so, dass die Gewerkschaften heute noch per se die
Mehrheit der Bevölkerung und auch nicht die Mehrheit der Arbeitnehmer vertreten.�
(Focus 9.6.)
Am schwersten aber wiegt das in der Presse meist genannte Argument, dass die
Gewerkschaften nur Arbeitsplatzbesitzer verträten. Arbeitslose schlössen sie
aufgrund ihrer Klientelpolitik sogar vom Arbeitsmarkt aus.28 �Ihre Funktionäre
vertraten einseitig die Interessen der abnehmenden Zahl der Arbeitsplatzbesitzer.
Sie sperrten die immer weiter steigende Zahl der Arbeitslosen einfach aus.� (Wams,
3.8.) Auf den Widerspruch zwischen Interessensvertretung und einer allgemeinen
Repräsentationsidee verweist ein Kommentar in der SZ: �Der scheinbar stichhaltigste
Vorwurf an die Bsirskes und Zwickels dieser Republik lautet, dass sie sich nur um die
Arbeitnehmer, nicht aber um die Arbeitslosen kümmern. (...) Als Interessensgruppen
27 Der Tagesspiegel vom 6. Februar kommentiert: �Wie kann man als Linker am Tag, an dem die
neue Arbeitslosenzahl von 4,6 Millionen bekannt gegeben wird, Arbeitslose, Arbeitnehmer und Rentner in einen Topf werfen? Wer Arbeit hat, ist heute privilegiert. Wer das Arbeitsleben hinter sich hat, erst recht. Die Rentner von heute gehören ganz überwiegend zur privilegierten Generation.�
28 Dass inzwischen sogar die FDP zu einer Arbeitslosenpartei geworden ist, zeigt die symbolische und gleichzeitig inhaltlich beliebige Bedeutung dieses Arguments. So argumentierte der sich durch massive Gewerkschaftsschelte 2003 in Szene setzende FDP-Chef Guido Westerwelle in einem Interview mit der BILD-Zeitung: �Ich lasse mich im Interesse der Arbeitslosen nicht beirren.� (in Bams, 2.3.) Die FDP auf dem Weg zu einer Massenpartei? Zumindest rhetorisch macht sie sich zum Anwalt der Arbeitslosen, d.h. konkret zum Anwalt der �Opfer� rot-grüner und gewerkschaftlicher Politik.
70
vertreten sie ihre Mitglieder, und das sind vor allem Arbeitnehmer, nicht Arbeitslose.
Genau dieses Faktum führt die Gewerkschaften ins Dilemma. (SZ, 5.4.)
Die Gewerkschaften insgesamt stehen für eine Machtpolitik, die in den Augen vieler
Kommentatoren als erpresserisch erscheint, und zwar: �für Arbeitsplatzbesitzer
gegen Arbeitslose, für Rentner gegen die Jüngeren. Diese Linken und
Gewerkschafter schützen nicht die Schwachen, sie nehmen sie vielmehr als Geiseln,
um die Interessen Starker durchzusetzen�, kommentiert der Tagesspiegel unter der
Überschrift �Reaktionäre von Links�. (Tages, 6.2.)
Ähnlich argumentiert auch der Ökonom Wolfgang Franz in der WiWo: �Denn die
Gewerkschaften machten knallharte Klientelpolitik für Arbeitsplatzbesitzer � zu
Lasten der über vier Millionen Arbeitslosen.� (WiWo, 13.2.) Und die Berliner Zeitung
sieht nur eine klare Linie in der gewerkschaftlichen Politik: �Was auch immer die
Gewerkschaften forderten und verlangten, folgte stets einem Grundsatz: im Zweifel
zum Nutzen derjenigen, die (noch) einen Arbeitsplatz haben.� (Berliner, 6.3.)
Neben den Arbeitslosen sind es die Arbeitnehmer selbst, die als Argument gegen die
Repräsentationslogik aufgeführt werden. Die gewerkschaftliche Politik führe immer
mehr zu einer Abwendung ihrer Basis. �Was an der Basis für die Beschäftigten oft
eine Frage des Joberhalts ist, beurteilen die Funktionäre in den Zentralen nicht
selten nach dem Prinzip des System- und Machterhalts. (...) Dabei kennen mache
der fast 11.000 hauptamtlichen Gewerkschafter den Betriebsalltag nur vom
Zuschauen.� (Focus, 17.3.) Insbesondere die Diskussionen um die Agenda 2010
habe bewiesen, dass Basis- und Funktionärsinteressen längst auseinander fallen.
�Die Gewerkschaftsbasis hat sich verweigert, das hat zumindest bei einem Teil der
Spitzenfunktionäre zum Umdenken geführt. Denn platte Formeln, gegen alles und
jeden zu sein, verfangen auch bei vielen betroffenen Arbeitnehmern nicht mehr.�
(Berliner, 23.10.)29
Ein letztes Argument, warum der Repräsentationsanspruch der Gewerkschaften
heute obsolet sei, ist schließlich die Transformation der Arbeitswelt selbst. Als
wesentliches Merkmal moderner Wissensarbeit wird das Moment der Freiheit und
Individualität gesehen. �Freiheit lassen sie (die Gewerkschaften; die Verf.) nicht zu -
weder intern noch in der Volkswirtschaft", so die FTD vom 24. Februar.
29 Nur 37 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder sind einer Umfrage zufolge tatsächlich gegen die
Agenda 2010. 48 Prozent aber meinen, das Ausmaß der Veränderungen sei gerade richtig so � oder sogar, es brauche noch weiter gehende Maßnahmen. (Ergebnisse der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen, zitiert nach SZ, 6.5.)
71
Gewerkschaften mit ihrem Sicherheits- und Regulierungsdenken ignorierten vielfach
die Anliegen ihrer Mitglieder nach größerer Flexibilität und Selbstständigkeit. Ihre
Politik richte sich immer noch nach dem Industriearbeiter. Die FAZ sieht daher ein
gewerkschaftliches Interesse in der Wahrung der Verhältnisse: �Die Akzeptanz-
probleme der Gewerkschaften entspringen dem weit verbreiteten Eindruck, dass sie
� nicht auf der Ebene der Betriebsräte, aber auf der Funktionärsebene � den
Herausforderungen nicht ausreichend Rechnung tragen und sich aus Eigeninteresse
heraus zu Verteidigern des Status Quo machen und damit notwendige
Veränderungen erschweren.� (FAZ, 16.4.)
Aus einigen wenigen Kommentaren sind versöhnlichere Stimmen zu vernehmen. Sie
erkennen an, dass die Gewerkschaften einen äußerst schwierigen Spagat zwischen
einerseits Interessensvertretung und andererseits ihrem Anspruch Vertretung aller
Arbeitnehmer (und Arbeitsloser) zu sein, vollführen müssen. Gewerkschaften
stünden vor einem kaum zu lösenden Widerspruch und Dilemmata. Dass
Gewerkschaften deshalb nur noch einen kleinen Teil der Arbeitnehmer vertreten,
wird an und für sich nicht negativ für Gewerkschaften bewertet. Sie sollten jedoch
nicht weiter für alle sprechen und in ihrer praktischen Politik da Ausgrenzung
betreiben, wo sie Einheit forderten.
Tatsächlich ist die Kluft zwischen Mitglieder- und Arbeitsmarktstruktur in den letzten
Jahren gewachsen. Während der Anteil der Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt bei 37
Prozent liegt, machen sie bei den Gewerkschaftsmitgliedern 64 Prozent aus.
Umgekehrt stellt sich das Verhältnis für Angestellte dar: hier sind lediglich 27 Prozent
Mitglieder einer Gewerkschaft, während sie auf dem Arbeitsmarkt 57 Prozent
repräsentieren. Gleiches gilt für Frauen und Jugendliche (Personen unter 25 Jahren),
die ebenfalls unterrepräsentiert sind. Der Eindruck, dass die Gewerkschaften im
wesentlichen eine Organisation für ältere, hauptsächlich männliche Arbeiter sind, ist
daher nicht unberechtigt (zur Mitgliederentwicklung vgl. Ebbinghaus 2003, S. 174-
204).
4.2.2. Realitätsproblem
Eine der meistverwendeten Figuren bei der Bewertung gewerkschaftlicher Politik ist
die Scheinwelt, in der sich hauptsächlich die Funktionäre bewegten. Diese
Scheinwelt kann zum einen die Vergangenheit sein (meist gleichgesetzt mit dem
72
Industriezeitalter) oder zum anderen die Chimäre bestimmter sozialer Werte und
Überzeugungen. Gewerkschaftliche Politik sei geprägt von einem Abwehrreflex
gegenüber allem Neuen, das stets als bedrohlich empfunden wird. �Das Weltbild der
Gewerkschaften stammt noch aus den siebziger Jahren und ist vom Glauben an die
Globalsteuerung und an die Allmacht staatlicher Regulierung durchdrungen. (...) Die
zunehmende Individualisierung der Lebens- und Arbeitswelt nehmen sie als
Bedrohung kollektiver Vereinbarungen und nicht als Herausforderung wahr.� (FAZ,
24.10.)
Die Realität wird als Gegenbegriff zur einer idealistischen Haltung der
Gewerkschaften, die auf falschen theoretischen Annahmen basiere, angeführt. Mit
Realität sind vor allem die ökonomischen Sachzwänge gemeint, die neben einer
veränderten Politik auch neue Organisationsformen verlangten: �Verdi und die IG
Metall sind Funktionärsbewegungen, die sich standhaft der Realität verweigern und
sich mit ihren Kongressen endgültig ins Abseits manövriert haben. Statt neue
Alternativen und Protestformen zu entwickeln, kapitulieren sie vor der Lethargie der
eigenen Klientel. Die großen Gewerkschaften werden bald nur noch in der Tarifpolitik
ernst zu nehmende Akteure sein. Sie ignorieren ihre Mitglieder, und diese treten
einfach scharenweise aus." (FTD, 22.10.) Als Positivfolie werden gerne � selbst in
der konservativen Presse - globalisierungskritische Gruppen wie attac aufgeführt,
deren lose und vernetzte Organisationsstruktur der neuen Arbeits- und
Lebensrealität entspreche: �In Gruppen wie attac formiert sich derweil die AGO �
eine Außergewerkschaftliche Opposition, unbekümmert und noch nicht durch
Funktionärswirtschaft verkrustet.� (ebd.)
Der Vorwurf der Realitätsferne begegnet uns auf allen Ebenen der Bewertung
gewerkschaftlicher Politik. Am deutlichsten jedoch wird er in den Kommentaren zum
Streik um die 35-Stunden-Woche im Osten formuliert. Die IG Metall als Ganze, so
der Vorwurf, habe sich dabei von allen realen Bedingungen und vernünftigen
Lösungen verabschiedet. �Sie (die IG Metall; die Verf.) hat das Gespür für das
Notwendige und Machbare verloren. Dass ihr der Realitätssinn abhanden gekommen
ist, zeigte sich beim jüngsten Streik, als sie die Antipathie der Außenwelt unter- und
die eigene Stärke überschätzte.� (FR, 9.7.) Die Schlussfolgerung daraus kann nur
lauten: �(...) die IG Metall muss wie jetzt in der Tarifpolitik auch in der Gesellschafts-
politik endlich die Realitäten zur Kenntnis nehmen.� (FAZ, 30.6.)
73
Die Kritik an der Realitätsferne wird jedoch auch relativiert. In beinahe allen Medien
finden sich Meinungsbeiträge, die klar zwischen einerseits der Rhetorik (zumeist der
Funktionäre)30 und der Praxis (zumeist der Betriebsräte) unterscheiden. Die Rhetorik
wird dabei stets als realitätsfern bezeichnet. In der Praxis, vor allem auf
Betriebsebene, wird den Gewerkschaften durchaus zugestanden, kompromissbereit
zu sein.
4.2.3. Glaubwürdigkeitsproblem
Die Gewerkschaftskrise ist vor allem auch eine Glaubwürdigkeitskrise. Diese zeigt
sich insbesondere in dem von den Medien aufgezeigtem Widerspruch zwischen
gewerkschaftlicher Rhetorik und realer Praxis. Am schwersten wiegen dabei all jene
Kommentare und Berichte, in denen die Gewerkschaften selbst als Arbeitgeber
vorgeführt werden.
Im Jahr 2003 sind mehrere, zumeist sehr polemische Beiträge zu finden, die
Gewerkschaften als Arbeitgeber portraitieren. Der Vorwurf lautet zumeist: �Die roten
Arbeitgeber� (Focus Money, 14.4.) gebärdeten sich wie die schlimmsten Kapitalisten
und nicht wie Arbeitnehmervertreter. Der Schaden für Gewerkschaften, die einen
Großteil ihrer Legitimation aus ihrem moralischen Vorsprung beziehen, ist enorm.
Indem die Medien die Widersprüche aufdecken, die sich aus der Doppelrolle als
einerseits Arbeitgeber und andererseits Arbeitnehmerinteressensvertretung ergeben,
diskreditieren sie Gewerkschaften nachhaltig als Vorbilder. Fast alle kritischen Beiträge stammen aus den großen Wochenmagazinen wie
Spiegel und Focus, nur vereinzelt auch aus Tageszeitungen. �Wenn�s ums eigene
Geld geht, wird die Gewerkschaft zum Kapitalisten�, titelten die Stuttgarter
Nachrichten. Und weiter: �Nach außen tönen und nach innen das Gegenteil tun � das
ist unglaubwürdig. Das erleben wir auch bei anderen Organisationen. Gewerk-
schaften sind schlechte Arbeitgeber. (...) Verdi ist kein Einzelfall. Ob Tarifautonomie,
Mitbestimmung oder Gleichstellung von Mann und Frau � immer wieder scheitern die
30 Stellvertretend hier die Stimme der Stuttgarter Zeitung vom 26. April: �Es sind die Sprüche
beispielsweise eines Jürgen Peters, der polarisiert, wo immer er sich von einer aufgeheizten Stimmung Vorteile erhofft. Mit Parolen wie �Millionen sind stärker als Millionäre� mobilisiert er die eigene Mitgliedschaft. In der Öffentlichkeit hält die überholte Rhetorik den Eindruck wach, dass die Gewerkschaften unfähig sind, an konstruktiven Lösungen mitzuarbeiten.�
74
Gewerkschaften am eigenen Anspruch. Die Liste der Mitarbeiter, die ihre Rechtsan-
sprüche vor Gericht einklagen, ist ellenlang.� (StuttN, 28.3.)
Unter der Überschrift �Der rote Konzern� verweist auch Focus Money (14.4.) darauf,
dass die Arbeitsbedingungen in den Gewerkschaften katastrophal seien. �Schlechte
Bezahlung, die niedrigsten Lohnerhöhungen und ein besonders ruppiger Umgangs-
ton gegenüber den Mitarbeitern� (ebd.). Und der Spiegel berichtet unter der
Überschrift �Kapitalismus pur"31 im Wirtschaftsressort über ein DGB-Tochter-
Unternehmen, das �massenhaft Mitarbeiter� entlässt - �mit Methoden, die von den
Funktionären anderswo lautstark angeprangert würden.�(Spiegel, 13.10.) Einige
Tage später zieht die WiWo nach und listet auf, wo überall Gewerkschaften in
eigener Sache sich über ihre sonst verteidigten Grundsätze hinwegsetzen (WiWo,
16.10.): Kürzungen der betrieblichen Altersbezüge bei Verdi, Entlassungen beim
Berufsfortbildungswerk des DGB usw.
Gemeinsam ist all den Beiträgen, dass sie durchaus Verständnis für die
Stellenstreichungen, Lohnverzichte und Sparkonzepte der finanziell angeschlagenen
Organisationen äußern. Was die Kritiker erzürnt, ist der Widerspruch zwischen dem
Handeln im eigenen Haus und dem unverändert klassenkämpferischen Auftreten
gegenüber der Wirtschaft: �Nicht, dass die derzeit beim Deutschen Gewerkschafts-
bund (DGB), bei Verdi oder der IG Metall ablaufenden Effizienz- und Sparprogramme
betriebswirtschaftlich falsch wären, im Gegenteil�, so der Kommentar in der WiWo
vom 16. Oktober weiter. �Die aktuelle Entlassungswelle ist bedauerlich aber in
Krisenzeiten überall zu besichtigen.� (ebd.)
Auch das symbolisch hoch aufgeladene Ausbildungsplatzthema eignet sich als
günstige Plattform für die Medien, um die Doppelmoral der Funktionärsspitze zu
belegen. So berichtet der Focus vom 27. Oktober unter der Überschrift �Mit harter
Hand� über die niedrigen Ausbildungsquoten der Gewerkschaften: Die Ausbildungs-
quote in ihren eigenen Unternehmen betrage lediglich 0,8 Prozent. Im Bundesdurch-
schnitt seien aber immerhin rund 4,3 Prozent der Beschäftigten Lehrlinge. (ebd.) �Da
wirken natürlich die Rufe nach mehr Ausbildungsplätze für die meisten Beobachter
31 �Wie bei Schlecker� lautet die Überschrift eines weiteren Spiegel-Artikels im Januar 2003.
75
äußerst unglaubwürdig." Das Resümee im Focus lautet: Die DGB- Gewerkschaften
trügen Mitschuld an der Verzweiflung Jugendlicher.32
Diese Glaubwürdigkeitskrise33 und die damit einher gehenden Kommunikations-
probleme nach außen sind für viele der Hauptgrund für den rapiden Rückgang der
Mitgliederzahlen seit den frühen 90er Jahren: �Aber die Arbeitnehmer-
Organisationen schleppen ihre Probleme schon lange mit � wie den Mitglieder-
schwund, gegen den man seit Jahren kein Rezept findet. Er ist Beleg dafür, dass
viele Arbeitnehmer eben keinen Sinn und Nutzen mehr in einer Mitgliedschaft sehen.
Vor allem seit dem Machtantritt von Rot-Grün können die Gewerkschaften offenbar
nicht mehr glaubhaft vermitteln, wofür sie eigentlich stehen.� (Berliner, 9.7.)
4.2.4. Machtproblem
Ein Dauerthema war die im Untersuchungszeitraum 2003 geführte Debatte um die
„Übermacht“ der deutschen Gewerkschaften. Die WiWo schreibt in einem großen
Beitrag mit dem Titel �Letztes Gefecht�: �In nahezu allen Gesellschaftsbereichen
haben sich Gewerkschafter an den Schlüsselstellen der Macht positioniert.� (WiWo,
13.2.) Wieder einmal sind es insbesondere die großen Wochenzeitungen und
Magazine, die das Thema Macht aufgreifen. So widmet der Focus unter der
Überschrift �Im Griff der Nein-Sager� einen mehrseitigen Artikel dem Machtdispositiv
der Gewerkschaften: �Mit einem Netz aus tausend kleinen Fäden überspannt die
durchorganisierte Interessensgruppe die Schaltzentralen der Republik.� (Focus,
17.3.) Diese Macht wird da besonders stark vorgestellt, wo sie im Geheimen arbeitet:
�Mal mit Protesten und Aktionen, am liebsten aber im Verborgenen beeinflussen die
Gewerkschaften schon im Vorfeld Gesetzesformulierungen.� (ebd.) Die enge
Verflechtung mit dem Staats- und Regierungsapparat thematisiert auch der Spiegel
(5.5.) unter dem Titel: �Lobby des Stillstandes�. Von den 251 SPD Abgeordneten
32 Focus spielt damit auf das aufrüttelnde Selbstmordvideo Verdis an, in dem sich junge Menschen
die Pulsadern aufschneiden, den Strick nehmen und ähnliches. Die Dienstleistungsgewerkschaft will damit auf die Ausbildungsmisere aufmerksam machen (siehe dazu ND, 28.10.).
33 Eine andere konkrete Glaubwürdigkeitskrise ist eng mit der Übernahme des Mannesman-Konzerns durch den britischen Mobilfunkgiganten Vodafone verknüpft. Der ehemalige IG Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel hatte die Millionenabfindungen für die Mannesman-Vorstände zwar nicht einfach �abgenickt�, sie aber stillschweigend (durch Stimmenthaltung) akzeptiert. Danach fanden sich nicht nur Zwickel, sondern die deutschen Gewerkschaften als Ganze, auf der Anklagebank wieder.
76
seien 186 DGB-Mitglieder. Ausgehend von dieser Zahl wird auf die reale Macht der
Gewerkschaften geschlossen.
Die Rede von der �Gewerkschaftsrepublik Deutschland� findet sich in mehreren
Medien wieder. Mit dieser mehr an eine Verschwörungstheorie erinnernden
Bezeichnung geht die Forderung nach einer Entmachtung der Gewerkschaften
einher. Gerade weil sie in allen wichtigen Gremien notwendige Entwicklungen
behinderten, müsse sich das Land von ihrer Bürde befreien. �Deutschlands
Wohlstand wird zugrunde gehen, wenn wir die Gewerkschaftsfunktionäre nicht
entmachten,� kommentiert etwa der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle in der BILD
vom 2. März.
Mit dieser Aussage steht er nicht alleine. Machtmissbrauch ist einer der gängigsten
Vorwürfe. Zumeist ist er gekoppelt mit der These, dass die mächtigen Arbeitnehmer-
organisationen notwendige Arbeitsmarktreformen verhindern: �Sie (die Gewerkschaf-
ten; die Verf.) missbrauchen in Deutschland ihre Macht. (...) Es darf ihnen nicht
länger gelingen, die notwendigen wirtschaftlichen Reformen in Deutschland zu
blockieren. Wir müssen sie, ähnlich wie in anderen europäischen Ländern, auf ihre
ursprüngliche Rolle als Tarifpartner zurückdrängen.� (HB, 5.5.)
Obwohl die Medien einerseits die Machtposition der Gewerkschaften überzeichnen,
thematisieren sie andererseits doch gleichzeitig auch ständig deren Schwäche. Sie
wird hauptsächlich am Mitgliederschwund, fehlenden inhaltlichen Alternativen, dem
Scheitern bei Streiks, einer Identitätskrise und der Lethargie der eigenen Klientel
festgemacht. �Gegenwärtig vollzieht sich in einem bis vor kurzem undenkbar
gehaltenem Tempo eine Erosion gewerkschaftlicher Macht und Gestaltungskraft",
kommentiert die Welt. (Welt, 23 7.) Und der Tagesspiegel resümiert: �Sie sind nicht
so mächtig, wie ihre Feinde behaupten. Im Moment stehen die Gewerkschaften mit
dem Rücken zur Wand. Die öffentliche Meinung ist gegen sie, die Mitglieder laufen
ihnen davon, ihre Macht zerbröckelt." (Tages. 7.Juli)
Dass die Gewerkschaften zeitgleich als einerseits zu mächtig und andererseits in
ihrer Schwäche vorgeführt werden, bleibt als Widerspruch bestehen. Ungeklärt bleibt
auch, warum dies den Kommentatoren nicht auffällt. Dass legt den Schluss nahe,
dass die Presse, um das Schreckgespenst der mächtigen Gewerkschaften aufrecht
erhalten zu können, ihren Einfluss auf Regierung und Politik übertreiben.
Ein anderer Strang von Kommentaren thematisiert, dass die gewerkschaftlichen
Ansprüche mit den heutigen Bedingungen längst nicht mehr konform gehen.
77
�Machtanspruch und Auftreten der Gewerkschaften, die sich unverdrossen als
Interessenvertreter aller Werktätigen und sozial Schwachen gerieren, stehen in
keinem Verhältnis zur Realität.� (WiWo, 13.2.)34 Interessanterweise sehen die
Medien die Schuld jedoch weniger bei den Gewerkschaften (denn sie müssen ja ihre
Interessen vertreten), als vielmehr bei der Politik, die ihnen eine zu große und
bedeutende Rolle zugesteht. �Nicht die Gewerkschaften sind das Problem, es ist ihre
Macht, Zwang auf die Gesellschaft auszuüben. Es ist die Macht, unter der Fassade
der Solidarität Geschäfte zu Lasten Dritter zu machen. Diese Macht rührt nicht so
sehr von der organisatorischen Stärke der Gewerkschaften her, sondern von den
Privilegien, die ihnen der Staat eingeräumt hat�, so die SZ besonders deutlich als
eine von vielen. (SZ, 19.7.)
Kritisch gegenüber dem Bild einer übergroßen Gewerkschaftsmacht ist als einzige
Zeitung das Neue Deutschland: �Vertreter der Kapitalseite, unterstützt von Politikern
(nicht nur der Unionsparteien) und Medienstrategen, betreiben derzeit eine groß
angelegte Offensive gegen ein Phantom � den �Gewerkschaftsstaat��. (ND, 4.1.)
Die überwiegende Mehrheit appelliert jedoch an den Staat, der Gewerkschaftsmacht
endlich gegenüberzutreten. Konkrete Beschneidungen der Einflussnahme wünschen
sich viele vor allem bei der Reform des Kündigungsschutzes und der Öffnung von
Tarifverträgen. Der Ruf nach einer vollkommenen Entmachtung der Gewerkschaften
ist aber nur ganz vereinzelt zu hören. 35
4.3. Oppositionspaare
Auch hinsichtlich der Frage, für oder gegen wen Gewerkschaften heute agieren, gibt
es große Übereinstimmungen. Als meistverwendete Rollenkonstellation wird der
Konflikt zwischen Arbeitnehmern und Arbeitslosen vorgestellt. Am deutlichsten
beschreibt die FTD den Interessenskonflikt der Gewerkschaften zwischen ihren
34 Auch die FAZ (3.11.) kommentiert zur gewerkschaftlichen Kritik an der Agenda 2010: �Die
wirkliche Mitte der Gesellschaft weiß, daß es nicht um ��die größten Angriffe auf die Lebens- und Arbeitsverhältnisse und Rechte seit dem Zweiten Weltkrieg� geht, wie die Redner behaupten, sondern um den Machterhalt der Gewerkschaften.�
35 In der ZEIT plädiert etwa eine Rechtsanwältin für die Abschaffung des Streikrechts, da sie darin Machtmissbrauch sieht: �Eine Gewerkschaft, die wie verdi für den öffentlichen Dienst 4,4 Prozent Lohnerhöhung mit massiven Streikdrohungen und Warnstreiks erzwingt, (...) eine solche Gewerkschaft ist nur noch Interessenvertreter einer einzigen Gruppe. Und ein Staat, der nachgibt, zeigt Angst vor einer verfassungsrechtlich nicht legitimierten Macht.� (ZEIT, 26.6.).)
78
Mitgliedern (Arbeitnehmern) und Arbeitslosen: �Gegen diese Deutung mag man
einwenden, dass auch Arbeitslose Mitglieder der IG-Metall sind, Peters folglich auch
sie als Mandanten verstehen muss. Doch das Argument sticht nicht. Schon nach
ihrer Zahl fallen Arbeitslose bei der IG Metall wenig ins Gewicht. Auch politisch kann
Peters nicht beide Gruppen gleichzeitig bedienen. Je härter eine Konjunktur- und
Strukturkrise ausfällt, desto weiter klaffen die Interessen der Besitzenden und der
Habenichtse auseinander. Die einen wollen bewahren, die anderen neu verteilen.
Beides auf einmal geht nicht. Peters muss sich entscheiden, und er ergreift schon
jetzt für die Besitzenden Partei. Sie stellen die Mehrheit der IG Metall, ihnen fühlt er
sich verpflichtet." (FTD, 14.4.; Herv. die Verf.)
Es scheint, als gäbe es heute eine neue Klasse von Kapitalisten: die Arbeitsplatz-
besitzer. In diesem Zusammenhang erscheinen Gewerkschaften medial als
�Besitzstandswahrer" und als �Partei der Privilegierten�. Entgegen ihrem ursprüng-
lichen Anliegen, die Schwächsten vor Ausbeutung zu schützen, erscheinen sie heute
als diejenigen, die die Starken bevorzugen. Arbeitnehmer werden in dieser
polemischen Argumentation nicht mehr als Lohnabhängige vorgestellt, sondern als
Besitzende oder Eigentümer. Diese sprachliche Figur kehrt den gewerkschaftlichen
Ausgangspunkt, ein starker Repräsentant der Lohnabhängigen zu sein, in ihr
Gegenteil um. Plötzlich erscheinen sie als Vertreter privilegierter Gruppen, die
Schwächere einfach ausgrenzen.
Ähnlich funktioniert das Schema Arbeitnehmer kontra Steuerzahler. Auch hier
werden die Gewerkschaften als �Plünderer� (der Staatskasse) und �Wegelagerer�
vorgestellt, die wiederum zu Gunsten einiger Privilegierter (hier meist Angestellte im
Öffentlichen Dienst) die Republik zu Grunde richten. Übrig bleibt die rhetorische
Frage, warum alle (i.e. die Steuerzahler) eigentlich unter der gewerkschaftlichen
Erpressungspolitik leiden sollen? Ist es da nicht berechtigt, ihre Macht und ihren
Einfluss zum Vorteil der Allgemeinheit zu beschneiden? Die Antwort darauf fällt in
den meisten Fällen eindeutig aus.36
Die Perspektive von Arbeitnehmer/innen nimmt die Presse ansonsten nur sehr selten
ein. Es gibt kaum Analysen der heutigen Arbeitsverhältnisse und keine
36 Darin zeigt sich eine Strategie der Medien, sich zum Sprachrohr vermeintlicher Opfer zu machen.
Generell kann in unserer Gesellschaft ein allgemeinen Hang zur Viktimisierung beobachtet werden. Darin reflektiert sich die moderne Sucht, Opfer zu sein, heute praktisch die Voraussetzung um gehört zu werden. Diese Stelle wird inzwischen von allen möglichen Gruppen
79
Differenzierung einzelner Beschäftigungsniveaus. Es existiert fast ausschließlich der
Arbeitnehmer sans phrase. Gleiches gilt im übrigen auch für die vielzitierten 4,5
Millionen Arbeitslosen, die lediglich als statistische Größe gegen die Arbeitsplatz-
besitzer aufgeführt werden. Der Arbeitnehmer wird nur dann zur Anrufungsfigur (der
ökonomischen Vernunft) wenn er in Kontrast zum Gewerkschaftsfunktionär gestellt
wird. Genauso wird auch das Oppositionspaar Betriebsrat/Praktiker vs. Funktio-
när/Theoretiker eingeführt, wenn es darum geht, die gewerkschaftliche Politik zu
kritisieren37. Hier wird der Arbeitnehmer zum wichtigen Regulativ einer
�realitätsfernen Politik� und erscheint sprachlich nicht mehr als �Besitzender.�
Man könnte hier noch eine ganze Reihe von Oppositionspaaren aufzählen, mit
denen die Printmedien arbeiten und die in ihrer Gesamtheit das Bild der
Gewerkschaften bestimmen: So steht neben dem Arbeitnehmer der Rentner als
privilegierte Kategorie und wird gerne mit der Jugend oder den Kindern kontrastiert,
die auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft keine Chance mehr haben.
4.4. Sprachanalyse
4.4.1. Attribute
Neben den personifizierten Opponenten Arbeitnehmer und Arbeitslose bzw.
Steuerzahler gibt es eine andere Reihe von Begriffspaaren, die sich nicht auf die
Protagonisten selbst beziehen und die schon die Analyse der Kernthemen prägten:
Altes vs. Neues, Scheinwelt vs. Realität, Rhetorik vs. realer Praxis, Regulierung vs.
Dezentralisierung, Sicherheitsdenken vs. Autonomie der Akteure, oder Besitzstands-
wahrung vs. Verantwortung des Einzelnen. In allen Fällen werden die Gewerk-
schaften mit dem ersten, negativ konnotierten Begriff verbunden. Dasselbe gilt für
inhaltliche Zuschreibungen wie National vs. Global, Kollektiv vs. Individuell bzw.
Fundamentalistisch vs. Flexibel. Während die Gewerkschaften in ihrer Rolle als reine
Interessensvertretungen (ihrer Mitglieder) vorgeführt werden, kontrastieren die
Medien dies gleichzeitig mit der Forderung nach gesamtgesellschaftlichen Lösungen.
und Individuen besetzt. �Wenn es genügt, dass man sich Opfer nennt, um recht zu haben, werden sich alle darum schlagen, diese dankbare Position einzunehmen.� (Bruckner 1999, S. 151)
37 Ein weiteres, in den Medien öfters lanciertes Begriffspaar ergibt sich aus den Spannungen der Einzelgewerkschaften untereinander. Die Tendenz, �Blockierer/Traditionalisten� und �Reformer�
80
Die Gewerkschaften werden uns als eine Partikularität vorgeführt, die dem
allgemeinen Interesse schadet.
Als Adjektive, die häufig in unmittelbaren Zusammenhang mit den Gewerkschaften
gestellt werden, fielen in der Auswertung folgende auf: unmodern, unflexibel, veraltet,
starr, knöchern, bürokratisch und rückwärtsgewandt. Insbesondere zum
Gegenbegriff des mit den Gewerkschaften identifizierten Industriezeitalters steht der
Begriff modern. Er wird unkritisch mit allen Veränderungen des Arbeitsmarktes und
sozialer Systeme gleichgesetzt und erscheint stets als Hoffnung für eine bessere
Zukunft. Die Gewerkschaften dagegen sind Anti-Modernität, sprich Katechonten, die
sich den notwendigen Veränderungen in den Weg stellen. Einzig das Neue
Deutschland verweist in einer (zu einfachen) Reduktion darauf, was die Metapher
modern im ökonomischen Kontext im wesentlichen bedeutet: �Was modernisieren
bedeuten soll, wird dabei vom großunternehmerischen Interesse her definiert. Weg
mit dem sozial-staatlichen Ballast, weg mit dem Tarifvertragssystem, weg mit der
Arbeitnehmermitbestimmung, weg mit kollektiven, solidarischen Systemen sozialer
Sicherung.� (ND, 4.1.)
Es zeigt sich: Positive Attribute, die mit den Gewerkschaften traditionell verbunden
sind, wie etwa gerecht oder sozial, werden entgegen der Erwartung nur selten
genannt. Meistens werden sie über bestimmte Konstellationen denunziert, etwa
wenn von der �Chimäre der sozialen Gerechtigkeit� (Welt, 1.7.) gesprochen wird.
Suggeriert wird vielfach, dass solche Begriffe heute ihre Bedeutung eingebüßt haben
und nur noch als falsch verstandene �Sentimentalitäten� in den Gewerkschaften
zirkulieren. Der bekannte Ausspruch des Wirtschaftsministers Wolfgang Clement:
�Sozial ist, was Arbeit schafft" kann hier als exemplarisches Beispiel dafür angeführt
werden, welche Bedeutung sozial heute erfährt.
Interessant ist abschließend auch die Frage, ob die Medien die Arbeitgeberseite auf
ihren Kommentarseiten wohlwollender als die Gewerkschaften behandeln. Eine
eindeutige Antwort kann aufgrund der eingeschränkten Datenauswahl nicht gegeben
werden. Zwar werden die Positionen und ökonomischen Lösungsvorschläge der
Arbeitgeberseite weitgehend übernommen. Aber als Organisation kommen sie fast
genauso schlecht weg wie die Gewerkschaften. Vielfach werden die beiden als
�Verbündete� betrachtet, die notwendige Reformen im trauten Einklang miteinander
intern und zwischen etwa der IG Metall und Verdi gegeneinander auszuspielen, lässt sich in einer Vielzahl von Kommentaren feststellen.
81
verhindern. Diese Tatsache hat wohl in der allgemeinen Abneigung der Printmedien
und der Öffentlichkeit gegen Interessensvertretungen und Lobbyisten ihre Ursache.
4.4.2. Metaphern
Eine Reihe von Begriffen, die überdurchschnittlich oft im Zusammenhang mit einer
Bewertung gewerkschaftlicher Arbeit lanciert werden, sind im wesentlichen pejorativ.
Metaphern wie Gewerkschaftsboss, Bonze, Blockierer, Verhinderer, Lobby/Filz,
Verschwender, Verlierer oder Theoretiker haben keine andere Funktion als dem
Leser zu suggerieren, hier handle es sich um eine hoffnungslos in ideologischen
Netzen verfangene Organisation.
Der im Zusammenhang mit der gewerkschaftlichen Organisationsstruktur immer
wieder auftauchende Begriff des Gewerkschaftsbosses oder -bonzen (etwa Tages,
31.5.) zeigt sehr schön die Aversion der Presse, die formal richtigen Titel und Namen
für gewerkschaftliche Spitzenfunktionäre zu verwenden. Das erweckt den Eindruck,
die Vorsitzenden der Gewerkschaften seien nicht demokratisch gewählt und damit
als Sprecher und Repräsentanten der Arbeitnehmer nicht legitimiert. Dass gerade die
Antagonisten auf Seiten der Arbeitgeber, nämlich Manager oder Vorstände in der
Wirtschaft nie bzw. selten demokratisch gewählt werden, fällt unter den Tisch. Der
Bewertungsmaßstab der Printmedien für die Gewerkschaften ist hier wesentlich
strenger und selbstgerechter.
Ein (Negativ)Begriff hebt sich in der Berichterstattung von allen anderen noch
deutlich ab: das ist der Funktionär. So schreibt die Stuttgarter Zeitung stellvertretend:
�Der Funktionär ist hauptverantwortlich für die innere Zerrissenheit der
Gewerkschaften.� (StuttZ, 26.4.) Die Figur des Funktionärs vereinigt alle negativen
Eigenschaften in konzentrierter Form. Der Funktionär erinnert an kommunistische
Kader und theoretische Abgehobenheit, muss für realitätsferne Politik gerade stehen
und wird als der Hauptverantwortliche für das miserable Bild der Gewerkschaften in
der Öffentlichkeit identifiziert: �Dort werden die Gewerkschaften mehrheitlich als
letzte Bastion der Reformblockierer wahrgenommen, mit rivalisierenden, interessen-
egoistischen Betonköpfen an der Spitze. Und das ist nicht einmal ein allzu
übertriebenes Vorurteil. Weithin haben sich Funktionäre durchgesetzt, die die
Gewerkschaften als Gegenmacht und nicht als Gestaltungsmacht positioniert sehen
wollen, als eigentliche Opposition im Lande.� (Welt, 8.5.)
82
Der Spiegel zitiert einen ehemaligen und (anonymen) IG-Metall-Funktionär: �In
Großbritannien hat Margaret Thatcher die Gewerkschaften zerschlagen. In
Deutschland besorgen wir das selber.� (Spiegel, 7.7.) Und der Stern fordert in einer
Ausgabe Mitte des Jahres in dramatischen Worten ein Vorgehen �frontal gegen die
Hybris, die Blindheit, die Rücksichtslosigkeit gewerkschaftlicher Funktionärsinteres-
sen, die das Land in Frost tauchen und Arbeit absterben lassen.� (Stern, 15.5.)
Selbst in wohlwollenden Kommentaren, die durchaus die realen Schwierigkeiten
gewerkschaftlicher Arbeit im globalen Wandel thematisieren und ihre Bereitschaft
Veränderungen zuzulassen betonen, erscheint am Ende das Schreckbild des
Funktionärs: �Wie umgehen mit Zeiten, in denen es wenig zu verteilen gibt? Wie sich
einstellen auf eine zunehmend ausdifferenzierte Arbeitswelt? Wie reagieren auf eine
globalisierte Wirtschaft, in der die Konkurrenz auch in den Billiglohnländern des
Ostens und Südens sitzt? Ganz im Gegensatz zur öffentlichen Meinung diskutiert die
IG Metall darüber schon lange. (...) Das Image des Bremsers und Blockierers, das ihr
anhängt, ist in seiner apodiktischen Ausschließlichkeit kaum berechtigt � schon gar
nicht dort, wo es darauf ankommt, in den Betrieben. Einerseits. Andererseits ist es
nicht die Arbeit der Betriebsräte, die das öffentliche Bild der Gewerkschaften prägt.
Das prägen die Funktionäre. (...) Dass diese Funktionäre die Ängste einer im gesell-
schaftlichen Umbruch verunsicherten Mitgliedschaft bedienen, macht die Sache
verständlich � aber nicht besser.� (ZEIT, 10.7.)
Die Metapher Rot, die uns öfter im Zusammenhang mit Gewerkschaften begegnet:
�Der rote Konzern", �Die roten Arbeitgeber� (Focus Money, 14.4) oder �Die rote
Lobby" (Focus, 17.3.) spielt noch mit den alten antikommunistischen Klischees.
Heraufbeschworen wird eine sozialistische Bedrohung, die abgewehrt werden muss,
wenn die notwendigen Reformen greifen sollen. Rot bedeutet Chaos und Arbeits-
losigkeit. An diesem Punkt erfüllen die Gewerkschaften tatsächlich eine primitive
Sündenbockrolle (�die Roten�), die für unterschiedlichste Probleme verantwortlich
gemacht werden kann. Das funktioniert nicht zuletzt auch deshalb so gut, weil die
Gewerkschaften in ihrer Programmatik immer noch die Vollbeschäftigung als Ziel
verfolgen und daran gemessen werden (wollen).
Neben dem Funktionär und der �roten Lobby� ist es das Bild der Industriegesell-
schaft, mit dem die Gewerkschaften gerne gleichgesetzt werden. Es vereinigt in sich
alle Metaphern der Rückständigkeit und des Alten. Die gegenwärtigen
Herausforderungen einer Kommunikations- und Informationsgesellschaft werden uns
83
als unvereinbar mit den gewerkschaftlichen Grundwerten vorgeführt. Das, was die
Gewerkschaften einst stark gemacht habe, sei nun durch gesellschaftliche Prozesse
ins Gegenteil verkehrt worden.
�Strukturprinzipien wie Disziplin, Geschlossenheit, Hierarchie und Einheit haben die
Gewerkschaften des Industriezeitalters stark gemacht und prägen sie bis heute.
Gewerkschaften stehen für Regulierung, Sicherheitsdenken und Besitzstands-
wahrung. Der gesellschaftliche Diskurs kreist hingegen um die Dezentralisierung von
Strukturen, die Autonomie der Akteure und die Verantwortung des Einzelnen.� (taz,
26.7.) Insbesondere eine �mentale Barriere� verhindere eine adäquate Antwort auf
die gegenwärtigen Herausforderungen. �Groß geworden im Zeitalter der Industriali-
sierung und dem Denken dieser Epoche verpflichtet, kommen die Gewerkschaften
mit den Erfordernissen der Mediengesellschaft nur schwer klar." (Tages, 5.5.) Der
Spiegel spricht deshalb verächtlich von den Gewerkschaften als �Arbeiterfolklore.�
(Spiegel, 5.5.)
Insgesamt zeigt sich, dass die häufigsten Metaphern, mit denen die Gewerkschaften
in Zusammenhang gebracht werden, entweder eine bedrohliche (Rot, Funktionär =
Sozialismus) oder antimoderne Richtung (Industriegesellschaft, Hierarchie, Disziplin)
vorgeben. Aus beiden wird die Forderung nach einer Entmachtung oder zumindest
doch einer Begrenzung gewerkschaftlichen Einflusses abgeleitet.
4.4.3. Headlines
Eine negative Grundhaltung der Printmedien belegen allein die Überschriften der von
uns ausgewerteten Beiträge. Selbst wenn einzelne Artikel bei genauerem Lesen
nicht unbedingt einseitig über gewerkschaftliche Politik berichten und durchaus
verschiedene Argumente abwiegen, in den Titeln der Beiträge fällt oft schon eine
Entscheidung gegen die Gewerkschaften. Headlines wie �Wider die Erpressung�
(ZEIT, 9.1.), �Sommers Welt� (FTD, 15.1.), �Bloß nicht bewegen� (SZ, 21.2.) oder
�Das Ende der Nostalgie� (FTD, 27.2.) geben eine (vor)schnelle Orientierungshilfe für
den flüchtigen Leser, der dadurch sofort seine �mentalen Raster� abrufen kann.
Schlagzeilen und Titel aber bleiben im Gedächtnis und sind am schnellsten
reproduzierbar, wenn es darum geht, einzelne Handlungen zu bewerten.
Überschriften dienen dazu, die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich zu lenken. Sie
sind aber auch konzentrierte Aussagen, die mit wenigen Begriffen ein Schema für
84
den Leser vorgeben, damit dieser einen Beitrag einordnen kann. Überschriften wie
etwa: �Die Flops der Funktionäre� (Spiegel, 30.6.), �Lobby des Stillstandes� (Spiegel,
5.5.), �Ein Betonkopf muss zurücktreten� (Bild, 5.7.), �Reaktionäre von Links� (Tages,
6.2.), �IG Schlafmützen (Bild 24.2.) oder einfach nur �Die Verlierer� (ZEIT, 17.12.)
machen sofort deutlich, wie die Gewerkschaften als gesellschaftliche Akteure
platziert werden.
Manche der Printmedien nehmen die Krise der Gewerkschaften zum Anlass, gleich
ihr generelles Bestehen in dicken Titellettern in Frage zu stellen: �Ende einer
Massenbewegung� (FTD, 22.10), �Mitglieder verzweifelt gesucht� (ZEIT, 28.8)
�Adieu, Gewerkschaft!� (Stern, 15.5.). Andere wiederum freuen sich ziemlich offen
über das Versagen gewerkschaftlicher Ansprüche: �Randalierer direkt ins Aus" - die
Unterzeile dazu lautet: �Wer Sozialreformen will, kann sich über den Amoklauf der
Gewerkschaften freuen: je heftiger sie protestieren, desto schneller verlieren sie an
Bedeutung" (FTD, 23.5.), �Die Selbst-Demontage� (Spiegel 7.7.) oder �Links liegen
gelassen - wie die Gewerkschaftsbosse ihre eigenen Leute verraten� (Tages, 31.5.).
Eine andere Schlagrichtung von Überschriften zielt hauptsächlich auf die
Leidtragenden der Gewerkschaftspolitik ab. Beispielhaft sind hier einige Überschrif-
ten von Kommentaren zur Tarifpolitik: �Für Arbeitnehmer, gegen Arbeitslose" (FTD,
14.4.) oder �Signal gegen neue Jobs" (Welt, 11.11.). Wer die Verursacher diese
Leidens sind, wird dann spätestens in der Unterzeile der Überschrift nachgeliefert,
häufig in personalisierter Form: �Die IG Metall-Forderung diskriminiert die
Arbeitssuchenden"; (FAZ, 25. 11.), �Peters richtet die Gewerkschaft auf Politik für die
eigene Klientel aus" (FTD, 14. 4.). Bisweilen wird auch mit dem Zeigefinger
argumentiert: �So schafft man keine Arbeit, Herr Sommer!� (Wams, 19. 1.)
Die negative Tendenz gipfelt in Überschriften, die selbst schon ein Abgesang auf die
Gewerkschaften sind. �Weltbeglückung mit Tarifpolitik�, lautet beispielsweise die
Schlagzeile in der FAZ (FAZ am Sonntag, 13.7.) mit folgender Unterzeile: �Sie war
der Traum aller Utopisten. Jetzt herrscht Agonie. Ein Nachruf auf die IG Metall�. Der
Artikel selbst beginnt mit den Worten: �Die IG Metall ist tot..."
Alle diese Beispiele, für die es weitaus mehr als die zitierten gibt, zeigen eindeutiger
als die Auswertung der gesamten Kommentare die Grundtendenz in der medialen
Berichterstattung: Im wesentlichen wird die gesellschaftliche Wahrnehmung der
Gewerkschaften von Negativschlagzeilen bestimmt.
85
5. Verhältnis von Medien und Gewerkschaften
5.1. Lob der Gewerkschaften
Es stellt sich nach so vielen negativen Urteilen abschließend die Frage, wo und an
welchen Punkten die Gewerkschaften positiv bewertet werden und wie viel Lob sie
überhaupt �verdauen� können?38 Die Presseauswertung zeigt: rein positive Beiträge
sind sehr selten. Insgesamt finden sich über das Auswertungsjahr etwa fünf bis
sechs ausschließlich positive Verteidigungen, vier davon sind von Gastkommenta-
toren verfasst. In allen anderen Meinungsbeiträgen ist ein Lob der Gewerkschaften
eingebunden in Kritik.
Am 12. Mai veröffentlicht die SZ einen Kommentar des ehemaligen Arbeitsministers
Norbert Blüm (CDU) mit dem Titel �Lob der Gewerkschaften�. Die Unterzeile lautet
�Ein Plädoyer für den Hauptangeklagten� und deutet zu Recht an, wie einhellig das
Kräfteverhältnis zwischen Schelte und Lob in der Regel ist. �So schlecht wie die
Gewerkschaften gemacht werden, sind sie nicht�, verteidigt Blüm die
Arbeitnehmerorganisation und dekliniert deren positive Aspekte herunter: �Das
gewerkschaftliche Industrieverbandsprinzip mit einheitlichen Tarifverträgen
verhindert, dass die Hinterachsenmonteure das ganze Fließband lahm legen, wenn
ihnen ihr Tarifvertrag nicht gefällt.� (SZ, 12. 5.) Die Funktion als Friedensstifter (vgl.
Kap. 3.1. Flächentarifvertrag) wird tatsächlich auch von anderen Meinungsmachern
am häufigsten positiv erwähnt. �Wozu Gewerkschaften?�, fragt die Berliner Zeitung.
Auch hier nennt der Kommentator als Hauptargument: �Der Mainstream hat sein
Urteil längst gefällt: Betonkopf, Blockierer, Gewerkschafter � wie oft wird das heute in
den öffentlichen Debatten synonym gebraucht. Das ist unbedacht, sogar riskant.
Denn ohne funktionierende Interessensvertretung der Arbeitnehmer geriete der
soziale Friede in Gefahr.� (Berliner, 28. 6.)
38 Neben den Gewerkschaften ist es die Politik, die in den Medien gerne den �schwarzen Peter�
bekommt. Positiv erscheint �die Politik� fast ausschließlich in der Forderung gegen die Gewerkschaften vorzugehen oder sich zumindest nicht von ihnen instrumentalisieren zu lassen. Dennoch zieht - ähnlich wie die Gewerkschaften - die Politik der Vorwurf auf sich, sie verhindere durch unnötige Gesetze Selbständigkeit und Eigeninitiative. Die negative Fixierung der Medien und der Wirtschaft auf den Staat kann psychologisch als Autoritätsproblem gedeutet werden. Im Wunsch der Wirtschaft nach totaler Autonomie, einem Leben ohne den Zeigefinger und den Regeln der Erwachsenen (sprich des Staates), reflektiert sich ein Wertesystem, das ökonomisch gewendet, eine totale Freiheit propagiert. (vgl. dazu Meschnig und Stuhr 2001: www.revolution.de. Die Kultur der New Economy, insbesondere S. 107-117)
86
Auch die eigentliche Aufgabe der Gewerkschaften, nämlich Arbeitnehmer vor
Ausbeutung zu schützen, indem sie die Konkurrenz begrenzen, sehen viele nach wie
vor als notwendig an. �Indes sollte niemand vergessen: Gäbe es keine Gewerkschaf-
ten, müssten sie erfunden werden. Denn unverändert gilt das ökonomische Gesetz:
wer händeringend Arbeit sucht, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist anfällig
gegen Ausbeutungsstrategien der Arbeitsnachfrager, also der Firmen. Vor allem
dann, wenn das Arbeitsangebot überreichlich ist." (Berliner, 28.7.)
Allerdings wird dieses Argument oft widersprüchlich verwendet. In ein und
demselben Kommentar wird gleichzeitig etwa die Öffnung von Flächentarifverträgen
(die ja eben diese Konkurrenz durch Herstellung von gleichen Bedingungen
beschränken) und die Lockerung des Kündigungsschutzes gefordert.
Es zeigt sich auch, dass eine positive Bestätigung in der Regel ökonomisch
begründet wird: Die Existenz der Gewerkschaften (wie schon beim Argument des
sozialen Friedens) wird in diesem Zusammenhang prinzipiell als wohlstandssteigernd
betrachtet. An erster Stelle wird dabei genannt, dass Gewerkschaften als Produktivi-
tätsstifter agieren. Stellvertretend hier ein Zitat Norbert Blüms: �Der viel gescholtene
Flächentarifvertrag beschränkt die Möglichkeit, durch Lohnunterbietung den
Konkurrenten auszuschalten. Kompensatorisch konzentriert sich der Wettbewerb so
auf Produktivität, Innovation, Qualität und Service.� (SZ, 12.5.; siehe auch: Welt,
24.1., mit Kommentarüberschrift: Die Produktivitätspeitscher) Des weiteren resultiert
aus dem Flächentarifvertrag, dass Arbeitnehmer nicht aufgrund von Lohnunterschie-
den häufig ihre Stellen wechseln. So verhinderten Gewerkschaften ökonomische
Ineffizienzen.
Gerade die Kommentare, die die wohlstandssteigernde Funktion von
Gewerkschaften in der Vergangenheit und Gegenwart loben, wollen die Macht der
Gewerkschaften jedoch gleichzeitig erheblich einschränken. Das Argument lautet:
Die Lohnsteigerungspolitik der Gewerkschaften schade in Zeiten knapper werdender
Arbeit den Schwächsten und produziere Arbeitslosigkeit. Ihre Existenz sei positiv, so
lange die �Gier� begrenzt bleibe. In Bezug auf die IG Metall schreibt die SZ: �...es
liegt an den Gewerkschaften (...) sich solidarischer, also bescheidener zu zeigen."
(SZ 12. 7.) Auch die SZ vom 19. Juli findet: �Die Lösung des gewerkschaftlichen
Problems heißt daher ganz einfach: Bescheidenheit."
Positiv erwähnt werden Gewerkschaften auch vor allem auf die Vergangenheit
bezogen und in ihrer heutigen Existenzform in Entwicklungsländern. So kommentiert
87
etwa die SZ vom 5. April: �Die Gewerkschaften haben entscheidend dazu
beigetragen, dass in Deutschland (...) eine soziale Form der Marktwirtschaft
entstanden ist, die relativen Wohlstand für fast alle Bürger sichert. Die Arbeitnehmer
sind vor Willkür und Ausbeutung weitgehend geschützt.� (ähnlich Tages, 7.7.) Und
die SZ weiter mit Betonung der Vergangenheit: �Sie (die Gewerkschaften; die Verf.)
funktionierten als Helfer und Berater in fast allen Lebenslagen. Ihre moralische
Autorität bei Arbeitern und dann auch bei Angestellten verlieh ihnen Durchsetzungs-
macht, um gegen das - wirtschaftlich durchaus rationale � Gewinnstreben der
Unternehmen angemessenere Löhne und besserer Arbeitsbedingungen durchzu-
setzen.� (Herv.; die Verf.)
Ganz eindeutig lässt sich darüber hinaus sagen, dass die Gewerkschaften stets da
gelobt werden, wo sie einsichtig und kompromissbereit sind und die �ökonomischen
Notwendigkeiten� anerkennen. Positiv hervorgehoben werden insbesondere die
Flexibilität bei Verhandlungen (v. a. im Osten), die gewerkschaftliche Basis und
Betriebsräte, die oft � in Unterscheidung zum Funktionär - sehr positiv benannt
werden und einzelne Gewerkschaften wie etwa Verdi im Gegensatz zur IG Metall.
Lob wird vor allem an der betrieblichen Praxis geäußert, die in Kontrast zur sonstigen
Rhetorik gesetzt wird.
Ist dieses Lob also lediglich nur ein Hinweis für das Aufgeben einstiger
Überzeugungen? Und wer wird nicht gerne gelobt? Es ist auf jeden Fall ambivalent
zu betrachten, wenn die Medien sich positiv äußern, reflektiert dieses Lob doch auch
einen grundlegenden Konflikt in den Gewerkschaften selbst. Gelobt zu werden von
denen, die Gewerkschaften nur mehr als eine Art ADAC mit Mitgliederservice
positioniert sehen wollen, nicht als wesentliche Gestaltungsmacht oder bisweilen
sogar als Gegenmacht, hilft ihnen nicht wirklich weiter.
Gleichzeitig ist ausbleibendes Lob an sich noch kein Indiz für eine ablehnende
Grundhaltung gegen die Gewerkschaften. Vielmehr basiert die Funktionslogik des
Mediensystems im wesentlichen auf der (negativen) Zuspitzung von Konflikten,
zunächst unabhängig von einem eindeutigen politischem Interesse. Ebenso ist nach
dem Nachrichtenwert bemessen eine �schlechte Nachricht eine gute Nachricht�.
Gewerkschaften müssen ihren Umgang mit Lob bzw. Kritik daher grundlegend
überdenken. Sie müssen lernen, zumindest zwei Arten der Kritik zu unterscheiden:
Zum einen gibt es durchaus eine Kritik, die als Bestätigung der eigenen Position
dienen kann. Zum anderen muss jedoch Kritik, die auf tatsächliche Modernisierungs-
88
defizite verweist, ernst genommen werden und bedarf einer inhaltlichen
Auseinandersetzung. Falsch ist es, jegliche Kritik abzuwehren und als (indirekte)
Bestätigung der eigenen Politik zu behandeln. Insgesamt muss es den
Gewerkschaften gelingen, die Kritik als auch die Vorschläge in den Medien als ein
Instrument zur Bewertung der eigenen Arbeit heranzuziehen.
5.2. Rolle der Gewerkschaften
Wie betrachten die Medien aber nun den zukünftigen Aktionsradius der
Gewerkschaften? Was wird ihnen (noch) zugestanden, und was schlagen die
Kommentatoren konkret vor?
Populär sind zum einen Forderungen, die darauf hinaus laufen, Gewerkschaften auf
ihr „ureigenes Terrain“, nämlich die Tarifpolitik zu reduzieren. Exemplarisch dazu ein
Kommentar in der Welt: �Am besten wäre es ohnehin, wenn sich die Gewerkschaften
als gesellschaftspolitische Akteure stärker als bisher zurücknehmen und sich auf ihre
Kernkompetenz besinnen: die Tarifpolitik.� (Welt, 1.7.)
Am zweithäufigsten findet sich das Argument, dass gewerkschaftliche Arbeit sich auf
die Ebene der Betriebe konzentrieren sollte: �Für die Gewerkschaften ist es Zeit, aus
der Krise Lehren zu ziehen. Natürlich werden sie weiter einen wichtigen Platz haben,
aber aus gesellschafts- und verteilungspolitischen Themen sollten sie sich ganz
zurückziehen. Wenn sie tatsächlich das Leben ihrer Mitglieder verbessern wollen,
müssen sie sich wieder auf die Arbeitsfelder ihrer Anfänge besinnen � und das sind
die Betriebe.� (FTD, 1.7.)
Eine Reihe von kritischen, aber gewerkschaftsnahen Kommentaren verweisen auf
Defizite in der Organisation selbst. In ihnen werden innerorganisatorische
Änderungen gefordert, um den Bedeutungsverlust aufzuhalten. Gefragt sind neue
Organisationsformen und Mitbestimmungsrechte. �Die Diskussion der gewerkschaft-
lichen Zukunft über die Ebene bloßer politischer Positionierungen hinaus auf die
Höhe der organisations- und gesellschaftstheoretischen Debatten zu führen,
bedeutet, nach den Funktionsbedingungen moderner Organisationen zu fragen.�
(FR, 8.4.) Im wesentlichen seien es fünf Punkte, die eine fortschrittliche Organisation
erfüllen müsse: Pluralität, Dezentralisierung, Mitbestimmung, Vernetzung, prozess-
und projektorientiertes Arbeiten. Nach Meinung des Gastkommentators in eben
89
zitierter FR, Hans-Jürgen Arlt, seien diese Merkmale einer modernen Organisation
nicht erfüllt. Deshalb fordert er keine anderen, sondern �neue Gewerkschaften.�
(ebd.)
Des weiteren raten die Kommentatoren den Gewerkschaften „neue Themenfelder“
zu besetzen: Weiterbildung, Qualifikation, Kinderbetreuung, Verkehr, Kultur, Lebens-
qualität. Nicht alle Wünsche der heutigen Arbeitnehmern seien am Arbeitsplatz allein
festzumachen, vielmehr müsse ein Gesamtkonzept eines �guten Lebens� berück-
sichtigt werden. Hier werden Gewerkschaften als gestalterische und gesellschafts-
politische Akteure angerufen.
Angesichts der großen Vielfalt von Vorschlägen seitens der Medien wird klar: Die
Herausforderung für Gewerkschaften besteht darin, den schwierigen Spagat
zwischen Bewahren und Verändern zu bewältigen. Gewerkschaften können nicht
gleichzeitig Interessenspolitik für ihre Mitglieder machen und alle von Außen an sie
herangetragenen und vehement eingeforderten Veränderungen bedienen.39 Die
Gewerkschaften sind so zwischen Scylla und Charybdis gefangen und sie können
faktisch in der momentanen Situation kaum etwas richtig machen, aber sehr vieles
falsch.
5.3. Die Medien sind schuld!
Den Gewerkschaften zu Hilfe kommen auch einige wenige Kommentare, die sich
kritisch mit der in der Öffentlichkeit und in den Medien populären
Gewerkschaftsschelte beschäftigen: �In den 70er Jahren war für bestimmte Leute der
Kapitalismus an allem schuld. (...) Heute sind es die Gewerkschaften. Die
Gewerkschaften sind die Buh-Organisationen für alles, was nach weit verbreiteter
Ansicht falsch läuft in diesem Land. Zu viel Bürokratie? Zu hohe Steuern? Zu wenig
Arbeitsplätze? Unbezahlbare Handwerker? Faule Lehrer? Die Gewerkschaften sind
39 Das Dilemma, in dem sich Gewerkschaften befinden, ist vielen bewusst: So fordert etwa die
Berliner Zeitung eine Öffnung der Gewerkschaften gegenüber der Agenda 2010, schreibt aber im selben Kommentar: �Allerdings muss man zugeben, dass es für einen Interessensverband, der sich dem Ausbau des Sozialstaates verschrieben hat, unattraktiv ist, soziale Einschnitte mitzutragen." (Berliner, 28.6.) Auch der Tagesspiegel (7.7.) schreibt: �Wer den Gewerkschaften vorwirft, dass sie Besitzstände verteidigen, der kann mit der gleichen Logik Unternehmer dafür anklagen, dass sie Gewinne machen möchten. Man kann einem Hund nicht vorwerfen, dass er keine Katze ist."
90
schuld. Gewerkschaften sind zur Zeit etwa so populär wie Atomkraftwerksbetreiber in
den 80er Jahren.� (Tages, 7. 7.)
Auch die Stuttgarter Zeitung vom 26. April reflektiert nicht ohne Selbstkritik: �Munter
werden Feindbilder errichtet: Während die Arbeitgeber die Zeiten des Klassen-
kampfes zurückkehren sehen, haben die Gewerkschaften das neoliberale
Krebsgeschwür ausgemacht. (...) In der Reformdiskussion kennt die Öffentlichkeit
momentan nur Gut und Böse. An dieser Schwarzmalerei haben manche Medien
einen Anteil. Mit Lust an der Zuspitzung greifen sie wüste Drohungen oder harsche
Proteste beider Seiten auf und verzichten auf die Wiedergabe moderater
Stellungnahmen. Zwischentöne sind in der Debatte selten zu hören, weil sie weniger
plakativ erscheinen. (...) Einmütig haben die politischen Magazine gegen den
vermeintlichen Gewerkschaftsstaat Stellung bezogen." (Siehe die Beispiele in: HB
14. 11., Focus 17.3.)
Doch sei hier gleich vorweg gesagt: Den Gewerkschaften hilft es wenig, sich von den
Medien unverstanden zu fühlen und sie als Schuldige für ihre Probleme
auszumachen. Diesen weit verbreiteten gewerkschaftlichen Reflex kritisiert die
zitierte Stuttgarter Zeitung (26. 4.) ebenso wie die Rolle der Medien: �Kaum eine
Versammlung, in der Gewerkschafter nicht mit dem Finger auf �die Kommentatoren�
zeigen.�
Richtig ist auf jeden Fall, dass unsere Auswertung die anfängliche These der
negativen Voreingenommenheit der Medien gegen Gewerkschaften bestätigt. Als die
wichtigsten Ergebnisse unserer Studie können in diesem Zusammenhang genannt
werden:
• Die Medienlandschaft ist auf Polarisierung getrimmt. Ein eindeutiges Beispiel
dafür ist etwa die Dichotomie der �reformoffenen Betriebsräte" gegen die
�sturen Gewerkschaftsfunktionäre".
• Im öffentlichen Diskurs dominieren Reformvorschläge und Themen, die
gewerkschaftlichen Anliegen und Überzeugungen entgegengerichtet sind.
• Die Politik und bisweilen die Arbeitgeberseite setzen Themen und lancieren
Thesen, die von den Medien aufgegriffen werden. Erst anschließend
reagieren die Gewerkschaften � zumeist mit einem kategorischen Nein -
darauf. Fortschrittliche gewerkschaftliche bzw. gewerkschaftsnahe Themen
werden von den Medien weitgehend ignoriert.
91
• Sichtbar werden Gewerkschaften in den Medien v.a. da, wo sie gegen
Reformvorschläge und Veränderungen sind. Eine Profilierung in der Presse
erreichen die Gewerkschaften also fast nur mit Negativbotschaften.
• Die Printmedien bieten wenig Raum, komplexe Sachverhalte und Argumente
darzustellen. Sie vereinfachen und verknappen.
• Die Wiederholung einfacher und negativer Botschaften vor allem in den
Überschriften der Kommentare nimmt den Charakter einer Kampagne gegen
die Gewerkschaften an.
• Medien versuchen, Themen zu emotionalisieren. Arbeitslose und
Steuerzahler, Sparen und Einschränken sind psychisch hoch besetzt. Im
Gegensatz dazu erreichen die ebenfalls emotionalisierten Botschaften der
Gewerkschaften kaum jemanden.
Selbst wenn man all diese gegenläufigen Tendenzen berücksichtigt, machen
Gewerkschaften es sich aber zu einfach, wenn sie vor allem den Medien die Schuld
an ihrem negativen Image in der Öffentlichkeit geben. Manche Gewerkschafter
sprechen gar von einem �Gewerkschaftsbeschimpfungsjournalismus" (siehe FAZ
24.2.)40. Stattdessen sollten Gewerkschaften mehr Elan darauf verwenden, wie sie
die Medien für ihre Zwecke/Sache nutzen und auf welchen Gebieten sie sie als
Verbündete gewinnen können. Denn die Medien spiegeln auch das Bild wider, dass
Gewerkschaften von sich vermitteln. So schreibt etwa Jupp Legrand, Vorstand der IG
Metall, in einem Kommentar in der FR kritisch dazu: �Die mangelnde öffentliche
Resonanz hängt keinesfalls mit der gewerkschaftsskeptischen Medienlandschaft
zusammen, die seit Herbst 2002 zu beobachten ist. Grund ist vielmehr, dass die
meisten ihrer Überlegungen weder als glaubwürdige noch als umsetzbare
Alternativen zu kommunizieren sind.� (FR, 25.8.)
Abgesehen vom Beitrag der Presse bleiben doch wesentliche Defizite - und zwar
sowohl inhaltliche als auch kommunikative - der Gewerkschaften selbst bestehen:
�Sie haben nun Mühe zu erklären, warum sie für die Sache der Benachteiligten in
dieser Gesellschaft eintreten, ohne gleich als Blockierer dastehen zu wollen. Und sie
beklagen sich bitter über die Medien, deren Kommentare mehrheitlich
40 Auch in ihrem 60-seitigen Bericht über den gescheiterten Streik für die 35-Stunden-Woche kommt
die IG Metall zum Ergebnis, dass die �von Woche zu Woche ungünstiger und unerbittlicher im Ton" gewordene Medienberichterstattung ihren Teil zum Scheitern beigetragen habe. (FR, 26.8.)
92
gewerkschaftsfeindlich ausfallen würden, sind aber nicht in der Lage, ihre Flexibilität
auf dem Feld der Tarifpolitik positiv darzustellen.� (StuttZ, 19.3.) Auch die
gewerkschaftsfreundlich gesinnte Jungle World kommentiert angesichts des
gescheiterten Streiks für die 35-Stunden-Woche: �Schuld war auch nicht die extrem
gewerkschaftsfeindliche Berichterstattung. Wie kann es denn sein, dass eine
millionenstarke Organisation wegen ein paar hässlicher Kommentare in der
Süddeutschen Zeitung oder der FAZ kuscht, Blätter, die wohl kaum von ihrer Klientel
gelesen werden? Seit wann wird der Arbeitskampf von seiner Bewertung in den
bürgerlichen Medien abhängig gemacht? Das zu behaupten, wäre in der Tat zu kurz
gegriffen. Aber in einer Abhängigkeit befindet sich der Kampf allemal." (Jungle World,
Nr. 42/2003)
5.4. Schlussfolgerungen
Das Thema, dass unserer Auswertung zufolge den Gewerkschaften am meisten
schadet, ist die Arbeitslosigkeit. Sie ist das mächtigste Argument aller Kritiker und
führt zu den weitgehendsten Forderungen nach einer Begrenzung gewerkschaft-
lichen Einflusses. Da Gewerkschaften in den Printmedien ausschließlich als
Arbeitnehmervertreter vorgestellt werden, die im wesentlichen darauf bedacht sind
�Privilegien� zu erhalten, sind alle negativen Folgen arbeitsmarktpolitischer Vorgaben
in ihrer Essenz mit den Gewerkschaften verbunden.
Gewerkschaften müssen daher das emotional hoch angesiedelte Thema der
Arbeitslosigkeit vermehrt ins Zentrum ihrer politischen Arbeit rücken. Strategisch
muss es ihnen gelingen, in der Öffentlichkeit als derjenige Akteur wahrgenommen zu
werden, der glaubwürdig für die Interessen der Arbeitssuchenden eintritt.41 �Ohne
eine strategische Perspektive im Umgang mit dem Phänomen der Massenarbeits-
losigkeit laufen die Gewerkschaften Gefahr, aus der ihnen zugeschriebenen
�Sündenbockrolle" nicht mehr herauszukommen. So können die �Neoliberalen" die
Gewerkschaften vor sich her treiben, um die Misere auf dem Arbeitsmarkt und die
Schwierigkeiten beim Umbau des Sozialstaates gewerkschaftlicher Politik
anzulasten." (Schroeder 2004, S. 28f.)
41 Trotz der Tatsache, dass allein in der IG Metall 300.000 Mitglieder arbeitslos gemeldet sind,
werden sie ausschließlich als Organisation von Arbeitnehmern wahrgenommen.
93
Glaubwürdig bleiben sie dabei nur, wenn sie konstruktiv und offensiv mit den
Widersprüchen umgehen, die sich aus dem Vertretungsanspruch einer Vielzahl von
Arbeitnehmerverhältnissen und andererseits der wachsenden Zahl von Arbeitslosen
ergeben. Diese Konflikte dürfen nicht länger verschwiegen, sondern sollten vielmehr
explizit von Gewerkschaften thematisiert werden.
Als Ausgangspunkt müssen sie dazu eine differenzierte Debatte um Arbeitslosigkeit
innerhalb ihrer Organisation und in der Öffentlichkeit führen. Nicht jeder der 4,5
Millionen statistisch erfassten arbeitslos Gemeldeten ist tatsächlich Arbeits-
suchender. Ebenso gibt es eine große Anzahl von Arbeitsverhältnissen, die nicht im
klassischen Schema Arbeitsplatzbesitzer � Arbeitsloser aufgehen (etwa
Schwarzarbeiter, geringfügig Beschäftigte, arbeitssuchende, aber nicht arbeitslos
gemeldete Akademiker nach Studium, Selbstständige etc.) Diese Vielfalt von
Lebens- und Arbeits(losigkeits)biografien verlangen nach individuellen Lösungen, die
von Gewerkschaften auch als Chance, nicht nur als Zumutung begriffen werden
können. Dazu wäre es notwendig, dass innerhalb der Gewerkschaften mehr
Gestaltungsfreiheit zugelassen wird, wie Arbeit in Zukunft gedacht werden kann.
Ein weiterer Punkt, bei dem Gewerkschaften schlecht abschneiden, ist der Vorwurf
der ökonomischen Inkompetenz. Gefordert wird vielfach: �statt der moralischen Keule
des vermeintlich Sozialen müssen sie ökonomische Begründungen liefern." (FAZ,
19.3) Auch wenn die �Moralkeule� in einem anderen Zusammenhang für Aufsehen
gesorgt hat (man erinnere sich an Martin Walsers Auschwitz-Rede), der Vorwurf
bleibt bestehen und lautet konkret: da Gewerkschaften keine inhaltlichen Argumente
zu bieten haben, ziehen sie sich auf eine moralische Position zurück, auf der sie
nicht mehr angreifbar sind. Das erweckt öfters den Eindruck, Gewerkschaften hätten
sachlich nichts für die Debatte beizutragen und könnten die Argumente der
Gegenseite auch nicht widerlegen.
Ein weiteres Grundproblem der Gewerkschaften, das die Medien vielfach
kommentieren, ist die fehlende Themensetzung und die programmatische
Ratlosigkeit, was die Zukunft unserer Gesellschaft anbelangt. Die Rede von den
�Neinsagern der Nation� kommt nicht von ungefähr. In der öffentlichen
Wahrnehmung sind die Gewerkschaften vor allem und ausschließlich dagegen. Ihr
Image wird davon bestimmt. Sie müssten aber hin zu einer Strategie des Ja, aber
kommen und vermehrt positive Aspekte des gesellschaftlichen Wandels vermitteln,
ohne die sozialen Folgen aus den Augen zu verlieren. Gewerkschaften werden stets
94
mit Lustfeindlichkeit verbunden, appellieren an Ängste, wo vielleicht auch Chancen
sind. Durchgehend zeigen alle Initiativen (siehe etwa Verdi gegen die Agenda 2010)
negative Aspekte der sozialen Wirklichkeit. Die Kampagne des DGB im Februar
2003 hatte den Slogan: �Gegen eine neoliberale Wirtschaftspolitik.� Ein anderes
Beispiel von Schwarzmalerei ist die Debatte rund um den Wert Solidarität, dessen
Ende von Gewerkschaftern häufig beklagt wird. Tatsächlich ist solidarisches
Verhalten nach wie vor aktuell, das beweisen Bewegungen wie attac oder die
gestiegene Sensibilität für Themen des Verbraucherschutzes oder der Ökologie. Nur
haben sich lebensweltliche Zusammenhänge und die Formen der Organisation von
Solidarität verändert.
Was ferner vermisst wird, sind eigene Konzepte, die über alte und bekannte
Vorschläge hinausgehen. Ein Erklärungsgrund dafür liegt auch in der immanenten
Struktur der Organisation, innerhalb derer durchaus errungene Modernisierungs-
gewinne als Traditionsverluste verbucht werden. Die durchaus auch von der Presse
honorierten konkreten Ergebnisse einzelner Verhandlungen auf Betriebsebene
werden im wesentlichen durch einen rhetorischen Konfrontationskurs verdeckt, der
der Wirklichkeit nicht entspricht. Zu Recht wird also auf die Glaubwürdigkeit der
Gewerkschaften verwiesen, die anders handeln als sie reden. Sie haben eine
reagierende und zu defensive Kommunikationshaltung, der es nicht gelingt, die
positiven Seiten ihrer täglichen Arbeit als Erfolg zu verkaufen.42
Vermisst wird zurecht ein Zukunftsentwurf, der den neuen Verhältnissen (die man
jetzt gut oder schlecht finden kann) gerecht wird, ohne zugleich alle sozialen
Errungenschaften über Bord zu werfen. Nötig wären Gewerkschaften, die sich mit
eigenen Initiativen in die Diskussion über den Weg aus der Krise einmischen.
Es zeigt sich aber auch: da wo derartige Initiativen und Vorschläge vorhanden sind,
werden sie in der Öffentlichkeit oft zu wenig wahrgenommen. Beispiele für
gewerkschaftliche Projekte, Reformen und Vorschläge gibt es genügend: Was ist aus
der Zukunftsdebatte der IG Metall (Zukunftsreport 2001) geworden, deren
differenzierte Ergebnisse kaum einen Niederschlag in der öffentlichen Diskussion
und in der Tagespresse fanden? Was ist etwa aus der 2003 vom DGB angekün-
digten Initiative �Pro soziale Verantwortung� geworden? Wo liest man, dass
42 Es muss hier angemerkt werden, dass die konkreten Erfolge gewerkschaftlicher Arbeit vermutlich
weitaus häufiger in der regionalen und lokalen Berichterstattung der Printmedien (weniger in den von uns ausgewerteten überregionalen Zeitschriften) zu finden sind.
95
Gewerkschaften sich um Mobbing-Opfer kümmern, Arbeitslosentreffs organisieren,
sich bei Karstadt für sozial korrekt produzierte Textilien einsetzen, sich für verfolgte
Kollegen aus Kolumbien stark machen oder für Rechte der Mitarbeiter des Metro-
Konzerns, die in der Türkei beschäftigt sind, kämpfen? Alle diese Beispiele aus der
Realität zeigen, dass die tatsächliche und konkrete Arbeit der Gewerkschaften an
vielfachen regionalen, nationalen und internationalen Brennpunkten nicht wahrge-
nommen wird. Selbst wenn man die Tendenz der Medien zu Personalisierungen und
schlagzeilenträchtigen Meldungen berücksichtigt � das Problem der (positiven)
Vermittlung der eigenen Arbeit ist damit nicht vom Tisch.
Es bedarf also auch einer verbesserten Medienstrategie zur Vermittlung ihrer Inhalte.
Die Gewerkschaften haben sich noch nicht klar genug gemacht, wie Medien in einer
Informationsgesellschaft funktionieren. Sie pflegen eine binnenorientierte Kommuni-
kation und führen zu häufig Insider-Debatten. Sie kommunizieren mit sich selbst und
unterlassen es, über ihre Arbeit in der Gesellschaft zu berichten. Die Kommunikation
ist insgesamt mehr auf die Organisation abgestellt und weniger nach außen
ausgerichtet.
Die gewerkschaftliche Öffentlichkeitsarbeit wiederum muss sich zur täglichen Arbeit
der Journalisten aktiver verhalten und auf die massenmedialen Anforderungen und
Beziehungsangebote reagieren. In einer Befragung der Pressestellen der IG Metall
und der ÖTV auf Bundes- und Landesbezirksebene kommt Thomas Neukirchen zu
folgendem Schluss: �Unerklärlich hoch ist die Anzahl der fehlenden Angaben bei der
Frage nach der Häufigkeit von Redaktionsbesuchen: Über die Hälfte der Befragten
machen keine Angaben. Andererseits fehlen nur vier Angaben bei der Frage nach
der Häufigkeit von Einladungen an Journalisten. (...) Die Bedeutung der
Hintergrundgespräche wurde von den Pressesprechern sehr hoch eingeschätzt.
Lediglich ein gutes Viertel der Befragten gab jedoch an, diese Hintergrundgespräche
überwiegend aktiv zu suchen.� (Neukirchen, zit. in Arlt 1998, S. 218, Fn. 13.)
Ohne genauer auf die innerorganisatorische Kommunikation einzugehen, die nicht
Gegenstand unserer Studie ist, fällt auf, dass die in den Medien gemachten Vorwürfe
und Kommentare selten zum Gegenstand der gewerkschaftlichen Diskussion
werden. Die negative Grundhaltung der Medien scheint im Gegenteil oft als
Bestätigung der eigenen Position. Gegen alle recht zu haben, stärkt zwar den
psychischen Binnenraum der Organisation, vermag aber nicht mehr externe
Informationen aufzunehmen. Wollen Gewerkschaften jedoch in Zukunft wieder
96
kulturellen Einfluss und Hegemonie gewinnen, müssen sie stärker mit der
Gesellschaft auf Tuchfühlung gehen. Es fehlen innerhalb der Gewerkschaften
Diskussionen, die nicht von vornherein entlang eng definierter Grenzen, sondern
ergebnisoffen geführt werden. Dass dabei liebgewordene Dogmen und Überzeugun-
gen zum Gegenstand der Diskussion werden, ist vielleicht schmerzhaft aber
notwendig.
97
6. Zitierte Artikel (2003) und Literatur
Datum Medium Autor/en Titel 02.01. ZEIT Tobias Pusch Streikverbot für die Gewerkschaft
verdi 04.01. ND Arno Klönne Angriff auf Sozialstaat 05.01. FAZ a.S: Bettina Bonde Geld oder Arbeit 06.01. Spiegel Michael Sauga Wie bei Schlecker 08.01. FAZ hig Nachahmer gesucht 09.01. ZEIT Helmut Schmid Wider die Erpressung 09.01. Berliner Steffen Gassel u.a. Drei Prozent � was bringt das
denn? 13.01. HB Thomas Knip Zum Kampf 13.01. Spiegel Wolfgang Bayer u.a. Sieger auf verlorenem Posten 14.01. FAZ nf Die Gleichmacher 15.01. FTD - Sommers Welt 17.01. Welt Christoph Schiltz Die Wirtschaft fordert längerer
Arbeitszeiten 18.01. StuttZ Peter Christ Neues vom Superminister 18.01. FR Thomas Gerstenkamp Erste Verbindung: Connex 19.01. Wams Kai Sanders So schafft man keine Arbeit, Herr
Sommer 20.01. BILD. Paul C. Martin Leichter kündigen? 20.01. FAZ - Die Gelegenheit 20.01. FTD Christoph Keese Mehr Jobs durch weniger Schutz 22.01. FTD - Bündnis gegen Reform 24.01. Welt Detlef Gürtler Die Produktivitätspeitscher 25.01. taz Helmut Spitzley Gastkommentar 28.01 HB Rainer Nahrendorf Tarifpolitische Torheiten der Ost IG-
Metall 06.02. FR Wolfgang Däubler Nötige Hürden gegen Willkür 06.02. Tages Bernd Ulrich Reaktionäre von Links 07.02. FAZ Hans D. Barbier Von Hartz zu Clement 10.02. FR Wolfgang Storz Blockierter Aufbruch 13.02. WiWo Sven Afkrippe u.a. Letztes Gefecht 20.02. HB Helmut Harschild Mut zur Realität 21.02. SZ Robert Jacobi Bloß nicht bewegen 24.02. FAZ Michael Hanfeld Panorama 24.02. BILD Peter Gauweiler IG Schlafmützen 24.02. FTD Christoph Keese Brüder, zur Sonne, zur Freiheit! 26.02. FR rt Wörterbuch: Kündigen 27.02. FTD Anton Notz u.a. Das Ende der Nostalgie 01.03. SZ Marc Beise Das Recht auf Kündigung 02.03. BILD Guido Westerwelle Wir brauchen eine Maggie Thatcher02.03. BILD - Ich arbeite für vier Euro die Stunde 06.03 Berliner Hendrik Mumsberg Schuld und Unschuld der Gewerk-
schaften
98
Datum Medium Autor/en Titel 17.03. Focus F. Borst u.a. Im Griff der Neinsager 19.03. FAZ nf Artiger Applaus 19.03. StuttZ Matthias Schiermeyer Der Protest muss noch wachsen 28.03. StuttN Markus Brauer Verdi mal anders 05.04. SZ Robert Jacobi Auf dem Weg ins Abseits 08.04. FR Hans-Jürgen Arlt Nur ein neuer Vorstand oder eine
neue IG Metall? 10.04. ZEIT Robert Leicht Berliner Machtprobe 14.04. Focus
Money Peter Bloed Der rote Konzern
14.04 FTD Christoph Keese Für Arbeitnehmer, gegen Arbeits-lose
16.04. FAZ Renate Köcher Machtprobe 26.04. StuttZ Matthias Schiermeyer Alle Funktionäre stehen still � alle? 05.05. Tages Klaus Wieking Nein zum Nein-Sprech 05.05. HB Bernd Zieseman Machtprobe 05.05. FTD Christoph Keese Was bringt der Kündigungsschutz? 05.05. Spiegel Nina Hacker u.a. Lobby des Stillstandes 06.05. SZ Jonas Viering Zu laut gebrüllt 08.05. Welt Mathias Zschalgen Der gefesselte Riese 08.05. SZ Robert Jacobi Flucht aus der Wirklichkeit 12.05. SZ Norbert Blüm Lob der Gewerkschaften 15.05. Stern Hans Ulrich Jörgens Adieu, Gewerkschaften! 21.05. HB Bernd Ziesemer Irrsinn mit Methode 23.05. FTD Margaret Hechel Randalierer direkt ins Aus 23.05. SZ Joachim Starbatty Gewerkschaft verliert an Glaub-
würdigkeit 25.05. Wams Markus Albers Kündigung als Chance 31.05. Tages Stephan Lebert Links liegen gelassen 09.06. Focus Krista Sager Ein gefährliches Manöver 11.06. HB Lothar Späth Schluss mit dem Klassenkampf 20.06. SZ Jonas Viering Flächentarif � die Friedensformel 24.06. Welt Norbert Berthold Handlung und Haftung 26.06. ZEIT Gisela Wild Wenn Streik zum Krieg wird 28.06. Berliner Hendrik Munsberg Wozu Gewerkschaften? 30.06. Spiegel Henning Krumveg Die Flops der Funktionäre 30.06. FAZ Nico Fickinger Kapitulation und Neuanfang 01.07. FTD A. Notz u.a. Auf Biegen und Brechen 01.07. Welt Uwe Müller Die Gewerkschaften sind nicht
geschwächt 01.07. FAZ mika In medias res 02.07. Welt Joachim Stoltenberg Das Signal aus Berlin 02.07. FAZ ink Zeit gegen Geld 03.07. ZEIT - Wir müssen uns öffnen 05.07. BILD Peter Boenisch Ein Betonkopf muss zurücktreten 07.07. Spiegel Michael Sauga Die Selbstdemontage 07.07. Tages Harald Martenstein Brüder mehr Sonne 07.07. FAZ nuf Mit Augenmaß 08.07. FR Günther Schmid Anpassung an moderne Zeiten
99
Datum Medium Autor/en Titel 09.07. Berliner Matthias Loke Paralysierte Gewerkschaft 09.07. FR Mario Müller Mut zur Alternative 10.07. FTD Margaret Hechel Zurück an die Werkbank 10.07. ND Velten Schäfer Schwarzer Sommer 10.07. Welt Ulrich Clauss Gewerkschaftsgewurstel 10.07. ZEIT Christian Tenbrock Innovative Gewerkschaft 12.07. SZ Martin Reim Nützliche Plagegeister 13.07. FAZ Rainer Hank Weltbeglückung mit Tarifpolitik 14.07. Welt U. Clauss Dienst ist Dienst 15.07. ND - Henkel macht auch Bosse madig 15.07. BILD Hans-Olaf Henkel Bis einer umfällt 15.07. FTD Klaus Zimmermann Flexibler, Offener, Bescheidener 19.07. SZ Nikolaus Piper Die Grenzen der Solidarität 22.07 FTD Wolfgang Münchau Kandidat Peters 23.07. Welt Uwe Müller Zurück nach vorne, Gewerkschafter23.07. FAZ Hans-Werner Sinn Wieder 42 Stunden arbeiten 26.07. taz Jupp Legrand Zwischen Morgen und Grauen 28.07. Berliner Mathias Loke u.a. Gewerkschaft will Mindestlohn 29.07. FTD - Nutzlose Appelle 29.07. HB bag Ideologischer Kleinkrieg 29.07. taz Thomas Gerstenkamp Die Liebe zur Arbeit 31.07. Tages Dieter Fockenbrock Arbeit muss wachsen 03.08. Wams Otto Graf Lambsdorff Willkommen im 21. Jahrhundert 05.08. FR Hartmut Seifert Eine Verlängerung der Arbeitszeit
führt nicht zu mehr Beschäftigung 05.08 taz Marcus Schwarzbach Räte als Retter 12.08. Tages Jobst Hubertus Bauer Kündigungsschutz am Arbeitsmarkt
vorbei 15.08. HB Helmut Hauschild Das vergeigte Jobwunder 16.08. taz Thilo Knott Nieder mit dem Tarifkartell 25.08. FR Jupp Legrand Die IG Metall muss ihre Fenster
aufstoßen 25.08. HB cs Ladenschluss-heilige Kuh Sonntag 26.08. FR Ulrike Füssel Das Umfeld, die Medien und
Zwickel waren schuld 26.08. HB Rainer Nahrendorf In der Defensive 28.08. ZEIT Christian Tenbrock Mitglieder verzweifelt gesucht 28.08. FR Peter Bofinger Der deutsche Arbeitsmarkt ist
keineswegs unflexibel 29.08. HB Helmut Hauschild Hardliner oder Reformer 01.09. FAZ Nico Fickinger Der Denkzettel 05.09. SZ Jonas Viering Wozu noch Gewerkschaften? 08.09. HB Dietrich Creutzburg Mehr Freiheit schafft Arbeit 09.09. Tages Carsten Brönstrup Clement gegen die Gewerkschaften11.09. FAZ Nico Fickinger Am Ende der Geduld 15.09. Spiegel Jan Berg u.a. Angst vor Anarchie 18.09. SZ Marc Beise Mehr arbeiten, weniger klagen 19.09. HB - Hartz stößt neue Arbeitszeit-
Debatte an
100
Datum Medium Autor/en Titel 19.09. SZ Jonas Viering Noch ein Hartz 24.09. HB ruf Kakofonie 24.09. Welt Dorothea Siems Die Betriebe brauchen mehr
Freiheiten 24.09. SZ Robert Jacobi Was günstiger ist 25.09 ZEIT Susanne Gaschke Die Sozifresser 25.09. HB Norbert Bechthold Wider das Kartell 26.09. SZ Robert Jacobi Angst vorm Kanzler 27.09. FAZ nf Die Verbeugung 29.09. Berliner Matthias Loke Des Kanzlers Rückzieher 29.09. FR rt Strategiedefizit 07.10. BILD - 10 bittere Wahrheiten über unser
Land 07.10. Welt Peter Hahne Die Deutschen sind nicht faul 09.10. SZ jv Drama der Lehrstellen 10.10. FR Ingrid Sehrbrock Eklatante Lücken und Schwächen 10.10. HB Donata Riedel Dazugelernt 13.10. Spiegel Janko Tietz Kapitalismus pur 14.10. Welt Christoph Schiltz Ab in die neue Zeit 14.10 HB Rainer Nahrendorf Wortbrüchig 16.10. WiWo Bert Losse Für die Kirche 16.10. SZ N. Piper Der richtige Lohn 22.10. FTD - Ende einer Massenbewegung 23.10. Berliner Matthias Loke Der heiße Herbst der Gewerk-
schaften fällt aus 23.10. HB D. Creutzburg In der Wagenburg 24.10. FAZ Nico Fickinger Gewerkschaften in der Identitäts-
krise 25.10. SZ - Gewerkschaft als Reformpartner 27.10. Focus Herbert Weber Mit harter Hand 28.10. ND Thomas Strohschneider Angemessen überzogen 29.10. FTD - 24 Stunden 30.10. BILD Hans-Olaf Henkel Unsere Arbeit ist zu teuer 31.10. FAZ ank Die Lohnzahl 01.11. FR Eva Roth Kürzungen landauf, landab 04.11. FR Wolfgang Storz Störende Einfälle 05.11. SZ Nina Bovensiepen u.a. Wem die Stunde schlägt 05.11. FR Detlef Hensche Keine Gewerkschaft beharrt in der
Not auf Tarifeinhaltung 06.11. HB Barbara Gillmann Die Würfel sind gefallen 06.11. Welt Stefan von Borstel Geld für ein Gespenst 10.11. Focus Verena Köttker u.a. Für ein paar Stunden mehr 11.11. Welt Stefan von Borstel Signal gegen Jobs 11.11. FAZ nf Funktionärsmacht 12.11. HB tri Sachverständige kritisieren Tarif-
parteien 14.11. HB - Verdi-Staat Deutschland 14.11. FR Georg Fülberth Die Sache mit dem Lohndumping 21.11. FAZ nf Auf bessere Zeiten
101
Datum Medium Autor/en Titel 25.11. FAZ Jürgen B. Donges Tarifpolitik wieder auf falschem
Gleis 26.11. FR Heide Pfarr Gerade in der Krise brauchen Be-
schäftigte den Schutz des Tarif-rechts
27.11. FR Rainhard Bispinck Tariföffnung ist längst üblich 27.11. WiWo Dieter Schnaas Hoffen auf mehr Arbeit 28.11. SZ Nikolaus Piper Vier Prozent in der Krise 28.11. Berliner Matthias Loke Maßarbeit in der Metall-Runde 29.11. FR Peter Grottian Sich selbst eine Arbeit geben 04.12. ZEIT W. Gehrmann u.a. Flexible Funktionäre 04.12. Berliner Thorsten Knuf Merkel, Merz und die Lohndrücker 04.12. SZ Robert Jacobi Trauriges Geständnis 05.12. Welt Klaus-P. Schöppner Die Deutschen sind bereit, weniger
zu arbeiten für weniger Geld 05.12. Berliner Christian Bommarius Die gelbe Gefahr 05.12. FR Thorsten Schulten Der Flächentarifvertrag ist kein
Auslaufmodell in Europa 06.12. FR Walter Lochmann Arbeit fair teilen 10.12. StuttZ Peter Christ Beweglichkeit rettet Stellen 10.12. FR Wolfgang Storz Die Tarifparteien scheuen sich
Neuland zu betreten 16.12. FR Ulrich Walwei u.a. Und der Arbeitsmarkt bewegt sich 17.12. ZEIT Christian Tenbrock Die Verlierer
Weitere Literatur:
Arlt, Hans-Jürgen (1998): Kommunikation, Öffentlichkeit, Öffentlichkeitsarbeit. PR
von gestern, PR von morgen � Das Beispiel Gewerkschaften, Opladen/Wiesbaden
Bruckner, Pascal (1991): Ich leide, also bin ich. Die Krankheit der Moderne, Berlin
Ebbinghaus, Bernhard (2003): Die Mitgliederentwicklung deutscher Gewerkschaf-
ten im historischen und internationalen Vergleich, in: Schroeder, Wolfgang und
Wessels, Bernd (Hrsg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundes-
republik Deutschland, Wiesbaden, S. 174-204
McCombs, Maxwell und Shaw, Donald (1972): The Agenda-Setting Function of
Mass Media, in: Public Opinion Quarterly (36)
Meschnig, Alexander und Stuhr, Mathias (2001): www.revolution.de. Die Kultur
der New Economy, Hamburg
Meyn, Hermann (2001): Massenmedien in Deutschland, UVK Medien, Konstanz
102
Schroeder, Wolfgang (2004): Gewerkschaften im Übergang. In: Mittelweg 36,
Hamburg, S. 21-32
Klopotek, Felix (2003): IG System und Co. KG, in: Jungle World, Nr. 42, 8. Oktober
Reich, Robert B. (1997): Die neue Weltwirtschaft. Das Ende der nationalen Ökono-
mien, Frankfurt a.M.
Van Dijk (1991): Racism and the press, Routledge, London