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Der Komplex des Mythos beim frühen Nietzsche
Mythosverständnis und Mythosfunktionen in der 'Geburt der Tragödie'.
I N H A L T
1. Einleitung.................................................................................................1 2. Versuch einer Definition von Mythos ...........................................................3 3. Das Dionysische und das Apollinische..........................................................4
3.1 Quellen ..............................................................................................4 3.1.1 Die mythologische Basis..............................................................4 3.1.2 Neuzeitliche Quellen: Deutungsansätze ..........................................5
3.2 Das Apollinische und das Dionysische als antagonistisches Konstrukt Nietzsches ............................................................................6 3.2.1 Das Apollinische und das Dionysische auf metaphysischer und
anthropologischer Ebene .............................................................6 3.2.2 Das Apollinische und das Dionysische als kulturfundierende Prinzipien
(Verifikation der Wirksamkeit durch Betrachtungen zu Geschichte, Gattungs- und Musiktheorie)........................................................8
4. Der Komplex des Mythos bei Nietzsche ......................................................14 5. Schlußbetrachtungen ...............................................................................20 6. Anhang...................................................................................................21
6.1 Schaubilder....................................................................................... 21 6.1.1 Das Apollinische und das Dionysische (zu Kapitel 3) ...................... 21
6.2 Literaturverzeichnis............................................................................ 21
Der Komplex des Mythos ... Einleitung, Seite 1
1. Einleitung
Beschäftigt man sich mit Friedrich Nietzsche's 'Geburt der Tragödie' (im folgenden durch
GdT abgekürzt), so drängt sich schnell das Bedürfnis nach Rechtfertigung der eigenen
Me-thode auf. Einerseits verbietet sich eine Zerstückelung der doch eher poetisierten, als
wissenschaftlichen Schrift, wollte man Nietzsche ge-recht werden, andererseits ist eine
thematische Eingrenzung unbedingt notwendig. Die Ganzheit der Schrift, die zahlreichen
Wiederholungen, bzw. Vor- und Rückverweise, die fast systemtheoretisch zu verstehende
Abgeschlossenheit seines philosophischen Konzepts und die Verschie-denartigkeit der
eingenommenen Positionen verursachen große Pro-bleme bzgl. der Gliederung.
Aus diesen Gründen kann die Arbeit nicht auf einzelne Teile oder Kapi-tel der GdT
reduziert werden, sondern einige Themen-bereiche müssen weitgehend vernachlässigt
werden. Hierzu gehört die genaue Schilderung des Wesens des Sokratischen
(aesthetischer So-kratismus / Optimismus) und des hierdurch erfolgten Todes der Tragö-
die. Auch der Zusammenhang zwischen Sokratismus und Kunst (das Bild "eines
künstlerischen Sokrates" (S.90) als Utopie) und die gegen-wartskritischen Äußerungen,
die zur Forderung nach Remythisierung der Gesellschaft führen, können hier nur
ansatzweise besprochen wer-den.
Ziel der Arbeit ist es, die Verwendung von Mythos zu reflektieren, wobei vor allem das
Apollinische und das Dionysische thematisiert werden muß. Denn deren Duplizität setzt
Nietzsche (im Sinne einer universalen Schöpfung) "als eine Welttatsache ins Zentrum und
ordnet die übrige Weltmasse als Kreis um diesen Mittelpunkt" . Das Mythosverständnis
Nietzsches soll erläutert werden, sowie die Funktion des Mythos, wobei diese
Formulierung doppeldeutig ist: Einerseits soll untersucht werden, welche
(gesellschaftliche) Funktion Nietzsche dem Mythos zuschreibt, andererseits könnte die
Frage gestellt werden, inwiefern Nietzsche den Mythos für seine Philosophie
instrumentalisiert.
Dieses wesentliche Kapitel der Arbeit ist bewußt nicht weiter unterglie-dert, da die
Versprachlichung des Mythos-Komplexes ohnehinschon schwerfällt; mythisches Denken
ist ein sprachfreies, anschauliches, vorstellendes Denken, der Mythos ist nur als Ganzes,
als 'Leben im Grunde der Dinge' zu verstehen, auf eine Untergliederung wurde daher
verzichtet.
Die Komplexität des Themas macht es unmöglich, zahlreiche Vor- und Rückverweise und
auch Wiederholungen zu vermeiden, die Strukturierung in verschiedene Kapitel und
Der Komplex des Mythos ... Einleitung, Seite 2
Unterkapitel kann kaum gelingen, da der 'große Zusammenhang' zerissen werden könnte
("im Anfang war alles beisammen; da kam der Verstand und schuf Ordnung" (S.81)).
Dieser Arbeit liegt die Reclam-Ausgabe der 'Geburt der Tragödie' zu-grunde. Der Text
dieser Ausgabe folgt:
Nietzsche. Werke. Kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und
Mazzino Montinari. Dritte Abteilung. Erster Band. Berlin: Walter de Gruyter, 1972.
Alle Zitate aus dem Primärtext sind zur besseren Übersichtlichkeit kursiv gekennzeichnet,
auch die Seitenzahlen sind in den Fließtext eingefügt, Belege zu den anderen Zitaten
finden sich in den Fußnoten.
Der Komplex des Mythos ... Versuch einer Definition von Mythos, Seite 3
2. Versuch einer Definition von Mythos
Der Versuch, Mythos allgemeingültig zu definieren, erweist sich als äußerst schwierig, da
er stets epochen- und vor allem ideologiespezifisch verwandt wurde. Verschiedene
Mythos-Definitionen waren immer abhängig von der jeweils herrschenden wissenschafts-
theoretischen Einstellung. Allein der Unterschied, über den Mythos oder über einen
Mythos, über 'mythische Vorstellungen' oder 'mythische Phänomene' zu sprechen, macht
die Definitionsschwierigkeit deutlich; "unter dem Titel Mythos wird alles mögliche
gehandelt: standartisiertes Sozialverhalten, Kollektivsymbole, Ideologien, Weltansichten,
Götterge-schichten, Volksmärchen, religiöse Zeugnisse, Heldensagen, Ur-
sprungsgeschichten, Naturallegoresen, 'Mythen des Alltags' usw."
Und doch bleibt eine gewisse Eingrenzung unumgänglich, beschäftigt man sich mit einer
solch kaum bestimmbaren Größe. Wörtlich bedeutet das griechische mythos nichts
anderes als 'Wort', 'Rede', 'Erzählung' oder 'Sage'. Mythos meint eine ursprünglich-naive,
als zeitlose Gegen-wart erscheinende Aussage über die Zusammenhänge der Welt mit der
Existenz des Menschen. Diese Aussage betrifft zumeist Göttliches und ist rational nicht
beweisbar, erhebt aber Anspruch auf Wahrheit. "Mythen sind ursprünglich nichts anderes
als narrative Auslegungen komplexer Symbole: 'ausgesprochene Symbole'." "Der Mythos
ist ur-tümlich Poesie; er ist anschaulich, idealisiert und ästhetisiert."
In unserem Zusammenhang ist die Frage nach dem Wesen des Mythos allerdings
sekundär, ebenso wie die Frage nach der inhaltlichen Wahr-heit oder nach der logischen
Form von Mythen, vielmehr wollen wir seine Funktionen, die Zwecke und Gründe der
Mythosverwendung un-tersuchen. Die gesellschaftliche Funktion von Mythos wird vor
allem in der Aufhebung partikularer Interessen gesehen, also im Entstehen eines
Interessenkonsenses, der den Bestand und die Verfassung einer Gesell-schaft durch einen
obersten Wert beglaubigt. Lebenszusammenhänge und gesellschaftliche Einrichtungen
sollen gerechtfertigt werden. Dem-nach werden Mythen überliefert, damit eine
Gesellschaft sie für die Deu-tung ihrer Probleme, Konflikte und Lebensformen einsetzen
kann. Wei-terhin soll hier Mythos als philosophisches Instrument verstanden wer-den.
Insofern stehen hier pragmatische Gesichtspunkte, unter denen man Mythen zum
Gegenstand von Forschungen machen kann, im Vor-dergrund, weniger inhaltliche oder
strukturelle.
Der Komplex des Mythos ... Das Dionysische und das Apollinische, Seite 4
3. Das Dionysische und das Apollinische
3.1 QUELLEN
3.1.1 Die mythologische Basis
Möchte man die mythologische Basis des von Nietzsche entworfenen
Philiosophiekonzepts beschreiben, so ist vor allem die Untersuchung der antiken
Gottheiten Apollon und Dionysos notwendig. Diese sind je-doch in der Antike nicht als
Gegensatzpaar bekannt. Die Mythen und Sagen, die sich mit der Geburt und dem Leben
der Gottheiten beschäf-tigen, sind zahlreich und teilweise widersprüchlich. Sie sind an
ver-schiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten auch in den unter-schiedlichsten
Weisen verehrt worden, teilweise auch als eine Gottheit.
Apollon ist seinem Ursprung nach der Gott der Sonne (Phoibos A.), des Lichtes, der
Strahlen und somit auch der Relationen. In diesem Sinne wird er als Gott der kosmischen
Weltordnung verehrt, als Herr einer im Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie,
Musik) erfaßten Zah-lenharmonie. Apollon gilt als Gott der Ordnung, des Maßes, der Er-
kenntnis und der Reinheit. Er ist der Hauptgott der prophetischen Weis-sagung, der
Medizin (später noch mehr sein Sohn Asklepios), der Künste (insbesondere der mousikê,
wörtl.: die Lehre von den Relationen und Proportionen). Seine ursprünglichste Funktion
war das Bringen und Vertreiben des Übels (A.Agyieus), insofern wurde er auch als
furchtbarer Gott der "düsteren Rache" verehrt (A.Tortor). Außerdem wurde er als
Hirtengott (A.Nomios), Wolfsgott (A.Lykeios), als Musen-führer (A.Mousegetes)
bezeichnet. Er gilt als Sohn des Zeus und der Titanin Leto.
Dionysos ist ursprünglich ein Vegetationsgott, nämlich der Gott der na-türlichen
Lebensfülle. Er wird als Herr über die Natur, die Menschen und Seelen, als Gott der
Gärten (Dendrites von den Bäumen), vor allem des Weines verehrt. Als Weingott gilt er
auch bald als Gott des Rausches, der Extase (Bakchos, Lenaios vom Weinfaß). Außerdem
ist er glei-chermaßen ein Maskengott. Er gilt als Sohn des Zeus und der Semele, wobei
gerade hier die Mythen zahlreich und widersprüchlich sind (s.u.). Auch wurde er mit Zeus
gleichgesetzt (Zeus Bakchos, Zeus D.).
In unserem Zusammenhang ist es besonders interessant, daß Apollon und auch Dionysos
als Nymphenführer (A.Nymphegetes, D.Nymphegetes), bzw. Musenführer (A.Mousegetes,
D.Mousegetes) verehrt worden sind, daß beide in Begleitung der Mänaden gezeigt wur-
den und daß die sie kennzeichnenden Symbole, wie der Efeu und der Bock (primär
dionysisch) und der Lorbeer und der Greif (primär apollinisch) wild vermischt auf beide
Der Komplex des Mythos ... Das Dionysische und das Apollinische, Seite 5
Gottheiten angewandt wurden. Beide wurden als verkleidete Gottheiten dargestellt
(A.Priapaios - Gott in Eselsgestalt, D.Eleythereus/Melanaigis - Gott mit dem Ziegenfell).
Die Gemeinsamkeiten und die Gleichartigkeit der Gottheiten gipfelt in der Verehrung der
Gottheiten als eine, als dionysischer Apoll (A.Dionysodotos).
Für die Betrachtung von Nietzsches Verständnis dieser Gottheiten ist es unausweichlich,
die Geburt des Dionysos näher zu betrachten. Nach Clemens von Alexandrien (215 AD)
wurde Dionysos als Kind von Tita-nen zerrissen, seine Glieder von Apollon gesammelt und
bestattet. Daraufhin wurde er als Dionysos Zagreus ("der Zerrissene") verehrt. Andere
Quellen berichten, daß die Titanen den Zerstückelten bis auf das Herz verschlingen,
welches Semele schluckt und Dionysos erneut gebärt. Wieder an anderer Stelle heißt es,
daß der zerrissene Dionysos von Apollon und Demeter zu neuem Leben erweckt wird.
Wichtig ist in unserem Zusammenhang lediglich die Verehrung Dionysos' als den
Zerrissenen. Unklar bleibt das Dominanzverhältnis, die Hierarchie zwi-schen Apollon und
Dionysos: Steht Apollon über Dionysos, den er zum Leben erwecken kann, oder steht
Dionysos, der oberste Gott der späte-ren hellenistischen Welt, mit Zeus gleichgesetzt,
über Apollon, den er zerstören kann?
3.1.2 Neuzeitliche Quellen: Deutungsansätze
Nietzsches Idee einer grundlegenden Opposition zwischen dem Apolli-nischen und dem
Dionysischen ist zwar aus der antiken Mythologie nicht belegbar, allerdings ist sie auch
nicht neu. Schon Friedrich Schlegel unterscheidet (1795-97) das trunken Dionysische von
dem besonnen Apollinischen. Friedrich Creuzer behandelt (1836-43) den Zagreus-My-
thos, wobei er den Akzent auf die Verehrung des Apollon Dionysodotos, des Coniugum
des Apollon und Dionysos, legt. Außerdem legt er, wie auch Karl Otfried Müller und
später Nietzsche, "den nicht-olympischen Grund unterhalb der apollinischen Heiterkeit
der homerischen Götterwelt frei" . Im Verständnis Ferdinand Lassalles erscheinen (1858)
die Ideen des Apollonischen und des Dionysischen als "die ganze Weite der grie-chischen
Religion umspannende Gegensätze, und die [...] Einigung derselben als Inhalt der
Mysterien" . Bild für diese Einigung sei der zer-rissene Dionysos, der in Verbindung mit
Apollon (und nur durch Apollon) wieder zur Einheit wird. Bei Jules Michelet werden
(1864) das Apollini-sche und das Dionysische ebenfalls als Polaritäten behandelt, auch
Anselm Feuerbach stellt (1833) den Unterschied zwischen dem dionysi-schen Rausch und
dem plastischen Maß heraus. Außerdem kann man davon ausgehen, daß Nietzsche in
seiner Konzeption auf ähnliche Ideen Hölderlins, Schellings, Bachofens, sowie Ritschls
und Rohdes zu-rückgreift, eine Untersuchung der präzisen Quellenverwendung er-scheint
in diesem Zusammenhang allerdings zu ausschweifend.
Der Komplex des Mythos ... Das Dionysische und das Apollinische, Seite 6
3.2 DAS APOLLINISCHE UND DAS DIONYSISCHE ALS ANTAGONISTISCHES KONSTRUKT
NIETZSCHES
In der 'Geburt der Tragödie' beschreibt Nietzsche das Begriffspaar Apol-linisch-Dionysisch
als alles begründende Opposition. Er lokalisiert es zunächst - in starker Anlehnung an
Arthur Schopenhauer - auf der Ebene der Metaphysik: Zentraler Gedanke dieser
Metaphysik ist der Wille. Weiterhin beschreibt er diese Begriffe als Triebe in der Natur,
die durch Nachahmung des Menschen zu Kunsttrieben werden, zu Strate-gien der
Lebensbewältigung, also auf anthropologischer Ebene. Diese grundlegende Opposition
deutet Nietzsche als kulturfundierendes Prin-zip, als geschichtsphilosophisches Schema
und verifiziert ihre Wirksam-keit durch Betrachtungen zu Geschichte, Gattungs- und
Musiktheorie (s.3.2.2.). In diesem Kapitel werden die ersten beiden Punkte eher kurz
behandelt, um einen groben Überblick zu geben (s.3.2.1.), der Schwer-punkt liegt auf
dem dritten Abschnitt, der notwendigerweise ausführli-cher thematisiert werden muß,
um anschließend auf den Komplex des Mythos eingehen zu können. (Da die Funktion von
Mythos zu klären ist, möchte ich vor allem die Wirksamkeit, die innerweltliche Wirkung
der Triebe erläutern.)
3.2.1 Das Apollinische und das Dionysische auf metaphysischer und anthropologischer Ebene
Nietzsches Metaphysik basiert auf der Zwei-Welten-Lehre Arthur Scho-penhauers. Hier
steht die Welt der Oberfläche der der Tiefe gegenüber, jene ist nur Erscheinung, diese ist
das Wesen der Welt selbst. Im Sinne dieser Dialektik ist auch das Begriffspaar Vorstellung
- Wille zu verste-hen. Der Wille ist der sinnfreie Daseinsdrang, der sich in der Erschei-
nungswelt zum Willen zum Leben / Fortpflanzen objektiviert. Er "macht das innere, wahre
und unzerstörbare Wesen des Menschen aus; an sich selbst ist er jedoch bewußtlos [...]
der Intellekt ist [...] unmittelbare Erscheinung des Willens [...] Der Wille ist an sich
erkenntnislos, der Verstand willenlos" . Er ist einzig frei und grundlos, das ewige Welt-
prinzip.
Insofern ist die Welt als Gehirnphänomen zu verstehen. Der Mensch konstruiert das
Kausalitätsprinzip, um sich die Welt erklären zu können, über den Gehalt der
Erscheinungen ist aber keine Erkenntnis möglich.
In der Metaphysik des Willens ist der Pessimismus begründet: Der Mensch ist stets vom
Willen getrieben, wird niemals erlöst und leidet immer, da er entweder vom 'unlöschbaren
Durst' oder von Langeweile gepeinigt wird. Der Pessimismus entspringt der Erkenntnis,
daß die empirische Welt nur ein Gefängnis ist, worin der die Welt ziellos tragen-de Wille
in zahllose Einzelzellen, d.h. in Einzelwesen überhaupt, einge-kerkert ist. In der
Der Komplex des Mythos ... Das Dionysische und das Apollinische, Seite 7
Gefangenschaft des 'principium individuationis' ist al-les Leben Leiden. Nur durch die
Kunst, vielmehr noch die Musik kann der Wille (wenn auch nur für Genies) erkennbar
werden.
Nietzsche verbindet nun dieses Konzept der zwei Welten mit den antiken Gottheiten
Apollon nund Dionysos. Er ordnet sie den zwei statuierten, grundlegenden Naturtrieben
zu: Die Welt der Tiefe, das Wesen, der Wille ist dionysisch, die Welt der Oberfläche, die
Erscheinung, die Vor-stellung ist apollinisch. Der dionysische Wille ist das Weltprinzip,
eine endlose Folge von Werden und Vergehen, Geburt und Tod.
Durch beide Triebe soll eine Einheit erlangt werden: Dionysos sucht sie durch seine
Universalität, seine alle Extreme umfassende Totalität, im Unmaß, Apollon in der
Vereinfachung, in der Beschränkung, die zu Ein-deutigkeit führen soll, im Maß.
Das Schopenhauer'sche Modell wird zur Ästhetisierung der Metaphysik funktionalisiert:
Die Welt ist als sich selbst gebärendes Kunstwerk zu verstehen: In einem permanent
autopoietischen Kunstprozeß produziert und objektiviert sich der Wille immer neu.
Dionysos drängt als der zer-rissene Zagreus zur Identität, zu Apollon, dem Prinzip
sinnhaft struktu-rierter, individualisierter Raum-Zeit-Ordnung. Das Sein (als differentiel-
les Prinzip des Dionysos (Zagreus)) erlöst sich selbst im Kunstwerk des Scheins (als
Sphäre der apollinischen Vorstellung).
Die Objektivation des Willens geschieht durch apollinische Spiegelungen. "In den
Griechen wollte der 'Wille' sich selbst, in der Verklärung des Genius und der Kunstwelt,
anschauen; um sich selbst zu verherrlichen, mussten seine Geschöpfe sich selbst als
verherrlichenswerth empfin-den, sie mussten sich in einer höheren Sphäre wiedersehn,
ohne dass diese vollendete Welt der Anschauung als Imperativ oder als Vorwurf wirkte.
Dies ist die Sphäre der Schönheit, in der sie ihre Spiegelbilder, die Olympischen, sahen"
(S.31). Die vollkommene Befreiung vom Willen kann nur durch sie oder durch Askese,
also Willenlosigkeit und Entsa-gung, gelingen. Aus der Erkenntnis, daß der Urgrund
nichts als Leiden ist, das durch den Schein erlöst wird, begründet sich die Auffassung,
der Mensch habe in der Bedeutung als Kunstwerk seine höchste Würde. Da zum Handeln
das Umschleiertsein von der Illusion gehört und die Kunst als rettendes Moment (nämlich
als Einheit von apollini-schem Schein und dionysischem Wesen) fungiert, ist die Welt
"nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt" (S.41 u.a.).
In der Nachahmung durch den Menschen werden diese Naturtriebe zu Kunsttrieben.
Somit beschreiben das Apollinische und das Dionysische auch zwei verschiedene
ästhetische Auffassungen. Hier soll allerdings die Lebensdienlichkeit dieser Triebe im
Der Komplex des Mythos ... Das Dionysische und das Apollinische, Seite 8
Vordergrund stehen. Auf an-thropologischer Ebene sind das Apollinische und das
Dionysische als Strategien der Lebensbewältigung zu verstehen. Beide wollen der Ver-
geblichkeit der Existenz abhelfen. Während Apollon den Mangel und die Vergänglichkeit
des Daseins im schönen Schein überspielt, wird durch Dionysos der einzelne in
rauschhafter Entgrenzung gleichgültig gegen-über diesem Mangel, er identifiziert sich
ekstatisch mit dem Leben im Ganzen, wird eins mit allem, wird das Ur-Eine selbst. Traum
(Apollon) und Rausch (Dionysos) machen das Leben erträglich: Es handelt sich um eine
imaginäre Verwerfung des Übels des Daseins im Traum, oder eine rauschhafte Bejahung
dessen in der Extase. In der Konsequenz führt der apollinische Trieb zu geformtem Sein,
zu Staat und Politik (Rom), die Schöpferkraft geht weitgehend verloren; der dionysische
führt zu Leere und 'brütender Verneinung' (Indien). Daher kann nur die Synthese beider
das Leben trotz seiner Vergänglichkeit wirklich erträg-lich machen. Diese Synthese ist im
antiken Griechenland durch die Tra-gödie erreicht.
3.2.2 Das Apollinische und das Dionysische als kulturfundierende Prinzipien (Verifikation der Wirksamkeit durch Betrachtungen zu Geschichte, Gattungs- und Musiktheorie)
Die 'Geburt der Tragödie' ist nicht nur als bloße Entstehungs- und Ver-fallsgeschichte
einer bestimmten Gattung zu lesen, sondern als Ver-such, die Gegenwart durch die
Geschichte zu deuten. Insofern steht die Geburt und der Verfall der Tragödie als
exemplarisches Modell für Ge-schichte schlechthin. Hiernach erklärt sich Geschichte
stets aus einem Kampf des Apollinischen und des Dionysischen, deren jeweilige
Dominanz immer neu ausschlaggebend ist. Unter ständig neuen Bedingungen kämpft die
tragische Weltbetrachtung gegen den sokrati-schen Optimismus. Geschichte ist als
Kunstgebilde zu verstehen, des-sen Funktion es ist, durch prototypische Situationen
Deutungsmuster für handelnde Menschen zu geben. Das Problem der Historizität steht im
Hintergrund, auch ist die wissenschaftliche Methode des Objektivismus vernachlässigt,
vielmehr handelt es sich bei der GdT um die "Variation eines historischen Themas durch
die freischaffende Hand des Künstlers" ; Ziel des Artistischen, dieser nicht historischen
Geschichtsschreibung (sowie des Mythos selbst) ist die Rettung der Verbindung von
Welt/Wissen und Leben.
Im folgenden soll das (gattungs-) geschichtliche Bild nachgezeichnet werden, das
Nietzsche aus der Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen entwirft. (Dies kann
hier allerdings nur in jener Nietzsche so fernen Form des 'sokratischen Objektivismus'
geschehen, soll aber dadurch keinen Anspruch auf Wahrheit bzgl. der Historizität
erheben):
In der vorantiken Zeit, die Nietzsche das erzene Zeitalter nennt, sind das Apollinische
Der Komplex des Mythos ... Das Dionysische und das Apollinische, Seite 9
und das Dionysische als Naturtriebe vorhanden, die der Mensch nachahmt. Eine
Übermacht des Apollinischen zerstört dann die titanische Götterordnung und bildet die
olympische heraus, um im Schein die Welt zu rechtfertigen. Diesen langen Zeitraum
repräsentiert vor allem Homer (ca.800 v.Chr.) als rein apollinischer, erhabener Künstler.
Durch ihn, so Nietzsche, wird der Wille verklärt und verherr-licht. Das noch ältere
Volkslied steht dem entgegen, es ist "als musikali-scher Weltspiegel, als ursprüngliche
Melodie" (S.42) zu verstehen (Vgl.4.), wobei in seiner Dichtung "die Sprache, auf das
Stärkste ange-spannt, die Musik nachzuahmen" (S.43) versucht. "Das Wort, das Bild, der
Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik
an sich" (S.43). Aus dem Volkslied entwickelt sich (ca. 650 v.Chr.) die Lyrik des
'subjektiven Musendieners' Archilochus. Diese Subjektivität ist aber nicht als Opposition
zu Objektivität, also als Nicht-Kunst zu verstehen, sondern der Lyriker "ist zuerst, als
dionysi-scher Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Wider-spruch,
eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik [...]; jetzt aber wird
diese Musik ihm wieder wie in einem gleich-nissartigen Traumbilde, unter der
apollinischen Traumeinwirkung sicht-bar.[...] Seine Subjektivität hat der Künstler bereits
in dem dionysischen Prozess aufgegeben." (S.37). Archilochus interpretiert als
apollinischer Genius die Musik durch das Bild des Willens. Hier wirken also der apol-
linische und der dionysische Kunsttrieb zusammen. Das schon vorhan-dene, aber bisher
nur subtil wirkende, kaum bemerkte Dionysische bricht (ca. 600 v.Chr.) in die
apollinische Welt der Griechen ein. Apollon kann "dem gewaltigen Gegner durch eine zur
rechten Zeit abgeschlos-sene Versöhnung die vernichtenden Waffen aus der Hand
nehmen. Diese Versöhnung ist der wichtigste Moment in der Geschichte des griechischen
Cultus" (S.26). Sie ist allerdings nur durch einzuhaltende Grenzlinien zwischen den
Mächte-Gottheiten möglich, ohne daß die Kluft tatsächlich überbrückt werden kann.
Unter dem Druck dieses Ab-kommens offenbaren sich nun die dionysischen Mächte
vollkommen in Welterlösungsfesten, Verklärungstagen, Orgien. Hier "bricht [..] ein sen-
timentalischer Zug der Natur hervor, als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zu
seufzen habe." (S.27). Die Doppelheit dionysischer Af-fekte (Schmerz-Lust, Jubel-Qual,
Freude-Entsetzen) wird deutlich. Das Zerreißen des principium individuationis wird zum
künstlerischen Phä-nomen. Die dionysische Musik, der Dithyrambus, wird geboren. Hier
setzt sich "die erschütternde Gewalt des Tones, der einheitliche Strom des Melos und die
[..] unvergleichliche Harmonie" (S.27) gegen die "dorische Architektur in Tönen" (S.27)
des Apollon durch. Aus dieser Musik entwickelt sich der Chor, der Ursprung der Tragödie.
Beim Chor handelt es sich zunächst um eine Gruppe von Satyrnen. Diese Welt des Chores
ist "doch keine zwischen Himmel und Erde hineinphantasirte Welt; vielmehr eine Welt
Der Komplex des Mythos ... Das Dionysische und das Apollinische, Seite 10
von gleicher Realität und Glaubwürdigkeit wie sie der Olymp sammt seinen Insassen für
den gläubigen Hellenen be-sass. Der Satyr als der dionysische Choreut lebt in einer
religiös zuge-standenen Wirklichkeit unter den Sanctionen des Mythus und Cultus"
(S.49). Durch den Chor ist der metaphysische Trost möglich: In diesem Chor der ewig
selben, leibhaftigen und unzerstörbaren Naturwesen wird gezeigt, daß "das Leben im
Grunde der Dinge [...] unzerstörbar mächtig und lustvoll sei" (S.50), im Satyr sieht der
Mensch die ursprüngliche Natur des Daseins (Vgl. S.52). Dieser Trost ist überhistorisch
und un-abhängig von Gesellschafts- und Generationswechsel. Die Tragödie geht hieraus
als "Kombination aus hergebrachter Chorlyrik und neuer-fundenen Dialogformen" hervor
und wird (534 v. Chr.) im offiziellen Staatskult Athens verankert. Als Teil der Tragödie
sieht Nietzsche (in Anlehnung an Schiller) den Chor, funktional betrachtet, "als eine
leben-dige Mauer [..], die die Tragödie um sich herum zieht, um sich von der wirklichen
Welt rein abzuschliessen und sich ihren realen Boden und ihre poetische Freiheit zu
bewahren" (S.48). Als 'idealischer Zuschauer' (Schlegel) ist er nur dann zu verstehen,
wenn man davon ausgeht, daß "der vollkommne idealische Zuschauer die Welt der Scene
gar nicht aesthetisch, sondern leibhaft empirisch auf sich wirken lasse" (S.47f), da der
Chor "in den Gestalten der Bühne leibhaftige Existenzen zu er-kennen genötigt ist"
(S.47). Der tatsächliche Zuschauer, der 'griechische Culturmensch' wird vom Chor, "wie
der Lampenschein vom Tageslicht" (S.49) aufgehoben, da dieser "das Dasein
wahrhaftiger, wirklicher, voll-ständiger abbildet als der gemeinhin sich als einzige
Realität erachtende Culturmensch" (S.52). In einer rein dionysischen Verzückung, dem
Ein-heitsgefühl aber wäre ein lethargisches Element vorhanden: Die Kluft der
Vergessenheit scheidet die Alltagswirklichkeit von der dionysischen Wirklichkeit (Vgl.:
S.50). Diese Alltagswirklichkeit wird aber ausschließ-lich als ekelhaft empfunden und
macht den Menschen handlungsunfähig und daseinsverneinend. (Die dionysischen
Menschen "haben einmal ei-nen wahren Blick in das Wesen der Dinge getan, sie haben
erkannt, und es ekelt sie zu handeln; denn ihre Handlung kann nichts am Wesen der
Dinge ändern, sie empfinden es als lächerlich oder schmachvoll, dass ihnen zugemutet
wird, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder ein-zurichten. Die Erkenntnis tödtet das
Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion" (S.50f)). Insofern
bedarf es der Kunst als Rettung. Sie 'biegt' den Ekelgedanken durch den (apollinischen)
Schein um in Vorstellungen, mit denen der Mensch leben kann. "Die Tragödie ist die
Objektivierung des tragischen Erlebnisses im Drama" . Jetzt bändigt das Erhabene das
Entsetzliche, das Komische entlädt den Ekel des Absurden (Vgl.: S.51). Gemeint ist das
Zusammenspiel von Chor und den Schauspielern der Bühne. Auf der Bühne steht zunächst
nur Dionysos, wenn auch maskiert (Prometheus, Oedipus etc. als Mas-ken der Gottheit
Der Komplex des Mythos ... Das Dionysische und das Apollinische, Seite 11
Dionysos) (Vgl.:S.65f), der einen Dialog mit dem Chor ermöglicht. Später wird der zweite
Schauspieler eingeführt. Das drama-tische Urphänomen, nämlich "sich selbst vor sich
verwandelt zu sehen, und jetzt zu handeln, als ob man wirklich in einen anderen Leib, in
einen anderen Charakter eingengangen wäre" (S.55), wird durch die Synthese des
Apollischen (der tragische Held als Vision des Chores) und des Dionysischen (der Satyr-
Chor selbst, und durch ihn der 'verzückte' Hel-lene) möglich. "Die Verzauberung ist die
Voraussetzung aller dramati-schen Kunst. In dieser Verzauberung sieht sich der
dionysische Schwärmer als Satyr, und als Satyr wiederum schaut er den Gott, d.h. er sieht
in seiner Verwandlung eine neue Vision ausser sich, als apolli-nische Vollendung seines
Zustandes" (S.55). Repräsentant dieser Tra-gödie, die als dionysischer Chor zu verstehen
ist, der sich ständig neu in einer apollinischen Bilderwelt entlädt, ist Aischylos. Die
Tragödie des Aischylos ist "die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und
Wirkungen" (S.56). "Die Tragödie des Aeschylus hebt das Lastende des menschlichen
Leids auf durch die Einsicht in das göttliche Schick-sal" . Der metaphysische Trost und
die Aktivität, die durch den Schein gewonnene Befähigung zur Handlung, stehen im
Vordergrund. Das Resul-tat ist die 'griechische Heiterkeit', eine Heiterkeit, die nur durch
das tragische Erlebnis und den metaphysischen Trost entstehen kann. Diese Heiterkeit
befähigt zur Handlung, für den heiteren Hellenen ist das Dasein (des Individuums) zwar
vergeblich, aber dennoch ist das Leben (der Wille, das Ur-Eine) unzerstörbar und lustvoll.
Die Tragödie des Sophokles (ca 450 v.Chr.) büßt im Vergleich zur aischyleischen schon an
dionysischer Bedeutung ein. Der Chor er-scheint bereits "als etwas Zufälliges, als eine
auch wohl zu missende Reminiscenz an den Ursprung der Tragödie" (S.89). Durch den
Verlust der Bedeutung des Chores schlägt die griechische Heiterkeit, wie sie eben
erläutert wurde, um in eine überlegene, überirdische Heiterkeit, "die aus göttlicher
Sphäre herniederkommt und uns andeutet, dass der Held in seinem rein passiven
Verhalten seine höchste Activität erlangt" (S.60). Die sophokleische 'Glorie der Passivität'
(Bsp.: Oedipus) steht der aischyleischen 'Glorie der Aktivität' und der Idee einer über
Göttern und Menschen thronenden Gerechtigkeit (in der Schicksalsgöttin Moira
personifiziert) gegenüber. Charakterdarstellungen und "psychologische Raffinements"
(S.108) werden häufig, "der Charakter soll sich nicht mehr zum ewigen Typus [nämlich zu
Dionysos, Anm.d.Verf.] erweitern lassen" (S.108). Die Bewunderung der naturalistischen,
'echten' Abbil-dung verdrängt bereits die mythische Empfindung des Zuschauers. Auch
die Vorstellung, Sophokles "thue das Rechte und zwar, weil er wisse, was das Rechte sei"
(S.83), hebt ihn (in einer negativen Wer-tung) von Aischylos ab, der "aus Instinct"
(S.83), oder vielmehr aus dionysischer Erkenntnis, nicht aus einem sicheren Wissen
dichtete.
Der Komplex des Mythos ... Das Dionysische und das Apollinische, Seite 12
Vollkommen zerstört (oder, um mit Nietzsche zu sprechen, in den Selbstmord getrieben)
wird die Tragödie durch das Einwirken des So-kratischen. Sokrates der 'erste theoretische
Mensch', vernichtet den Mythos und mit ihm verschwindet aus der Kunst das Dionysische,
ebenso wie das Apollinische. Der Sokratismus ist eine neue Strategie der
Lebensbewältigung: Ohne Mythos ist eine universale Welterklärung nicht länger möglich,
der Mensch hat die unmittelbar sinnliche Einstellung zur Wirklichkeit verloren, er kann
die Wirklichkeit nur noch als das der Theorie zugängliche abstrakte Objekt analysieren.
Der theoretische Mensch unterliegt dem Wahn der Wissenschaft, die Welt rational
erklären zu können und glaubt "an eine Correctur der Welt durch das Wissen, an ein
durch die Wissenschaft geleitetes Leben" (S.110), das "wirklich im Stande ist, den
einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren Aufgaben zu bannen"
(S.110). So spendet auch die Wissenschaft Trost nach dem Erkennen der Paradoxie des
Lebens. Moral und Kunst werden an Wissen geheftet, beides ist erlernbar ("nur der
Wissende ist tugendhaft", "alles muss verständig sein, um schön zu sein" (aesthetischer
Sokratismus), (S.79)).
In diesem Sinne begründet Euripides als sokratischer Mensch die neuere attische
Komödie (ca.400 v.Chr.), er bringt den Zuschauer auf die Bühne, d.h. "der Mensch des
alltäglichen Lebens drang durch ihn aus den Zuschauerräumen auf die Scene" (S.70).
Allerdings zeichnet Euripides nicht mehr ganze Charaktere, son-dern "nur noch grosse
einzelne Charakterzüge, die sich in heftigen Lei-denschaften zu äussern wissen; in der
neuern attischen Komödie giebt es nur noch Masken mit einem Ausdruck, [...] in
unermüdlicher Wieder-holung" (S.108). Diese Tatsache der Alltäglichkeit des
Dargestellten, die Verdrängung des Mythos macht das tragische Urphänomen (s.o.) un-
möglich, das dionysische Element wird vernichtet, "der Hellene [hatte] den Glauben an
seine Unsterblichkeit aufgegeben, nicht nur den Glau-ben an eine ideale Vergangenheit,
sondern auch den Glauben an eine ideale Zukunft" (S.72), "der deus ex machina ist an
die Stelle des meta-physischen Trostes getreten" (S.109). Glück und Unglück werden
'gerechter', d.h. menschlicher verteilt und unterstehen nicht mehr der unberechenbaren,
bedingungslosen, göttlichen Gerechtigkeit (Moira). Trotzdem muß "eine Gottheit [..]
häufig den Verlauf der Tragödie dem Publicum gewissermaassen garantieren und jeden
Zweifel an der Reali-tät des Mythus nehmen" (S.80). Die 'griechische Heiterkeit' wird ver-
kehrt in verantwortungslose und nichts erstrebende Leichtigkeit und Gegenwärtigkeit.
Nietzsche gilt die euipideische Komödie als dramati-siertes Epos, in dem die tragische
Wirkung verfehlt wird. Nun ist dem Menschen seine Handlungsmotivation vollkommen
genommen: "zum Pathos, nicht zur Handlung bereitete Alles vor" (S.80).
Der Komplex des Mythos ... Das Dionysische und das Apollinische, Seite 13
Hier werden die (gattungs-)geschichtlichen Betrachtungen brüchig. Der Sokratismus und
das Christentum werden als Strategien der Lebensbewältigung thematisiert, aber negativ,
nämlich als unkünstlerisch, hemmend gewertet. Der platonische Dialog (ca.350 v.Chr.)
wird noch erwähnt und als "unendlich gesteigerte aesopische Fabel" (S.88), als Vorbild
für den Roman be-zeichnet, wobei Plato bestrebt war, "über die Wirklichkeit hinaus zu
gehn und die jener Pseudo-Wirklichkeit zu Grunde liegende Idee darzu-stellen" (S.87),
was der dionysischen Dichtung ähnlicher sei, als dem Sokratismus.
Die Einreihung der Oper in diese Gattungsgeschichte soll hier nicht thematisiert werden.
Der Komplex des Mythos ... Der Komplex des Mythos bei Nietzsche, Seite 14
4. Der Komplex des Mythos bei Nietzsche
Der Begriff des Mythos ist im Verständnis Nietzsches das umfassende Ganze, auf dem die
Kunst in ihren beiden Grundtrieben basiert. Er ent-zieht sich den starren Schematismen
der Begriffe. Eine 'grenzenlose Unsicherheit' in der Definition des Mythos macht gerade
sein Wesen aus, in ihm wird Buntheit, verwirrende Vielfalt, Unregelmäßigkeit und
Widersprüchlichkeit verteidigt. Er ist ewig neu und folgenlos unzusam-menhängend.
Diese Unspezifiziertheit, die Weite des Begriffs umfaßt die eigentlichen Mythen sowie die
Ideologien bzw. das vorwissen-schaftliche Bewußtsein. Das Grundproblem der
Thematisierung des Mythoskomplexes bei Nietzsche ergibt sich aus dessen Überzeugung,
daß Sprache überhaupt eine ungeeignete Ausdrucksform des Mythos ist ("Sie hätte
singen sollen, diese 'neue Seele' - und nicht reden!" ), daß sie ungenau, vage,
verschwommen bleiben muß. Nicht Worte und Begriffe sind sinnkonstituierend, sondern
das "Anschauen und Üeberschauen des Ganzen" (S.104), was in den Grenzen der Sprache
nicht möglich ist. Der Mythos "bedient sich daher anderer Ausdrucksformen: der Musik,
des Tanzes und der Symbole, die im Menschen statt logischer Operationen physiologische
Erregtheit und traumverwandte Assoziationen hervorrufen" . Im Mythos drücken die
Griechen "die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunstanschauung zwar nicht in Begriffen,
aber in den eindringlich deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt" (S.19) aus. Der Mythos ist
also stets in Bildern, nicht in Worten zu verstehen. Er hebt Bestimmungen und Grenzen
zwischen Rationalität und Irrationalität, zwischen Gut und Böse, Schön und Häß-lich auf
und erreicht so eine (zu erstrebende und offenzuhaltende) To-talität, die alle Gegensätze
duldet. Der Mythos des Ur-Einen bezeugt diesem die Coincidentia Oppositorum: Es ist
"das Bunte und das Eintö-nige, die Freude und der Schmerz, die Vernunft und der Unsinn
in eins" .
Nietzsches Mythosverständnis schließt sich an das der Romantik, vor allem aber an das
Creuzers und Schopenhauers an. Die Romantik glaubte, im Mythos läge "das allertiefste
Verständnis der Welt [...], das sich nur der Form, aber nicht dem Wesen nach von dem
unterscheide, was die aufgeklärte Vernunft zu bergen beabsichtigte" . Diese Ver-
wandtschaft gesteht Nietzsche in bezug auf die Lebensdienlichkeit ein, so "daß beide
Weisen der Vernünftigkeit, die wissenschaftliche und die mythische, unverzichtbar wären
zur Wirklichkeitsbewältigung" . Auch Creuzers Vorstellung, "der Mythos bringe das
Göttliche einer höchsten Idee zur unmittelbaren Anschauung" , steht bei Nietzsche im
Hinter-grund. Schopenhauers Auffassung, im Mythos bekunde sich ein dem Menschen
naturwüchsig anhangendes metaphysisches Bedürfnis, findet sich bei Nietzsche in
Der Komplex des Mythos ... Der Komplex des Mythos bei Nietzsche, Seite 15
verwandelter Form wieder, nämlich in dem Be-dürfnis der Verstellung, der Verschleierung
durch den Schein:
Demnach erwachsen Mythen "der Notdurft, dem Unerklärlichen Namen und Geschichten
zu geben" , d.h.: in der Mythenbildung wird Unbe-kanntes durch einen ästhetischen Akt
zu Bekanntem. Voraussetzung für Mythos überhaupt und gleichzeitig die Basis
griechischer Kunst ist der Schrecken und die Vernichtungslust des Dionysischen, des
Willens. Die Verstellung gilt als einzige Selbsterhaltungswaffe des Menschen. Durch
Metaphern und Veranschaulichungen ist eine Distanzierung erst mög-lich. "Die Metapher
ist für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Fi-gur, sondern ein stellvertretendes
Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt" (S.54). Das
Symbolverstehen ist verändert: Ein Symbol steht nicht für etwas, erklärt nicht, warum
etwas geschieht, sondern es ist dieses Etwas. Dieses Denken, so Nietzsche, ist das
typisch griechische: es schließt eine Trennung zwischen Subjekt (Mensch) und Objekt
(Welt) aus. Der Mensch steht als Subjekt nicht der Welt als Objekt gegenüber, sondern
erfährt die Welt und sich ganzheitlich. Insofern gibt die Ordnung und das Leben der
olympischen Götterwelt die Möglichkeit, das Unerklärliche erklärbar zu machen, den
Schrecken zu verschleiern und das menschliche Da-sein zu rechtfertigen (Vgl. S.29), d.h.:
der Mythos projiziert sich "in die-sen hellen Spiegelungen" (S.59), also an der Oberfläche
(die Tragödie betreffend: auf der Bühne, nämlich im Charakter und den Handlungen des
Helden). Diese Spiegelungen sind notwendige Erzeugungen des Blickes ins Innere / in
den Abgrund. Insofern ist Mythos immer mehr als nur Dichtung, er schließt diesen Blick
in den Abgrund mit ein (Vgl. S.60). Da die Tragödie Ausdruck des Mythos ist, durch
welche er zu seinem tiefsten Inhalt kommt (Vgl. S.68), ist sie "als die Rechtfertigung des
menschlichen Uebels, und zwar sowohl der menschlichen Schuld als des dadurch
verwirkten Leidens" (S.63) zu verstehen. Mythos fungiert also als Symbolik dionysischer
Erkenntnis, als "Vehikel dionysischer Weisheit" (S.67).
Der Zusammenhang zwischen Mythos und Musik ist vor diesem Hinter-grund gesondert zu
betrachten, da er das Mythosverständnis Nietzsches besonders verdeutlicht.. Die Musik,
"die Melodie ist [..] das Erste und Allgemeine" (S.42). "Die erscheinende Welt, oder die
Natur, und die Musik [sind] als zwei verschiedene Ausdrücke derselben Sache" (S.99) zu
verstehen. Die Musik ist die allgemeinste Sprache, verkörper-te Welt, bzw. verkörperter
Wille, d.h. der Kern der Dinge. Sie ist "jener bild- und begrifflose Wiederschein des
Urschmerzes" (S.38), "die Musik ist die eigentliche Idee der Welt" (S.133).
Die Sprache kann der Musik nicht beikommen, weil die Musik "eine Sphäre symbolisiert,
die über alle Erscheinung und vor aller Erschei-nung ist. Ihr gegenüber ist vielmehr jede
Der Komplex des Mythos ... Der Komplex des Mythos bei Nietzsche, Seite 16
Erscheinung nur Gleichniss: daher kann die Sprache, als Organ und Symbol der
Erscheinungen, nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach Aussen kehren,
sondern bleibt immer [...] nur in einer äusserlichen Berührung mit der Musik" (S.45). Die
Sprache kann also entweder die Erscheinungs- und Bilder-welt oder die Musik
nachahmen, nicht aber deren vollkommene Allge-meinheit und Allgültigkeit in sich
ausdrücken. Die Musik ist Abbild des Willens, das Wort aber immer Abbild der
Erscheinung, sie ist also "zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller
Erscheinung das Ding an sich" (S.98). "Die Begriffe sind die universalia post rem, die
Musik aber giebt die universalia ante rem, und die Wirklichkeit die uni-versalia in re"
(S.101). Insofern zwingt die Musik den Menschen, "mehr und innerlicher als sonst zu
sehen" (S.133). Die Musik ist es nun, die den Mythos gebärt, sie ist die "eigentlich
dionysische Weisheit" (S.102), die unmittelbare Idee des Lebens, von der der Mythos in
Gleichnissen redet, er will "als ein einziges Exempel einer in's Unendliche hinein star-
renden Allgemeinheit und Wahrheit anschaulich empfunden werden" (S.107). Der Mythos
findet also keine adäquate Objektivation im Wort, sondern in der Musik, dem Wortdichter
kann "die höchste Vergeistigung und Idealität des Mythus" (S.104) nicht gelingen, dem
Musiker wohl, da die Musik den Mythos erst möglich macht. Den höchsten Ausdruck der
dionysischen Erkenntnisse und Weisheit findet die Musik durch den Mythos in der
Tragödie. Der Zusammenhang zwischen Musik, Mythos und der Tragödie definiert
Nietzsche wie folgt: "Die Tragödie saugt den höchsten Musikorgiasmus in sich hinein, so
dass sie [..] die Musik [...] zur Vollendung bringt, stellt dann aber den tragischen Mythus
und den tragischen Helden daneben, der dann [...] die ganze dionysische Welt auf seinen
Rücken nimmt und uns davon entlastet" (S.129), d.h. der Mythos erlöst den Menschen
(durch den Helden) vom Daseinsdrang, erinnert an "ein anderes Sein" (S.129), nämlich
an das dionysische Sein im Ur-Einen. Der Mythos steht als Gleichnis ("der
alleruniversalsten Tatasachen" (S.131)) zwischen der universalen Geltung der Musik und
dem dionysisch empfänglichen Zuschauer. Der Mythos schützt den Menschen vor dieser
Universalität der Musik, gibt ihr aber gleichzeitig die höchste Freiheit. Umgekehrt kann
nur die Musik dem Mythos seine metaphysische Bedeutsamkeit geben, nicht das Wort
oder das Bild. Somit rettet der Mythos vor dem unmittelbaren Anschauen der höchsten
Weltidee (das Wort rettet vor dem unbewußten Willen, das Mitleiden mit dem Helden
rettet vor dem Urleiden). Diese apollinische Täuschung er-zeugt erst eine Wirkung des
Dramas, welches als Abglanz der Musik, als Abglanz der Weltidee selbst zu verstehen ist.
Aber: "In der Ge-sammtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysische wieder das Über-
gewicht" (S.134). Letztendlich redet das Drama mit dionysischer Weis-heit und verneint
sich selbst und seine apollinische Sichtbarkeit. "Dionysus redet die Sprache des Apollo,
Der Komplex des Mythos ... Der Komplex des Mythos bei Nietzsche, Seite 17
Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus" (S.135), "der tragische Mythus ist nur
zu verste-hen als eine Verbildlichung dionysischer Weisheit durch apollinische
Kunstmittel" (S.136). Urvater von Musik und Mythos bleibt "das Dionysi-sche, mit seiner
selbst am Schmerz percipirten Urlust" (S.148), "Musik und Mythus sind in gleicher Weise
Ausdruck der dionysischen Befähi-gung eines Volkes und voneinander unterennbar"
(S.150)
Nietzsche spricht dem Menschen einen mythenbildenden Instinkt zu (der "Urbegierde
nach dem Schein" (S.33) entwachsend), der die Kom-pensation von Versagungen,
Schwächen und Ängsten ermöglicht.
Der Metapherntrieb sei menschlicher Fundamentaltrieb : "In der Ver-deckung und
Verstellung der Natur depotenziert der Mythos das Grauen des Menschen vor dem Anderen
und erreicht durch die anthropo- und theomorphe Steigerung des Fremden Vertrautheit
im Schein" . Die pri-märe funktionale Bedeutung des Mythos (wie auch des
wissenschaftli-chen Denkens oder der christlichen Religion) ist also die
Lebensdienlichkeit. Als Daseinsbewältigung entwerfen Mythen "das zusammengezogene
Weltbild" (S.140), der My-thos ist die "Abbreviatur der Erscheinung" (S.140), die
Zügelung der Phantasie und der Kräfte des apollinischen Traumes, d.h. durch ihn sollen
Systeme herausgearbeitet werden, die das Leben durch Verkür-zung, Verdichtung und
Möglichkeiten der Einordnung erleichtern, Systeme, die selber vorrationale Setzungen
haben, auf denen aber das alltägliche Meinen und das wissenschaftliche Argumentieren
basiert. Den Mythos kann allerdings nur verstehen, wer empfindet. Insofern ist der
Mythos als Zeichensystem zu verstehen, das lebensfunktionalen Charakter hat: Emotionen
und Wahrnehmungen werden symbo-lisch/sprachlich transformiert und objektiviert (vgl.
die 'subversion du sujet' nach Lacan), so daß sie klassifizierbar werden. Hier ist auch die
Verwandtschaft von Mythos und Wissenschaft zu erkennen: Beides macht das Dasein
begreiflich, rechtfertigt es, wobei der Mythos als Kon-sequenz, sogar Absicht der
Wissenschaft gilt, da diese an ihre Grenzen stoßen muß (Vgl. S.93f, S.106).
Als solcher ist der Mythos stets Ausdruck der Lebensbedingungen einer bestimmten
Lebensgruppe; als 'überhistorische Sinngebungen' sind Mythen Produkte des
künstlerischen Spiels, nicht aber Manifestationen ewiger (religiöser oder philosophischer)
Wahrheit. Zwar ist es das Wesen des Mythos, "allmählich in die Enge einer angeblich
historischen Wirklichkeit hineinzukriechen und von irgend einer späteren Zeit als
einmaliges Factum mit historischen Ansprüchen behandelt zu werden" (S.68), aber
gerade der Versuch, den Mythos glaubwürdig und beweis-bar zu machen, verhindert das
Weiterleben desselben. An die Stelle ei-nes Gefühls für den Mythos tritt der Anspruch der
Der Komplex des Mythos ... Der Komplex des Mythos bei Nietzsche, Seite 18
Religion auf histori-sche Grundlagen (Vgl. S.68). Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt ist
also sekundär, wie auch der transzendentale Sinn von Mythen.
Wichtig ist bei Nietzsche die Anwendbarkeit von Mythen, die Möglich-keit,
Deutungsmuster für die Gegenwart aus historischen Konstellatio-nen zu gewinnen. Zwar
sind Mythen partikulare, lokale Erzeugnisse handelnder Menschen, sie dienen aber als
regulative Fiktionen, deren Wirkungspotential von den Machtverhältnissen innerhalb
einer spezifi-schen Kultur abhängt. Als potentielles Regulativ muß der Mythos sich den
Bedingungen der Moderne unterwerfen, ist also veränderlich (Vgl. S.67). Daher ist der
Mythos nicht kreisschlüssig, sondern bipolar struk-turiert, er knüpft ein Vorhandenes an
ein einmalig in der Vergangenheit liegendes Geschehnis. Geschichtsphilosophisch
bedeutet das, daß Mythen die Vergangenheit interpretieren, nicht wiedergeben wollen
(Vgl. S.34). Hier liegt die (von den Griechen wahrgenommene) Möglichkeit, "alles Erlebte
sofort an [..] Mythen anzuknüpfen, ja es nur durch diese Anknüpfung zu begreifen"
(S.143). Mythos hat also geschichtlichen Charakter, leistet aber auch
erkenntnistheoretische und ethische Dienste.
Mit dem Untergang der Tragödie geht auch der Mythos unter. Während vorher "die Kunst
und das Volk, Mythus und Sitte, Tragödie und Staat, in ihren Fundamenten verwachsen"
(S.142f) waren, ist nun alles unzu-sammenhängend, zerstückelt. Insofern schließt der
Mythos eine Kultur-bewegung erst zur Einheit ab, ohne ihn verliert diese Kulur ihre
"schöpferische Naturkraft" (S.140)
Dieses Phänomen drückt sich in dem im Mittelpunkt der GdT stehenden Zagreus-Mythos
aus: Der Zustand der Individua-tion soll als "Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas
an sich Ver-werfliches" (S.66) verstanden werden. Die Utopie des Ende der Indivi-duation
ist versinnbildlicht im Mythos der Wiedergeburt des Dionysos durch Demeter. Diese
Wiedergeburt wird notwendig, wenn der Mythos keine lebendige Wirklichkeit mehr ist,
also in einer Gesellschaft, in der die Beherrschung der Natur, die Entmythologisierung
der Welt und die Entmythologisierung des Mythos selbst (im Sinne des Beweisbar- und
Glaubwürdigmachens des Mythos) vollends gelungen ist. Aufgabe des Mythos ist es, eine
Verbindung von Wissen und Leben zu ermöglichen; die Forderung nach Remythisierung
entsteht also aus der Auflösung dieser Verbindung, aus der Orientierungslosigkeit und
Handlungsunfä-higkeit des Menschen. Nietzsche entwirft ein utopisches Konzept unter
der Schirmherrschaft des 'musiktreibenden Sokrates': Die Möglichkeit der Remythisierung,
der Wiedergeburt des Mythos kann nur in der Mu-sik liegen. "Nachdem der Geist der
Wissenschaft bis an seine Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf universale Gültigkeit
durch den Nachweis jener Grenzen vernichtet ist, dürfte auf eine Wiedergeburt der
Der Komplex des Mythos ... Der Komplex des Mythos bei Nietzsche, Seite 19
Tragödie zu hoffen sein" (S.105f). Diese Wiedergeburt der Tragödie schließt die
Wiedergeburt des Dionysischen und des Mythos ein.
Die Wiederherstellung mythischen Denkens wird als ästhetisches Pro-gramm verfolgt, die
Wirklichkeit soll poetisiert werden (Vgl.: Romantik). Dies ist nur in der Kunst möglich,
die auf die Narration, auf Mythen, nicht verzichten kann (Vgl. S.140ff).
Mythos ist für Nietzsche nicht nur ästhetische Norm oder gar nur ein un-erreichtes
Muster bürgerlicher Kunst, sondern der Ausdruck einer wie-derzugewinnenen
Weltbetrachtung.
Der Komplex des Mythos ... Schlußbetrachtungen, Seite 20
5. Schlußbetrachtungen
Die Beschäftigung mit der 'Geburt der Tragödie' unter wissenschaftlichen
Voraussetzungen erweist sich als äußerst heikel und schwierig. Nietzsche stellt uns ein
Konzept vor, das die Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen als einzigen
Begründungszusammenhang für metaphysische, psychologische, kunst- und
musiktheoretische und kulturelle Fragestellungen statuiert. Dies gibt meiner Meinung
nach, trotz aller Offenheit und Flexibilität, ein eingeschränktes Bild von der Welt und
dem Leben des Menschen. Zusätzlich erschwert die nicht-lineare Argumentation
Nietzsches, sowie sein, bezüglich der Textsorte vermischendes, Schreiben (als Poet? als
Philosoph? als Historiker? als Philologe? etc.) ein analytisches Umgehen mit dem Text.
Obwohl dei 'Geburt der Tragödie' ein interessantes Weltbild entwirft und viele Bereiche
des menschlichen Daseins thematisiert, ist es meiner Meinung nach weniger als
philosophische oder wissenschaftliche Schrift zu lesen; zu viele Widersprüche werden
deutlich, die Historizität bleibt völlig ungeprüft, es fehlen Belege. Als poetisierter,
philosophischer 'Versuch' wird das Buch, gerade wenn man seine Auswirkungen auf das
fin de siècle betrachtet, um ein vielfaches spannender.
Der Komplex des Mythos ... Anhang, Seite 21
6. Anhang
6.1 SCHAUBILDER
6.1.1 Das Apollinische und das Dionysische (zu Kapitel 3) Das Apollinische
(der apollinische Traumkünstler) Das Dionysische
(der dionysische Rauschkünst-ler) Licht, Erscheinung (nach Scho-penhauer) Wille (nach Schopenhauer), Irre-werden an
der Erscheinung, Grausen Bilderwelt des Traumes (Scheines) (Anschauung, Vollkommenheit, Unabhängigkeit vom Intellekt des Einzelnen)
Rauschvolle Wirklichkeit ("Vernichtung des Individuums", "mystische Einheitsempfindung")
Phantasie, Individualität Selbstvergessenheit, Selbstentäußerung, Einssein, "Bund zwischen Mensch und Mensch", "Bund zwischen Mensch und Tier"
principium individuationis (Vergöttlichung der Individuation)
Zerbrechen des p.i., mystisches Einheitserlebnis "Seufzen über die Zerstückelung in Individuen"
Maß (als Imperativ), Begrenzung, "weiheitsvolle Ruhe des Bildnergottes"
Unmäßigkeit, Übermaß als Wahrheit
Mensch als Künstler, Nachahmer der Natur Mensch als Kunstwerk "Kunst des Bildners" "Unbildlichkeit der Musik" "edle Einfalt, stille Größe", "Naivität" Erfahrung der Doppelheit dionysi-scher
Affekte nicht Askese, Geistigkeit, Pflicht, sondern Triumph, Vergöttlichung von Gutem und Bösen
Optimismus Pessimismus Rhythmus, Kithara Melos, Flöte Epik Lyrik Homer Archilochus dramatischer Dialog Chor usw. usw.
Die Synthese (der Rausch- und Traumkünstler der Tragödie)
Offenbarung der Einheit mit dem "innersten Grunde der Welt" in einem gleichnishaften (apollinischem) Traumbild
6.2 LITERATURVERZEICHNIS BAUSCHINGER, Sigrid / COCALIS, Susan L. / LENNOX, Sara: Nietzsche Heute. Die Rezeption seines Werkes
nach 1968. Bern/Stuttgart 1988. BOHRER, Karl Heinz (Hrsg.): Mythos und Moderne. Frankfurt a.M. 1983. DEUTSCHER TASCHENBUCH VERLAG (Hrsg.): dtv-Lexikon in 20 Bänden. Mannheim/München 1990. FINK, Eugen: Nietzsches Philosophie. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1979 (4.Auflage). FRANK, Manfred: Der kommende Gott. Vorlesungen über die neue Mythologie. Frankfurt a.M. 1982. GÖRGEMANNS; Herwig (Hrsg.): Die griechi-sche Literatur in Text und Darstellung. Bd. 2: Klassische Periode
I. 5. Jahrhundert v. Chr. Stuttgart 1986 (Reclam).
Der Komplex des Mythos ... Anhang, Seite 22
GRANT, Michael / HAZEL, John (Hrsg.): Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. München 1993 (9.Auflage).
KOOPMANN, Helmut (Hrsg.): Mythos und Mythologie. Frankfurt a.M. 1979. LANGE, Wolfgang: Tod ist bei den Göttern immer nur ein Vorurteil. Zum Komplex des Mythos bei Nietzsche.
In: Bohrer, Karl Heinz (Hrsg.): Mythos und Moderne. Frankfurt a.M. 1983. MARCUSE, Ludwig: Die Welt der Tragödie. Berlin 1923. NIETZSCHE, Friedrich: Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus. Stuttgart 1993
(Reclam). PLUMPE: Ästhetische Kommunikation der Moderne, Bd. 2: Von Nietzsche bis zur Gegenwart. Opladen 1990. POSER, Hans (Hrsg.): Philosophie und Mythos - ein Kolloquium. Berlin 1979. PÜTZ, Peter: Der Mythos bei Nietzsche. In: Koopmann, Helmut (Hrsg.): Mythos und Mythologie. Frankfurt
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Bauschinger, S. / Cocalis, S.L. / Lennox, S.: Nietzsche Heute. Die Rezeption seines Werkes nach 1968. Bern / Stuttgart 1988.
VOGEL, Martin: Appolinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums. Regensburg 1966.