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themenschwerpunkt 536 Demenz in Deutschland – Ergebnisse eines interdisziplinären Expertenworkshops 1 3 Zusammenfassung Die Demenz in ihren verschiede- nen Formen und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft sind komplex. Daher erfordern sinnvolle Lösungsansätze Interdisziplinarität. Das Ziel des zweitägigen interdis- ziplinären Expertenworkshops war es, die Demenz aus unterschiedlichen Perspektiven in ihrer Komplexität zu betrachten, Probleme zu identifizieren und integrative Lösungsansätze auch unter Berücksichtigung komple- mentärmedizinischer erapien zu diskutieren. In paral- lelen Arbeitsgruppen wurden Lösungsansätze und Emp- fehlungen 1.) zu politischen Notwendigkeiten, 2.) zur Versorgung und 3.) zu zukünftigen Forschungsthemen erarbeitet und in einem Delphiverfahren abgestimmt. Die vorliegenden Empfehlungen zeichnen sich durch die breite Interdisziplinarität der Teilnehmer aus. Das Zusammenführen der Expertise aus den unterschied- Prof. Dr. med. C. M. Witt () · S. Blödt · B. Brinkhaus · M. Teut Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Luisenstr. 57, 10117 Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Kuhlmey Institut für Medizinische Soziologie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland S. Bartholomeyczik Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), Standort Witten und Fakultät für Gesundheit (Department für Pflegewissenschaft), Universität Witten/Herdecke, Witten, Deutschland C. Behl Institut für Pathobiochemie, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg - Universität Mainz, Mainz, Deutschland F. Betsch · M. Frühwald · D. Schimpf Karl und Veronica Carstens-Stiftung, Essen, Deutschland I. Füsgen Geriatrische Kliniken St. Elisabeth Krankenhaus, Fakultät für Gesundheit (Department für Humanmedizin), Velbert-Neviges, Lehrstuhl für Geriatrie, Universität Witten/Herdecke, Witten, Deutschland S. Jansen Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz, Berlin, Deutschland Eingegangen: 13. August 2013 / Angenommen: 6. November 2013 / Online publiziert: 22. November 2013 © Springer-Verlag Wien 2013 Wien Med Wochenschr (2013) 163:536–540 DOI 10.1007/s10354-013-0252-y Demenz in Deutschland – Ergebnisse eines interdisziplinären Expertenworkshops Susanne Blödt · Adelheid Kuhlmey · Sabine Bartholomeyczik · Christian Behl · Frederik Betsch · Benno Brinkhaus · Maria Frühwald · Ingo Füsgen · Sabine Jansen · Claus Köppel · Eckhard Krüger · Marilen Macher · Andreas Michalsen · Michael A. Rapp · Matthias W. Riepe · Dorothea Schimpf · Michael Teut · Britta Warme · Albrecht Warning · Johannes Wilkens · Claudia M. Witt C. Köppel Vivantes Wenckebach, Geriatrie – Zentrum für Altersmedizin, Berlin, Deutschland E. Krüger · J. Wilkens Alexander von Humboldt Klinik, Geriatrisches Rehabilitationszentrum Bad Steben, Bad Steben, Deutschland M. Macher Deutsches Stiftungszentrum, Essen, Deutschland A. Michalsen Abteilung Naturheilkunde, Immanuel-Krankenhaus Berlin, Berlin, Deutschland M. A. Rapp Sozial- und Präventivmedizin, Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland M. W. Riepe Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Sektion Gerontopsychiatrie, Universität Ulm, Ulm, Deutschland B. Warme eodor-Wenzel-Werke e.V., Berlin, Deutschland B. Warme eodor-Wenzel-Werke e.V. Berlin und Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft, Berlin, Deutschland A. Warning Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Alfter bei Bonn, Deutschland

Demenz in Deutschland – Ergebnisse eines interdisziplinären Expertenworkshops; Dementia in Germany: Results of an interdisciplinary expert workshop;

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536 Demenz in Deutschland – Ergebnisse eines interdisziplinären Expertenworkshops 1 3

Zusammenfassung Die Demenz in ihren verschiede-nen Formen und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft sind komplex. Daher erfordern sinnvolle Lösungsansätze Interdisziplinarität. Das Ziel des zweitägigen interdis-ziplinären Expertenworkshops war es, die Demenz aus unterschiedlichen Perspektiven in ihrer Komplexität zu betrachten, Probleme zu identifizieren und integrative Lösungsansätze auch unter Berücksichtigung komple-

mentärmedizinischer Therapien zu diskutieren. In paral-lelen Arbeitsgruppen wurden Lösungsansätze und Emp-fehlungen 1.) zu politischen Notwendigkeiten, 2.) zur Versorgung und 3.) zu zukünftigen Forschungsthemen erarbeitet und in einem Delphiverfahren abgestimmt. Die vorliegenden Empfehlungen zeichnen sich durch die breite Interdisziplinarität der Teilnehmer aus. Das Zusammenführen der Expertise aus den unterschied-

Prof. Dr. med. C. M. Witt () · S. Blödt · B. Brinkhaus · M. Teut Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie,Charité - Universitätsmedizin Berlin, Luisenstr. 57, 10117 Berlin, DeutschlandE-Mail: [email protected]

A. KuhlmeyInstitut für Medizinische Soziologie,Charité - Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland

S. BartholomeyczikDeutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), Standort Witten und Fakultät für Gesundheit (Department für Pflegewissenschaft), Universität Witten/Herdecke, Witten, Deutschland

C. BehlInstitut für Pathobiochemie,Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg - Universität Mainz, Mainz, Deutschland

F. Betsch · M. Frühwald · D. SchimpfKarl und Veronica Carstens-Stiftung, Essen, Deutschland

I. FüsgenGeriatrische Kliniken St. Elisabeth Krankenhaus, Fakultät für Gesundheit (Department für Humanmedizin), Velbert-Neviges, Lehrstuhl für Geriatrie, Universität Witten/Herdecke, Witten, Deutschland

S. JansenDeutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz, Berlin, Deutschland

Eingegangen: 13. August 2013 / Angenommen: 6. November 2013 / Online publiziert: 22. November 2013© Springer-Verlag Wien 2013

Wien Med Wochenschr (2013) 163:536–540DOI 10.1007/s10354-013-0252-y

Demenz in Deutschland – Ergebnisse eines interdisziplinären Expertenworkshops

Susanne Blödt · Adelheid Kuhlmey · Sabine Bartholomeyczik · Christian Behl · Frederik Betsch · Benno Brinkhaus · Maria Frühwald · Ingo Füsgen · Sabine Jansen · Claus Köppel · Eckhard Krüger · Marilen Macher · Andreas Michalsen · Michael A. Rapp · Matthias W. Riepe · Dorothea Schimpf · Michael Teut · Britta Warme · Albrecht Warning · Johannes Wilkens · Claudia M. Witt

C. KöppelVivantes Wenckebach, Geriatrie – Zentrum für Altersmedizin, Berlin, Deutschland

E. Krüger · J. WilkensAlexander von Humboldt Klinik, Geriatrisches Rehabilitationszentrum Bad Steben, Bad Steben, Deutschland

M. MacherDeutsches Stiftungszentrum, Essen, Deutschland

A. MichalsenAbteilung Naturheilkunde,Immanuel-Krankenhaus Berlin, Berlin, Deutschland

M. A. RappSozial- und Präventivmedizin,Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland

M. W. RiepeKlinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Sektion Gerontopsychiatrie, Universität Ulm, Ulm, Deutschland

B. WarmeTheodor-Wenzel-Werke e.V., Berlin, Deutschland

B. WarmeTheodor-Wenzel-Werke e.V. Berlin und Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft, Berlin, Deutschland

A. WarningAlanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Alfter bei Bonn, Deutschland

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lichen Fachbereichen ermöglicht ein umfassendes Bild über die Demenz in Deutschland.

Schlüsselwörter Demenz  · interdisziplinäre Exper-tenworkshops  · Empfehlungen  · Versorgungsmodelle  · Forschung

Dementia in Germany: results of an interdisciplinary expert workshop

Summary In the aging population of Germany the con-sequences of Dementia for the society and the health care sector are complex and solutions require a multi-disciplinary approach. The aim of the two-day interdis-ciplinary expert conference was to consider dementia from different perspectives, to identify dementia-related problems and to discuss integrative solutions under consideration of complementary therapies. In different working groups the experts developed solutions and rec-ommendations with regards to political need, health care and future research priorities. The present recommen-dations profited very much from the interdisciplinary participants of the conference and brought together the expertise of different fields resulting in a comprehensive picture about dementia in Germany.

Keywords Dementia  · Interdisciplinary expert work-shops  · Recommendations  · Health care models  · Research

Demenz in Deutschland

Der demografische Wandel in Deutschland führt zu einer stetigen Zunahme an älteren Menschen und damit an altersassoziierten Erkrankungen. Leben heute 1,4  Mio. Menschen mit einer Demenz in Deutschland, so wird sich die Zahl bis 2050 mehr als verdoppeln [1] und jeder siebte Bewohner der Bundesrepublik Deutschland wird 80 Jahre oder älter sein [2]. Die demographische Ent-wicklung wird direkte Auswirkungen auf die Versorgung von Menschen mit Demenz und auf die Finanzierung der Versorgung haben. Nach Daten der AOK Bayern von 2006 belaufen sich die jährlichen Ausgaben für das Sozialver-sicherungssystem für einen Menschen mit Demenz auf 12.300 € im Vergleich zu 4.000 € für eine Person, die nicht unter Demenz leidet, wobei zwei Drittel der zusätzlichen Kosten auf die Langzeitpflege entfallen [3]. Gemessen an der demographischen Entwicklung und an den dar-aus resultierenden zusätzlichen Kosten finden Geriatrie, Gerontologie und Gerontopsychiatrie in der gesundheit-lichen Versorgung der Bevölkerung zu wenig Beachtung. Darüber hinaus ist es zwingend notwendig, einen ange-messenen finanziellen Rahmen für die Versorgung und die Verbesserung der Strukturen bereitzustellen.

Expertenworkshop

Eine nicht repräsentative Gelegenheitsstichprobe von interdisziplinären Experten aus professionellen Versor-gern (Mediziner n = 8; Musiktherapeutin n = 1 ), Selbst-hilfe (n = 1 ), Wissenschaftlern (Grundlagenforschern n = 1; klinische Forschung n = 4; Sozial-und Pflegewis-senschaften n = 2 ) und Forschungsförderern (n = 4 ) wurde mit dem Ziel, die Demenzerkrankung in ihrer Komplexität zu betrachten, sowie Lösungsansätze unter Berücksichtigung komplementärmedizinischer Thera-pien zu diskutieren, zusammengeführt. Der zweitägige Workshop fand vom 12. bis 13. Januar 2012 in Berlin statt und wurde von Frau Prof. Claudia Witt vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökono-mie organisiert. Die Teilnehmer wurden aufgrund ihrer Expertise und ihrer zeitlichen Verfügbarkeit eingeladen mit einer Zielgröße von 20 Teilnehmern. Hervorzuheben ist die Beteiligung von Experten zum Thema Komple-mentärmedizin (Versorger: n = 4, Forscher n = 4).

Konsensus

Um einen Konsensus zu erzielen, wurde die Delphi Methode angewandt [4]. Die Delphi Methode ist ein etab-liertes Verfahren, um Expertenwissen zu sammeln und zu kondensieren. Der Prozess war in drei Phasen gegliedert:

1. Diskussion in drei Kleingruppen zu den Fragen „Identifikation bestehender Versorgungslücken und zukünftige Entwicklung (2 h)“ und „In welchen Berei-chen kann sich komplementäre und integrative Medi-zin sinnvoll einbringen (1,5 h)?“.

2. Diskussion der Kleingruppenergebnisse im Plenum, bis alle Teilnehmer den in Stichworten vorliegenden Antworten zustimmen konnten.

3. Erstellung des Manuskripts durch S. Blödt und C. Witt und Diskussion per Mail in drei Delphi Runden bis zum Erreichen eines Konsensus (1. Runde: Feedback von 8 Teilnehmern, 2. Runde: Feedback von 12 Teil-nehmern, 3. Runde: Konsensus). Als Folge der ersten Delphi Runde wurde eine Kurzfassung des Manu-skripts entwickelt.

Ergebnisse

In den Arbeitsgruppen und im Plenum wurden ver-schiedene Aspekte im Zusammenhang mit der Demenz diskutiert, von denen die relevantesten hier kurz zusam-mengefasst werden sollen. Darüberhinaus werden Empfehlungen zu politischen Notwendigkeiten, zur Ver-sorgung und zukünftigen Forschungsthemen gegeben.

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aufgeklärt. Sie fühlen sich durch die Diagnosestellung oft ihrer Selbstbestimmung beraubt und fremdbestimmt [13]. Tabuisierung und Stigmatisierung der Demenz auch seitens der Ärzte und professionellen Dienstleister tragen dazu bei. Insbesondere aber besteht ein struktu-relles Problem des Kostendruckes für die individuelle Praxis – unabhängig von den inhaltlichen Vorgaben der Leitlinien ist die Beseitigung dieser Barrieren eine Vor-aussetzung der Anwendung von Leitlinien der wissen-schaftlichen Fachgesellschaften und der Praxisexperten [10]. Die Mitteilung einer diagnostizierten Demenz ist für Hausärzte mit Stress [5] und mit der Angst verbun-den, ihre Patienten zu verunsichern und ggf. zu verlieren [14]. Um besser mit dem Problem umgehen zu können, bedarf es Qualifizierungs- und Schulungsangebote, die neben der Wissensvermittlung auch Kommunikations- und Managementfähigkeiten vermitteln.

Ein großes Problem der generellen medizinischen Versorgung bei älteren Menschen ist die Multimorbidi-tät und die daraus resultierende Polypharmazie [15]. So nahmen nach Angaben einer Befragung relativ mobile Senioren im Alter von 78  ± 4 Jahren sechs verschiedene Medikamente ein — Patienten im Alten- und Pflegeheim noch mehr [16]. Folgen davon sind eine Erhöhung der Arzneimittelwechselwirkungen und der unerwünschten Nebenwirkungen [15, 16].

Nichtmedikamentöse Therapien können die medi-kamentösen Therapien komplementieren. Sie interagie-ren nicht mit bestehender Medikation und können so gewählt werden, dass sie sich auf die emotionalen Bedürf-nisse der Menschen mit Demenz beziehen (z. B. Musik-therapie), und die Zeit der Pflege im häuslichen Umfeld verlängern können [17]. Einige gehören auch zu einer guten professionellen Pflege und sollten von dort ein-gefordert werden [18]. Nichtmedikamentöse Therapien eignen sich auch, um die Lebensqualität der pflegenden Angehörigen zu steigern, was wiederum die Situation des Menschen mit Demenz verbessern kann [19]. Grundsätz-lich ist jedoch darauf zu achten, dass alle Therapien dem Versorgungssektor, der Zielgruppe und dem jeweiligen Demenzstadium angepasst werden und basierend auf der Evidenzlage angewendet und erstattet werden sollten.

Komplementärmedizin

Komplementärmedizinische Behandlungen beinhalten sowohl medikamentöse (z.  B. Phytotherapie) als auch nicht-medikamentöse Therapien (z. B. Qigong, Yoga) und werden in Deutschland sowohl von der Gesamtbevölke-rung [20] als auch von älteren Menschen häufig genutzt [21]. Akupunktur (21 % ), Homöopathie (21 % ) und Bewe-gungstherapie/körperliche Bewegung (19 % ) waren die komplementärmedizinischen Verfahren, die am häu-figsten genutzt wurden [21]. Diese Verfahren bieten in der praktischen Anwendung zusätzliche therapeutische Möglichkeiten, das Wohlbefinden der Menschen mit Demenz, aber auch die Lebensqualität und Resilienzfä-higkeit von pflegenden Angehörigen und professionell

Die öffentliche Wahrnehmung

In der öffentlichen Wahrnehmung haben Demenz-erkrankungen mehr Bedeutung erlangt, jedoch sind diese Erkrankungen meist negativ besetzt und für Betrof-fene und ihre Angehörigen mit Stigmatisierungen ver-bunden [5]. Dazu trägt die mediale Darstellung mit einer Fokussierung auf die Probleme des späten Stadiums, wie Verlust von Fähigkeiten und Verfall, aber auch die Abwe-senheit der Stimme der Betroffenen selbst, maßgeblich bei. Erkrankte sind verunsichert und fühlen sich oft von der Gesellschaft ausgeschlossen, was zu unbeholfenen Reaktionen führt und den Mangel an Verständnis in der Gesellschaft wiederum verstärken kann [5]. In den Vor-dergrund der öffentlichen Wahrnehmung sollte jedoch gerückt werden, dass Demenzerkrankungen im Alter häufig langwierigere und tiefgreifendere Änderungen des Lebensalltags von Patienten und Angehörigen her-vorrufen als die viel populäreren onkologischen Erkran-kungen. Diesem muss in einer alternden Gesellschaft Abhilfe geschaffen werden.

Versorgung

Die Hauptlast der pflegerischen Versorgung von Men-schen mit Demenz liegt bei den Angehörigen [6]. Etwa dreiviertel der Menschen mit Demenz werden zu Hause versorgt [7], auch weil das häusliche Umfeld das bevor-zugte Pflegesetting ist [2, 8]. Da dies neben dem Wunsch der Betroffenen auch ökonomische Vorteile hat, sollten Interventionen darauf ausgerichtet sein, diese Möglich-keit solange wie möglich zu erhalten. Dies erfordert aber flexible Modelle und Versorgungsangebote, die neben den Versorgungsbedürftigen die pflegenden Angehöri-gen mit einbeziehen [8] und medizinische, pflegerische und weitergehende Behandlungs- und Betreuungsange-bote vernetzen [9]. Die dringend notwendige vernetzte multidisziplinäre Versorgung erfordert Kommunikation und Koordination aller Beteiligten sowie sinnvolle ambu-lante Strukturen. Die Einsicht, dass sich Dienstleistun-gen in diesem Bereich an den Bedürfnissen der Nutzer orientieren sollten, hat sich zumindest auf dem Papier durchgesetzt [2]. Bislang ist sie jedoch nur in Modellpro-jekten realisiert worden und hängt von verschiedenen, der Komplexität des Themas geschuldeten Faktoren ab, unter anderem davon, wer über welche Leistungen ent-scheidet und wie die Leistungsträger vernetzt sind.

Diagnose und Therapie

Demenzdiagnose und –behandlung werden in der Praxis als komplexer Auftrag erlebt. Der einzelne Praktiker ist in der jetzigen Situation darauf angewiesen, Leitlinien-empfehlungen auf lokale und z. T. auch Praxisbesonder-heiten anzupassen [10]. Viele Menschen mit Demenz werden nicht leitliniengerecht diagnostiziert und thera-piert [11, 12] und nach Diagnosestellung nicht adäquat

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und multifaktorielle Interventionen zur Behandlung von Menschen mit Demenz

2. Identifikation von Faktoren (z. B. Lebensstilaspekte), die sich protektiv auf das Auftreten und den Verlauf von Demenzerkrankungen auswirken

3. Evaluation des Einflusses der Biographie der Betroffe-nen auf Erkrankungsverlauf und Therapieansprechen

4. Methodische Weiterentwicklung von Studiendesigns zur Evaluation komplexer Interventionen und Ent-wicklung valider patientenrelevanter Ergebnispara-meter

Diskussion

Im Rahmen unserer interdisziplinären Expertenkonfe-renz wurden mögliche Lösungsansätze für Probleme, die mit Demenzerkrankungen zusammenhängen, entwi-ckelt. In der Diskussion wurde immer wieder die Kom-plexität des Themas Demenz deutlich, jedoch konnten auch klare Empfehlungen für Politik, Medien, Versor-gung sowie Forschung formuliert werden.

Das vorliegende Dokument gibt den Konsensus die-ser Expertenkonferenz wieder. Dabei ist mit dem Delphi Verfahren ein etabliertes Verfahren angewendet worden, um einen Konsensus unter Experten zu erzielen. Die Ergebnisse dieser Expertenkonferenz sind auf Deutsch-land begrenzt und es ist nicht auszuschließen, dass sie bei einer anderen Zusammensetzung der Teilnehmer anders ausgefallen wären.

Es liegen in Deutschland verschiedene Konsense zur Demenz in Form von Leitlinien der unterschiedlichen Fachgesellschaften vor wie z.  B. als S  3-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychothera-pie und Nervenheilkunde (DGPPN) zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) unter Einbindung der deutschen Alzheimer Gesellschaft [28], als DEGAM Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für All-gemein-und Familienmedizin (DEGAM) [29] und als Leitlinien von Expertengruppen, wie z. B. des medizini-schen Wissennetzwerks evidence der Universität Witten/Herdecke [30]. Diese Leitlinien legen ihren Fokus auf konkrete Empfehlungen zur Diagnostik, Therapie und Prävention von Demenz.

Der Fokus des hier dargestellten Ergebnisses lag hingegen auf der Identifikation von Problemen und Erarbeitung von Lösungsansätzen in der Behandlung und Betreuung von Menschen mit Demenz. Die vorlie-genden Empfehlungen zeichnen sich durch die breite Interdisziplinarität der Teilnehmer der Expertenkonfe-renz aus. Das Zusammenführen der Expertise aus den unterschiedlichen Fachbereichen ermöglicht ein umfas-sendes Bild über die Situation der Demenz in Deutsch-land. Die Empfehlungen wurden durch die Experten aus dem Bereich Komplementärmedizin ergänzt und können wichtige Anregungen für weitere Handlungs-schritte (zum Beispiel Erstellung einer Versorgungsleit-linie Demenz, Priorisierung von Forschungsprojekten)

Pflegenden zu steigern. Nur für wenige komplementär-medizinische Verfahren, wie zum Beispiel für die Musik- [22–25] und Aromatherapie [26, 27] konnten positive Effekte gezeigt werden. Die Evidenz der meisten komple-mentärmedizinischen Verfahren ist aufgrund der gerin-gen Anzahl und der methodischen Qualität der Studien meist unklar. Komplementärmedizinische Therapien machen die Behandlung von Demenzerkrankungen zwar noch komplexer, sollten verstärkt wissenschaftlich evalu-iert und bei positivem Wirknachweis in der routinemäßi-gen Versorgung und Erstattung Berücksichtigung finden und ggf. in die Gesamtversorgung integriert werden.

Folgende Empfehlungen wurden von der Experten-gruppe erarbeitet:

Politische Notwendigkeiten

1. Sichtbarkeit durch vermehrte öffentliche Diskussion, die über eine aktive Zielgruppen- und Ressourcen-orientierte Aufklärung zu einer Entstigmatisierung beiträgt

2. Koordination politischer Stellungnahmen und Umset-zung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis unter Einbezug bereits vorhandener Initiativen (z. B. Selbsthilfe)

3. Bereitstellung eines angemessenen finanziellen Rah-mens für Aufklärung, Koordination, Versorgung und Forschung

Versorgung

1. Diagnostik, Aufklärung und psychosoziale Unterstüt-zung der Betroffenen, ihrer Familien und Ehrenamt-licher durch Fachpersonal

2. Flächendeckende multidisziplinäre Vernetzung der Versorgungsstrukturen

3. Entwicklung sinnvoller individualisierter Versor-gungsmodelle, die den örtlichen (z.  B. Stadt versus Land) und biographischen Kontext der Betroffenen berücksichtigen

4. Anpassung der Vergütungssysteme und der gesetz-lichen Vorgaben an die besondere Versorgung von Menschen mit Demenz (z.  B. Pflegebedürftigkeits-begriff, Trennung von Kranken- und Pflegeversiche-rung)

5. Breite Qualifizierung der Gesundheitsprofessionen durch zielgruppenorientierte Angebote zu relevanten Aspekten der Demenz

6. Entwicklung und Koordination von Schulungs-, Betreuungs- und Therapieangeboten für Betreuende und Pflegende (z.  B. zur Steigerung der Resilienzfä-higkeit durch self-care)

Relevante zukünftige Forschungsthemen im Bereich nicht-medikamentöser Therapien

1. Evaluation der Effektivität und Kosteneffektivität von nicht-medikamentösen Therapien sowie komplexe

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geben, um integrative Lösungsansätze zum Thema Demenz umzusetzen.

Fazit

Im vorliegenden Beitrag werden verschiedene Aspekte im Zusammenhang mit der Demenz dargelegt und Emp-fehlungen zu politischen Notwendigkeiten, zur Versor-gung und zu zukünftigen Forschungsthemen gegeben, die im Rahmen einer interdisziplinären Expertenkonfe-renz in Berlin erarbeitet worden sind. Die vorliegenden Empfehlungen zeichnen sich durch die breite Interdis-ziplinarität der Teilnehmer der Expertenkonferenz aus und ermöglichen dadurch ein umfassendes Bild. Die vorliegenden Empfehlungen sind durch die Beiträge von Experten aus dem Bereich Komplementärmedizin ergänzt worden und geben somit Anregungen für weitere Handlungsschritte, um integrative Lösungsansätze zum Thema Demenz umzusetzen.

Die Expertenkonferenz wurde von der Karl und Veronica Carstens-Stiftung gefördert.

Interessenkonflikt Die Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

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