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world of wellness 1/2005 76 PSYCHOLOGIE E s ist unglaublich schön, wie man mit dir herumalbern kann, obwohl du bald fünfzig bist!», meint Roland. «Wenn wir uns im kühlen Fluss treiben lassen, fühle ich mich unbeschwert und eins mit der Natur. Staunend, jauch- zend, in die Kindheit zurückversetzt. Als ich hingegen im Frühjahr meinen Vater in den Tod begleitet habe, war ich abwech- selnd eine Erwachsene und dann wieder das traurige, liebesbedürftige Kind», erzählt die Therapeutin Regula Zwicky von ihren eigenen Erfahrungen. Das innere Kind ist eine wichtige Teil- persönlichkeit des Menschen. Genauso wie das Erwachsenen-Ich oder die vielen Teilcharaktere, die in uns schlummern: der Helfer, der Perfektionist, der Lehrer, der Vagabund usw. In der Psychosynthese nach Roberto Assagioli drückt sich unser Selbst über Teilpersönlichkeiten aus. Das innere Kind besitzt dabei eine besonders grosse psychodynamische Struktur und ist Teil unseres Ganzen. Es denkt und emp- findet mit. So zeigen sich viele Gesichter und Facetten. Das innere Kind lebt in jedem von uns und braucht Liebe sowie Anerkennung. Die Erziehung prägt Überraschend viele Menschen haben in der Kindheit körperlichen und seelischen Schmerz erlitten. Diese unausgeheilten Verletzungen, die sich im Alltag in Form von Angst, Depression, Sucht, Verwirrung, Trennung oder Krankheit zeigen, erschwe- ren unser Leben unnötig. Die meisten sind sich der Zusammenhänge zwischen dem inneren Kind und dem Leben als Erwach- sener nicht bewusst. Ein Kind passt sich so gut es geht der Erwachsenenwelt an, weil es geliebt wer- den möchte und andererseits seine Eltern bedingungslos liebt. Ursprüngliche, spon- tane Gefühle werden verdrängt und kön- nen meist nicht gelebt werden. Glaubens- muster wie «wenn du dich nicht anpasst, bist du schlecht» oder «wenn du nicht Das innere Kind wecken Das innere Kind ist ein versteckter Teil in unserer Psyche.Wenn wir als Erwachsene den Kontakt mit dem inneren Kind nicht spüren und verstehen, blockieren wir unsere Lebensenergie. Darum ist es wichtig, seine Emotionen wie Ängste, Frustrationen oder Einsamkeit anzunehmen und verstehen zu lernen. von Claudia Baltisberger

Das innere Kind wecken - terrafloris€¦ · Das innere Kind ist eine wichtige Teil-persönlichkeit des Menschen. Genauso wie das Erwachsenen-Ich oder die vielen Teilcharaktere, die

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PSYCHOLOGIE

Es ist unglaublich schön, wie manmit dir herumalbern kann, obwohldu bald fünfzig bist!», meint

Roland. «Wenn wir uns im kühlen Flusstreiben lassen, fühle ich mich unbeschwertund eins mit der Natur. Staunend, jauch-zend, in die Kindheit zurückversetzt. Alsich hingegen im Frühjahr meinen Vater inden Tod begleitet habe, war ich abwech-selnd eine Erwachsene und dann wiederdas traurige, liebesbedürftige Kind»,erzählt die Therapeutin Regula Zwicky vonihren eigenen Erfahrungen.

Das innere Kind ist eine wichtige Teil-persönlichkeit des Menschen. Genauso wiedas Erwachsenen-Ich oder die vielen

Teilcharaktere, die in uns schlummern: derHelfer, der Perfektionist, der Lehrer, derVagabund usw. In der Psychosynthesenach Roberto Assagioli drückt sich unserSelbst über Teilpersönlichkeiten aus. Dasinnere Kind besitzt dabei eine besondersgrosse psychodynamische Struktur und istTeil unseres Ganzen. Es denkt und emp-findet mit. So zeigen sich viele Gesichterund Facetten. Das innere Kind lebt injedem von uns und braucht Liebe sowieAnerkennung.

Die Erziehung prägtÜberraschend viele Menschen haben in derKindheit körperlichen und seelischen

Schmerz erlitten. Diese unausgeheiltenVerletzungen, die sich im Alltag in Formvon Angst, Depression, Sucht, Verwirrung,Trennung oder Krankheit zeigen, erschwe-ren unser Leben unnötig. Die meisten sindsich der Zusammenhänge zwischen deminneren Kind und dem Leben als Erwach-sener nicht bewusst.

Ein Kind passt sich so gut es geht derErwachsenenwelt an, weil es geliebt wer-den möchte und andererseits seine Elternbedingungslos liebt. Ursprüngliche, spon-tane Gefühle werden verdrängt und kön-nen meist nicht gelebt werden. Glaubens-muster wie «wenn du dich nicht anpasst,bist du schlecht» oder «wenn du nicht

Das innere Kind weckenDas innere Kind ist ein versteckter Teil in unserer Psyche. Wenn wir als Erwachsene den Kontakt mit deminneren Kind nicht spüren und verstehen, blockieren wir unsere Lebensenergie. Darum ist es wichtig,seine Emotionen wie Ängste, Frustrationen oder Einsamkeit anzunehmen und verstehen zu lernen.von Claudia Baltisberger

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gehorchst, werde ich krank» sind tief inunserem Unterbewusstsein und in unseremKörper verankert. Verhält sich das Kindmal nach seinem eigenen Trieb, nach sei-ner inneren Natur, wird es von Schuldge-fühlen geplagt. Es hat sich ja nicht eltern-konform verhalten, und seine Elternwerden enttäuscht sein. Der Teufelskreisder Anpassung beginnt aufs Neue.

Gefühle von Liebe, Frustration undSchuld vermischen sich. Das Kind ist inseiner emotionalen Entwicklung verwirrt.Die Anpassung an die Umwelt einerseitsund die Wahrnehmung der eigenenursprünglichen Emotionen andererseitsführen zum Dilemma. Weil ein Menschnicht fähig ist, diese gegensätzlichenSchuld- und Liebes-Gefühle beziehungs-weise Liebes- und Frustrations-Ausbrücherichtig einzuordnen, findet eine Abspal-tung der Empfindungen statt. Die Überle-bensstrategie entspricht schliesslich demAbspalten des inneren Kindes. Sodann istein Teil der kreativen Lebensenergieblockiert. Dies führt zu einer vermindertenLebensqualität, allenfalls verbunden mitKrankheit oder Depression.

Diese «ver-rückten» Überlebensstrategi-en oder Muster werden in der Kindheitdurch das Elternhaus geprägt, gepaart mitden kollektiven Einflüssen von Umweltund Zeitgeist. Sie wiederholen sich späterbeim Erwachsenen durch das unbewusste

Verhalten des unerlösten inneren Kindes.Das Erwachsenenleben ist ähnlich geprägtvon Anpassung, Abhängigkeit, Sehnsuchtoder Kontrolle – alles aus Angst vor Lie-besentzug.

Befreiung im HerzenMonikas Vater war jähzornig. Die Kindermussten sich zu Hause ruhig verhalten,sonst hätte der Vater getobt. Zudem litt eran epileptischen Anfällen. Rücksichtnah-me war gross geschrieben. Es gab Zeiten,da durften die Kinder nur auf den Zehen-spitzen durch die Wohnung schleichen. Die

Eltern hatten ein eigenes Geschäft. IhrLeben war geprägt durch viel Arbeit.

Traurigkeit, Anpassung, zurückgedräng-te Frustration, Atembeschwerden und Asth-ma sind die Auswirkungen dieser ein-engenden Lebensbedingungen in MonikasKindheit. Heute leidet die 35-Jährige untereiner Teilpersönlichkeit, einem Muster, dassehr streng mit sich selbst ist. Sie stellt anihren Beruf hohe Anforderungen. Siebraucht für ihre Arbeit viel Zeit und nimmtalles genauer als ihre Kolleginnen. Erschöp-fung und Frustration sind das Resultat.

Ihre Sexualität lässt zu wünschen übrig.Sie zeigt sich verklemmt, obwohl sie schonjahrelang mit ihrem Mann zusammenlebt.In Gesellschaft mit anderen Menschenfühlt sie sich oft unwohl und einge-schüchtert. Es kommt auch vor, dass sievon anderen ausgenutzt wird.

In der Therapiearbeit mit Monika ist eswichtig, zuerst die Lebensumstände desinneren Kindes und die daraus resultie-renden Gefühle und Glaubensmuster zuerkennen und zu benennen. Durch geziel-te Anleitung wird die Kommunikation mitdem inneren Kind aufgenommen. Die Kli-entin empfindet die Körpergefühle, Emo-tionen und Gedanken des Kindes in vollemBewusstsein nach.

In einem zweiten Schritt geht es darum,die wirklichen Bedürfnisse des Kindes zuspüren und zu akzeptieren. Somit kannMonika dem inneren Kind immer mehrHerumalbern zu zweit: das innere Kind wieder aufleben lassen.

Kindliche Neugierde und Unternehmenslust – von Erwachsenen oft abgewürgt.

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Freiraum gewähren, den es in der Jugend-zeit nicht erhalten hat.

Während der ganzen Therapiearbeit istes wichtig, die wahren Umstände in derKindheit anzuschauen. Es braucht Zeit, dieauthentischen Bedürfnisse und Gefühle desinneren Kindes zu akzeptieren und zu ent-wickeln. Doch daraus entsteht eine gesun-de Selbstliebe. Die defizitären Bedürfnissedes inneren Kindes werden durch dieAkzeptanz und die Herzensliebe desErwachsenen aufgefüllt.

Die wachsende Herzensliebe lässt ver-wirrende, «ver-rückte» Gefühle erkennen,benennen und loslassen. Die ersten wich-tigen Schritte zur Transformation desinneren Kindes sind getan. Das Leben kannsich neu nach innen und somit auch nachaussen, zur Umwelt orientieren und aufLiebe und Vertrauen aufbauen. Die Lebens-

energie kommt ins Fliessen, und dieLebensqualität wird nicht zuletzt durch dasResonanzgesetz «so wie innen, so aussen»gesteigert. Eine neue Ordnung wird herge-stellt, das Verwirrende, «Ver-rückte» inOrdnung gebracht.

Partner- und Freundschaften bauen sichnun auf Liebe und Vertrauen und nichtdurch Anpassung oder Kontrolle auf.Monika erlebt immer öfters Momente inder Natur oder im Urlaub, wo sie sich abso-lut gut fühlt. Sie öffnet sich und geniesstdas Leben mit all ihren Sinnen. Bei derArbeit macht sich ihre gewissenhafte alteTeilpersönlichkeit noch ab und zu bemerk-bar. Monika hat jedoch Tipps erhalten, wiesie mit solchen Situationen besser umge-hen kann. Ihre strenge und harte Seiteweicht sich langsam auf. Monika kannendlich öfters aus vollem Herzen lachen.

Jungbrunnen und positive PowerDas erlöste innere Kind hat ein uner-schöpfliches Potenzial an Lebensenergie,Spontaneität, Kreativität und Intuition.Vertrauen, Liebe und der Glaube an dasGute lassen einen Erwachsenen viele posi-tive Erfahrungen machen – vorausgesetzt,die Person ist in liebevollem Kontakt mitdem inneren Kind. Unnötige Sorgen undÄngste schmelzen angesichts dieser freud-vollen Energie dahin. Das Leben bestehtwieder aus Staunen und dem Glauben anWunder – die Wahrheit, die hinter der all-täglichen Erfahrung der Erwachsenenweltliegt. Sie wird in Märchen fantasievollbeschrieben. Kinder bzw. das Kind in unsliebt Märchen, deren Sinn es intuitiv erfas-sen kann.

Die Freude an der Natur, die Abenteuer-lust und das Entdecken der Sinne machtwieder Spass. Wir haben Lust, zu spüren, zuriechen, zu schmecken und zu tasten. DieBegegnung mit einem seelisch offenenMenschen ist Ausdruck des gelebten inne-ren Kindes. In der traditionellen chinesi-schen Medizin ist die Freude der Gefühls-ausdruck des Herzens. Wir wissen, dass sichZufriedenheit und Glücksgefühle auf unserHormonsystem und den körperlich-seeli-schen Gesundheitszustand positiv auswir-ken. Menschen, die mit dem inneren Kindin Kontakt sind, haben eine besondere Aus-strahlung. Sie werden oft jünger geschätzt.Die Persönlichkeit wird durchstrahlt vomWesenhaften, vom Seelischen. Diese Men-schen besitzen einen ansteckenden au-thentischen Gefühlsausdruck und könnendurch die Lebendigkeit des inneren Kindesmit allen Altersgruppen kommunizieren.

Auch in der Partnerschaft zeigt sich, wielebendig die inneren Kinder sein können.Regula, die Therapeutin, und ihr Freund

Ein Zusammenleben verschiedener Generationen spricht das innere Kind Erwachsener direkt an.

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Regula Zwicky ist Therapeutin und Dozentinfür Bachblütenkunde, Psychologie undKommunikation mit eigener Praxis inZürich. Sie hat ein Studium in Körper-Psychosynthese und transpersonalerPsychologie abgeschlossen und ist Mitglieddes Naturärzte-Verbandes (NVS) sowie desErfahrungsmedizinischen Registers (EMR).Kurse unter: www.terrafloris.ch

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Roland gehen im Sport spielerisch mitein-ander um und zeigen sich ausgelassen. ImFall von Trauer, Alleinsein oder bei auf-tauchenden Angstgefühlen unterstützt sichdas Paar gegenseitig. Bei der Sterbebeglei-tung ihres Vaters wusste Regula alsErwachsene immer, was zu tun war. Dane-ben hat sich aber auch das Kind in ihrbemerkbar gemacht: mit Hilflosigkeit,Schmerz, Einsamkeit und Bilder vergan-gener Erlebnisse. Als ihr Vater schliesslichverschied, war eine unendliche, bedin-gungslose Liebe im Raum – Regulas inne-res Kind durfte Heilung erfahren.

Zurück zur GemeinschaftEine Gesellschaft, in der Kinder, Erwach-sene und alte Menschen voneinandergetrennt leben, ist nicht vollkommen. War-um haben Erwachsene im Umgang mitKindern zum Teil Mühe? Weshalb verein-samen alte und junge Menschen? Was istder Auslöser für die vielen Singles? Leidergibt es Menschen, die das Potenzial ihrerzur Verfügung stehenden inneren Energi-

en und Ressourcen nicht leben. RegulaZwicky weist auf die vielen Teilpersön-lichkeiten hin, die dominieren: Individua-lität oder falscher Ehrgeiz sowie Perfektio-nismus. Für einen Perfektionisten zumBeispiel produzieren Kinder Chaos undLärm, deshalb lässt er sein inneres Kindnicht leben. Würde er seine abgespaltenenTeilpersönlichkeiten besser kennen undintegrieren, wäre er ausgeglichener undwürde im Kinderlärm sogar Lebensfreudeerkennen. Die Integration des inneren Kin-des hat also psychosoziale Auswirkung.Eine Heilung des Individuums impliziertimmer auch eine Heilung im Sozialen, inder Gemeinschaft.

Regula Zwicky mag sich gut an ihreeigene Kindheit mit ihren Grosseltern erin-nern. Alt und Jung haben sich fast täglichim Dorf gesehen. Während die Elternarbeiteten, hat die Grossmutter die Kindermit Märchen und Geschichtenerzählenunterhalten. Die alte Dame lässt die Kin-der ihre bedingungslose Liebe spüren. EineBereicherung. Regula kann diese Erlebnis-

se heute mit ihrem Patenjungen nachle-ben. So wird ihr inneres Kind direkt ange-sprochen. Vor Altersresidenzen und Hei-men schreckt sie persönlich zurück. EinZusammenleben unter verschiedenenGenerationen wäre natürlicher.

Schaffen wir es, die Kommunikation mitunserem inneren Kind aufzunehmen undseine Bedürfnisse zu stillen, können wirdie Umgebung besser integrieren. Die posi-tive Energie steigert unsere Spontaneität.Der Egoismus nimmt langsam ab. Wir öff-nen uns gegenüber unserer Mitwelt undlernen, unsere Mitmenschen und uns selbstmehr zu lieben. ■

Erika J. Chopich und Margaret Paul:Aussöhnung mit dem inneren Kind. 256 Seiten. Ullstein Taschenbuch-Verlag. ISBN 3-548-35731-8.Erika J. Chopich und Margaret Paul: Das Arbeitsbuch zur Aussöhnung mitdem inneren Kind. Ca. 200 Seiten.Ullstein Taschenbuch-Verlag. ISBN 3-548-36702-X.

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