Darkness - Wettlauf mit der Zeit

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DARKNESS

DARKNESSWettlauf mit der ZeitEin neuer Fall fr Special Agent PendergastThrillerAus dem Amerikanischenvon Michael BenthackDROEMER

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Nichts bewegte sich in der Weite des Lllung-Tales auer zweikleine, schwarze Punkte, kaum grer als die vom Frost rissigenFelsbrocken, die den Talboden bedeckten; langsam mhtensich die Gestalten den kaum erkennbaren Pfad entlang.Das Tal war de, kein Baum wuchs hier. Der Wind wispertezwischen den Felsen, die Schreie der schwarzen Malaienadlerhallten von den steilen Felshngen wider. Die Gestalten warenzu Pferde und nherten sich einer riesigen, knapp siebenhundertMeter hohen Felswand aus Granit, aus der sich ein schmalerWasserfall ergoss - die Quelle des heiligen Flusses Tsangpo.Der Pfad mndete in eine schmale Schlucht, die die Felswandeinkerbte, tauchte ein Stckchen weiter oben als Einschnitt indie Felswand wieder auf, verlief schlielich auf einem langgestrecktenBergkamm, bevor er nach einer Weile zwischen gezacktenGipfeln und Felsschluchten wieder verschwand. ImHintergrund erhob sich als ein Bildnis immenser Kraft undErhabenheit das ewige Eis dreier Bergriesen des Himalaya.Auf dem Dhaulagiri, dem Annapurna und dem Manaslu wehtenFahnen aus Schnee, whrend hinter ihnen ein eisengrauesMeer aus Sturmwolken wogte.Im Tal ritten die beiden Gestalten bergan, den Oberkrperzum Schutz gegen den kalten Wind nach vorn gebeugt. Es wardie letzte Etappe einer langen Reise, und trotz des aufkommendenUnwetters ritten sie langsam; ihre Pferde standen amRand der Erschpfung. Vor dem Eingang zur Felsschluchtberquerten sie einen reienden Wildbach, einmal und dannnoch einmal. Gemchlich verschwanden sie in der Schlucht.Die beiden Gestalten folgten weiter dem kaum erkennbarenPfad, der ber den rauschenden Gebirgsbach aufstieg. Dort,wo die granitene Felswand auf den mit Felsbrocken bersten,schattigen Talgrund traf, lagen Felder ewigen Eises. Der Windfrischte auf, jagte dunkle Wolken ber den Himmel und heultein den oberen Bereichen der Schlucht.Unten an der mchtigen Felswand nderte der Pfad jh seinenVerlauf, stieg durch einen steilen, bengstigend engen Einschnittim Fels empor. Auf einer vorspringenden Felszunge lageine uralte Wachstation in Ruinen: vier zerbrochene Steinmauern,die nichts sttzten als eine Reihe von Schwarzdrosseln.Ganz unten am Einschnitt stand ein groer mani-Stein,in dessen Oberflche ein tibetisches Gebet gemeielt war,blank gerieben und poliert von den Hnden jener Abertausenden,die sich einen Segen erwnschten, ehe sie den gefahrvollenAufstieg wagten.An der Wachstation saen die beiden Reisenden ab. Von hierging es nur zu Fu weiter, sie mussten die Pferde den schmalenPfad hinauffhren, denn der Uberhang war so niedrig, dasskein Reiter darunter hindurch gelangte. Hier und da hattenAbgnge des blanken Felsgesteins den Pfad unter sich begraben;diese Abschnitte wurden von roh gezimmerten Plankenund in den Fels getriebenen Stangen berbrckt, wodurcheine Reihe schmaler, knarrender Brcken ohne Gelnder entstandenwar. An anderen Stellen war der Pfad so steil, dass dieReisenden und ihre Pferde in den Fels geschlagene Stufen erklimmenmussten, die durch den Aufstieg zahlloser Pilger glattund uneben geworden waren.Abrupt nderte der Wind seine Richtung, er pfiff durch dieFelsschlucht und fhrte Schneeflocken mit sich. Der Sturmschattenfiel in die Klamm, tauchte sie in nachttiefe Finsternis.Dennoch folgten die beiden Gestalten dem schwindelerregendenPfad unverdrossen weiter hinauf, ber die vereistenTreppenstufen und Felssteigungen. Bei ihrem Aufstieg halltedas Rauschen des Wasserfalls eigentmlich zwischen den Felswndenwider und vermischte sich mit dem auffrischendenWind wie geheimnisvolle Stimmen, die in einer fremden Spracheredeten.Als die Reisenden schlielich den Bergkamm erreichten, wrensie fast gegen den Wind nicht angekommen, er lie ihreMntel flattern und blies ihnen schmerzhaft ins Gesicht. Siebeugten sich vor, um sich zu schtzen, zogen die widerstrebendenPferde weiter den Felsgrat entlang, bis sie die Uberresteeines verfallenen Dorfes erreichten. Es war ein der Ort,die Huser niedergeworfen durch irgendeine uralte Katastrophe,das Bauholz lag verstreut und zerborsten, die Lehmziegelhatten sich aufgelst und wieder mit der Erde vermischt, ausder sie geformt waren.In der Mitte des Dorfes erhob sich eine niedrige Pyramide ausGebetssteinen; oben ragte eine kleine Stange daraus hervor, ander Dutzende ausgefranster Gebetsfhnchen im Wind knatterten.Zur einen Seite befand sich ein alter Friedhof, dessenMauer eingestrzt war; wegen der Erosion lagen die Grberjetzt offen da, hier und da waren Gebeine und Schdel zusehen. Whrend sich die beiden Personen nherten, erhobsich ein Schwrm Raben flgelschlagend in die Lfte. Ihrekrchzenden Schreie stiegen aus den Trmmern in die bleigrauenWolken empor wie lautstarker Protest.An der kleinen steinernen Pyramide blieb einer der Reisendenstehen und gab dem anderen ein Zeichen, zu warten. Er beugtesich vor, hob einen Stein auf und fgte ihn der Pyramide hinzu.Dann hielt er kurz inne in stummem Gebet, whrend derWind an seinem Mantel zerrte, ehe er wieder die Zgel seinesPferdes ergriff. Die beiden Gestalten setzten ihren Weg fort.Hinter dem verlassenen Dorf verengte sich der Pfad jh zueinem extrem schmalen Grat. Die beiden Reisenden kmpftensich gegen den ungeheuer heftigen Wind voran, umrundeteneinen Bergrcken - und dann endlich konnten sie in der Fernedie Mauern und Zinnen einer riesigen Festung ausmachen, diesich undeutlich vor dem dunklen Himmel abhoben.Das war das unter dem Namen Gsalrig Chongg bekannte Kloster- was man vielleicht als das Juwel der Bewusstheit derLeere bersetzen knnte. Je weiter der Pfad an dem Berghangentlangfhrte, desto mehr wurde vom Kloster sichtbar:Mchtige, mit roter Farbe getnchte Mauern und Sttzpfeilerstiegen die Hnge eines den granitenen Felsmassivs hinaufund endeten in einem Gebudekomplex mit spitzen Dchernund Trmen, die hier und da mit funkelndem Goldblech versehenwaren.Das Kloster Gsalrig Chongg zhlte zu den ganz wenigen inTibet, die den Verwstungen der chinesischen Invasion entronnenwaren, whrend der die Soldaten den Dalai Lama vertrieben,Tausende Mnche gettet und zahllose Klster undreligise Gebude zerstrt hatten. Ein Grund dafr, dassGsalrig Chongg verschont geblieben war, lag sicher in seinerAbgeschiedenheit und seiner Nhe zu der umstrittenen Grenzezu Nepal. Ein weiterer jedoch war ein schlichtes Versumnisder Behrden: Irgendwie war die Existenz des Klosters deramtlichen Aufmerksamkeit entgangen. Noch heute verzeichnetkeine Karte der sogenannten Autonomen Region Tibet dasKloster, wobei sich die Mnche groe Mhe geben, dass diesauch so bleibt.Der Pfad querte einen steilen Gerllhang, auf dem eine GruppeGeier an irgendwelchen verstreut herumliegenden Knochenpickte.Hier scheint krzlich jemand gestorben zu sein, sagte derMann leise und nickte in Richtung der groen Vgel, die vlligfurchtlos zwischen den Knochen herumhpften.Wie kommst du darauf?, fragte der zweite Reisende.Wenn ein Mnch stirbt, wird sein Krper zerstckelt undden wilden Tieren zum Fra hingeworfen. Es gilt als die hchsteEhre, dass deine sterblichen Uberreste andere Geschpfenhren und erhalten.Ein sonderbarer Brauch.Ganz im Gegenteil, er ist von makelloser Logik. Unsere Bruchesind eigenartig.Der Pfad endete an einem kleinen Tor in der mchtigen Umgrenzungsmauer.In der offenen Tr stand ein buddhistischerMnch, gehllt in ein scharlachrotes und safrangelbes Gewand,eine brennende Fackel in der Hand, als habe er die Reisendenerwartet.Ihre Pferde noch immer am Zgel fhrend, durchschritten diebeiden das Tor. Ein zweiter Mnch erschien, bernahm ohneein Wort die Tiere und fhrte sie zu den innerhalb der Umgrenzungsmauergelegenen Stallungen.In der hereinbrechenden Dmmerung blieben die Reisendenvor dem ersten Mnch stehen. Dieser sagte nichts, sondernwartete einfach.Der erste Reisende schob seine Kapuze nach hinten - und dakamen das lngliche, blasse Gesicht, das weiblonde Haar, diemarmornen Gesichtszge und die silbrig grauen Augen vonSpecial Agent Aloysius Pendergast vom Federal Bureau of I n -vestigation zum Vorschein.Der Mnch wandte sich seinem Begleiter zu. Zgernd schobdieser die Kapuze aus dem Gesicht, die braunen Haare wehtenim Wind und fingen die wirbelnden Schneeflocken auf. Vorihm stand eine junge Frau von Anfang zwanzig. Sie hielt denKopf leicht geneigt, ihre Gesichtszge waren zart, mit hohenWangenknochen, ihr Mund schn geformt. Es warConstance Greene, Pendergasts Mndel. Mit einem kurzenBlick aus ihren durchdringenden, veilchenblauen Augen nahmsie ihre Umgebung kurz in sich auf, dann senkte sie rasch dieLider.Nur einen Augenblick sah der Mnch sie an. Dann wandte ersich ohne ein Wort um und gab den Neuankmmlingen durchein Zeichen zu verstehen, dass sie ihm einen steinernen Fuwegzum Hauptgebude folgen sollten.Schweigend gingen Pendergast und sein Mndel dem Mnchhinterher. Sie passierten ein zweites Tor und betraten diedunklen Rume des eigentlichen Klosters, dessen Luft vomGeruch nach Sandelholz und Wachs erfllt war. Als das groe,eisenbeschlagene Tor hinter ihnen zuschlug, verstummte derheulende Wind zu einem fernen Flstern. Sie schritten bereinen langen Gang, dessen eine Seite kupferne Gebetsmhlensumten, die, angetrieben von irgendeinem verborgenen Mechanismus,sich knarrend drehten. Nachdem der Gang sichgegabelt und eine weitere Biegung gemacht hatte, gelangtensie tiefer ins Innere des Klosters. Noch ein Mnch erschien, ertrug groe Kerzen in Messinghaltern, deren flackerndes Lichtzu beiden Seiten des Gangs sehr alte Wandmalereien enthllte.Am Ende der labyrinthischen Gnge gelangten sie schlielichin einen groen Raum, dessen rckwrtiger Teil von einer goldenenStatue des Padmasambhava, des tantrischen Buddhas,dominiert wurde. Hunderte von Kerzen tauchten sie in weichesLicht. Anders als die kontemplativen, halb geschlossenenAugen auf den meisten Darstellungen Buddhas, waren dieAugen des tantrischen Buddhas weit geffnet, wach und vollerLeben, denn sie symbolisierten das gesteigerte Bewusstsein,das man durch das Studium der Geheimlehren des Dzogchenund des noch esoterischeren Chongg Ran erlangt.Das Kloster Gsalrig Chongg war eines der beiden Refugien, indenen noch das Chongg Ran gelehrt wurde, jene geheimnisvolleLehre, die den wenigen, die noch mit ihr vertraut waren,als das Juwel der Unbestndigkeit des Geistes bekannt war.An der Schwelle zu diesem Allerheiligsten blieben die beidenReisenden stehen. Am gegenberliegenden Ende sa eine Reihevon Mnchen schweigend auf gestaffelten Steinbnken, alserwarteten sie jemanden.Auf dem obersten Rang thronte der Abt des Klosters. DerMann sah ungewhnlich aus, sein uraltes, faltiges Gesichtwirkte belustigt, ja geradezu heiter. Das Gewand hing ihm amklapperdrren Leib wie nasse Wsche an einer Wschespinne.Neben ihm sa ein etwas jngerer Mnch, den Pendergastebenfalls kannte: Tsering. Er zhlte zu den ganz wenigenMnchen, die Englisch sprachen, diente als eine Art Managerdes Klosters und hatte sich fr seine gut sechzig Jahre auergewhnlichgut gehalten. Unterhalb dieser beiden saen eineReihe von zwanzig Mnchen aller Altersstufen; einige von ihnenwaren Jugendliche, andere sehr alt und verhutzelt.Tsering erhob sich und sagte in einem mit dem melodischenSingsang des Tibetischen durchsetzten Englisch: FreundPendergast, wir heien dich wieder willkommen im Klostervon Gsalrig Chongg, wie auch deinen Gast. Bitte nehmt Platzund trinkt mit uns einen Tee.Er deutete auf eine Steinbank mit zwei bestickten Seidenkissen- es waren die einzigen im ganzen Raum. Pendergastund sein Mndel setzten sich. Kurz darauf erschienen mehrereMnche mit Messingtabletts voller Tassen dampfenden Butterteesund tsampa. Schweigend nippten sie an dem sen Getrnk,doch erst als sie ihre Tassen geleert hatten, ergriff Tseringwieder das Wort.Was fhrt Freund Pendergast zurck nach GsalrigChongg?Pendergast erhob sich.Vielen Dank fr dein herzliches Willkommen, Tsering,sagte er leise. Ich freue mich, wieder hier zu sein. Ich kehrehierher zurck, um meine meditative Reise zur Erleuchtungfortzusetzen. Ich mchte dir Miss Constance Greene vorstellen,die ebenfalls gekommen ist, um hier zu studieren. Erreichte ihr die Hand und half ihr auf die Beine.Eine lange Stille entstand. Schlielich erhob sich Tsering. Erging zu Constance hinber, stellte sich vor sie und sah ihr ruhigins Gesicht; schlielich streckte er die Hand aus und berhrteihr Haar, befingerte es sanft. Dann strich er noch sanfterber die Wlbung ihrer Brste. Constance rhrte sich keinenMillimeter von der Stelle.Sind Sie eine Frau?, fragte er.Sie haben doch sicherlich schon einmal eine gesehen, erwiderteConstance trocken.Nein, entgegnete Tsering. Seit ich im Alter von zwei Jahrenhierhergekommen bin, habe ich keine mehr zu Gesichtbekommen.Constance errtete. Verzeihen Sie vielmals. Ja, ich bin eineFrau.Tsering wandte sich an Pendergast. Sie ist die erste Frau, dieje nach Gsalrig Chongg gekommen ist. Wir haben noch nieeine Schlerin aufgenommen. Es tut mir leid, aber unserOrden gestattet das nicht. Insbesondere jetzt nicht, inmittender Begrbnisfeierlichkeiten fr den Verehrten Ralang Rinpoche.Der Rinpoche ist tot?, fragte Pendergast.Tsering verneigte sich.Es tut mir leid, vom Tod des allerhchsten Lamas zu hren.Da lchelte Tsering. Es ist kein Verlust. Wir werden seine Reinkarnationfinden - den neunzehnten Rinpoche -, und dannist er wieder unter uns. Mir tut es leid, dass ich euer Ersuchenablehnen muss.Meine Begleiterin braucht deine Hilfe. Ich brauche deineHilfe. Wir sind beide ... der Welt berdrssig. Wir sind einenweiten Weg gekommen, um Frieden zu finden. Frieden undHeilung.Ich wei, wie beschwerlich die Reise ist, die du gemacht hast.Ich wei, wie viel du erhoffst. Aber Gsalrig Chongg existiertseit tausend Jahren ohne die Anwesenheit von Frauen, wirknnen das nicht ndern. Sie muss gehen.Ein langes Schweigen folgte. Und dann hob Pendergast denKopf und blickte hinber zu dem greisen, reglosen Mnch, derden hchsten Sitz innehatte. Ist dies auch die Meinung desAbts?Zunchst lie sich keinerlei Regung erkennen. Ein Fremderhtte den verhutzelten Mnch sogar fr einen glcklichen,wenngleich senilen Schwachsinnigen halten knnen, wie erdort auf seiner hohen Warte ber den anderen grinste. Dochauf ein kaum merkliches Schnipsen seiner drren Finger stiegeiner der jngeren Mnche zu ihm hinauf, beugte sich berden betagten Abt und legte das Ohr nahe an dessen zahnlosenMund. Nach einem Moment richtete er sich auf und sagte etwasauf Tibetisch zu Tsering.Dieser bersetzte: Der Abt bittet Frau, ihren Namen zu wiederholen,bitte.Ich heie Constance Greene, antwortete sie mit leiser, aberfester Stimme.Wieder entstand ein - beraus langes - Schweigen.Wieder das Schnipsen der Finger; wieder murmelte der alteMnch dem jungen Mnch etwas ins Ohr, der es mit lautererStimme wiederholte.Tsering sagte: Der Abt fragt, ob das ihr wahrer Name ist.Sie nickte. Ja, das ist mein richtiger Name.Langsam hob der alte Lama seinen drren Arm und deutetemit zentimeterlangem Fingernagel zu einer dunklen Wand desRaums. Alle Blicke wandten sich zu einem unter einem Tuchverborgenen Tempelgemlde, einem von vielen, die an derWand hingen.Tsering ging hinber, hob das Tuch an und hielt eine Kerzedaran. Im Schein der Kerze kam ein berwltigend detailreichesund komplexes Bild zum Vorschein: eine hellgrneweibliche Gottheit mit acht Armen, die auf einer weienMondscheibe sa; Gtter, Dmonen, Wolken, Berge und L i nienaus Goldfiligran wirbelten um sie herum, als umtoste sieein heftiger Sturm.Der alte, zahnlose Lama murmelte dem jngeren Mnch etwasins Ohr. Dann lehnte er sich zurck und lchelte. Wiederbersetzte Tsering seine Worte.Seine Heiligkeit bittet, Aufmerksamkeit auf thangka-Gemaldevon Grner Tara zu richten.Die Mnche murmelten und scharrten mit den Fen, erhobensich von ihren Pltzen und stellten sich im Halbkreis vordem Gemlde auf, wie Schler, die auf einen Vortrag warteten.Mit seinem spindeldrren rmchen bedeutete der alte LamaConstance Greene, sich in den Kreis einzureihen, was sie eiligtat, wobei die Mnche ihr bereitwillig Platz machten.Das hier ist Bildnis von Grner Tara, fuhr Tsering in seinerbersetzung der gemurmelten Worte des alten Mnches fort.Sie ist Mutter aller Buddhas. Sie hat Bestndigkeit. DazuWeisheit, Geistesgegenwart, rasches Denken, Grozgigkeitund Furchtlosigkeit. Seine Heiligkeit ldt Frau ein, nher zutreten und Mandala von Grner Tara zu betrachten.Constance trat zgernd vor.Seine Heiligkeit fragt, warum Schlerin Namen von GrnerTara trgt.Constance blickte sich um. Ich wei nicht, wovon Sie sprechen.Du heit Constance Greene. Dieser Name beinhaltet zweiwichtige Eigenschaften von Grner Tara. Seine Heiligkeitfragt, wie du deinen Namen bekommen hast.Greene ist mein Nachname. Er ist in England sehr gelufig,aber ich habe keine Ahnung, woher er stammt. Und meinenVornamen, Constance, hat mir meine Mutter gegeben. Er warbeliebt ... zur Zeit meiner Geburt. Jedweder Zusammenhangzwischen meinem Namen und der Grnen Tara ist offensichtlichein Zufall.Da lachte der Abt, wenngleich etwas zittrig. Mhsam richteteer sich mit Hilfe zweier Mnche auf. Nach einigen Augenblickenstand er, wenn er auch den Anschein erweckte, als knnteder kleinste Lufthauch ihn zu Boden strecken. Er lachte immernoch so sehr, dass sein rosa Gaumen zu sehen war, als er leiseund keuchend zu sprechen anhub. Selbst seine Knochen schienenvor Heiterkeit zu klappern.Zufall? So etwas gibt es nicht. Schlerin macht guten Witz,bersetzte Tsering. Der Abt mag guten Witz.Constance blickte zu Tsering, dann zum Abt und wieder zuTsering. Heit das, dass ich hier studieren darf?Es heit, dass dein Studium bereits begonnen hat, sagteTsering und lchelte.

2

In einem der abseits gelegenen Pavillons des Klosters GsalrigChongg sa Aloysius Pendergast auf einer Bank nebenConstance Greene. Eine Reihe von Steinfenstern ging zurSchlucht des Lllung hinaus. Von hier aus konnte man bis zuden mchtigen Gipfeln des Himalaya sehen, die in ein zart rosafarbenesAbendrot getaucht waren. Von unten drang das leiseRauschen des Wasserfalls am Eingang des Lllung-Talesherauf. Whrend die Sonne hinter dem Horizont versank, erklangeine dzung-Trompete: ein tiefer, langgezogener Laut,der von den Schluchten und Bergen widerhallte.Fast zwei Monate waren vergangen. Es war Juli und somitFrhjahr in den hohen Vorbergen des Himalaya. Die Talbdenwaren grn und mit Wildblumen gesprenkelt. Auf denBerghngen blhten rosafarbene Wildrosen.Die beiden saen schweigend da. Noch zwei Wochen, dannging ihr Aufenthalt hier zu Ende.Wieder ertnte die dzung, und das feuerrote Licht auf den Gipfelnvon Dhaulagiri, Annapurna und Manaslu, drei der zehnhchsten Berge der Welt, verglhte. Die Abenddmmerungfiel rasch, drang in die Tler wie eine Flut dunklen Wassers.Pendergast erhob sich. Deine Studien verlaufen gut. uerstgut. Der Abt ist hochzufrieden.Ja. Ihre Stimme klang leise, fast distanziert.Er legte eine Hand auf ihre; die Berhrung war so leicht undluftig wie die eines Blattes. Wir haben noch nie darber gesprochen,aber ich wollte dich fragen, ob ... in der Feversham-Klinik alles gutgegangen ist. Ob die, ahm, Prozedur ohneKomplikationen verlaufen ist. Pendergast wirkte geradezuschchtern und um Worte verlegen, was untypisch fr ihnwar.Constance blickte weiter auf die kalten, schneebedecktenBerge.Er zgerte. Ich wnschte, ich htte bei dir sein drfen.Sie senkte den Kopf, schwieg aber weiter.Constance, du liegst mir so sehr am Herzen. Vielleicht habeich das nicht deutlich genug gemacht. Dafr entschuldige ichmich.Errtend beugte Constance den Kopf noch tiefer. Danke.Die Distanziertheit in ihrer Stimme wich einem leichten Tremolo.Sie erhob sich jh und wandte den Blick ab.Er stand ebenfalls auf.Verzeih, Aloysius, aber ich mchte eine Weile allein sein.Natrlich. Pendergast sah ihr nach, bis ihre schlanke Gestalt,einem Geist gleich, in den steinernen Gngen des Klostersverschwand. Dann wandte er den Blick der Berglandschafthinter dem Fenster zu und verlor sich in seinen Gedanken.Whrend die Dunkelheit den Pavillon erfllte, verklangen dieLaute der dzung; sekundenlang hallte die letzte Note einemEcho gleich zwischen den Felswnden wider. Alles war still, alshabe die heranbrechende Nacht eine Art Starre mit sich gebracht.Und dann erschien in den tiefsten Schatten unterhalbdes Pavillons eine Gestalt: Es war ein alter Mnch in safrangelbemGewand. Mit seiner welken Hand gab er Pendergastein Zeichen; es war jenes eigentmliche tibetische Schttelndes Handgelenks, das Komm, mit! bedeutet.Langsam ging Pendergast dem Mnch entgegen. Dieser wandtesich um und huschte ins Dunkel.Fasziniert folgte Pendergast dem Mnch, der ihn in eine unerwarteteRichtung fhrte, ber schwach erleuchtete Gnge biszu jener Zelle, in welcher der berhmte Anachoret lebte. DieserMnch hatte sich angeblich bereits als Zwlfjhriger ausfreien Stcken in einer Kammer einmauern lassen, die geradegro genug war, dass ein Mensch darin sitzen und meditierenkonnte; sein ganzes Leben verbrachte er in dieser Zelle. Einmalam Tag versorgten ihn seine Brder mit Brot und Wasser,das ihm durch eine Lcke im Mauerwerk zugeschoben wurde.Der Mnch blieb vor der Zelle stehen. Sie war nichts Besonderes,nur eine unauffllige dunkle Mauer, deren Steine vonTausenden von Hnden blankpoliert worden waren. UnzhligeMenschen waren gekommen, um von diesem besonderenAnachoreten Weisheit zu erbitten, der inzwischen fast hundertJahre alt und ein wegen seiner einzigartigen Gabe der Weissagungberhmtes Orakel war.Der Mnch tippte mit dem Fingernagel zweimal auf den Stein.Sie warteten. Nach einer Minute begann sich ein loser Steinim Mauerwerk zu bewegen, ganz leise kratzte er langsam berdie Fuge. Eine welke Hand, wei wie Schnee mit blulichdurchschimmernden Venen, kam zum Vorschein. Sie kippteden Stein auf die Seite, wodurch ein Spalt in der Mauer entstand.Der Mnch beugte sich zu der Lcke im Mauerwerk vor undmurmelte eine leise Bemerkung. Dann horchte er. Minutenverstrichen, in denen Pendergast von drinnen ein leises Flsternvernahm. Der Mnch richtete sich auf, offenbar zufrieden,und gab ihm ein Zeichen, nher zu treten. Er tat, wie ihmgeheien, und sah, wie der Stein in seine ursprngliche Stellungzurckglitt.Mit einem Mal drang aus dem Fels neben der gemauertenKammer ein dumpfer, kratzender Laut; ein Spalt ffnete sich.Er verbreiterte sich zu einer steinernen Tr, die von irgendeinemunsichtbaren Mechanismus bewegt wurde. Ein ungewhnlicherDuft, dem Weihrauch verwandt, drang aus demInneren. Der Mnch streckte die Hand aus, eine Geste, diePendergast zum Eintreten aufforderte; als dieser die Schwellebertreten hatte, glitt die Tr hinter ihm zu. Der Mnch warihm nicht gefolgt - Pendergast war allein.Ein weiterer Mnch tauchte mit einer blakenden Kerze in derHand aus dem Dunkel auf. Whrend der vergangenen siebenWochen in Gsalrig Chongg, wie auch bei seinen vorherigenBesuchen, hatte Pendergast alle Mnche kennengelernt - dochdieses Gesicht war ihm neu. Also hatte er soeben das innereKloster betreten, von dem zwar hinter vorgehaltener Hand geflstertwurde, dessen Existenz aber niemals besttigt wordenwar. Er war im Allerheiligsten. Der Zutritt war niemandemgestattet und wurde offenbar von dem eingemauerten Anachoretenbewacht, so viel hatte Pendergast begriffen. Es handeltesich um ein Kloster im Kloster, in dem ein halbes DutzendMnche ihr ganzes Leben in tiefster Meditation undnicht enden wollendem geistigen Studium verbrachte. DieMnner sahen niemals die Auenwelt, noch kamen sie mit denMnchen des ueren Klosters in Kontakt. Sie hatten sich sosehr aus der Welt zurckgezogen, wie Pendergast einmal zuflliggehrt hatte, dass Sonnenlicht auf ihrer Haut sie bereitstten konnte.Er folgte dem seltsamen Mnch einen schmalen Gang hinunter,der in die tiefsten Bereiche der Klosteranlage fhrte. DerGang wurde schmaler, und Pendergast erkannte, dass es sichdabei um einen Tunnel handelte, der aus dem Felsen geschlagenund vor tausend Jahren verputzt und bemalt worden war.Rauch, Feuchtigkeit und die Zeit hatten die Fresken inzwischenfast verbleichen lassen. Der Gang machte eine Biegungnach der anderen, fhrte an kleinen Felsnischen mit Buddhaundthangka-Gemlden vorbei, die von Kerzen erhellt und vonWeihrauchschwaden erfllt waren. Sie begegneten niemandem,sahen keinen Menschen - die fensterlosen Rume undTunnel wirkten leer, klamm und verlassen.Schlielich, nach einer scheinbar endlosen Strecke, gelangtensie wieder an eine Tr, deren gelte Eisenplatten dick vernietetwaren. Noch ein Schlssel wurde hervorgeholt, die Tr miteiniger Mhe entriegelt und geffnet.Der Raum war klein, eine einzelne Butterlampe spendete einmattes Licht. Die Wnde waren mit altem, von Hand poliertemHolz verkleidet und sorgfltig intarsiert. Slicher Rauchdurchzog stechend und harzig die Luft. Pendergast brauchteeinen Moment, um zu erkennen, dass die Kammer mit Schtzenangefllt war. Vor der gegenberliegenden Wand standein Dutzend Schatullen aus schwerem getriebenem Gold, dieDeckel fest verschlossen; daneben stapelten sich Ledertaschen,einige vermodert und an den Nhten aufgeplatzt, sodass ihr Inhalt zum Vorschein kam: Goldmnzen - von altenglischenSovereigns und griechischen Drachmen bis zuschweren indischen Goldmnzen aus dem Mughal-Reich.Kleine Holzfsschen waren drumherum aufgeschichtet worden,die Dauben geschwollen und verrottet, aus denen sichrohe und geschliffene Rubine, Saphire, Diamanten, Trkise,Turmaline und Peridots ergossen. Andere waren offenbar mitkleinen Goldbarren und ovalen altjapanischen Kobans gefllt.Die Wand zu seiner Rechten beherbergte eine andere ArtSchatz: Schalmeien und Hrner aus Ebenholz, Elfenbein undGold, besetzt mit Edelsteinen; io^'e-Glocken aus Silber undElektrum; menschliche Schdelkappen, verziert mit Edelmetallenund funkelnden Intarsien aus Trkisen und Korallen. Ineinem anderen Bereich drngten sich Statuen aus Gold undSilber, eine davon mit Hunderten von Sternsaphiren geschmckt;in Holzkisten ganz in der Nhe erkannte er aufStroh gebettete durchscheinende Schsseln, Figuren und Tafelnaus feinster Jade.Unmittelbar links von Pendergast befand sich der grteSchatz von allen: Hunderte kleine Kmmerchen, vollgestopftmit staubigen Schriftrollen, gerollten thangkas und Bndelnaus Pergament und Kalbsleder mit Schleifen aus Seidenkordeln.So erstaunlich war dieser Schatz, dass Pendergast erst nach einerWeile die Person wahrnahm, die im Lotussitz auf einemKissen in der nchstgelegenen Ecke sa.Der Mnch, der ihn hierhergefhrt hatte, verneigte sich, legtedie Hnde aneinander und zog sich zurck. Hallend fiel dieEisentr ins Schloss, der Schlssel drehte sich. Der Mnch imLotussitz deutete auf ein Kissen neben sich. Bitte setzen Siesich doch, sagte er auf Englisch.Pendergast verneigte sich und nahm Platz. Ein hchst bemerkenswerterRaum. Er machte eine kurze Pause. Und einhchst ungewhnlicher Weihrauch.Wir sind die Hter der Schtze des Klosters - des Goldesund des Silbers und all der anderen vergnglichen Dinge, diedie Welt fr Reichtum hlt. Der Mnch sprach ein gemessenes,elegantes Englisch mit einem Oxford-Akzent. Wir sindauerdem die Diener der Bibliothek und der religisen Gemlde.Den >Weihrauchdharma< bezieht sich auf die Lehren Buddhas?, fragtePendergast.In diesem Kontext bezeichnet der Begriff etwas noch Greres- die gesamte Welt.Dunkel und bengstigend.Der Ausdruck ist im Tibetischen genauso rtselhaft. Aber dieverwendeten Worte sind sehr machtvoll. Es ist eine starkeWarnung, Mr Pendergast - eine sehr starke.Pendergast dachte einen Augenblick darber nach. Wiekonnte ein Auenstehender denn genug ber den Kasten wissen,dass er ihn stahl? Ich habe ein ganzes Jahr hier verbrachtund nie davon gehrt.Das ist ein groes Rtsel. Sicherlich hat keiner unsererMnche jemals von dem Objekt gesprochen. Wir leben ingrter Angst vor ihm und sprechen nie davon, nicht einmaluntereinander.Dieser Bursche, Ambrose, htte mhelos Edelsteine im Wertvon Millionen scheffeln knnen. Jeder gewhnliche Dieb httezunchst das Gold und die Juwelen mitgehen lassen.Vielleicht, sagte der Mnch nach kurzem Zgern, ist er jakein gewhnlicher Dieb. Gold, Edelsteine ... Sie sprechen vonirdischen Gtern. Vergnglichen Schtzen. Das Agozyen hingegen. . . Ja?Aber der alte Mnch breitete nur die Arme aus und schautePendergast voller Furcht an.

3

Der schwarze Schleier der Nacht begann sich gerade zu lften,als Pendergast durch die eisenbeschlagene Tr des innerenBezirks des Klosters trat. Vor ihm, hinter der ueren Mauer,erhob sich der mchtige Annapurna; unverrckbar, ein violetterUmriss, der sich aus der weichenden Dunkelheit lste.Whrend ein Mnch ihm schweigend sein Pferd brachte, bliebPendergast im kopfsteingepflasterten Innenhof stehen. Diekhle Luft vor Sonnenaufgang war erfllt von Tau und demDuft wilder Rosen. Pendergast legte seine Satteltaschen berden Widerrist des Pferdes, berprfte den Sitz des Sattels,passte die Steigbgel an.Constance sah ihm wortlos zu, whrend er die letzten Reisevorbereitungentraf. Sie trug ein verwaschenes safrangelbesMnchsgewand; wren nicht ihre feinen Gesichtszge und ihrbrauner Haarschopf gewesen, htte man sie fr einen Mnchhalten knnen.Entschuldige, dass ich dich so frh am Morgen verlasse,Constance. Aber ich muss die Fhrte unseres Mannes aufnehmen,ehe sie kalt wird.Haben die Mnche wirklich keine Ahnung, worum es sichhandelt?Pendergast schttelte den Kopf. Auer seiner Form und seinemNamen wissen sie nichts.Finsternis . . . , murmelte sie. Sie sah ihn sichtlich beunruhigtan. Wie lange bleibst du fort?Der schwierige Teil ist bereits erledigt. Ich kenne den Namendes Diebes und wei, wie er aussieht. Es geht nur noch darum,ihn einzuholen. In einer Woche - im Hchstfall vielleichtzwei - msste ich den Gegenstand gefunden haben. Ein einfacherAuftrag. In zwei Wochen hast du deine Studien beendetund kannst dich mir anschlieen, so dass wir unsere Europareiseantreten knnen.Pass gut auf dich auf, Aloysius.Pendergast lchelte milde. Der Mann mag einen fragwrdigenCharakter haben, aber er kommt mir nicht wie ein Mrdervor. Das Risiko drfte minimal sein. Es handelt sich umeinen simplen Raub, der nur einen etwas verwirrenden Aspekthat: Warum hat der Mann das Agozyen gestohlen, aber dieJuwelen und das Gold nicht angerhrt? Er scheint vorher nieInteresse an tibetischen Kultgegenstnden gezeigt zu haben.Das deutet darauf hin, dass es sich beim Agozyen um etwasbemerkenswert Kostbares und Wertvolles handelt - oder dasses auf irgendeine andere Art wahrhaft auergewhnlich ist.Constance nickte. Hast du irgendwelche Anweisungen frmich?Erhol dich. Meditiere. Beende die Studien, die du aufgenommenhast. Er hielt inne. Ich bezweifle, dass tatschlich niemandhier wei, was das Agozyen ist - jemand muss einmaleinen Blick darauf geworfen haben. Aber so ist die menschlicheNatur - selbst hier, unter den Mnchen. Es wrde mirsehr helfen, wenn ich wsste, worum es sich handelt.Ich kmmere mich darum.Ausgezeichnet. Ich wei, ich kann auf deine Diskretion zhlen. Er zgerte, dann wandte er sich noch einmal an sie.Constance, ich muss dich noch etwas fragen.Als sie seinen Gesichtsausdruck sah, weiteten sich ihre Augen,aber ihre Stimme blieb ruhig. Ja?Du hast nie von deiner Reise nach Feversham erzhlt. Irgendwannmchtest du vielleicht darber reden. Wenn du dichmir wieder anschliet... wenn du so weit b i s t . . . Wieder verrietseine Stimme eine fr ihn untypische Verwirrung und Unentschlossenheit.Constance wandte den Blick ab.Seit Wochen, fuhr er fort, haben wir nicht darber gesprochen,was geschehen ist. Aber frher oder spter . . . Sie drehte sich abrupt zu ihm um. Neinl, sagte sie heftig.Nein. Sie hielt einen Augenblick inne, riss sich zusammen.Bitte, versprich mir eins: Erwhne ihn ... oder Feversham ...mir gegenber nie wieder.Pendergast blieb regungslos stehen, schaute sie forschend an.Offenbar hatte die Verfhrung durch seinen Bruder DiogenesConstance noch tiefer berhrt, als ihm klar gewesen war.Schlielich nickte er fast unmerklich. Ich verspreche es dir.Dann entzog er ihr seine Hnde und ksste sie auf beide Wangen.Er nahm die Zgel, schwang sich in den Sattel, trieb seinPferd an, ritt durch das uere Tor und machte sich auf denWeg, den gewundenen Pfad hinab.

4

In einer kahlen Zelle tief im Kloster Gsalrig Chongg saConstance Greene im Lotussitz, die Augen geschlossen, undvisualisierte die auerordentlich komplex verknotete Seidenkordel,die auf einem Kissen vor ihr lag. Tsering sa im Halbdunkelhinter ihr. Sie vernahm den leisen Klang seiner Stimme,ein tibetisches Gemurmel. Nach acht Wochen intensivenUnterrichts beherrschte sie die Sprache einigermaen, wennauch stockend; sie hatte ein bescheidenes Vokabular erworbenund einige Redewendungen erlernt.Sieh den Knoten mit deinem geistigen Auge, kam die leise,hypnotisierende Stimme ihres Lehrmeisters.Der Knoten erschien, ungefhr einen Meter vor ihren geschlossenenLidern; er war in klares, helles Licht gehllt. Dasssie auf dem nackten, kalten Fuboden einer salpeterverkrustetenZelle sa, schwand aus ihrem Bewusstsein.Mach das Bild deutlich. Mach es klar.Der Knoten begann zu flackern und wurde undeutlich, sobaldihre Aufmerksamkeit nachlie, kehrte aber immer wieder vorihr geistiges Auge zurck, wenn sie sich wieder konzentrierte.Dein Geist ist wie ein See in der Dmmerung, raunte ihrLehrmeister. Still, ruhig und klar.Ein seltsames Gefhl des Hierseins und Doch-nicht-Hierseinsumfing Constance. Der Knoten, den sie fr ihre Visualisierungsbunggewhlt hatte, blieb in ihrem Geist prsent. Eswar ein Knoten von mittlerer Komplexitt, vor ber dreihundertJahren von einem groen Lehrer geknotet. Er war unterdem Namen Doppelte Rose bekannt.Verstrke das Bild des Knotens in deinem Geist.Es war ein schwieriges Gleichgewicht zwischen Bemhen undLoslassen. Wenn sie sich zu sehr auf die Klarheit und Deutlichkeitdes Bildes konzentrierte, begann es sich aufzulsenund andere Gedanken drngten sich vor; wenn sie zu stark loslie,verschwand das Bild in den Nebeln ihres Bewusstseins.Aber es gab einen Punkt der vollkommenen Balance, und allmhlich- sehr allmhlich - fand sie ihn.Nun schau auf das Bild des Knotens, den du in deinem Geisterschaffen hast. Betrachte ihn aus allen Blickwinkeln: vonoben, von den Seiten.Die sanft schimmernden Seidenwindungen blieben vor ihremgeistigen Auge. Sie vermittelten ihr eine stille Freude, eineAchtsamkeit, die sie nie zuvor erfahren hatte. Und dann verschwanddie Stimme ihres Lehrers ganz und gar, und allein derKnoten blieb. Die Zeit verschwand. Der Raum verschwand.Nur der Knoten blieb.Lse den Knoten.Das war der schwierigste Teil - es erforderte ungeheure Konzentration,den Windungen des Knotens zu folgen und sie inGedanken zu lsen.Die Zeit verging; zehn Sekunden oder auch zehn Stunden,alles war eins.Eine Hand berhrte sie sanft an der Schulter, sie schlug dieAugen auf. Tsering stand vor ihr.Wie lange?, fragte sie auf Englisch.Fnf Stunden.Sie erhob sich und stellte fest, dass ihre Knie so wackelig waren,dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Er packtesie am Arm und sttzte sie.Du lernst gut, sagte er. Achte darauf, keinen Stolz zu empfinden.Sie nickte. Danke.Langsam schritten sie den uralten Gang entlang und bogenum eine Ecke. Von weiter vorn hrte Constance die Gebetsmhlen.Wieder bogen sie um eine Ecke. Sie fhlte sich erfrischt,klar, hellwach. Was treibt die Gebetsmhlen an?,fragte sie. Sie hren nie auf, sich zu drehen.Es gibt eine Quelle unter dem Kloster - der Ursprung desTsangpo. Das Wasser luft ber ein Rad und treibt die Mhlenan.Sehr erfinderisch.Sie passierten den Wald aus quietschenden, klappernden bronzenenHohlzylindern. Hinter den Gebetsmhlen sah Constanceunzhlige sich bewegende Messingstbe und Holzrder. Sie lieendie Gebetsmhlen hinter sich und gelangten in einen derueren Gnge. Vor ihnen ragte einer der Steinpavillons desKlosters auf - zwischen den Pfeilern sah man die drei groenBergmassive. Sie betraten den Pavillon. Constance sog tief diereine Hochgebirgsluft ein. Tsering deutete auf eine Sitzgelegenheit,sie setzte sich. Er lie sich neben ihr nieder. Einige Minutenblickten sie schweigend auf die dunkler werdenden Berge.Die Meditation, die du lernst, ist sehr intensiv. Eines Tagesffnest du die Augen und wirst vielleicht feststellen, dass derKnoten ... gelst ist.Constance schwieg.Es gibt Menschen, die die materielle Welt mit reinen Gedankenbeeinflussen, die Dinge aus Gedankenkraft erschaffenknnen. Es gibt die Geschichte von einem Mnch, der so langeber die Rose meditierte, dass eine Rose auf dem Boden lag,als er die Augen ffnete. Das ist sehr gefhrlich. Manche Menschen,mit der richtigen inneren Konzentration und Technik,knnen Dinge erschaffen ... nicht nur Rosen. Das ist nichterstrebenswert und auch eine schwerwiegende Abweichungvon der buddhistischen Lehre.Sie nickte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, aber sieglaubte ihm kein Wort.Tserings Mund verzog sich zu einem Lcheln. Du bist eineSkeptikerin. Das ist sehr gut. Aber ob du mir glaubst odernicht, whle den Gegenstand deiner Meditationsbung immersorgfltig aus.Das werde ich, sagte Constance.Vergiss nicht: Wir haben viele Dmonen, aber die meistensind nicht bse. Es sind die Bindungen an das irdische Leben,die du besiegen musst, um Erleuchtung zu erlangen.Es folgte ein langes Schweigen.Hast du eine Frage?Sie schwieg einen Augenblick lnger und dachte an PendergastsAbschiedsworte. Sag mir: Warum gibt es ein inneresKloster?Tsering antwortete nicht sofort. Das innere Kloster ist daslteste Kloster Tibets. Es wurde hier in den entlegenen Bergenvon einer Gruppe indischer Wandermnche erbaut.Wurde es zum Schutz des Agozyens errichtet?Tsering warf ihr einen scharfen Blick zu. Davon sollte mannicht sprechen.Mein Vormund ist aufgebrochen, um das Agozyen zu finden,auf Bitten des Klosters hin. Vielleicht kann ich ebenfalls vonNutzen sein.Der alte Mann wandte den Blick ab, und die Entrcktheit inseinen Augen hatte nichts mit der Landschaft hinter dem Pavillonzu tun. Das Agozyen wurde aus Indien hergebracht.Weit fort in die Berge, wo es keine Bedrohung war. Man bauteein inneres Kloster, um das Agozyen zu schtzen und aufzubewahren.Dann, spter, wurde das uere Kloster um das innereKloster herum errichtet.Es gibt da etwas, das ich nicht verstehe. Wenn das Agozyen sogefhrlich ist, warum wurde es dann nicht einfach vernichtet?Der Mnch schwieg sehr lange. Dann sagte er ruhig: Weil eseines Tages einen wichtigen Zweck erfllen wird.Und welchen?Aber ihr Lehrmeister antwortete nicht.

5

Der Jeep raste um eine Kurve am Berghang, polterte aufspritzenddurch eine Reihe riesiger, schlammiger Schlaglcher undbog auf eine breite, unbefestigte Strae ein, die in ein sumpfigesTal unweit der tibetisch-chinesischen Grenze fhrte. Hierlag die Stadt Qiang. Grauer Nieselregen fiel vom Himmel aufeine braune Dunstglocke, die ber der Stadt hing; Rauch stiegaus einer Reihe von Schornsteinen auf der anderen Seite einestrben Flusses auf. Auf beiden Seitenstreifen trmte sichMll.Wild hupend berholte der Fahrer des Jeeps einen berladenenLaster. Der Wagen schleuderte in einer Blindkurve umeinen weiteren Laster herum, drehte sich ein, zwei Meter vomAbgrund entfernt um die eigene Achse, und die Abfahrt in dieStadt begann.Zum Bahnhof, bitte, sagte Pendergast auf Mandarin zu demFahrer.Wei wei, xian sheng!Mit raschen Manvern wich der Fahrer Fugngern, Fahrradfahrernund einem Ochsengespann aus und kam schlielichmit kreischenden Bremsen vor einem Kreisverkehr zum Stehen.Hier herrschte dichtes Verkehrsgewhl, danach ging esnur noch schrittweise vorwrts, obwohl der Fahrer pausenlosauf die Hupe drckte. Abgase und eine wahre Symphonie vonSignalhrnern erfllten die Luft. Die Scheibenwischer fhrenhin und her und verteilten den Schlamm, von dem der Jeepbedeckt war, auf der Windschutzscheibe; zu mehr reichte derschwache Regen nicht aus.Hinter dem Kreisverkehr endete der breite Boulevard voreinem niedrigen Betongebude. Der Fahrer hielt abrupt an.Wir sind da, sagte er.Pendergast stieg aus und spannte seinen Regenschirm auf. DieLuft roch nach Schwefel und Petroleum. Er betrat den Bahnhofund schlngelte sich zwischen Scharen schiebender, brllenderMenschen hindurch, die riesige Scke und Krbe aufdem Rcken schleppten. Manche trugen lebende, zusammengeschnrteHhner oder Enten, einer schob sogar ein jmmerlichkreischendes, festgebundenes Schwein in einem altenEinkaufswagen vor sich her.Im hinteren Teil des Bahnhofs war es weniger voll, und Pendergastfand das, wonach er gesucht hatte: einen schwach erleuchtetenKorridor, der zu den Bros der Beamten fhrte. Erpassierte einen halb schlafenden Wachtposten, lief den langenFlur hinunter und blickte im Vorbergehen auf die Namensschilderan den Tren. Endlich blieb er vor einer besondersschbigen Tr stehen. Er drckte die Klinke herunter, fand dieTr unverschlossen und trat, ohne zu klopfen, ein.Ein chinesischer Beamter, klein und rundlich, sa hinter einemmit Papierstapeln berladenen Schreibtisch. Daneben standein mitgenommenes Teegeschirr mit angeschlagenen, dreckigenTassen. Das Bro roch nach Gebratenem und Hoisin-Sauce.Der Beamte sprang auf, wtend ber das unangemeldete Eindringen.Wer du sein?, brllte er in schlechtem Englisch.Pendergast, der ein hochnsiges Lcheln aufgesetzt hatte,stand mit verschrnkten Armen da.Was du wollen? Ich rufen Wache. Der Beamte griff nachdem Telefonhrer, aber Pendergast beugte sich rasch vor unddrckte die Gabel herunter.Ba, sagte Pendergast leise auf Mandarin. Lassen Sie das.Bei dieser weiteren Ungeheuerlichkeit lief das Gesicht desChinesen rot an.Ich habe ein paar Fragen, die ich gern beantwortet habenwrde, sagte Pendergast, immer noch im kalt formellenMandarin.Die Wirkung auf den Beamten war beachtlich - sein Gesichtspiegelte Emprung, Verwirrung und Besorgnis wider. Siebeleidigen mich, brllte er schlielich auf Mandarin. Siedringen in mein Bro ein, berhren mein Telefon, stellen Forderungen!Wer sind Sie, dass Sie hier einfach eindringen undsich auffhren wie ein Barbar?Bitte setzen Sie sich, werter Herr, seien Sie ruhig, und hrenSie zu. Oder , hier wechselte Pendergast in die beleidigendeinformelle Sprechweise, oder Sie werden sich unversehensim nchsten Zug wiederfinden, auf dem Weg zu Ihrer neuenWirkungssttte, einem Wachposten hoch in den Kunlun-Bergen.Das Gesicht des Mannes war fast purpurrot angelaufen, aberer schwieg. Dann setzte er sich steif hin, legte die gefaltetenHnde auf den Schreibtisch und wartete.Pendergast setzte sich ebenfalls. Er nahm das Rollbild heraus,das Thubten ihm gegeben hatte, und reichte es dem Beamten.Nach kurzem Zgern nahm der es widerstrebend entgegen.Dieser Mann ist vor zwei Monaten hier durchgekommen.Sein Name ist Jordan Ambrose. Er hatte einen sehr alten Holzkastenbei sich. Er hat Sie bestochen, und dafr haben Sie ihmeine Ausfuhrgenehmigung fr den Holzkasten beschafft. Ichwrde gern die Kopie der Ausfuhrgenehmigung sehen.Es folgte ein lngeres Schweigen. Dann legte der Beamte dasRollbild auf den Schreibtisch. Ich wei berhaupt nicht, wovonSie sprechen, erklrte er missmutig. Ich nehme keineBestechungsgelder. Und hier kommen jede Menge Leutedurch, ich kann mich unmglich an jeden erinnern.Pendergast zog ein flaches Bambuskstchen aus der Tasche,klappte es auf, drehte es um und legte einen Stapel frischerHundert-Renminbi-Yuan-Scheine auf den Tisch. Der Mannstarrte auf das Geld und schluckte.An diesen Mann wrden Sie sich erinnern, sagte Pendergast.Der Holzkasten war gro - anderthalb Meter lang. Erwar ganz offensichtlich alt. Es wre Mr Ambrose unmglichgewesen, ihn ohne Ausfuhrgenehmigung hier durch oderauer Landes zu schaffen. Nun, werter Herr, haben Sie dieWahl: Entweder vergessen Sie Ihre Prinzipien und nehmendas Bestechungsgeld, oder Sie bleiben ihnen treu und landenin den Kunlun-Bergen. Wie Sie vielleicht an meinem Akzentund meiner Beherrschung Ihrer Sprache gemerkt haben,habe ich in Ihrem Land beste Verbindungen, obwohl ich Auslnderbin.Der Beamte wischte sich die Hnde mit einem Taschentuchab. Dann legte er eine Hand ber die Banknoten, zog den Stapeldichter an sich heran, und die Scheine verschwanden raschin einer Schreibtischschublade. Dann erhob er sich. Auch Pendergaststand auf, und sie gaben einander die Hand undtauschten hfliche Begrungsfloskeln aus, als habe er geradeerst den Raum betreten.Der Mann setzte sich. Htte der Herr gern etwas Tee?,fragte er.Pendergast warf einen Blick auf das dreckige, verfrbte Teegeschirr,dann lchelte er. Ich wrde mich sehr geehrt fhlen,werter Herr.Der Mann brllte etwas in ein Hinterzimmer. Ein Untergebenerkam hereingetrottet und nahm das Teegeschirr mit. FnfMinuten spter kam er mit der dampfenden Kanne zurck.Der Beamte schenkte Tee ein.Ich erinnere mich an den Mann, von dem Sie sprechen,sagte er. Er hatte kein Visum fr China. Er hatte einen langenHolzkasten dabei. Er wollte ein Einreisevisum - das er brauchte,um ausreisen zu knnen - und eine Exportgenehmigung.Ich habe ihm beides verschafft. Es war ... sehr teuer fr ihn.Der Tee, ein Lung-Cheng-Grntee, war zu Pendergasts berraschungvon guter Qualitt.Natrlich sprach er kein Chinesisch. Er erzhlte mir eine unglaublicheGeschichte. Angeblich war er ber das Gebirge vonNepal nach Tibet gekommen.Und der Kasten? Sagte er etwas darber?Er sagte, es sei eine Antiquitt, die er in Tibet gekauft hatte -Sie wissen ja, fr ein paar Yuan wrden diese dreckigen Tibeterihre eigenen Kinder verkaufen. In der Autonomen RegionTibet wimmelt es ja nur so von altem Kram.Haben Sie gefragt, was sich in dem Kasten befand?Angeblich ein p/;wr-fc-Ritualdolch. Der Beamte whlte ineiner Schreibtischschublade herum, bltterte ein paar Dokumentedurch und zog die Kopie der Ausfuhrgenehmigung hervor.Er schob sie Pendergast hin, der sie sich ansah.Aber der Kasten war verschlossen, und der Mann weigertesich, ihn zu ffnen, fuhr der Beamte fort. Das hat ihn nocheiniges mehr gekostet, diese Vermeidung einer Inspektion desInhalts. Er lchelte und entblte seine Zhne, die braunvom Tee waren.Was, glauben Sie, befand sich in dem Kasten?Ich habe keine Ahnung. Heroin, Devisen, Edelsteine? Ermachte eine Geste, die sein Desinteresse unterstrich.Pendergast wies auf die Exportgenehmigung. Hier steht, dasser mit dem Zug nach Chengdu fahren, dann mit Air Chinanach Beijing fliegen und von dort einen Flug nach Rom nehmenwollte. Stimmt das?Ja. Es war notwendig, dass er mir sein Ticket zeigte. Wenn erversucht htte, China auf einer anderen Route zu verlassen,htte die Gefahr bestanden, dass er festgehalten wird. Die Ausfuhrgenehmigunggilt nur fr die Strecke Qiang-Chengdu-Beijing-Rom. Ich bin also sicher, dass er diese Route genommenhat. Einmal in Rom angekommen natrlich . . . Wiederspreizte er die Hnde.Pendergast notierte sich die Reiseinformationen. Wie hat ersich verhalten? War er nervs?Der Beamte dachte kurz nach. Nein. Es war sehr merkwrdig.Er schien ... voller Freude. berschwnglich. Fast euphorisch.Pendergast erhob sich. Ich danke Ihnen ganz herzlich fr denTee, xian sheng.Und ich danke Ihnen, wertester Herr, sagte der Beamte.Eine Stunde spter sa Pendergast in einem Erster-Klasse-Wagendes Trans-China-Express auf dem Weg nach Chengdu.

6

Constance Greene wusste, dass die Mnche des KlostersGsalrig Chongg nach einem festen Stundenplan lebten: Meditation,Studium und Ruhe wurden durch zwei Pausen frMahlzeiten und Tee unterbrochen. Die Schlafperiode war festgelegt- von acht Uhr abends bis ein Uhr nachts. Von dieserRoutine wurde nie abgewichen, sie war wahrscheinlich seittausend Jahren unverndert. Daher ging sie davon aus, dass ihrum Mitternacht in dem gewaltigen Kloster kein Mensch berden Weg laufen wrde.Wie in den vergangenen drei Nchten warf sie also um Punktzwlf die grobe Yakhaut zurck, die ihr als Decke diente, undsetzte sich im Bett auf. Es war still bis auf das Wispern desWindes in den ueren Pavillons des Klosters. Sie stand aufund schlpfte in ihre Mnchsrobe. In der Zelle war es bitterkalt.Sie trat an das winzige Fenster und ffnete die Holzlden.Es war nicht verglast, und ein Schwall eisiger Luftstrmte herein. Sie schaute in die Dunkelheit der Nacht hinaus;ein einzelner Stern funkelte hoch oben in der samtigenSchwrze.Constance schloss das Fenster, ging zur Tr und lauschte. Alleswar ruhig. Behutsam ffnete sie die Tr, schlpfte in denFlur hinaus und ging den langen ueren Flur entlang. Sie kaman den Gebetsmhlen vorbei, die endlos ihre Gebete gen Himmelklapperten, und betrat einen Gang, der tief hinein in dasinnere Labyrinth des Klosters fhrte. Sie war auf der Suchenach dem eingemauerten Einsiedler, dem Wchter des innerenKlosters. Zwar hatte Pendergast ihr den ungefhren Standortbeschrieben, doch der Klosterkomplex war so riesig unddie Gnge so verwinkelt, dass es sich als geradezu unmglicherwies, ihn zu finden.Aber in dieser Nacht kam sie nach vielen Abzweigungenendlich zu der von zahlreichen Hnden blankpolierten Steinmauer,die die Auenwand seiner Zelle war. Auch der lose Ziegelsteinfand sich, die Kanten von unzhligen Drehungen angeschlagen.Sie klopfte ein paarmal leicht darauf und wartete.Minuten vergingen, dann bewegte sich der Ziegelstein leicht;ein leises, kratzendes Gerusch, und er begann sich zu drehen.Knochige Finger, die an lange, weie Wrmer erinnerten,umfassten die Kante des Ziegelsteins und kippten ihn, so dasssich eine kleine Luke auftat.Constance hatte vorher eine kleine Ansprache auf Tibetischvorbereitet. Sie beugte sich vor und flsterte in das Loch hinein:Lass mich ins innere Kloster.Sie drehte den Kopf und legte das Ohr an die ffnung. Eineschwache, insektenhnliche Flsterstimme antwortete. Constancebemhte sich, zu hren und zu verstehen.Du weit, dass das verboten ist?Ja, aber -Bevor sie den Satz beenden konnte, gab es ein scharrendes Gerusch,ein Teil der Mauer begann sich zu bewegen. Ein Spalttat sich auf. Dahinter erschien ein finsterer Gang. Constancewar verblfft - der Eremit hatte nicht einmal ihre sorgsam ausgearbeiteteErklrung abgewartet.Sie kniete sich hin, entzndete ein Drachen-Rucherstbchenund trat ein. Die Wand schloss sich. Vor Constance roch esnach Feuchtigkeit und nassem Gestein. Ein slicher, harzigerDuft lag in der Luft.Constance hielt das Rucherstbchen hoch und tat einenSchritt vorwrts. Die Flamme flackerte wie im Protest. Diejunge Frau folgte dem langen Gang, dessen Wnde mit verstrendenBildern seltsamer Gottheiten und tanzender Dmonenbemalt, aber nur schwach zu erkennen waren.Das innere Kloster, wurde ihr klar, musste ursprnglich weitmehr Mnche beherbergt haben als heute. Es war gewaltig,kalt und leer. Ohne zu wissen, wohin sie unterwegs war, sogarohne klare Vorstellung davon, was sie hier eigentlich suchte -abgesehen davon, dass sie den Mnch, mit dem Pendergastgesprochen hatte, weiter befragen wollte -, bog sie um mehrereEcken, durchquerte lange, leere Rume, deren Wnde mitnur halb sichtbaren thangkas und Mandalas bedeckt waren, vonder Zeit fast ausgelscht. In einem Raum flackerte eine einsame,vergessene Kerze vor einer uralten, von Grnspan zerfressenenBronzestatue des Buddhas. Das Rucherstbchen,das Constance als Lichtquelle benutzte, begann zu zischen. Siezog ein neues aus der Tasche und entzndete es, und derGeruch von Sandelholzrauch erfllte den Gang.Sie bog wieder um eine Ecke und blieb wie angewurzelt stehen.Vor ihr stand ein hochgewachsener, hagerer Mnch ineinem zerlumpten Mnchsgewand. Seine tiefliegenden Augenstarrten sie mit seltsamer, fast glhender Intensitt an. Sie erwiderteseinen Blick. Er sagte nichts. Keiner von beiden rhrtesich.Dann hob Constance die Hand zu ihrer Kapuze und schob siezurck, so dass ihr braunes Haar auf ihre Schultern fiel.Die Augen des Mnchs weiteten sich, aber nur leicht. Immernoch schwieg er.Sei gegrt, sagte Constance auf Tibetisch.Der Mnch neigte leicht den Kopf. Seine groen Augen warenunverwandt auf sie gerichtet.Das Agozyen, sagte sie.Wieder keine Reaktion.Ich bin gekommen, um zu fragen: Was ist das Agozyen?Sie sprach stockend, immer noch in ihrem schlechten Tibetisch.Warum bist du hier, kleiner Mnch?, fragte er ruhig.Constance trat einen Schritt auf ihn zu. Was ist das Agozyen?, wiederholte sie schrfer.Er schloss die Augen. Dein Geist ist in Aufruhr, Kind.Ich muss es wissen.Muss, wiederholte er.Was bewirkt das Agozyen?Der Mnch schlug die Augen auf, drehte sich um und gingdavon. Nach kurzem Zgern folgte sie ihm.Er fhrte sie durch zahlreiche enge, verschlungene Gnge,Treppen hinauf und hinab, durch grob behauene Tunnel undgroe, freskenverzierte Hallen. Endlich blieb er vor einer Trffnungstehen, die mit einem Stck verschlissener orangefarbenerSeide verhngt war. Er schob den Vorhang beiseite, undConstance sah erstaunt, dass dahinter drei Mnche wie zur Beratungauf Steinbnken saen; vor einer vergoldeten Statue dessitzenden Buddhas standen Kerzen.Einer der Mnche erhob sich. Bitte, kommen Sie herein,sagte er in berraschend flssigem Englisch.Sie verneigte sich. War sie erwartet worden? Das konnte dochnicht sein. Dennoch, es gab keine andere Erklrung.Lama Tsering ist mein Lehrmeister, sagte sie. Sie war dankbar,wieder Englisch sprechen zu knnen.Der Mann nickte.Ich bin gekommen, um mehr ber das Agozyen zu erfahren.Er drehte sich zu den anderen um und sagte etwas auf Tibetisch.Constance bemhte sich, dem Gesprch zu folgen, aberdie Stimmen waren zu leise. Endlich wandte sich der Mnchwieder an sie.Thubten hat dem Detektiv alles erzhlt, was wir wissen.Vergebt mir, aber das glaube ich nicht.Der Mnch schien von ihrer Direktheit erstaunt, aber er erholtesich rasch. Warum sprichst du so, Kind?Im Raum war es eiskalt, Constance begann zu frsteln. Sie zogihre Mnchsrobe enger um sich. Vielleicht wissen Sie nicht,was das Agozyen genau ist, aber Sie kennen seine Wirkung.Den Zweck, den es einmal erfllen soll.Die Zeit, das zu enthllen, ist noch nicht gekommen. DasAgozyen wurde uns genommen.Vorzeitig, meinen Sie?Der Mnch schttelte den Kopf. Wir waren seine Hter. Esist unbedingt notwendig, dass es zu uns zurckkehrt, bevor . . . Er verstummte.Bevor was?Wieder schttelte der Mnch den Kopf. In dem schwachenLicht traten die Sorgenfalten in seinem verhrmten Gesichtstark hervor.Sie mssen es mir sagen. Es wird Pendergast helfen, es wirduns helfen, das Agozyen zu finden. Ich werde es niemandemauer ihm verraten.Lasst uns die Augen schlieen und meditieren, sagte derMnch. Lasst uns meditieren und Gebete fr seine baldige,sichere Rckkehr sprechen.Sie schluckte und versuchte, ihren Geist zu beruhigen. Esstimmte, ihr Verhalten war impulsiv. Die Mnche fanden eszweifellos schockierend. Aber sie hatte Aloysius etwas versprochen,und dieses Versprechen wrde sie halten.Der Mnch begann zu psalmodieren, und die anderen fielenein. Der seltsame, monotone Sprechgesang erfllte ihren Geist,und ihre Aggressivitt, ihr verzweifeltes Bedrfnis, mehr zu erfahren,schienen aus ihr herauszuflieen wie Wasser aus einemzerbrochenen Gef. Der dringliche Wunsch, Pendergasts Bittezu erfllen, lie etwas nach. Ihr Geist war hellwach, fast ruhig.Das Psalmodieren hrte auf. Langsam schlug sie die Augenauf.Suchst du immer noch leidenschaftlich eine Antwort auf deineFrage?Constance schwieg lange. Sie erinnerte sich an eine ihrer Lektionen- eine Lehre ber das Begehren.Sie senkte den Kopf. Nein, log sie. Sie wollte die Antwortmehr denn je.Der Mnch lchelte. Du hast noch viel zu lernen, kleinerMnch. Du brauchst diese Information, du willst sie unbedingt,und sie wird dir von Nutzen sein - das wissen wir sehrgut. Aber es ist nicht gut fr dich persnlich, danach zu streben.Dieses Wissen ist uerst gefhrlich. Es hat das Potenzial,nicht nur dein Leben zu zerstren, sondern auch deine Seele.Es knnte dich fr alle Zeiten daran hindern, die Erleuchtungzu erlangen.Sie blickte auf. Ich brauche die Antwort.Wir wissen nicht, was das Agozyen genau ist. Wir wissennicht, aus welcher Region Indiens es hierhergelangte. Wirwissen nicht, wer es erschaffen hat. Aber wir wissen, zu welchemZweck es erschaffen wurde.Constance wartete.Es wurde erschaffen, um eine furchtbare Strafe ber die Weltzu bringen.Strafe? Was fr eine Strafe?Zur Reinigung der Erde.Aus unerfindlichen Grnden war Constance pltzlich unsicher,ob sie wollte, dass der Mnch fortfuhr. Sie zwang sich zumSprechen. Reinigen - und wie?Das sorgenvolle Gesicht des Mannes wurde fast trauervoll.Ich bedaure sehr, dass ich dich mit diesem Wissen belastenmuss. Wenn die Welt in Selbstsucht, Gier, Gewalt und Bosheitversinkt, wird das Agozyen die Erde von ihrer menschlichenBrde befreien.Constance schluckte. Ich wei nicht genau, ob ich das verstehe.Es wird die Erde gnzlich von ihrer menschlichen Last reinigen, erklrte der Mnch sehr leise. Damit ein neuer Anfanggemacht werden kann.

7

Aloysius Pendergast stieg beim Ca'd'Oro aus dem Vaporettound blieb kurz stehen. Es war ein warmer Sommertag, und dasSonnenlicht glitzerte auf dem Wasser des Canal Grande undlag warm auf den Marmorfassaden der Palazzi.Pendergast blickte auf einen Zettel und ging dann den Anlegerentlang Richtung Nordosten, auf das Gewirr von Gassen zu,die zur Chiesa dei Gesuiti fhrten. Bald hatte er Lrm undTrubel hinter sich gelassen und war tief in die khlen, schattigenSeitengassen eingedrungen, die hinter den Palsten amCanal Grande entlangfhrten. Musik drang aus einem Restaurant.Ein kleines Motorboot flitzte ber einen Seitenkanal undlie das Wasser gegen Marmormauern und Brckenpfeilerschwappen. Ein Mann beugte sich aus einem Fenster und riefber das Wasser hinweg einer Frau etwas zu und brachte siedamit zum Lachen.Nachdem Pendergast um ein paar Ecken gebogen war, stander vor einer Tr mit einer abgegriffenen Bronzeklingel, berder schlicht Dott. Adriano Morin stand. Er drckte auf die Klingelund wartete. Kurz darauf ffnete sich ber ihm quietschendein Fenster. Er sah hoch. Eine Frau schaute heraus.Was wollen Sie?, fragte sie auf Italienisch.Ich habe einen Termin mit dem Dottore. Mein Name istPendergast.Der Kopf verschwand, und kurz darauf wurde die Tr geffnet.Kommen Sie herein, sagte die Frau.Pendergast trat in einen kleinen Empfangsraum. Die Wndewaren mit rotem Seidenbrokat ausgeschlagen, der Fubodenbestand aus schwarz-weien Marmorquadraten. Verschiedeneexquisite Werke asiatischer Kunst schmckten den Raum: einantiker Khmer-Kopf aus Kambodscha, ein tibetischer dorje ausreinem Gold, mit Trkisen besetzt, mehrere alte thangkas,eine illustrierte Mughal-Handschrift in einem Glaskasten, einBuddhakopf aus Elfenbein.Bitte nehmen Sie Platz, sagte die Frau und setzte sich hintereinen kleinen Schreibtisch.Pendergast lie sich nieder, legte seine Aktentasche auf denScho und wartete. Er wusste, dass Dr. Morin einer der berchtigtstenHndler Europas fr Antiquitten ohne Herkunftsnachweiswar. Im Grunde war er ein Schwarzmarkthndlerauf hohem Niveau, einer von vielen, die geraubteAntiquitten aus verschiedenen korrupten Lndern Asiensbezogen, sie mit falschen Papieren ausstatteten und dann aufdem regulren Kunstmarkt an Museen und Sammler verkauften,die wussten, dass es besser war, nicht allzu genau nachzufragen.Nach kurzer Zeit erschien Morin in der Tr, ein gepflegter,eleganter Mann mit exquisit manikrten Hnden, winzigenFen, die in schnen italienischen Schuhen steckten, undsorgsam gestutztem Bart.Mr Pendergast? Ich bin entzckt. Er reichte ihm die Hand.Bitte kommen Sie.Pendergast folgte ihm in einen langgestreckten Salon mit einergotischen Fensterfront, die auf den Canal Grande hinausging.Wie der Empfangsraum war auch der Salon voller bemerkenswerterBeispiele asiatischer Kunst. Morin wies aufeinen Sessel, und sie machten es sich bequem. Er nahm eingoldenes Zigarettenetui aus der Tasche, klappte es auf und botPendergast eine Zigarette an.Nein, vielen Dank.Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich rauche?Selbstverstndlich nicht.Morin nahm eine Zigarette aus dem Etui und schlug die Beineelegant bereinander. Also, Mr Pendergast, was kann ich frSie tun?, nahm er das Gesprch auf.Sie haben eine schne Sammlung, Dr. Morin.Morin lchelte und machte eine weit ausholende Geste. Ichverkaufe nur durch private Vermittlung. Selbstverstndlichsind diese Rumlichkeiten der ffentlichkeit nicht zugnglich.Wie lange sammeln Sie schon? Ich bin noch nie auf IhrenNamen gestoen, und ich kann mit Stolz behaupten, fast allein diesem Bereich zu kennen.Ich bin kein Sammler.Morin, der sich gerade seine Zigarette anznden wollte, hieltmitten in der Bewegung inne. Kein Sammler? Dann muss ichSie bei unserem Telefonat missverstanden haben.Sie haben mich nicht missverstanden. Ich habe gelogen.Jetzt verharrte die Hand regungslos; der Rauch kruselte sichempor. Wie bitte?Eigentlich bin ich Ermittler. Ich bin Privatdetektiv und aufder Suche nach einem gestohlenen Gegenstand.Die Luft im Raum schien zu gefrieren.Morin sagte ruhig: Da Sie selbst zugeben, nicht in offiziellerFunktion hier zu sein, und Sie sich unter falschen VoraussetzungenZutritt verschafft haben, frchte ich, dass unser Gesprchhiermit beendet ist. Er erhob sich. Guten Tag, MrPendergast. Lavinia wird Sie hinausbegleiten.Als er sich umdrehte, um den Raum zu verlassen, sagte Pendergastfast beilufig: Die Khmer-Statue dort in der Ecke stammtbrigens aus Banteay Chhmar in Kambodscha. Sie wurde vornur zwei Monaten geraubt.Morin, schon auf halbem Weg zur Tr, blieb stehen. S ie irrensich. Die Statue stammt aus einer alten Schweizer Sammlung.Ich habe Papiere, die das beweisen. Wie fr alle Kunstgegenstndein meiner Sammlung.Ich besitze ein Foto, das ebendieses Objekt in seiner originalenLage zeigt. In der Tempelmauer.Morin rief: Lavinia? Bitte benachrichtigen Sie die Polizei.Sagen Sie ihnen, ich habe einen ungebetenen Gast, der sichweigert, das Haus zu verlassen.Und dieses nepalesische Srichakrasambhara und der Vajradharaaus dem sechzehnten Jahrhundert wurden mit einer geflschtenExportgenehmigung ausgefhrt. So etwas htte Nepalnie auf legalem Wege verlassen knnen.Wollen wir auf die Polizei warten, oder sind Sie auf dem Weghinaus?Pendergast schaute auf die Uhr. Ich warte gern. Er klopfteauf seine Aktentasche. Hier drin habe ich genug Dokumente,um Interpol fr ein paar Jahre beschftigt zu halten.Gar nichts haben Sie. Alle meine Stcke haben lckenloseHerkunftsnachweise.Wie diese in Gold und Silber gefasste Schdelschale? Die istnicht illegal ausgefhrt - weil es eine moderne Kopie ist. Oderversuchen Sie etwa, sie als Original auszugeben?Schweigen senkte sich herab. Das magische Licht Venedigs fieldurch die Fenster und erfllte den prachtvollen Raum mit goldenemGlanz.Wenn die Polizei kommt, werde ich Sie festnehmen lassen,sagte Morin endlich.Ja, und man wird zweifellos den Inhalt meiner Aktentaschebeschlagnahmen. Er wird die Polizei ohne Zweifel sehr interessieren.Sie sind ein Erpresser.Wie kommen Sie darauf? Ich fordere nichts. Ich stelle nurFakten fest. Dieser Vishnu mit Gefhrtinnen aus dem zwlftenJahrhundert beispielsweise, angeblich aus der Pala-Dynastie,ist ebenfalls eine Flschung. Das Stck wrde Ihnen ein kleinesVermgen einbringen, wenn es echt wre. Wie schade, dass Siees nicht verkaufen knnen.Was zum Teufel wollen Sie?Absolut gar nichts.Sie kommen hierher, Sie lgen mich an, Sie bedrohen michin meinem eigenen Haus - und Sie wollen nichts? KommenSie, Pendergast. Haben Sie den Verdacht, dass eins dieserStcke gestohlen ist? Falls ja, warum besprechen wir die Sachedann nicht wie Gentlemen?Ich bezweifle, dass sich das gestohlene Objekt, das ich suche,in Ihrer Sammlung befindet.Morin betupfte sich mit einem Seidentaschentuch die Stirn.Bestimmt verfolgen Sie ein Ziel mit Ihrem Besuch, haben irgendeineForderung!Zum Beispiel?Ich habe keine Ahnung, stie der Mann wtend hervor.Wollen Sie Geld? Ein Geschenk? Alle wollen etwas! Jetzt sagenSie schon!Tja nun, sagte Pendergast, da Sie darauf bestehen. Ichhabe ein kleines tibetisches Portrt dabei - wenn Sie es sicheinmal ansehen wrden?Morin fuhr so schnell herum, dass Asche von seiner Zigarettefiel. Um Gottes willen, ist das alles? Ja, ich schaue mir Ihrverdammtes Portrt an. Es war nicht notwendig, deswegen dieseDrohungen auszustoen.Ich bin ja so froh, das zu hren. Ich frchtete schon, Sieknnten sich als nicht kooperativ erweisen.Ich sagte doch, ich werde kooperieren!Wunderbar.Pendergast nahm das Portrt heraus, das der Mnch ihm gegebenhatte, und reichte es Morin. Der Mann rollte es auf,griff nach seiner Brille, setzte sie auf und betrachtete das Portrat.Dann nahm er die Brille ab und gab Pendergast das Rollbildzurck. Modern. Wertlos.Ich bin nicht wegen eines Gutachtens hier. Sehen Sie sich dasGesicht an. Hat dieser Mann Ihnen einen Besuch abgestattet?Morin zgerte, griff wieder nach dem Bild und musterte esgenauer. Ein berraschter Ausdruck huschte ber sein Gesicht.Doch, ja - ich erkenne den Mann. Wer um alles in der Welthat dieses Portrt gemalt? Es ist in perfektem thangka-Stilgehalten.Hat er Ihnen etwas zum Kauf angeboten?Morin zgerte. Sie arbeiten doch nicht mit diesem ... Individuumzusammen, oder?Nein. Ich suche ihn. Und das, was er gestohlen hat.Ich habe ihn und sein Objekt weggeschickt.Wann war er hier?Morin stand auf und sah in einem groformatigen Kalendernach. Vorgestern, um vierzehn Uhr. Er hatte einen Kastendabei. Er habe gehrt, dass ich mit tibetischer Kunst handle,sagte er.Wollte er verkaufen?Nein. Es war hchst eigenartig. Er wollte den Kasten nichteinmal ffnen. Er nannte das Stck ein >AgozyenMissspritzenMr CurtAnliegen< ist der jngste Mord. Richten Sie dem Commodoreaus, dass wir eine Gruppe besorgter Passagiere sindund dass wir ihn umgehend zu sprechen wnschen. Ein wenigverlegen setzte Bruce nach kurzem Zgern hinzu: Ex-Captain, Royal Navy.Ja, Sir. Einen Moment, Sir.Der Sicherheitsmann eilte davon und schloss die Tr hintersich. Bruce wartete ungeduldig, die Arme vor der Brust verschrnkt.Fnf Minuten verstrichen, bevor der Sicherheitsmannzurckkam.Hier entlang, bitte, Sir.Bruce und seine Leute folgten ihm durch die Lukentr in einensehr viel funktionaleren Bereich des Schiffes; Linoleumbdenund grau gestrichene Wnde, die von langen Neonrhrenerhellt wurden. Kurz darauf wurden sie in ein spartanischesBesprechungszimmer gefhrt; durch eine durchgehende Fensterreihesah man an Steuerbord ber den strmischen, endlosenOzean.Bitte nehmen Sie Platz. Stellvertretender Kapitn Masonwird gleich hier sein.Wir haben gebeten, den Kapitn des Schiffes zu sprechen,entgegnete Bruce. Also Commodore Cutter.Der Sicherheitsmann strich sich nervs ber die Stoppelfrisur.Der Commodore ist unabkmmlich. Es tut mir leid. CaptainMason ist sein Stellvertreter.Bruce warf einen fragenden Blick auf seine kleine Gruppe.Sollen wir auf unserer Forderung bestehen?Das wird nichts ntzen, Sir, frchte ich.Also gut, dann eben den Stellvertretenden.Sie nahmen aber nicht Platz. Kurz darauf erschien eine Frauim Trrahmen, gekleidet in eine tadellose Uniform, das Haarunter die Mtze gesteckt. Bruce hatte kaum seine Verblffungberwunden, eine Frau vor sich zu sehen, da beeindruckte ihnauch schon ihre ruhige, ernsthafte Art.Bitte setzen Sie sich, sagte sie und nahm wie selbstverstndlicham Kopfende des Tisches Platz - noch ein kleines Detail,das Bruce' Anerkennung fand.Der Banker kam sofort zur Sache. Captain Mason, wir sindeine Kundin sowie Direktoren einer der grten Banken desVereinigten Knigreichs - eine Tatsache, die ich nur erwhne,um unseren guten Leumund zu unterstreichen. Ich selbst binehemaliger Angehriger der Royal Navy, vormals Kapitn,HMM Sussex. Wir sind gekommen, weil wir den Eindruckhaben, dass das Schiff vor einem Notfall steht, der mglicherweisedie Fhigkeit der Besatzung, ihn zu beherrschen, bersteigt.Mason hrte zu.Unter den Passagieren herrscht groe Angst. We Sie vermutlichwissen, haben einige Leute damit angefangen, sich inihren Kabinen einzuschlieen. Es kursieren Gerchte, wonacheine Art Jack the Ripper an Bord sei.Dessen bin ich mir wohl bewusst.Die Besatzung ist, falls Sie es noch nicht bemerkt haben,ebenfalls beunruhigt, mischte sich Emily Dahlberg ein.Nochmals, uns sind diese Probleme bewusst, und wir ergreifenManahmen, um der Lage Herr zu werden.Ach ja?, sagte Bruce. Nun, also, Captain Mason, darf ichfragen, wo der Sicherheitsdienst des Schiffes steckt? Bislang ister so gut wie unsichtbar.Mason hielt inne und blickte sie nacheinander an. Ich willganz offen mit Ihnen reden. Der Grund, warum Sie so wenigeSicherheitsleute sehen, ist, dass wir wenige, sehr wenige Sicherheitsleutean Bord haben - zumindest relativ zur Greder Britannia. Wir tun unser Mglichstes, aber es ist ein sehr,sehr groes Schiff, und es befinden sich viertausenddreihundertMenschen an Bord. Unsere Sicherheitsmitarbeiter arbeitenrund um die Uhr.Sie sagen, Sie tun alles, was Sie knnen - wieso ist das Schiffdann aber nicht umgekehrt? Wir sehen absolut keine andereMglichkeit, als schnellstmglich den nchsten Hafen anzulaufen.Daraufhin wirkte Captain Mason beunruhigt. Der nchsteHafen ist St. John's auf Neufundland, wenn wir also den Kursndern, mssten wir ihn anlaufen. Wir werden dennoch unserenKurs beibehalten. Wir fahren weiter nach New York.Bruce war entsetzt. Warum?Befehl des Commodore. Er hat seine ... wohlberlegtenGrnde.Als da wren?Momentan fahren wir am Rand eines groen Sturmsystemsaus Nordnordost, dessen Zentrum sich ber den Grand Banksbefindet. Wrden wir den Kurs nach St. John's ndern, wrdenwir da mitten hinein geraten. Zweitens: Wenn wir vomKurs abweichen, Richtung St. John's, mssten wir auerdemden Labradorstrom durchqueren, jetzt, whrend der Eisbergsaison,was, obwohl ungefhrlich, erfordern wrde, dass wirunsere Geschwindigkeit deutlich drosselten. Schlielich wrdenwir durch die Kursnderung nur einen Tag gewinnen. DerCommodore ist der Ansicht, dass es angesichts - nun ja, angesichtsder Polizeikrfte, die wir mglicherweise brauchen werden- angemessener ist, New York anzulaufen.Ein Irrer ist an Bord, sagte Emily Dahlberg. Noch einMensch knnte an diesem einen Tag ermordet werden.Gleichwohl, das ist der Befehl des Commodore.Bruce stand auf. Dann bestehen wir darauf, direkt mit ihm zusprechen.Captain Mason erhob sich ebenfalls, wobei sie fr einen Momentdie Maske der Professionalitt fallen lie, und Bruce erblickteein Gesicht, das verhrmt, mde und unglcklichwirkte. Der Commodore darf im Moment nicht gestrt werden.Es tut mir sehr leid.Bruce sah sie wtend an. Uns auch. Sie knnen versichertsein, dass diese Weigerung des Commodore, sich mit uns zutreffen, nicht ohne Konsequenzen bleiben wird. Jetzt und spter.Mit uns ist nicht zu spaen.Mason streckte die Hand aus. Ich habe durchaus Verstndnisfr Ihren Standpunkt, Mr Bruce, und ich werde alles in meinerMacht Stehende tun, um dem Commodore Ihre Auffassungnahezubringen. Aber wir befinden uns auf einem Schiff aufSee, wir haben einen Schiffskapitn, und dieser Kapitn hatseine Entscheidung getroffen. Als ehemaliger Angehriger derMarine werden Sie sicherlich verstehen, was das bedeutet.Bruce ignorierte ihre ausgestreckte Hand. Sie haben da etwasvergessen. Wir sind nicht nur Ihre Passagiere - und Ihre Kunden,sondern auch Ihre Schutzbefohlenen. Es kann etwas unternommenwerden, und wir haben vor, es zu tun. Und danngab er seiner Gruppe ein Zeichen, ihm zu folgen, machte aufdem Absatz kehrt und verlie den Raum.

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Paul Bitterman trat aus dem Fahrstuhl, schwankte und hieltsich an dem polierten Chromgelnder fest. Die Britannia fuhrin schwerer See, aber das war nur ein Teil des Problems; Bittermankmpfte mit der konzertierten Wirkung eines bermiggehaltvollen Dinners und neun Glsern alten Champagners.Immer noch die Hand am Gelnder, blickte er den elegantenGang auf Deck 9 rauf und runter und versuchte, sich zu orientieren.Er hob eine Hand an den Mund und produzierte bewussteinen Rlpser, der - ekelhaft - nach Kaviar, Trffelpastete,Crme brle und trockenem Champagner schmeckte. Erkratzte sich trge. Irgendetwas sah hier nicht richtig aus.Nach etwa einer Minute war er dahintergekommen. Statt denAufzug an Backbord zu nehmen, so wie er es meistens tat, hatteer in seinem Champagnerrausch irgendwie den Steuerbordfahrstuhlgenommen. Na ja, das lie sich leicht wieder hinbiegen.Er summte unmelodisch und tastete in der Hosentaschenach seiner Ausweiskarte zur Suite 961. Er lie das Gelnderlos, ging eine kurze Strecke vorsichtig in die, wie er glaubte,richtige Richtung - aber nur um festzustellen, dass die Zimmernummernin die falsche Richtung wiesen.Er blieb stehen; drehte sich um; rlpste noch einmal, diesmalohne sich die Mhe zu geben, die Hand vor den Mund zu halten;dann ging er zurck in die andere Richtung. Er war wirklicherstaunlich benebelt, und um etwas klarer im Kopf zuwerden, versuchte er, die Ereignisse zu rekonstruieren, dieihn - zum ersten Mal in seinen dreiundfnfzig Jahren - ineinen Zustand gebracht hatten, der Betrunkenheit nahekam.Das Ganze hatte am Nachmittag begonnen. Seit dem Aufwachenwar er seekrank - hatte keinen Bissen herunterbekommen-, auerdem schien keines der rezeptfreien Medikamenteaus der Schiffsapotheke auch nur im Geringsten zu helfen.Schlielich war er in die Krankenstation gegangen, wo ihm einArzt ein Scopolamin-Pflaster gegeben hatte. Er hatte es sich,wie vorgeschrieben, hinter das Ohr geklebt und war in seineSuite zurckgegangen, um ein Nickerchen zu halten.Ob es die elende Nacht gewesen war, die er verbracht hatte,oder ob das Pflaster selbst ihn schlfrig gemacht hatte, wusstePaul Bitterman nicht. Doch als er um Viertel nach neun abendsaufgewacht war, war er gottlob frei von Seekrankheit und hatteeinen trockenen Mund und einen bermenschlichen Hunger.Er hatte sein turnusmiges Acht-Uhr-Dinner verschlafen,aber mit einem kurzen Anruf hatte er sich eine Reservierungfr die letzte Essensschicht des Abends, um halb elf im KensingtonGardens gesichert.Wie sich dann herausstellte, gefiel das Kensington Gardens ihmungeheuer gut. Es war schicker, jugendlicher und hipper alsdas reichlich spieige Restaurant, in dem er bisher gegessenhatte, es gab ein paar wirklich appetitliche Frauen anzuschauen,und das Essen war ausgezeichnet. berraschenderweisewar das Restaurant nicht voll - ehrlich gesagt, war es halbleer.Weil er einen Riesenappetit hatte, bestellte er Chateaubriandfr zwei und a dann die gesamte Portion. Eine ganze FlascheChampagner hatte zwar gereicht, um seinen Durst zu lschen,aber der aufmerksame Weinkellner war nur zu glcklich gewesen,ihm eine zweite zu bringen.Am Nebentisch hatte man ber merkwrdige Dinge gesprochen:Ein besorgt aussehendes Ehepaar unterhielt sich berirgendeine Leiche, die anscheinend aufgetaucht war. Mglicherweisehatte er da irgendein wichtiges Ereignis verschlafen.Whrend er langsam, vorsichtig ber den Gang auf Deck 9schlurfte, beschloss er, der Sache gleich morgen frh auf denGrund zu gehen.Aber es gab da noch ein Problem. Die Zimmernummern wieseninzwischen zwar in die richtige Richtung - 954, 956 -, aberes waren alles gerade Zahlen.Er blieb stehen, hielt sich wieder am Flurgelnder fest und versuchtenachzudenken. Bei diesem Tempo wrde er 961 nie finden.Dann lachte er laut auf. Paul, alter Kumpel, du setzt nichtdein Hirn ein. Er war auf der Steuerbordseite herausgekommen,und die Suiten mit den ungeraden Ziffern befanden sich,so wie seine, alle auf der Backbordseite. Wie hatte er das nurvergessen knnen? Er musste also eine Querverbindung finden.Er machte sich wieder auf den Weg, ganz leicht schwankend,wobei der Nebel in seinem Kopf von einem angenehmschwebenden Gefhl in den Gliedern wettgemacht wurde. Erbeschloss, ob nun Diakon oder nicht, fter mal Champagnerzu trinken. Einheimisches Zeug natrlich - er hatte diese Reisein der CVJM-Tombola gewonnen und htte sich von seinemGehalt zwei Flaschen echten Champagner niemals leistenknnen.Links vor ihm war eine Unterbrechung in der Reihe der Trenzu sehen: der Eingang zu einem der mittschiffs gelegenenFoyers. Der Eingang wrde zum Backbordflur und seiner Kabinefhren. Er torkelte durch die Tr.Die Lobby bestand aus einem Paar von Aufzgen gegenbereiner gemtlichen Lounge mit Bcherborden aus Eiche undLehnsthlen. Zu dieser spten Stunde war der Raum menschenleer.Bitterman zgerte, schnffelte. Irgendetwas lag inder Luft - wie Rauch. Fr einen Moment verlie ihn das Gefhlder trgen Hochstimmung; er hatte zwar an gengendSicherheitsbungen teilgenommen, um zu wissen, dass einBrand die grte Gefahr auf einem Schiff darstellte. Aber dieserDuft war ungewhnlich. Er war wie Weihrauch oder, genauergesagt, wie die Rucherstbchen, die er einmal in einemnepalesischen Restaurant in der Chinatown von San Franciscogerochen hatte.Seine Schritte wurden langsamer, als er die Lobby zum dahinterliegendenBackbordkorridor durchquerte. Hier herrschterelative Stille, und er sprte nur das tiefe Drhnen der Dieselmotorendes Schiffes weit unter sich. Der Geruch wurde strker- viel strker. Der eigenartige, moschusartige Duft warvermischt mit anderen, tieferen, weitaus weniger angenehmenDften - modrige Pilze, vielleicht, zusammen mit etwas, das ernicht bestimmen konnte. Er hielt stirnrunzelnd inne. Dannblickte er kurz zurck in die Lobby und bog in den Backbordflur.Und blieb jhlings stehen, auf der Stelle nchtern.Weiter vorn sah er die Quelle des Geruchs: eine dunkle Rauchwolke,die seinen Weg den Gang hinunter versperrte. Doch eswar kein Qualm, wie er ihn je gesehen hatte, merkwrdig undurchdringlich,mit einer dichten, dunkelgrauen Farbe undeiner gerippten Oberflche, die ihn - auf irgendeine bizarreWeise - an Leinen erinnerte.Paul Bitterman holte tief, hrbar Luft. Etwas stimmte hiernicht - ganz und gar nicht.Rauch msste eigentlich durch die Luft schweben, an den Rndernzerfasern. Aber diese Wolke lag einfach da, mannsgro,seltsam bsartig, reglos, als fordere sie ihn heraus. Sie war soregelmig und glatt, dass sie wie eine feste, eine organischeGre wirkte. Der Gestank war so stark, dass es ihm fast denAtem verschlug. Diese Wolke war grotesk, vllig fremdartig.Er sprte, wie sein Herz pltzlich vor Angst schneller schlug.War das hier seine Einbildung, oder hatte die Wolke die Gestalteines Menschen? Da waren Tentakel, die wie Arme aussahen;ein tonnenartiger Kopf mit einem Gesicht, merkwrdigeBeine, die sich bewegten, als tanzten sie ... O Gott, dieWolke sah gar nicht aus wie ein Mensch, sondern wie ein Dmon...Und da streckte das Ding langsam seine zottigen Arme aus undbewegte sich, mit einer frchterlichen, wellenfrmigen Zielstrebigkeit,langsam auf ihn zu.Nein!, schrie Bitterman. NEIN! Geh weg! Geh weg!Bei seinen verzweifelten Rufen ffneten sich etliche Kabinentrenauf dem Backbordkorridor an Deck 9. Es entstand einkurzer, elektrisch aufgeladener Augenblick der Stille. DannKeuchen; erstickte Schreie; der dumpfe Aufprall eines ohnmchtigenKrpers, der auf dem Teppich zusammenbrach; dashektische Zuknallen von Tren. Bitterman hrte nichts davon.All seine Aufmerksamkeit, jede Faser seines Wesens war fixiertauf dieses monstrse Etwas, das nher glitt, immer nher ...Und dann war alles vorbei.264

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LeSeur blickte zu Hentoff und Kemper und dann wieder zuHentoff. Er rgerte sich schon jetzt darber, dass der Commodoreihm dieses Problem zugeschoben hatte - er war schlielichSchiffsoffizier, nicht irgendein Casinoangestellter. Abernicht nur das, sein Problem wrde bestehen bleiben - es wurdenur immer schlimmer. Bei mindestens einem Mordfall, ja vielleichtsogar drei, musste er sich um weit gefhrlichere und beunruhigendereDinge kmmern. Noch einmal schaute er denbeiden Mnnern vor ihm direkt in die Augen.Ich mchte sichergehen, dass ich das richtig verstandenhabe, sagte er. Sie erzhlten mir gerade, dass dieser Pendergastes fertiggebracht hat, dass die Kartenzhler eine MillionPfund an den Blackjack-Tischen verlieren, und er selbst hatdabei fast dreihunderttausend eingestrichen?Hentoff nickte. So knnte man das ausdrcken, Sir.Mir scheint, dass man Sie soeben bers Ohr gehauen hat, MrHentoff.Nein, Sir, erwiderte Hentoff frostig. Pendergast musstegewinnen, damit die Kartenzhler verlieren.Erklren Sie.Pendergast hat zunchst nach dem shuffle track gespielt - eineTechnik, bei der man die Zusammensetzung des Kartenstapelsbeobachtet, sich die Positionierung bestimmter entscheidenderKarten oder Gruppierungen merkt, die sogenannten slugs,und diese dann whrend des Spiels verfolgt, per Augenschein.Auerdem ist es ihm gelungen, einen Blick auf die untersteKarte zu werfen, und da man ihm die Spielerffnung anbot,konnte er diese Karte genau dort im Packen plazieren, wo ersie haben wollte.Das scheint mir unmglich zu sein.265Es gibt bekannte, wenn auch ungeheuer schwierige Techniken.Dieser Pendergast scheint sie besser gemeistert zu habenals die meisten.Das erklrt immer noch nicht, warum Pendergast gewinnenmusste, damit die Kartenzhler verlieren.Indem er wusste, wo sich bestimmte Karten befanden, undindem er diese Kenntnis mit einem Zhlsystem kombinierte,konnte er steuern, wie die Karten im Laufe des Spiels an dierestlichen Spieler ausgeteilt wurden, indem er entweder insSpiel einstieg oder es aussa - wie auch dadurch, dass er sichunsinnigerweise eine weitere Karte geben lie.LeSeur nickte langsam und dachte ber die Antwort nach.Er musste die guten Karten aufhalten, damit die schlechten andie anderen weitergereicht wurden. Damit die anderen Spielerverloren, musste er gewinnen.Hab's schon verstanden, sagte LeSeur suerlich. Und deshalbwollen Sie wissen, was wir mit den Gewinnen des Mannesanfangen sollen?So ist es.LeSeur berlegte kurz. Alles hing davon ab, wie CommodoreCutter reagierte, wenn er von dieser Sache erfhre - was erselbstverstndlich irgendwann musste. Die Antwort lautete:nicht gut. Und wenn die Reederei Wind davon bekme - diewrde noch weniger wohlwollend reagieren. So oder so, siemussten das Geld zurckbekommen.Er seufzte. Um unser aller Zukunft bei der Corporation willenmssen Sie sich das Geld zurckholen.Und wie?LeSeur wandte sich erschpft ab. Tun Sie's einfach.Eine halbe Stunde spter marschierten Kemper und Hentoffden eleganten Korridor auf Deck 12 hinunter. Kemper sprte,wie sich in seinem dunklen Anzug feuchter Schwei bildete.Vor der Tr zur Tudor-Suite blieb er stehen.Sind Sie sicher, dass jetzt der richtige Zeitpunkt dafr ist?,fragte Hentoff. Es ist dreiundzwanzig Uhr.Ich hatte nicht den Eindruck, dass LeSeur wollte, dass wirnoch lnger damit warten, erwiderte Kemper. Sie? Damitdrehte er sich zur Tr um und klopfte an.Herein, lie sich eine ferne Stimme vernehmen.Sie traten ein. Pendergast und die junge Frau, die mit ihm reiste- Constance Greene, seine Nichte oder so etwas -, saen beigedimmtem Licht im Salon am Esstisch, die Reste einer erlesenenMahlzeit vor sich.Ah, Mr Kemper. Pendergast schob seinen Wasserkressesalatbeiseite und erhob sich. Und Mr Hentoff. Ich habe Sie bereitserwartet.Tatschlich?Natrlich. Unser Geschft ist noch nicht abgeschlossen. Bittesetzen Sie sich.Kemper lie sich etwas ungelenk auf dem Sofa in der Nhenieder. Hentoff setzte sich auf einen Stuhl und blickte vonAgent Pendergast zu Constance Greene und wieder zurck.Zu gern wrde er herausbekommen, wie sie wirklich zueinanderstanden.Darf ich Ihnen ein Glas Port anbieten?, fragte Pendergast.Nein, danke, sagte Kemper. Ein peinliches Schweigen entstand,ehe er fortfuhr: Ich mchte Ihnen nochmals dafr danken,dass Sie sich der Kartenzhler angenommen haben.Keine Ursache. Befolgen Sie meinen Ratschlag, wie man siedavon abhalten kann, wieder zu gewinnen?Ja, vielen Dank.Funktioniert's?Absolut, sagte Hentoff. Immer wenn ein Spotter das Casinobetritt, schicken wir eine Cocktailkellnerin zu ihm, die ihnin ein belangloses Gesprch verwickelt, bei dem es immer umZahlen geht. Das macht die zwar ganz irre, aber sie knnennichts dagegen tun.Ausgezeichnet. Pendergast blickte fragend zu Kemper.Gibt es sonst noch etwas?Kemper rieb sich die Schlfe. Na ja, da wre noch die Frage... des Geldes.Sprechen Sie von diesem Geld? Pendergast zeigte mit einemNicken zu dem Sekretr, auf dem, wie Kemper jetzt erst bemerkte,ein Stapel dicker Briefumschlge lag.Wenn das die Gewinne aus dem Casino sind, ja.Und gibt es eine Frage bezglich des Geldes?Mr Pendergast, Sie haben fr uns gearbeitet, sagte Kemperund sprte, wie lahm sein Argument war, noch ehe er es vorgebrachthatte. Die Gewinne gehren von Rechts wegen IhremArbeitgeber.Ich bin niemandes Mitarbeiter, sagte Pendergast und lchelteeisig. Auer natrlich der Bundesregierung der VereinigtenStaaten.Kemper fhlte sich ganz entsetzlich unwohl unter dem Blickaus den silbergrauen Augen.Mr Kemper, fuhr Pendergast fort, Ihnen ist natrlich klar,dass ich diese Gewinne auf legale Weise erworben habe. Kartenzhlen,das Verfolgen von Kartengruppierungen und dieanderen von mir verwendeten Techniken sind alle legal. FragenSie Mr Hentoff hier. Ich habe nicht einmal die Kreditliniein Anspruch nehmen mssen, die Sie mir eingerumt haben.Kemper warf einen Blick auf Hentoff, der unglcklich nickte.Noch ein Lcheln. Also gut. Beantwortet das Ihre Frage?Kemper dachte daran, das Ganze Cutter zu berichten, und dashalf ihm, Rckgrat zu zeigen. Nein, Mr Pendergast. Wir haltendiese Gewinne fr Geld des Hauses.Pendergast ging zum Sekretr, nahm einen der Briefumschlgein die Hand, holte einen dicken Stapel Pfundnoten herausund bltterte ganz lssig darin. Mr Kemper, sagte er, whrender ihm den Rcken zuwandte, normalerweise htte ichnicht im Traum daran gedacht, einem Casino zu helfen, Geldvon Spielern zurckzubekommen, die das Haus schlagen. MeineSympathien liegen grundstzlich auf der anderen Seite.Wssen Sie, warum ich Ihnen geholfen habe?Sie wollten uns dazu bringen, Ihnen zu helfen.Das stimmt nur zum Teil. Der Grund ist, dass ich glaube, dassein gefhrlicher Killer an Bord ist, und um der Sicherheit desSchiffes willen musste ich ihn mit Ihrer Hilfe identifizieren,ehe er tten konnte. Leider scheint er mir noch immer einenSchritt voraus zu sein.Kempers Niedergeschlagenheit wurde grer. Er wrde dasGeld nie wiedersehen, die berfahrt war eine Katastrophe aufganzer Linie, und ihm wrde man die Schuld dafr geben.Pendergast drehte sich um, bltterte erneut das Geld durch.Kopf hoch, Mr Kemper! Vielleicht bekommen Sie beide IhrGeld doch noch zurck, wenn Sie mir einen Gefallen tun.Irgendwie munterte das Kemper berhaupt nicht auf.Ich mchte die Suite und den Safe von Mr Scott Blackburndurchsuchen. Zu diesem Zweck bentige ich eine Ausweiskartezum Safe und dreiig Minuten Zeit, in denen ich mich umsehe.Eine Pause. Ich glaube, das liee sich machen.Es gibt da allerdings eine kleine Schwierigkeit. Blackburn hatsich in seinem Zimmer verschanzt und will nicht heraus.Warum? Macht er sich Sorgen wegen des Mrders?Wieder lchelte Pendergast: ein leises, ironisches Lcheln.Wohl kaum, Mr Kemper. Er versteckt irgendetwas, und ichmuss es finden. Also muss er aus dem Zimmer gelockt werden.Sie knnen nicht von mir wollen, dass ich einen Passagierfestnehmen lasse.Festnehmen? Wie grob. Eine elegantere Mglichkeit, seineEntfernung zu bewerkstelligen, wre es, fr die Steuerbordseitedes Decks 9 den Feueralarm auszulsen.Kemper runzelte die Stirn. Sie wollen, dass ich einen Fehlalarmauslse? Ausgeschlossen.Aber Sie mssen es.Kemper berlegte kurz. Ich nehme an, wir knnten einenProbealarm veranstalten.Mr Blackburn wird seine Kabine nicht verlassen, wenn es sichlediglich um eine bung handelt. Nur bei einer Zwangsevakuierungwird er seine Kabine rumen.Kemper fuhr sich durchs feuchte Haar. Meine Gte, er schwitzteja. Vielleicht knnte ich in dem Korridor einen Feueralarminszenieren.Diesmal antwortete Constance Greene ihm. Nein, Mr Kemper, sagte sie in einem eigenartig altmodischen Akzent. Wirhaben das Ganze sorgfltig recherchiert. Sie mssen einenzentralen Alarm auslsen. Ein eingeschlagener Feuermelderwrde zu schnell entdeckt werden. Wir brauchen eine vollehalbe Stunde in Blackburns Suite. Auerdem mssen Sie dieSprinkleranlage vorbergehend auer Betrieb setzen, was nurmit Hilfe der zentralen Feuerwarnanlage bewerkstelligt werdenkann.Kemper stand auf, Hentoff folgte schnell. Unmglich. Es istverrckt, darum zu bitten. Ein Brand ist das Gefhrlichste, wasan Bord eines Schiffes passieren kann, abgesehen vom Untergang.Ein Schiffsoffizier, der absichtlich einen falschen Alarmauslst ... Ich wrde eine Straftat begehen, vielleicht eineschwere Straftat. Herrgott, Mr Pendergast, Sie sind ein FBIAgent,Sie wissen doch, dass das nicht geht! Es muss da eineandere Mglichkeit geben!Pendergast lchelte, diesmal fast betrbt. Es gibt keinen anderenWeg.Ich mache das nicht.Pendergast bltterte durch das dicke Bndel Geldscheine.Kemper konnte das Geld frmlich riechen - es roch nach rostigemEisen.Der Sicherheitschef blickte auf die Geldscheine. Ich kann daseinfach nicht machen.Einen Augenblick lang war es still. Dann stand Pendergast auf,ging hinber zur Kommode, zog die oberste Schublade auf,legte das Bndel Geldscheine hinein und verstaute die brigenBriefumschlge daneben. Behutsam schob er die Lade zu,drehte sich zu Hentoff um und nickte. Wir sehen uns dannim Casino, Mr Hentoff.Wieder entstand ein Schweigen, lnger diesmal.Sie wollen ... spielen?, fragte Hentoff langsam.Warum nicht? Pendergast breitete die Arme aus. Wir sindschlielich im Urlaub. Und Sie wissen ja, wie unglaublich gernich Blackjack spiele. Ich hatte daran gedacht, es auch Constancebeizubringen.Hentoff sah Kemper erschrocken an.Es heit, ich lerne schnell.Kemper strich sich abermals durch das feuchte Haar. Er sprtegeradezu, wie ihm der Schwei aus den Achselhhlen rann.Alles wurde nur noch schlimmer.Die Atmosphre in dem Zimmer war angespannt. Schlielichatmete Kemper tief durch und sagte: Es wird eine Weile dauern,das alles in die Wege zu leiten.Ich verstehe.Um zehn Uhr morgen frh werde ich einen allgemeinenFeueralarm auf Deck 9 auslsen. Mehr kann ich nicht tun.Pendergast nickte knapp. In dem Fall werden wir uns in Geduldfassen. Hoffen wir, dass die Dinge zu dem Zeitpunkt, h,noch unter Kontrolle sind.Unter Kontrolle? Was meinen Sie damit?Aber Pendergast verneigte sich nur vor jedem Einzelnen, setztesich dann wieder an den Tisch und fuhr mit seinem Abendessenfort.

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Es war Mitternacht, als Maddie Edmondson, grsslich gelangweilt,ber den zentralen Korridor auf Deck 3 schlenderte.Ihre Groeltern hatten ihr die Reise zum sechzehnten Geburtstaggeschenkt, und damals war es ihr wie eine gute Ideevorgekommen. Aber niemand hatte ihr gesagt, was sie erwartete- nmlich dass das Schiff eine schwimmende Hlle war. Indie Bereiche, in denen man wirklich Spa haben konnte - dieDiskotheken und die Clubs, wo die Zwanzigjhrigen abhingen,die Casinos -, wurden Mdchen ihres Alters nicht reingelassen.Und die Shows, in die sie reinkam, waren eher etwas frdie ber Hundertjhrigen. Antonios Magic Revue, die BlueMan Group und Michael Buble, der Frank Sinatra imitierte -es war ein Witz. Sie hatte alle Filme gesehen, die Swimmingpoolswaren aufgrund der schaukligen See geschlossen. DieSpeisen in den Restaurants war