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July-September 2009
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XL
Das Magazin für angewandte Filmkunst
012 Juni 2009 | 5 Euro
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xl012_O_Titel 18.06.2009 3:07 Uhr Seite 1
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Zum Geleit
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Na sowas – ein neuer Untertitel für unsere hübsche Zeitschrift?
Wo elf Ausgaben lang »Magazin für Filmschaffende« prangte, heißt
es nun »Magazin für angewandte Filmkunst«. Keine Panik: Innen
ändert sich nichts (zumindest nicht mehr, als wir wollen). Auch die-
se Ausgabe ist wieder voll von Beispielen für die Sorgen und Freuden
der Arbeit für gute Filme. Aber nach außen wollen wir schon ein we-
nig mehr Offenheit demonstrieren.
Als eifriger Leser wissen Sie natürlich, daß cinearte xl nicht nur
für für die Praktiker der Branche die erste Wahl ist, sondern für alle,
die bewegte Bildgeschichten mögen und es ein wenig genauer wis-
sen wollen – und damit nicht unbedingt den letzten Beziehungs-
tratsch aus Bombay oder Hollywood meinen. Weg mit dem roten
Teppich, her mit der Greenscreen!
Ein Magazin für Filmschaffende sind wir trotzdem auch: In dieser
Ausgabe startet unsere neue Kolumne, die wir dem dokumentari-
schen Film widmen. Ihr Autor Christoph Brandl ist selbst Doku-
mentarfilmer und stellt nun regelmäßig Trends und Diskussionen in
diesem Genre vor. »Das wahre Leben« beginnt auf Seite 73.
Mit dieser Ausgabe haben sich auch der Bundesverband Film-
schnitt Editor (BFS) und der Bundesverband Beleuchtung und Büh-
ne (BVB) für cinearte xl als Zeitschrift für ihre Mitglieder entschie-
den. Das freut uns und macht uns ein wenig stolz und dankbar. Also
begrüßen wir alle neuen Leser – und zwar…
…herzlichst, Ihr
Liebe Leser,
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Impressum
Ausgabe 012 vom30. Juni 2009.
Anschrift: cınearte Peter Hartig,Friedrichstraße 15, 96047Bamberg.
Redaktion: Peter Hartig (verant-wortlich), Tel. 0951-2974 6955.
Anzeigen: Michael Wesp-Bergmann (verantwortlich),Tel. 089-5529 8563.
Redaktionsschluß ist vierWochen vor Erscheinen derAusgabe.
Für unverlangt eingesandteManuskripte und Fotos über-nehmen wir keine Haftung.Namentlich gekennzeichneteArtikel entsprechen nichtunbedingt der Meinung derRedaktion. Nachdrucke, auchauszugsweise, nur mit Ge-nehmigung der Redaktion.Gerichtsstand ist Bamberg.
Es gilt die Anzeigenpreisliste 8vom 1. Januar 2009.
Mitarbeiter dieser Ausgabe:Christoph Brandl, Jan Fedesz,Sabine Felber, ChristophGröner, Connie van Opeln, JimRakete, Max Romero, MichaelStadler, Ian Umlauff, CarloVivari, Karolina Wrobel.
Soundtrack bei der Erstellungdieser Ausgabe mit wehmütigemBlick zurück: Peter Fox»Stadtaffe« (Downbeat,B001ET225M); David Bowie:»The Best of« (K-Tel, BLP81001); Pizzicato Five: »TheSound of Music‹ (Matador,7567-92622-2).
Layoutkonzept: Jana Cerno,www.cernodesign.de.
Druck: Creo-Druck, 96050Bamberg
Vertrieb Einzelverkauf: VUVerlagsunion KG, 65396 Walluf
cınearte XL erscheint viermaljährlich und wird herausgegebenvon Peter Hartig in Kooperationmit www.crew-united.com.Der Einzelverkaufspreis beträgt5 Euro.
Diese Ausgabe wird allenMitgliedern der Filmberufs-verbände BVK, SFK, BFS undBVB im Rahmen ihrer Mitglied-schaft ohne besondere Bezugs-gebühr geliefert. Keine Haftungbei Störung durch höhere Ge-walt.
cınearte XL wird gefördert vonder Kulturwerk der VGBild Kunst GmbH, Bonn.
xl012_O_Vorspann 18.06.2009 5:20 Uhr Seite 3
Inhalt
Dem Regisseur Detlev Buck gefällt es im Norden.
Klar, da kommt er ja auch her. Aber vor der Kamera
von Jim Rakete fand er doch noch einen Grund mehr.
012 | Juni 2009
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12 Am Ort der Wahrheit
Bei einem Praktikum geriet Sebastian Thümler in den Schneideraum und fand die Tür nicht mehr.
Das hat er nun davon: den »Deutschen Filmpreis«.
22 In der Krisenzone
Wenn’s beim Dreh in der Wüste ständig regnet, kann man schon mal verzweifeln.
Und trotzdem durchhalten.
42 Melodien für Millionen
Wer seinen Film so richtig groovy, funky oder schlicht fett klingen lassen will, merkt schon:
Man braucht einen Berater. Nicht nur wegen des Musikgeschmacks.
48 Farbtupfer für die Dramaturgie
Vor 15 Jahren erzählte Steven Spielberg eine völlig andere Geschichte aus dem Holocaust.
Vor dem Happy End schilderte er gnadenlos den langen Weg in die Vernichtungslager.
58 Heimatfilmer
Von wegen, an der Küste ist es nur flach und kühl! Wenn die Filmgemeinde vom Norden
schwärmt, schauen wir gerne noch mal genauer hin.
82 Der Geldsucher von Schwabing
Vor einem Jahrhundert hat München geleuchtet. Marc Rothemund weiß auch, warum.
Deshalb würde er gerne einen Film über die Dame drehen.
xl012_O_Vorspann 18.06.2009 5:20 Uhr Seite 4
Vermischtes
03 Zum Geleit
03 Impressum
06 Produktion
08 Technik
10 Weite Welt
37 Auf der Couch
73 Das wahre Leben
77 Gesetze der Serie
87 Letzte Bilder
88 Vorspann
90 Mein Arbeitsplatz
92 Statistik
93 Lexikon
94 Lesen – Sehen – Hören
97 Tip 5
98 Rätsel
xl012_O_Vorspann 18.06.2009 5:20 Uhr Seite 5
Vorspann | Produktion cınearte XL 012
6
Foto: Pictorion das Werk
Miniatur-kunststückDas sieht nach großem Unglück aus, aber keine
Sorge: Hier ist nur eine alte Filmkunst am Werk.
Im Vordergrund bringt gerade Emilio Ruiz del Río
letzte Pinselstriche an, um die Illusion einer zer-
störten Fassade perfekt zu machen. Rechts neben
ihm ist ein Teil des Gerüsts zu erkennen, auf dem
das Vorsatzmodell sitzt. Durch die entsprechende
Kameraperspektive paßt sich das Modell millime-
tergenau in den Hintergrund ein. Die Einstellung
entstand im Sommer 2007 für Die Frau des Anar-
chisten. Das Bürgerkriegsdrama von Marie Noelle
und Peter Sehr läuft zur Zeit im Kino.
Für Ruiz del Río war es die letzte Arbeit. Kurz
nach den Dreharbeiten war er mit 84 Jahren ge-
storben. Bis dahin hatte er an über 500 Filmen ge-
arbeitet: Spartacus etwa, Lawrence von Arabien,
Patton und vieles andere aus den Sechzigern, als
Spanien ein beliebter Drehort für Monumental-
produktionen war.
Auch danach blieb er gefragt, etwa von David
Lynch für Dune oder zuletzt Guillermo del Toro für
Pans Labyrinth. Der Modellbauer hatte nämlich
seine Filmkunst vorangebracht wie kaum ein an-
derer und selbst das Prinzip der Seeschlacht im
Film revolutioniert: Statt der üblichen Wasserbe-
cken im Studio ließ er eines vor echtem Meeres-
blick so anlegen, daß der Beckenrand nicht zu se-
hen war und die Wasserfläche scheinbar nahtlos
in den Horizont übergeht.
Die neue Technik hatte aber auch dieser Szene
noch etwas beizusteuern. Für den realistischen
Eindruck wurden am Rechner noch Feuer im
Dachstuhl gelegt, Rauch und Qualm eingesetzt
und schuttschaufelnde Menschen in die oberen
Stockwerke der Ruine integriert. Das übernahmen
die Postproduzenten bei Pictorion das Werk, wo
insgesamt 70 Effekteinstellungen für Die Frau des
Anarchisten bearbeitet wurden. c
xl012_O_Vorspann 18.06.2009 5:20 Uhr Seite 6
cınearte XL 012 Vorspann | Produktion
7
xl012_O_Vorspann 18.06.2009 5:20 Uhr Seite 7
Vorspann | Technik cınearte XL 012
8
Foto: Bavaria Film
xl012_O_Vorspann 18.06.2009 5:21 Uhr Seite 8
cınearte XL 012 Vorspann | Technik
9
So anpassungsfähig ist keine Fluglinie. Als brei-
ter Transatlantik-Jet oder schmale Kurzstrecken-
maschine kann die »Bavaria« eingesetzt werden –
mit Business- und Economy-Klasse, Küche, Toilet-
ten und einem »vollfunktionsfähigen« Cockpit.
Einziger Schönheitsfehler: Fliegen kann das
wandlungsfähige Wunderwerk nicht. Das soll es
aber auch gar nicht, sondern Filmteams die Arbeit
erleichtern. Im März hatten die Bavaria Studios in
Geiselgasteig bei München ihre neue Kulisse vor-
gestellt, die ein alltägliches Problem lösen soll: Ein
Wochendendtrip mit dem Flieger nach London
mag billig zu haben sein, wenn er im Drehbuch
steht, kann er schnell jedes Budget kippen. Erst
recht, seit die Sicherheitsauflagen so streng ge-
worden sind. Und mal ganz abgesehen davon, wo
eigentlich die Kamera stehen soll, wenn in einem
echten Flugzeug gedreht wird.
Darum setzt die Bavaria für die feste Kulisse
auch auf ein flexibles System: Der 28,5 Meter lan-
ge Passagierraum besteht aus jeweils 6 mal 2 Me-
ter großen Modulen, die beliebig kombiniert wer-
den können. Sitzreihen und Außenpanele können
verschoben oder demontiert werden – das erlaubt
selbst in den bespielbaren Toiletten besondere Ka-
meraperspektiven und Lichtsetzung.
Dem Nachbau der Innenausstattung war ein
halbes Jahr Recherche und Planung vorangegan-
gen, echte Flugzeugteile wurden besorgt, Kabi-
nenbeleuchtungen, Anzeigen und Acht-Zoll-Mo-
nitoren funktionieren, wie es jeder Passagier
kennt. Auf das Cockpit ist man besonders stolz,
weil hier durch Simulatortechnik realistische
Flugaufnahmen möglich seien. Das Cockpit kann
wahlweise an die restliche Kabine angedockt wer-
den oder alleine vor einer Greenscreen zum Ein-
satz kommen. Eine halbe Million Euro hat sich die
Bavaria ihr Modellflugzeug kosten lassen.
EinmaligeKulisse
c
xl012_O_Vorspann 18.06.2009 5:21 Uhr Seite 9
Vorspann | Weite Welt cınearte XL 012
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Foto: Nina Paley
xl012_O_Vorspann 18.06.2009 5:21 Uhr Seite 10
cınearte XL 012 Vorspann | Weite Welt
11
Die wilde Symbolik des Trickfilmbilds könnte
Nina Paley heute ganz anders deuten, als sie ur-
sprünglich gedacht hatte. Aber der Reihe nach: Ihr
Mann war nach Indien gegangen und hatte per E-
Mail mit ihr Schluß gemacht. Die Trickfilmerin
vergrub sich in das Ramayana und machte dann
ihren ersten Film daraus, indem sie die Geschich-
te des Mädchens Sita aus dem alten indischen Na-
tionalepos mit ihren neuen Erfahrungen kombi-
nierte.
Das gestaltete Paley konsequent als Kultur-Mix:
Die 2D-Computergrafik lehnt sich ästhetisch
gleichermaßen an klassischer Rajput-Malerei, po-
pulärer Gebrauchsgrafik und modernen amerika-
nischen Comics an, versehen ist das Ganze mit ei-
nem Score aus modernen Sitar-Klängen und
Liedern der Jazzsängerin Annette Hanshaw aus
den 1920er Jahren: Sita Sings the Blues begeisterte
auf vielen Festivals. Und da begann Paley Pro-
blem. Zwar nicht mehr die Aufnahmen von Hans-
haw, aber Text und Noten sind auch nach 80 Jah-
ren noch urheberrechtlich geschützt – 220.000
US-Dollar wären für die Nutzungsrechte zu zah-
len. Für 50.000 Dollar konnte Paley schließlich ih-
ren Film wenigstens legalisieren und eine be-
grenzte Auflage von 4.999 DVD pressen lassen.
Paley war seither im Glauben ans Urheberrecht
erschüttert. Teuer wurde die Sache nämlich nicht
durch etwaige Urheber, sondern Rechteinhaber
wie Warner und Sony. So wurde die Künstlerin zu
einer Vorreiterin des »Creative-Commons«-Ge-
danken von der Kultur als Allgemeingut: Seit März
singt Sita im Internet als Videostream und wartet
darauf, kostenlos heruntergeladen zu werden.
Spenden sind freilich willkommen: »Das alte Ge-
schäftsmodell von Zwang und Wucher versagt«,
meint Paley. »Neue Modelle entstehen, und ich
bin froh, ein Teil davon zu sein.«
FreieKultur
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xl012_O_Vorspann 18.06.2009 5:21 Uhr Seite 11
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Interview | Sebastian Thümler cınearte XL 012
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xl012_A1_Int_Thümler 17.06.2009 21:47 Uhr Seite 12
cınearte XL 012 Interview | Sebastian Thümler
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Herr Thümler, Sie haben dieses Jahr für ihre Montage des Films Chiko den »Deut-
schen Filmpreis« erhalten. Es ist eine der wenigen Auszeichnungen hierzulande,
die dieses Filmgewerk herausstellt. Eine weitere wird im Rahmen des Deutschen
Kamerapreises vergeben, und da wählten Sie als Jurymitglied gerade zum zwei-
ten Mal die Nominierten aus. Wird der Schnitt unterschätzt?
Der Schnitt, die Montage, ist eigentlich unsichtbar. Die erbrachte Leistung ist demzu-
folge sehr schwer zu sehen. Ich merke, daß es mir so geht, wenn ich eine Montage be-
urteilen soll, die ich nicht selbst geschnitten habe. Es ist wahnsinnig schwer, sich da
reinzudenken. Es braucht viel Zeit und Distanz um zu erkennen, was da eigentlich ge-
macht wurde. Jetzt war ich ja gerade in der Fernsehfilm-Jury. Da fielen mir Filme auf,
…befindet man sich im Schneideraum, glaubt Sebastian Thümler.
Der Editor wurde Ende April mit dem »Deutschen Filmpreis« ausgezeichnet.
Interview Karolina Wrobel
xl012_A1_Int_Thümler 17.06.2009 21:47 Uhr Seite 13
Interview | Sebastian Thümler cınearte XL 012
14
in die vom Editor viele Ideen eingebracht wurden
– viele auffällige Schnitte, Montagesequenzen –
und ich hatte den Eindruck, das sieht gut aus und
ist auch handwerklich toll gemacht. Aber es ist
nicht im Dienste der Figur, der Spannung und der
Erzählung. Obwohl das ein fantasievoller und gut
gemachter Schnitt ist, kann er noch immer
kontraproduktiv sein. Und dafür würde ich dann
keine Nominierung aussprechen. Leider waren
aber viele der Fernsehfilme sehr gewöhnlich, was
am Format liegt.
Warum ginge es beim Fernsehspiel nicht muti-
ger, unkonventioneller?
Das liegt glaube ich daran, daß viele der uns ein-
gereichten Fernsehfilme in einem bestimmten
Programmschema entstanden. Ein Tatort ist ein
Tatort und hat einen bestimmten Ablauf – und der
ist nun mal gleich. Das kann auch gar nicht anders
sein, weil der Zuschauer das jeden Sonntagabend
auch so will. Von diesen fest formatierten Pro-
grammplätzen gibt es aber viele. Auf einem Sen-
deplatz, einem mit viel Gefühl, wird eine be-
stimmte Filmsprache erwartet. Das können dann
wunderbare Filme sein, aber wir sollten ja, wie es
in der Anmeldung heißt, »richtungsweisende
Montageverfahren« nominieren.
Es gibt natürlich auch mutige und experimen-
tierfreudige Redaktionen, aber die Filme, die auf
diesen Sendeplätzen entstehen, werden leider oft
in der Kategorie »Kinospielfilm« eingereicht – was
ich übrigens für einen Fehler halte.
Warum halten Sie das für einen Fehler?
Weil ich glaube, daß es gute, kleine, vom Fernse-
hen koproduzierte Filme gibt, die vielleicht besse-
re Chancen in der Kategorie »Fernsehfilm« haben.
Bei den Kinofilmen ist die Konkurrenz härter. Der
Debütfilm Weitertanzen etwa lief auf den Hofer
Filmtagen und wurde bei uns als Fernsehfilm ein-
gereicht – und das hat ja dann auch zur Nominie-
rung geführt.
Hört man da heraus, daß Fernsehfilme »minder-
wertiger« sind?
In der Kategorie »Kino« werden Filme eingereicht,
die mit viel Geld, Aufwand und Zeit produziert
Chiko ist in seiner Montage-
sprache schnörkellos: keine
Blenden, keine Parallel-
montagen. »Die Schnitte
gehen im Prinzip fast immer
linear nach vorne«, erklärt
Thümler. Sein größtes
Anliegen war, daß die
Zuschauer die kriminelle
Hauptfigur (gespielt von
Denis Moschitto) genug
mögen, um 90 Minuten mit
ihm im dunklen Kinosaal zu
verbringen.
»Der Schnitt ist eigentlich unsichtbar. Die erbrachte Leistung ist sehr
schwer zu sehen. Ich merke das, wenn ich eine Montage beurteilen soll,
die ich nicht selbst geschnitten habe. Es braucht viel Zeit und Distanz
um zu erkennen, was da eigentlich gemacht wurde.« Fot
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xl012_A1_Int_Thümler 17.06.2009 21:47 Uhr Seite 14
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werden. Dieses Jahr war zum Beispiel Der Baader-
Meinhof-Komplex nominiert. Das ist eine starke
Konkurrenz. Im Fernsehen erleben wir diesen Ein-
satz höchstens bei den sogenannten Event-Fil-
men. Das sieht man ihnen auch an. Ich schildere
nur meine Eindrücke. Aber mit einem kleineren
Budget ist es nun mal schwieriger, große Bilder
herzustellen.
Ist der Kinofilm tatsächlich die Königsdisziplin,
wie viele meinen?
Diese Einstellung soll es geben.
Kann das Kino vom Fernsehen lernen?
Wenn wir unbedingt zwischen Fernsehen und
Kino unterscheiden wollten, dann habe ich es bis-
her so empfunden, daß die Arbeit am Kinofilm
von einer größeren Genauigkeit geprägt war. Erst
recht gegenüber der Fernsehreihe oder gar -serie,
wo der Sendetermin drängt oder die Mittel ausge-
schöpft sind und das dann halt so reichen muß.
Andererseits finde ich aber gerade in dokumenta-
rischen Formaten eine andere Art, mit dem Mate-
rial umzugehen – mehr Freiheit und Frechheit. Da
entstehen spannende Dinge, die man mitnehmen
könnte für den Film. Und es ist ganz erfrischend,
mal auf Youtube zu schauen. Zwischen dem Dilet-
tantismus zeigt sich eine Art, wie man auch Filme
machen kann. Da sehe ich echte Neuerungen. Der
Actionreißer Crank 2 etwa ist wie ein Beitrag auf
Youtube gestaltet. Die Bildgestaltung ist aus dem
Reich der Film-Nerds geklaut und fürs Kino adap-
tiert. Das sieht zum Teil richtig billig aus. Ist aber
clever eingesetzt.
Sie arbeiten für Kino und Fernsehen. Wie unter-
scheidet sich da ihre Arbeit, die Erzählweisen?
Es gibt da einen Satz, den ich mag: Kinos soll auf-
regen, Fernsehen soll beruhigen. Es gibt zwar ex-
perimentelle Sendeplätze, aber die Primetime hat
nicht den Anspruch, die Zuschauer zu verstören.
Das Kino versucht eher mal, in Extreme zu gehen.
Wobei freche TV-Formate eher im Dokumentari-
schen zu finden sind als im Spielfilmbereich.
Wie beurteilt man einen »guten Schnitt«?
Oje… Wie macht man das? Man versucht, sich die
Mittel, die er einsetzt, bewußt zu machen und be-
urteilt, ob das im Sinn des Films ist. Es hilft nichts,
etwas zu machen, das toll aussieht, aber nicht zur
Geschichte paßt. Das Schlimme ist, daß man das
Wesentliche beim ersten Mal immer übersieht.
Weil ein guter Schnitt sich unsichtbar macht.
Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, zu be-
urteilen, was am Werk vom Editor kommt. Und
dann stellt man sich Fragen: Wie versucht er zu er-
zählen? Welche Tonart schlägt er an? Ist der
Schnitt schnell, stark an der Hauptrolle? Warum
nicht? Gibt es nur Totalen? Wo sind die Erzähl-
schwerpunkte? Die Stimmung soll vermitteln, daß
der Editor sie bewußt herangeführt hat. Wie lange
wird die Spannung aufgebaut, bis Auflösung
kommt? Wie ist die Haltung zum Material? All das
versuche ich zu beachten, wenn ich in der Jury sit-
cınearte XL 012 Interview | Sebastian Thümler
xl012_A1_Int_Thümler 17.06.2009 21:47 Uhr Seite 15
Interview | Sebastian Thümler cınearte XL 012
16
ze. Aber es ist immer wahnsinnig wolkig. Letztlich
geht es darum, wie jemand Schnitt und Kamera in
den Dienst der Geschichte stellt. Ich glaube nicht,
daß ein schlechter Film gut geschnitten sein kann.
Ein Schnitt muß den Film gut machen. Und eine
guter Film sollte nicht langweilen – zumindest
nicht unabsichtlich. Wenn er langweilt, hat der
Schnitt versagt. Das ist eine klare Aufgabe.
Die Montage ist für die Qualität eines Films also
nicht unerheblich. Kann ein guter Schnitt einen
Film sogar retten?
Ja, hoffentlich. Es ist diese gewisse Magie im
Schneideraum, die man nur schwer fassen kann.
Es ist mir schon oft passiert, daß man spürt, die
Szene funktioniert nicht, weil sie nicht richtig auf
dem Punkt ist. Wenn man Glück hat – und Zeit –
schafft man es, eine Szene so umzudrehen, daß sie
plötzlich genau das ist, was der Film braucht. Das
ist ein immenser Einfluß, den man hat. Es gibt na-
türlich kein Patentrezept. Aber es ist schon er-
staunlich, wie stark sich Szenen im Film verän-
dern können. Wenn man genau hinschaut, kann
man auch spüren, welche Haltung der Schnitt in
einen Film hineinbringt. Er kann komödiantische
Elemente betonen, eine Figur ironisieren, er kann
Gewalt härter oder weniger hart wirken lassen. Es
ist eine große Kunst, die richtige Haltung zu dem
richtigen Film zu finden und den Film dadurch am
besten wirken zu lassen.
Man hat ja so viele Möglichkeiten im Material,
ein Editor hat viele Haltungen, die er gegenüber
seinem Film einnehmen kann. Wenn man aller-
dings die falsche einnimmt, wird das eben nicht
der bestmögliche Film. Wenn ich dann zum Bei-
spiel an Chiko denke, sind im Buch und dem mir
später vorliegendem Material ganz verschiedene
Interpretationen möglich. Da den richtigen Ton zu
finden ist ein Prozeß, der im Schnitt und auch
über die Zeit und in der Zusammenarbeit mit dem
Regisseur entsteht.
Auf welche Weise kann denn eine Geschichte
bestmöglich erzählt werden?
Ich bin relativ stark auf die Figur und das Schau-
spiel konzentriert. Ursprünglich habe ich ein
Praktikum bei einer Werbefirma gemacht, bevor
ich zur Ausbildung als Filmeditor gekommen bin.
Da kam es oft darauf an, Bilderwelten zu kreieren,
also Stimmungen und Images aufzubauen. Mit
solchem Material wußte ich manchmal wenig an-
zufangen, denn mir fehlte die Geschichte.
Wie ahnen Sie, welche Stimmung, Tonart Regis-
seur anschlägt?
Das ist ja unser Beruf als Editor. Wir sind ja nicht
einfach die Zuarbeiter des Regisseurs, sondern
von uns wird erwartet, das Material richtig zu
interpretieren, ihm zu helfen, seine Visionen um-
zusetzen. Und dazu brauche ich einen eigenen
Kopf. Wenn der Regisseur das besser könnte,
bräuchte man keinen Editor mehr. Mit den heu-
tigen Schneidesystemen wäre das technisch und
theoretisch ja ganz einfach selbst zu bewerkstelli-
gen.F
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xl012_A1_Int_Thümler 17.06.2009 21:48 Uhr Seite 16
17
Und Regisseure lassen das zu, daß sie so ei-
genmächtig mit ihren Geschichten umgehen?
Was sollen Sie machen? Beim Fernsehen ist es üb-
lich, daß erstmal ein Rohschnitt gemacht wird. Die
Zusammenarbeit beginnt dann. Wenn ich an-
schließend mit dem Regisseur zusammensitze ist
das die spannendste Phase: Ihn zu neuen Ideen
anzustiften… sich weiter in den Dialog zu bege-
ben… was ist die Idee der Szene, wie kann das
noch besser werden?
Was ist mit der romantischen Vorstellung von
Regisseur und Editor, die sich tagelang im
Schneideraum einschließen, nicht mehr essen
und trinken und gemeinsam am Werk feilen…
Beim Fernsehen sitzt man erst mal alleine am
Film. Ich hörte, daß zum Beispiel Hansjörg Weiß-
brich und Hans-Christian Schmit die Muster ge-
meinsam ansehen; dann montiert Weißbrich allei-
ne und anschließend wird das besprochen. Dazu
braucht man aber auch die Zeit. Bei Chiko haben
wir so gearbeitet.
Wie verlief der Prozeß in diesem Fall?
»Wir sind ja nicht einfach die Zuarbeiter des Regisseurs, sondern von uns
wird erwartet, das Material richtig zu interpretieren, ihm zu helfen, seine
Visionen umzusetzen. Und dazu brauche ich einen eigenen Kopf. Wenn
der Regisseur das besser könnte, bräuchte man keinen Editor mehr. «
cınearte XL 012 Interview | Sebastian Thümler
Es gab einen Rohschnitt ohne Özgür Yildirim, den
Regisseur. Parallel zum Dreh. Danach sind wir mit
sehr viel Zeit den kompletten Film durchgegan-
gen, haben uns die Muster gemeinsam angesehen,
jede Szene noch mal zum Teil wirklich neu ge-
schnitten. Der Film ist in seiner Sprache, was den
Schnitt angeht, ziemlich schnörkellos. Er ist nicht
verspielt – da sind keine Blenden, keine Parallel-
montagen, es wird keine Filmmusik eingesetzt.
Die Schnitte gehen im Prinzip fast immer linear
nach vorne. Es gibt auch keinen assoziativ einge-
setzten Schnitt, nichts Symbolhaftes. Es passiert,
was passiert. Klar und direkt. Das ist das, was wir
im Schnitt entwickelt haben. Diese Haltung war
recht schnell klar, als wir zusammengesessen ha-
ben. Dann haben wir überlegt, wie wir diese Ag-
gression, diese Härte dimensionieren. Ich hatte
zum Beispiel starke Bedenken, daß man diese
Hauptfigur nicht besonders mag: den Chiko. Und
so haben wir uns im Schnitt sehr intensiv damit
beschäftigt, wie bereit man ist, mit dieser Figur 90
Minuten des Films durchzugehen. Eigentlich war
Es ist schon erstaunlich, wie stark sich Szenen verändern können. Der Schnitt kann komödiantische Elemente betonen, er kann
Gewalt härter oder weniger hart wirken lassen, und eine Figur völlig neu erfinden, erklärt Thümler. »Es ist eine große Kunst, die
richtige Haltung zu finden und den Film dadurch am besten wirken zu lassen.«
xl012_A1_Int_Thümler 17.06.2009 21:48 Uhr Seite 17
Interview | Sebastian Thümler cınearte XL 012
18
es mein Hauptanliegen – vom Anfang bis Ende.
Wir erleben den Film aus einer Perspektive, und
das macht ihn ja so außergewöhnlich, die uns ei-
gentlich fremd ist. Es ist ein Milieu, das man nor-
malerweise nicht kennt.
Hatten Sie mal Ärger mit dem Kameramann? Es
soll ja Bildgestalter geben, die die Schnittmeis-
ter als ihre natürlichen Feinde betrachten.
Es ist schon komisch, wie wenige Kameraleute
man im Schneideraum trifft, wo wir doch von de-
ren Bildern leben. Und schade, daß so ein relativ
geringer Austausch stattfindet, denn es ist interes-
sant, welch anderen Blick sie haben. Der Kamera-
mann beklagt, daß diese eine tolle Kranfahrt nicht
drin ist – dem Editor geht es darum, nicht einzelne
Momente leuchten zu lassen.
Sind Sie selbst am Set?
Bei jedem Film einmal, um Hallo zu sagen, aber
auf keinen Fall öfter. Ich merke, daß ich danach
den Film anders sehe. Ich habe die Stimmung mit-
genommen, das gesamte Umfeld und stehe nicht
mehr neutral dem Material gegenüber. Das ist ein
unangenehmes Gefühl. Der erste Eindruck, den
ein Muster hinterläßt, ist nämlich der wichtigste
Moment, eines der wertvollsten Dinge. Er wird
verfälscht, wenn man bei der Aufnahme dabei ist.
Das ist nicht gut für meine Arbeit, auch wenn es
schön ist, wenn man mit Team-Kollegen am Set
zusammentrifft.
Macht es einen Unterschied, auf welcher tech-
nischen Grundlage Sie den Film schneiden?
Mitunter prallen da sehr unterschiedliche Positio-
nen aufeinander, ich denke da nur an den Glau-
benskrieg, ob man auf Film schneidet oder auf ei-
nem digitalen Schnittsystem. Heute ist das
Geschichte, weil praktisch keine Filme mehr am
Steenbeck, also am Filmschneidetisch, montiert
werden. Aktuell stellt sich die Frage, ob die Arbeit
an unterschiedlichen digitalen Schnittsplätzen
also Avid, Final Cut, Premiere... unterschiedliche
Filme hervorbringen.
Im Prinzip geht es ja darum, ob es mit unter-
schiedlichem Werkzeug auch unterschiedliche Fil-
me werden. Und ich persönlich glaube daran, daß
mit unterschiedlichem Werkzeug auch unter-
schiedliche Filme entstehen. Wenn ich auf einem
Avid schneide, bekomme ich einen anderen Film
als am Filmschneidetisch. Das liegt an dem ande-
ren Zugriff auf das Material. Bestimmte Werkzeuge
bringen auch bestimmte Ideen hervor, denn
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»Eine gute Leistung zu bringen, ist das eine. Das andere ist, an die Jobs
zu kommen. Das geht über Kontakte. Die Filmhochschule ist ein sinn-
voller Ort, die zu knüpfen.«
>> Zur Person. Sebastian Thümler hatte während eines Schülerpraktikums zum ersten Mal die Finger am
Schneidetisch. 1986 war das im Schneideraum der Cinecentrum. Seitdem hat er sämtliche Arten, die be-
wegten Bilder zu einer Geschichte zu montieren, ausprobiert und nach einer Cutterassistenz bei VCC in
Hamburg die Cutterausbildung beim NDR durchlaufen. Seit 2002 unterrichtet er selbst – zuerst am Auf-
baustudiengang Film der Universität Hamburg (heute Teil der Media School) und dann an der Filmaka-
demie Baden-Württemberg in Ludwigsburg.
Als freier Editor betreute er Serien und Fernsehspiele für verschiedene Sender. Der Kinospielfilm Ganz
nah bei dir (Regie: Almut Getto), den Thümler montiert hatte, erhielt im Januar den Publikumspreis auf
dem Max-Ophüls-Festival ins Saarbrücken. Beim »Deutschen Kamerapreis«, der auch Kategorien für den
Schnitt hat, saß der Editor zweimal in der Auswahl-Jury, in diesem Jahr erhielt er selbst die offiziell höch-
ste Auszeichnung des Landes für sein Filmgewerk: Für das Gangsterdrama Chiko gab es den »Deutschen
Filmpreis«.
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cınearte XL 012 Interview | Sebastian Thümler
Dank für gelungene Mühen: Die Arbeit an Chiko brachte
Thümler in diesem Jahr den »Deutschen Filmpreis« ein
– und den Applaus der Schauspielerin Anna Loos im
Hintergrund.
durch die Zugänglichkeit des Materials gestaltet
sich der kreative Prozeß anders. Zum Beispiel
habe ich die Möglichkeit, beliebig viele Tonspuren
während des Schnitts zur Verfügung zu haben. Am
Schneidetisch gab es nur zwei Tonspuren. Es er-
gibt sich eine viel komplexere Komposition zwi-
schen Ton und Bild. Früher mußten alle Zwischen-
schritte, die mehr Töne beinhalteten, abgemischt
werden, jede Veränderung mußte im Tonstudio
stattfinden. Das ist die alte Schule am Filmschnei-
detisch – obwohl man auch hier vieles machen
konnte. Man hat immer lange und gründlich über-
legt, was man eigentlich will und sich dann ent-
schieden. Der Schnitt, der findet hier ja noch phy-
sikalisch statt, im digitalen System ist er virtuell.
Da wird nichts verändert. Insofern kannst Du ei-
nen Schnitt im selben Take zweihundert Mal ma-
chen – immer, immer, immer wieder verändern,
verändern, verändern. Im Film konntest du das
letztlich nicht ernsthaft wollen.
Und obwohl sich der Schnitt an digitalen
Schnittplätzen ähnelt gibt es doch Unterschiede
in der Software-Ergonomie, man denke nur an die
unterschiedlichen Möglichkeiten bei Avid und Fi-
nal Cut, Material in der Timeline zu bewegen. Ob
der Unterschied gerade im Spielfilmbereich am
Ende sehr groß sein wird weiß ich nicht. Aber ich
frage mich, ob diesen Unterschieden bei der Neu-
anschaffung eines Schnittsystems, zum Beispiel in
Sendeanstalten, genug Rechnung getragen wird.
Sie haben am Rechner mit Avid gearbeitet, an
der Videobandmaschine und am klassischen
Filmschneidetisch. Was bevorzugen Sie?
Den Avid, auf jeden Fall. Das ist ein hervorragen-
des Instrument, das man uns für unsere Arbeit an
die Hand gegeben hat.
Sie haben in der Praxis gelernt, jetzt lehren Sie
an Filmhochschulen in Hamburg und Ludwigs-
burg. Was ist der Unterschied?
Zu meiner Zeit gab es Filmmontage ja noch nicht
in Ludwigsburg und Köln. Ich halte das für inter-
essante Studiengänge. Vom eigentlich kreativen
Vorgang habe ich im Aufbaustudium in Hamburg
gelernt, wo ich viele Studentenfilme geschnitten
habe. Ich habe in meiner Ausbildung viel über die
technischen Hintergründe bis zum Kopierwerk
gelernt. An den Filmschulen wird das Kreative
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Interview | Sebastian Thümler cınearte XL 012
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stärker betont. Wenn ich heute noch mal die Wahl
hätte, würde ich sehr intensiv darüber nachden-
ken, an eine Filmhochschule zu gehen. Schon
wegen des kreativen Austauschs mit anderen Stu-
denten. Das war uns nicht möglich. Zudem ent-
steht da ein Netzwerk, das extrem wertvoll ist, ge-
rade als Freiberufler. Denn eine gute Leistung zu
bringen, ist das eine. Das andere ist, an die Jobs zu
kommen. Das geht über Kontakte. Die Filmhoch-
schule ist ein sinnvoller Ort, die zu knüpfen.
Das dürfte ja jetzt kein Thema mehr sein. An-
fang des Jahres hat Almut Gettos Spielfilm
Ganz nah bei dir, den Sie montiert haben, den
Publikumspreis auf dem Max-Ophüls-Festival
gewonnen. Ende April haben Sie selbst für Chi-
ko den »Deutschen Filmpreis« erhalten. Seit-
dem klingelt das Telefon wohl ohne Pause.
Tatsächlich kam vorige Woche ein Angebot, um-
sonst einen Kurzfilm zu schneiden. Das fand ich
sehr schön, und vermutlich kam das durch die
»Lola«. Man stellt es sich vielleicht so vor, daß
dann wildfremde Leute anfragen, weil man gerade
den bedeutendsten Filmpreis der Republik ge-
wonnen hat. Aber so ist es nicht.
Die Außenwirkung ist allerdings enorm – stän-
dig werde ich von Freunden und Kollegen auf die-
sen Preis angesprochen. Und ich glaube, für viele
der Leute, die ich eh schon kenne, ist es jetzt leich-
ter mich gegenüber Sendern oder Produzenten als
Editor für ihren Film durch zu setzen.
Die technischen Formate ändern sich, doch ei-
nes bleibt unverändert – jeder Filmeditor
braucht Erzählkompetenz. Sie selbst haben
eine Weiterbildung an einer Drehbuchschule
absolviert… Wie hat ihnen das in ihrer Arbeit
genützt?
Es ist schwer zu lernen, wie man einen guten Film
schneidet. Dramaturgie im Spielfilm ist aber eine
»Wenn ich auf einem ›Avid‹ schneide, bekomme ich einen anderen Film
als am Filmschneidetisch. Das liegt an dem anderen Zugriff auf das
Material. Bestimmte Werkzeuge bringen auch bestimmte Ideen hervor.« Fot
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Film
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cınearte XL 012 Interview | Sebastian Thümler
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Sache, die man lernen kann und lernen sollte –
warum etwas im Film nicht funktioniert, und wie
es funktionieren könnte. Die Kenntnis der Film-
sprache kann da nur hilfreich sein. Mir hat Hark
Bohm als Leiter des Filmstudiums in Hamburg da
viel nahegebracht. Er ist jemand, der sich mit der
Filmsprache auseinandersetzt, stark rationalisiert
und auf die Gesetze verweist. Eigenartigerweise
gibt es selbst nach mehr als hundert Jahren Film-
geschichte kein allgemeinverbindliches Curricu-
lum, nach dem Schnitt unterrichtet wird.
Wie sollte das aussehen?
Wenn es um Dramaturgie geht, gibt es viele Bü-
cher, Lehrsätze und Gesetzmäßigkeiten. Kamera-
leute lernen in ihrer Ausbildung Bildaufbau und
wie Bilder wahrgenommen werden. Bei der Musik
ist es ähnlich. Nur beim Schnitt heißt es meistens:
Das machen wir aus dem Bauch heraus! Ein sol-
ches Lehrbuch sollte also ein Querschnitt aus den
erwähnten Punkten sein – wie wird welche Wir-
kung erzielt? Ich kenne keines, das diesen An-
spruch erfüllt. Und kommt mir jetzt nicht mit Ei-
senstein! Die Gesetzmäßigkeiten, die er schon in
den 1920er Jahren beschrieben hat, gelten unbe-
stritten immer noch. Aber er ist halt schwere Kost
für Editoren. Doch ich war auch nicht an der
Hochschule. Ich nehme an, daß man sich dort
mehr mit diesen Fragen auseinandersetzt. Aber da
diese Studiengänge noch neu sind, hängt man
hinterher.
Und vielleicht ist das auch erst heute möglich,
weil solch ein Werk wohl gar nicht als Buch funk-
tionieren kann, sondern nur als DVD. Montage be-
steht aus Zeit und Bewegung. In dem Standard-
werk Geschichte und Technik der Filmmontage
etwa sind die Sequenzen in unzählige kleine
Standfotos zerlegt – das reicht auch nicht. Man
braucht bewegte Bilder, um es richtig darzustel-
len. Das ist jetzt erst möglich geworden.
Wer sind Ihre Vorbilder?
Vorbilder… Es gibt sicherlich Kollegen, die ich
sehr schätze, Filme, die ich sehr bewundere. Auf
jeden Fall Patricia Rommel, die ebenfalls für die
»Lola« nominiert war: Im Winter ein Jahr ist gran-
dios. Sie hat einen Umgang mit Raum und Zeit,
der immer wieder gelingt: Sie versteht es, Emotio-
nen zu montieren, und nicht nur auf die Bewe-
gungsanschlüsse zu gucken. Ihr Schnitt hat eine
besondere Leichtigkeit, das fällt mir an allen ihren
Filmen auf. Ich wünsche mir, das auch mal so hin-
zubekommen. Aber so weit bin ich leider noch
nicht.
Der Editor spricht
gerne von der
»Magie im Schneide-
raum«, obwohl er die
Arbeit am Set nicht
minder spannend
findet, nur halt
weniger magisch.
Im Januar gab es
den ersten Ruhm,
als Almut Gettos
Spielfilm Ganz nah
bei dir auf dem
Max-Ophüls-Festival
den Publikumspreis
erhielt. Montage:
Sebastian Thümler.
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Produktion | Waffenstillstand cınearte XL 012
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Was Helfer in Krisengebieten erleben.
ist mehr als einen Film wert. Nicht
weniger aufreibend ist die Geschichte,
die sich dann ergibt. Einblicke in eine
Produktion, die in die Wüste ging.
Fotos: Drife Productions
In der
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Mit allem hatte man gerechnet, nur
nicht mit dem Wetter in Marokko. Der
Innenhof in Erfoud war aufwendig für
den Nachtdreh vorbereitet, der Boden
mit Heizlüftern getrocknet, das Licht
gesetzt, die Schauspielproben beendet.
Dann kam der nächste Regenguß.
Heute hat Produzent Florian Deyle
wieder Sinn für Ironie und faßt die Zeit
als »Trauma von Erfoud« zusammen.
Krisenzone
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Produktion | Waffenstillstand cınearte XL 012
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Letzter Drehtag: In Berlin wurde das ehemalige
Airport-Hotel am Flughafen Tempelhof für einen
Tag zum Korrespondentenquartier in Bagdad.
Hannes Jaenicke (Mitte) spielt einen Nachrichten-
kameramann im Krisengebiet. Hinter ihm gibt
Regisseur Lancelot von Naso die letzten
Anweisungen.
Fotos: Drife Productions
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Produktion | Waffenstillstand cınearte XL 012
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Zum Glück war nicht jeder Höllenkreis, den das Team
durchschreiten mußte, echt: Max von Pufendorf wird in
der Maske für seinen Auftritt vorbereitet (oben links).
Als idealistischer Journalist begleitet er einen Hilfs-
transport – und gerät mitten in die Realität des Krieges.
In Casablanca wurden die aufwendigsten Action-Sequenzen
gedreht. Was natürlich Schaulustige anlockte. Die Polizei
wollte nicht an jedem Drehort für die Sicherheit garantieren.
Doch die marokkanische Serviceproduktion fand immer eine
Lösung (oben rechts).
Beim Dreh in der Nacht liegen die Nerven blank (unten
links) – zuviel hat das Team schon durchgemacht, selbst
die Ausweichpläne werden immer wieder durch neues
Unvorhergehenes durchkreuzt.
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Produktion | Waffenstillstand cınearte XL 012
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Text Christoph Gröner
Wenn Lancelot von Naso das Drehkommando
»Action!« ausspricht, dann hört es sich nicht Eng-
lisch an. Er spricht es Französisch aus, betont auf
der zweiten Silbe. Müde hört sich das an und an-
gespannt zugleich – so, als ob er alle Kräfte mobi-
lisiert und mit dem Kopf durch die Wand geht. Es
ist der letzte Drehtag von Waffenstillstand, gefilmt
wird am Flughafen Tempelhof in Berlin, und Lan-
celot von Naso ruft immer wieder »Actión!«. Da-
nach sagt er »Das fand ich super!« und »Gleich
nochmal!« Wieder und wieder: Der Regisseur geht
auf Nummer sicher, will jede Perspektive für den
Schnitt. Denn er hat mit seinem Debüt schon vie-
le Drehtage erlebt, die in den Wüstensand gesetzt
wurden. Hier läßt er nichts anbrennen: Augen auf
den Videoschirm und durch.
Die Hallen des geschlossenen Berliner Flugha-
fens Tempelhof werden an diesem Tag zu Bagdad:
Gedreht wird ein Briefing, wie es typisch war für
die Zeit nach dem Einmarsch der US-Truppen im
Irak, nach dem offiziellen Ende des Krieges. Ein
US-Militärpressesprecher beharrt darauf, daß es
sich bei einer Operation in Falludscha, 50 Kilome-
ter westlich von Bagdad, um eine »Limited Police
Action« handelt. Dabei sind schon 5.000 Soldaten
in der Stadt, kontert ein Journalist. Kein Kommen-
tar, heißt die trockene Antwort. »Gleich nochmal«,
sagt Naso. Der Pressesprecher seufzt.
Es ist der 22. März 2009 – fast genau fünf Jahre
nach dem ersten Versuch der US-Armee, die Stadt
Falludscha zurückzuerobern. Waffenstillstand ist
eine Geschichte über Helfer, die in dieser Zeit im
Krisengebiet sind, über Westler, die sich wegen des
Kicks, wegen Geld, oder einem ausgeprägten Al-
truismus selbst in Gefahr bringen – ob als Ärzte,
Journalisten oder Glücksritter. Waffenstillstand
handelt auch von der medialen Wahrnehmung
des Krieges, wie Nachrichtenbilder entstehen und
was von ihnen übrigbleibt. Naso dreht den ersten
deutschen Irak-Film.
Drinnen gibt es wieder eine Aufnahme, vor der
Tür steht Hannes Jaennicke, der seinen Drehtag
schon hinter sich hat. Er spielt den Kameramann
Ralf, der mit dem jungen deutschen Journalisten
Oliver unterwegs ist, den Max von Pufendorf jung Fot
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Entspannung beim Nachsitzen: Bei der Rückkehr
nach Marokko blieb Matthias Habich trocken.
Zu den ursprünglich kalkulierten dreißig Drehtagen
kamen sieben weitere hinzu – Nachdrehs in
Marokko und Berlin, Resultat einer Serie von
unvorhersehbaren Kleinkatastrofen. In Berlin
inszenierte Lancelot von Naso (Foto links, mit
David Michael Williamson) die Pressekonferenz
der US-Armee.
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Produktion | Waffenstillstand cınearte XL 012
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und idealistisch spielt. Beide treffen auf Kim
(Thekla Reuten), die holländische Mitarbeiterin
einer NGO, einer jener »Nichtregierungsorganisa-
tionen«, die zusammen mit dem französischen
Arzt Alain (Matthias Habich) einen Hilfstransport
in ein Krankenhaus in der Kampfzone plant. Es
herrscht für wenige Stunden Waffenruhe. Gerade
Ralf hält nichts von dem Plan, ein notorischer Pes-
simist.
Schön, daß Jaennicke hier nicht als Haudrauf
besetzt ist, obwohl er sportlich wirkt. In der Rolle,
mit der Kamera stets auf der Schulter, hat ihm das
geholfen. Die Freundschaft zu echten Kriegsrepor-
tern, deren Gemeinschaft er den den »Bangbang-
Club« nennt, hat ihm geholfen. »Es gibt da völlig
unterschiedliche Typen: Die Vollalkoholiker, die
Cowboys, die Engagierten und die bitteren Zyni-
ker«, sagt er über die Reporter.
Und welchen Typ spielt er in dieser Rolle? »Mei-
ne Figur ist zynisch, weiß aber genau, wie weit sie
gehen kann. Und dann läßt sich mein Charakter
von Oliver einen Schritt zu weit treiben. Ein
Schicksalsschritt.« Zwischen 30-Sekunden-Auf-
nahme und Hotel liegt für die Journalisten die
dauernde Gefahr.
Und ein bißchen war das auch so mit den Dreh-
arbeiten zum Film: Bis der Tag nicht vorüber war,
konnte keiner sagen, was passiert. »Manchmal hat
man das Glück der Tüchtigen. Bei uns war das
nicht so«, lacht Jaennicke. »Es hat durchgeregnet –
in der Wüste! Das hat den ganzen Dreh sehr
schwer gemacht. Aber ich denke, es hat sich ge-
lohnt.«
Naso und seine Produzenten Martin Richter
und Florian Deyle von Drife haben intensiv für
den Stoff recherchiert. Das Drehbuch schrieben
der Regisseur, Kai Uwe Hasenheit und Collin
McMahon, der Erfahrung als Kriegsreporter auf
dem Balkan hat. Um die Situation in Falludscha
realistisch einzufangen, wurde auch der Tscheche
Thomas Etzler eingehend interviewt, der als »Em-
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Am Motiv in Salé war genaue Kadrage gefordert: In der Nähe standen die Laster einer US-Großproduktion.
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cınearte XL 012 Produktion | Waffenstillstand
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bedded Journalist« für CNN den Einmarsch der
US-Truppen im Irak erlebt hatte.
Im Flughafengebäude dreht Naso weiter, man
weiß nicht, ob ihm da noch einmal Gedanken an
die letzten fünf Jahre durch den Kopf schießen.
Dieser Drehtag – er wird noch bis Mitternacht ge-
hen – ist nichts gegen viele Tage in Marokko, wo
die Sets für das ausgebombte Falludscha gefunden
wurden. Der schlimmste Moment läßt sich im
Nachhinein kaum noch ausmachen, alle Beteilig-
ten haben viel zu viele Anekdoten zu erzählen, die
sich wild anhören, nach einer Filmproduktion in
der emotionalen Krisenzone.
Begonnen haben die Probleme schon 2004. Von
Naso hatte mit seinen Kurzfilmen wie Fenstersturz
oder The Tourist auf sich aufmerksam gemacht,
mit Sinn für Timing und Alltagswahnsinn. Er woll-
te ein psychologisches Kammerspiel in einem Bus
drehen, einen »modernen Postkutschenfilm«. His-
torische Beispiel wie John Fords Ringo (Stageco-
ach) von 1939 zeigten ja, daß es geht. »Für mich
war es von Anfang an weniger ein Film über den
Irakkrieg. Es geht um Mitteleuropäer in Krisenge-
bieten.« Meist hört man nur von solchen Men-
schen, wenn sie entführt werden, wenn sie um-
kommen. Aber von Naso, der vor der Filmschule
Politik studiert hat, geht es um das Engagement.
»Das ist ein Lebensweg, der mich persönlich inter-
essiert.« Wieviel bleibt vom Idealismus, wenn er
auf engstem Raum, in einem Bus zusammenge-
pfercht wird?
Die Förderer teilten Nasos Enthusiasmus nicht.
An der Kinokasse floppten zu der Zeit wieder
deutsche Kinofilme mit Kriegsthematik, die Dreh-
buchförderung blieb deshalb aus. Das Team
schrieb es auf eigene Faust, aber auch für die Pro-
duktion ließen sich die Finanzierungslücken nicht
schließen: Der Film stand vor seinem Drehbeginn
schon vor dem Scheitern. Aber es ist auch typisch
für Waffenstillstand, daß es immer wieder weiter
ging, daß ein Zufall die Lösung brachte. So saß
Schönes Bild, leider anders geplant: Die Wüstentankstelle lag im Matsch. An den Dreh am Schlüsselmotiv war nicht zu denken.
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Naso im Herbst 2007 im Flieger nach Zürich und
lernte Dario Suter kennen. Der hatte die Online-
Community »StudiVZ« mit aufgebaut, Geld zur
Verfügung und Lust auf Neues: So gründete Suter
mit seinen Freunden Christoph Daniel und Marc
Schmidheiny kurzerhand die DCM Mitte Produc-
tions, und sie wurden Koproduzenten. Sie sagen,
sie wollten einen »Crashkurs im Filmemachen«:
Mit Waffenstillstand haben sie ihn dann auch be-
kommen – in der Wüste Marokkos. »Man geht
nicht zu weit, wenn man sagt: Ohne DCM würde
es diesen Film nicht geben«, gesteht Richter.
Wieso haben die Produzenten eigentlich nicht
aufgegeben? »Wir haben an den Stoff geglaubt, Ei-
genkapital vorgeschossen. Natürlich stellt man
sich die Frage. Verrennt man sich oder nicht? Ein
bis zwei Jahre schneller wären schön gewesen«,
sagen die Drife-Produzenten Deyle und Richter.
Sie haben das Projekt schließlich auf die Beine ge-
stellt.
Als dritter Koproduzent stieg die Erfftal-Produk-
tion ein, das Projekt fand das Vertrauen des Re-
dakteurs Lucas Schmidt vom Kleinen Fernsehspiel
beim ZDF. Vom FFF Bayern kamen 300.000 Euro,
vom Deutschen Filmförderfonds noch einmal
100.000 und Referenzmittel aus Kurzfilmproduk-
tionen – insgesamt knapp 1,7 Millionen Euro. »Wir
haben mehr privates Geld drin als Fördergeld. Das
Gesamtbudget inklusive unserere Gagen, Team-
Als »modernen Postkutschenfilm« hatte sich von Naso sein Langfilmdebüt gedacht. Hauptdarsteller sind deshalb auch drei weiße
Kleinbusse. Die hatte man für Innen- und Außendreh aus Deutschland mitgebracht und entsprechend vorbereitet: Einer wurde mit
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und Schauspielerrückstellungen beläuft sich um
die zwei Millionen Euro«, erläutert Richter.
Vor dem Dreh gab es weitere Herausforderun-
gen: Wie bekommt man ein Team von gut beschäf-
tigten Schauspielern einen Monat nach Afrika?
»Sie für das fertige Buch zu begeistern, war kein
Problem«, berichtet Florian Deyle. Zeit zu finden
dafür um so schwieriger. Zwischenzeitlich war
Heino Ferch für die Rolle des Kameramanns im
Gespräch, am Ende wurde es Hannes Jaennicke,
der sich auch nicht vom Reisestreß und seinen ei-
genen Dokumentarfilm-Projektenabhalten abhal-
ten ließ. Für die Rolle flog er von Winnipeg nach
Casablanca, dann direkt für einen weiteren Dreh
nach Costa Rica. »Es war ein Abenteuer«, sagt er.
Aber er war dabei, bei der Fahrgemeinschaft von
Bagdad nach Falludscha, in der die Realität des
Krieges immer wieder in pointierten, bitteren Dia-
logen verhandelt wird.
»Wir hatten ein großartiges und leidenschaftli-
ches Team und wunderbare Schauspieler, die trotz
der sehr harten Drehbedingungen sehr authen-
tisch spielen«, sagt Deyle über das Schauspiel-
team, daß ab Anfang Oktober an Drehorten in Er-
foud an den südlichen Ausläufern des
Atlasgebirges sowie in Casablanca und dem nahe-
liegende Salé vor der Kamera stand. Das Team
nahm einiges Equpiment mit aus Deutschland
und drei weiße Kleinbusse, die für Innen- und
der Bohrmaschine mit Einschußlöchern versehen, ein anderer komplett mit einem Rig umbaut, um Licht und Kamera flexibel
montieren zu können.
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Außendrehs vorbereitet wurden. Noch in
Deutschland bekam einer der Wagen Einschußlö-
cher mit der Bohrmaschine verpaßt. Ein anderer
wurde komplett mit einem Rig umbaut, um Licht
und Kamera flexibel zu montieren.
Gedreht wurde auf Super 16, dem »idealen For-
mat«, wie Kameramann Felix Cramer sagt. Digita-
le Lösungen hätten die starken Erschütterungen,
Wärme, Staub, und die ständige bewegten Auf-
nahmen wohl kaum ausgehalten. Im Auto war es
immer wieder so voll, als ob es um einen skurrilen
Rekord ginge – Regisseur, Kameraabteilung, Ton
quetschten sich hinein. Und Felix Cramer
schwang sich vorne auf die Motorhaube, um Auf-
nahmen zu machen.
Das Team hatte mit allen Drehsituationen ge-
rechnet, aber nicht mit einem ein Marokko, in
dem es gegen alle Wahrscheinlichkeit immer wie-
der wie aus Kübeln goß. Vier Wochen lang kämpf-
te das Team mit dem Wetter. »Nach drei Tagen hieß
es, 1965 habe es einmal so ein verregnetes Jahr ge-
geben«, erinnert sich Lancelot von Naso. Tage spä-
ter gab es keinen Vergleichsmaßstab mehr. »Die
Zeitungen in Europa schrieben schon von einer
Wetterkatastrofe.«
Und das Team plante Drehtag um Drehtag um.
Die Crew wollte an einer Wüstenstraße drehen –
sie war voller Pfützen. Eine Brücke war als Motiv
ausgesucht – und brach unterspült ein. Ein ent-
scheidender Drehort war eine Tankstelle in der
Wüste – wenn man das Areal betrat, steckte man
knietief im Schlamm. Plan A und Plan B, so Naso,
funktionierten manchmal einfach nicht. »Bei ei-
nem C-Plan ist uns dann die Aufhängung für die
Kamera am Auto weggebrochen. Also hatten wir
Zeit zur neuen Motivsuche – Plan D.« Man fuhr
hinter ein kleines Dorf zu einem möglichen Dre-
hort und blieb mit dem Auto buchstäblich in der
Scheiße stecken: Das Grundwasser war gestiegen
und hatte die Kloake an die Oberfläche gespült.
Am frühen Nachmittag wurde an diesem Tag
doch noch gedreht, viel weniger als geplant. Pro-
duzent Florian Deyle faßt die Zeit ein wenig iro-
Etwas ratlos stehen Matthias Habich und Thekla Reuten unterm Schirm in Erfoud. Wochenlang kämpfte die Produktion mit dem
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nisch als »Trauma von Erfoud« zusammen. Als in
der Nacht in den Souks der Stadt aufwendig ein
Innenhof vorbereitet wurde, die Drehorte abge-
sperrt waren, der Boden mal wieder mit Heizlüf-
tern abgetrocknet, das Licht gesetzt und die
Schauspielproben beendet, kam genau zu Dreh-
beginn der Regenguß. Matthias Habich und The-
kla Reuten standen ratlos unter einem Schirm.
Daß an diesem Set einer der Beleuchter einen Un-
fall hatte, ist bezeichnend: Das Pech ließ die Fil-
memacher in dieser Zeit nicht los.
Salé war später ein anderes Beispiel. Die Stadt
hätte eine tolle Vorortszenerie für Falludscha sein
sollen. Nur stand am Drehtag das Motiv plötzlich
voll mit Lastern. Die US-Produktion Green Zone
hatte sich eingemietet. Das deutsche Nachwuchs-
projekt hatte keine Chance, gegen die Geldmacht
anzukommen. Die Bilder mußten anders kadriert
werden. Und Naso soll ziemlich geflucht haben.
Ständige Improvisationen gehörten zu dem
Dreh, und Menschaufläufe genauso. »Man kann
so eine Produktion nicht klein halten«, erzählt Flo-
rian Deyle. Mit den Einheimischen, die Schaulus-
tige abhielten, wuchs das Team schon mal auf 70
bis 140 Leute an. Die Produzenten gaben gelbe
Klebestreifen aus, um die Mitarbeiter zu erken-
nen: »Die Aufkleber haben sich exponentiell ver-
mehrt. Und die Klebstreifen wurden immer dün-
ner«, lacht Koproduzent Christoph Daniel. »Es
waren schon extreme Bedingungen, aber immer
noch kontrolliert«, ergänzt Florian Deyle. Richtig
gefährlich wurde es selten, auch wenn bei man-
chem Dreh in einem Armenviertel die Polizei nicht
mehr für die Sicherheit garantieren wollte. Als ein-
mal eine Kinderschar nicht für den Film, sondern
am Set Steine auf das Auto warf, wurde der Dreh
unterbrochen. »Auch nach 28 Drehtagen mit viel
Auflauf bekommt man es da noch mit der Angst zu
tun«, sagt Deyle.
Das Team, die Schauspieler hielten durch. Ein-
mal allerdings erwischte Matthias Habich das Fie-
ber, ein anderes Mal wurde Lancelot von Naso
krank. »Ich habe noch von der Liege aus versucht,
Wetter. Erst erinnerte man sich eine andere Regenzeit vor über 40 Jahren. Doch bald fehlte jeder Vergleich für die Klimakatastrofe.
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Regie zu führen. Aber ich bin in die Knie gegan-
gen. Da wird der Traum vom ersten Film zum Alp-
traum. Es gab schon viele Momente, in denen wir
uns fragten, ob je ein Film daraus wird.«
Einen davon gab es im November 2008, als klar
wurde, daß das Engagement und die Fähigkeit zur
Improvisation nicht reichen würden: Es kamen in
den Drehwochen auch vier Negativschäden zu-
sammen. Waffenstillstand konnte nicht abgedreht
werden. Zum Glück aber war die Produktion versi-
chert: das Team kehrte im Januar, kaum zwei Mo-
nate später, noch einmal zurück. Diesmal war es
endlich trocken: Matthias Habich saß als französi-
scher Arzt endlich an einer Wüsten-Tankstelle, die
nach Wüste aussah – die letzten Außenmotive wa-
ren nach dreißig geplanten und sieben ergänzen-
den Drehtagen im Kasten.
Es fehlte nur noch der 22. März in Berlin. An die-
sem Tag liegt der Maghreb schon ganz weit ent-
fernt. Rückblickend wird der Horror zum »tollen
Erlebnis«. Martin Richter lobt die Serviceproduk-
tion Kasbah Films, die unter schwierigsten Bedin-
gungen immer wieder Lösungen fand, Christoph
Daniel erinnert sich daran, wie herzlich die Men-
schen waren: »Die Leute haben uns beim Nach-
dreh wiedererkannt«. Der letzte Drehtag ist logis-
tisch kein Problem mehr. Hannes Jaennicke freut
sich auf das Resultat. »Es gibt in Deutschland ent-
weder ›Berliner Schule‹ oder Schenkelklopfer. Wir
brauchen auch ein Kino, daß intelligent unter-
hält.«
Der Film befindet sich seitdem im Schnitt und
der Postproduktion. Im Mai gab es einen ersten
Rohschnitt vor kleinem Publikum in München. Es
sei schon erstaunlich, wie nahe man doch noch
am Drehbuch geblieben sei, sagt Naso. Hotel Ru-
anda und Im Namen des Vaters nennt der Regis-
seur als Orientierungspunkte: »Ich will intelligen-
tes politisches Kino machen, ohne das Publikum
zu verlieren.« Sein Film ist dramatisch, aber man
sieht ihm sein inneres Drama, die ausgestandenen
Kämpfe, kaum an. Statt dessen spürt man da eine
Kraft in den Dialogen und »Chemie« zwischen den
Schauspielern. Waffenstillstand verweigert sich
einfachen dramaturgischen Kniffen; will tatsäch-
lich intelligent unterhalten. Der fünfjährige Weg
des Films könnte noch zum Happy End führen.
Der letzte Drehtag zeigt noch einmal, wieviel
alle Filmemacher gegeben haben. Naso sagt spä-
ter, er sei total übernächtigt gewesen. Er hat zwei
Tage zuvor eine Tochter bekommen. Florian Dey-
le ist die ganze Zeit am Telefon: Die Kinder, die
kurz vor Drehbeginn im Sommer 2008 zur Welt ka-
men, haben Ohrenschmerzen. Und Martin Rich-
ter ist auch Vater geworden in dieser Zeit. Alle
knappsen sich Zeit von der Familie ab. Und Max
von Pufendorf, der geduldig am Set steht, sagt:
»Später kommen noch meine Eltern. Vielleicht.«
Nicht, um ihm zum fertigen Dreh zu gratulieren:
An der Catering-Station steht ein angeschnittener
Kuchen. Das »Happy Birthday« ist kaum noch zu
erkennen. Max von Pufendorf ist an diesem Tag 33
geworden.
Waffenstillstand Deutschland, Schweiz 2009
Regie Lancelot von Naso Drehbuch Lancelot von
Naso, Kai-Uwe Hasenheit, Collin McMahon
Kamera Felix Cramer Szenenbild Annette Lofy,
Oliver Hoese Kostüm Tina Sorge Maske Kerstin
Gaecklein, Heiko Schmidt Montage Vincent
Assmann SFX Supervisor Claudius Rauch Musik
Jonas Bühler Ton Immo Trümpelmann, Martin
Frühmorgen, Bastian Huber Sounddesign Immo
Trümpelmann, Martin Frühmorgen Redaktion
Lucas Schmidt, Barbara Häbe Setaufnahme-
leitung Tilman Kolb Herstellungsleitung Martin
Richter Produktionsleitung Rainer Jeskulke,
Oliver Ratzer Produzenten Florian Deyle, Martin
Richter, Philip Schulz-Deyle, Klaus Dohle
Besetzung Uwe Bünker Darsteller Matthias
Habich, Hannes Jaenicke, Max von Pufendorf,
Thekla Reuten, Calvin Burke, Husam Chadat
Produktion Drife Productions Koproduktion
DCM Mitte Productions, Erfttal Film & Fernseh-
produktion, Creado Film, König Invest Service-
produktion Kasbah-films Tangier Drehzeit 28.
September bis 8. November 2008 (Nachdrehs im
Januar und Februar 2009), 22. März 2009 Dreh-
orte Berlin, Marokko, Schweiz Format Super-16.
c
xl012_A2_Waffenstillstand 17.06.2009 16:20 Uhr Seite 36
cınearte XL 012 Auf der Couch
37
Die Schreibstube von Stadler und Gröner. Hor-
monelle Schwankungen. Gröner auf dem Sofa,
Stadler am Computer. Stadler versucht sich an
einer Kontaktanzeige.
Stadler: Ich hab’s jetzt! Genial!
Gröner: Laß hören.
Stadler: »Filmliebhaber sucht nach einem
Happy End.«
Gröner: Zu schwülstig.
Stadler: Hmm. »Ist dein Leben auch nur eine
Projektion?«
Gröner: Zu intellektuell.
Stadler: »Bin ganz von der Rolle. Einsamer
Filmkritiker sucht nach neuer Einstellung.«
Gröner: Zu verzweifelt.
Stadler: »Ticket für eine Spätvorstellung mit
Überlänge zu vergeben.«
Gröner: Falscher Film. Schreib doch einfach.
»Jungfrau, 40, männlich sucht.«
Stadler: Stimmt doch gar nicht. Ich bin 41.
Gröner: Das ist ein Filmtitel.
Stadler: Das ist mein Leben.
Gröner: Stadler, versuch’s doch mal mit der
ehrlichen Nummer.
Stadler: Gut. »Wohlsituierter Herr....«
Gröner: Nein, nein, nein. Drei Jahrzehnte
Filmkritik und du hast immer noch nichts ge-
lernt.
Stadler: Wie?
Gröner: Ohne Versprechen kriegst du keine
rum. Du brauchst einen richtig guten Trailer.
Stadler: Einen Wohnwagen?
Gröner: Quatsch. Dein Leben in 30 Sekunden.
Los.
Stadler: »Verhinderter Romantiker hat seit
Jahren keine Frau mehr getroffen, dafür viele
gesehen: Laß uns unseren eigenen Film leben.
Ich kenne jeden Dreh.«
Wieder nichts zu kritisieren und zu viel Zeit: Stadler und Gröner suchen in der Kürze die
Würze und entdecken dabei die Liebe als Wunsch und Vorstellung.
Text Michael Stadler und Christoph Gröner
Jungfrau, männlich…
xl012_C1_Couch Trailer 17.06.2009 16:32 Uhr Seite 37
Auf der Couch cınearte XL 012
38
Gröner: Stadler, keine Filmmetaphern!
Stadler: »Netter Herr...«
Gröner: Himmel!
Stadler: Was?
Gröner: Stell dir mal vor, man würde einen
Trailer mit einem »netten« Bild beginnen, sa-
gen wir, einem Pony auf einer grünen Wiese.
Stadler: Schön…
Gröner: Nein. Der Beginn muß knallen, selbst
beim Arthouse-Trailer. Die beginnen oft mit ei-
nem Knalleffekt: Bumm! Eingerahmt in Lor-
beerzweigen: Cannes, Wettbewerb 2008!
Stadler: Bei welchem Wettbewerb war ich
denn jemals dabei?
Gröner: Na, letztes Jahr, Sackhüpfen in Bad
Kroetz!
Stadler: Da war ich Letzter.
Gröner: Egal, die meisten Filme in Cannes ge-
winnen auch keinen Preis. Dabeisein ist alles!
Stadler: Gut, also: »Ich, passionierter Sack-
hüpfer in Bad Kroetz...«
Gröner: Stop! Geht doch nicht. Bad Kroetz ist
nicht Cannes. (denkt nach) Bei vielen Arthou-
se-Filmen werden Kritiken eingeblendet. Der
Trailer von Hunger etwa: ein Klavierton, dazu
kurze Szenen aus dem Film, man versteht gar
nicht, daß es um einen Hungerstreik in Irland
geht. Inhalt egal, das Bild überzeugt. Und da-
zwischen zig Pressehymnen.
Stadler: Wer hat mich denn jemals kritisiert?
Gröner: Na ich! Ständig.
Stadler: Positiv?
Gröner (überlegt): Na, ich finde schon, daß du
ganz…nett bist.
Stadler (schreibt): »Netter Herr…«
Gröner: Halt. Wir müssen das Beste aus dir
rausholen. Bei Trailern zu Pixar-Filmen sieht
man ja auch erst mal, was sie zuvor gemacht
haben: »Von den Machern, die uns Findet
Nemo, Das große Krabbeln und Wall-E ge-
bracht haben, kommt nun ein neues Meister-
werk…«
Stadler: Soll ich auf meine Eltern verweisen?
Gröner: Vielleicht. Und auf deine Geschwister!
»Von den Machern, die uns eine kräftige Zahn-
ärztin und einen rechtschaffenen Rechtsan-
walt gebracht haben, kommt nun…
Stadler: …ein Kritiker…
Gröner: ...ein Mann, der besonders in dunklen
Räumen aufgeht…«
Stadler: Scharf.
Gröner: Also gut, mach was Exzentrisches. Ku-
bricks Dr. Strangelove! Schnelle Schnitte und
zwischen den Bildern immer wieder Worte:
»How – I – Learned – To – Love – The – Bomb.«
Stadler (schreibt): Hallo. Ich. Will. Dein. Dok-
tor. Strangelove. Sein. Ruf. Mich. An.
Gröner: Das geht in die falsche Richtung, Dr.
Strangestadler.
Stadler: Ich glaube, Kubrick bringt uns nicht
weiter.
Gröner: Vielleicht doch. Diese Trailer sind
wirklich kleine Kunstwerke. Als Signatur wurde
beim Strangelove-Trailer sogar eine Fotografie
von Kubrick hineinmontiert.
Stadler: Hey! Ich könnte auch ein Bild von mir
hinzufügen!
Gröner: Ne, mach das nicht!
Stadler: Wieso?
Stille.
Gröner: Naja, ein Trailer lebt vom Geheimnis,
also vom Offenbaren und Verbergen, das
flüchtige Bild macht neugierig…Ha, vielleicht
sollten wir auch einfach einen Teaser schrei-
ben! Der kitzelt mit Andeutungen bereits Mo-
nate vor der Fertigstellung des Films.
Stadler: Aber ich bin fertig!
Gröner: Bei Jurassic Park war einfach nur eine
Stechmücke zu sehen, verewigt in einem Bern-
stein. Und eine Stimme erzählte, daß die DNA
der Stechmücke zur Rekonstruktion der Dino-
saurier verwendet wurde. Von den Dinosau-
riern nichts zu sehen! Die Fans lechzten nach
dem ersten Dino-Bild!
Stadler: Soll ich ein Kinderfoto von mir ver-
wenden?
Gröner: Vielleicht vom ersten Ultraschall?
Stadler (grübelt): Wo kriege ich das jetzt her?
Gröner (schnell): Hör mal, nur ein Bild reicht
vielleicht doch nicht. So ein Trailer lebt ja auch
xl012_C1_Couch Trailer 17.06.2009 16:32 Uhr Seite 38
cınearte XL 012
von der Vielseitigkeit. Weißt du noch bei
Vanilla Sky mit Tom Cruise? Da denkst du
erst, es handelt sich um einen Liebesfilm,
eine Dreieckskonstellation Tom Cruise-Ca-
meron Diaz-Penelope Cruz. Bis dann in der
Mitte ein Bruch kommt, Diaz dreht im Auto
durch, Cruise steht allein in New York, Fan-
tasy, Action, Spannung wird da plötzlich
versprochen, man glaubt, daß in diesem
Film alles möglich ist. Und dazu der
Spruch: »Open your eyes!«
Stadler (schreibt): »Öffne deine Augen! Ich
kann Kritiken schreiben, Schach spielen
und habe eine große DVD-Sammlung.«
Gröner: Vergiß das Sackhüpfen nicht!
Stadler: Und ich kann Blockflöte spielen!
Das haben wir in der Schule gelernt.
Gröner: Hmm, Musik ist auch wichtig.
Aber hör mal, vielleicht solltest du hier eher
zitieren. Man hört in Trailern oft auch Mu-
sik aus anderen Filmen. Der Lola-rennt-
Score wurde schon in Trailern von Action-
filmen verwendet, in Die Bourne-Identität
oder Hulk.
Stadler: Oh ja, zitieren ist gut. Dann kann
ich ja das Wort »muskulös« dazu schreiben
– mit Anführungszeichen.
Gröner: Genial, Stadler. Schreib doch auch
»intelligent« mit Anführungszeichen.
Stadler (wütend): Oder »gewalttätig«, dem-
nächst auch ohne Anführungszeichen.
Gröner: Mit einem hast du recht, Spätzün-
der. Zu viel Wahrheit schadet. Hauptsache,
da steht das drin, was Männer und Frauen
hören wollen. Nur eine Kuß-Szene im Film?
Ist doch egal, rein damit. Das spricht die
Frauen an.
Stadler: Ich spreche Frauen nicht an.
Gröner: Stadler, kannst du kochen?
Stadler: Nee, weißt du doch. Aber ich mach
mir gerne mal eine Fertigpizza.
Gröner: Na also: »Stehe gerne in der Kü-
che.« Machst du Sport?
Stadler: Jeden Tag die zehn Stufen hier
hoch und runter. Wahnsinn.
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xl012_C1_Couch Trailer 17.06.2009 16:32 Uhr Seite 39
Auf der Couch cınearte XL 012
40
Gröner: »Trainiere täglich.« Stadler, ganz wich-
tig, was ist mit Kindern?
Stadler: Ich gehe ihnen aus dem Weg.
Gröner: »Keine Probleme mit Kindern.« Hast
Du eigentlich irgendwelche Wünsche? Jeder
Trailer sucht ja sein Publikum.
Stadler: Ich will meine Unschuld verlieren.
Gröner: Super, hör dir das an. »Hey, stehst Du
auch gerne in der Küche? Ich gestalte mein Le-
ben aktiv und habe keine Probleme mit Kin-
dern. Na, Lust auf Kuscheln?«
Stadler: Ja!
*
Zwei Monate später. Stadler hat Antwort er-
halten. Eine Antwort. Nervosität in der Schreib-
stube.
Gröner: Wieso hast Du sie zu uns eingeladen?
Stadler: Na, wir sind doch immer hier.
Gröner: Und was stand in ihrer Kontaktan-
zeige?
Stadler (liest vor): »Habe viel vom Leben gese-
hen und genieße es in vollen Zügen. Du
brauchst mit mir die Stille nicht zu fürchten.
Ich lache viel und gerne. Glaube an die einzig
wahre Liebe. Bist du der Erste?« Was meinst
du?
Gröner: Ein Horrorfilm. Schnell raus hier!
Es klingelt zweimal an der Tür.
Stadler: Hoppla! Der Postmann.
Gröner: Doch nicht um zwanzig Uhr. Das ist
sie. Ganz still jetzt.
Von draußen eine tiefe Stimme. Vermutlich
weiblich.
Stimme: Hallo? Ist da jemand?
Stadler (flüsternd): Oh Gott, dabei klang ihre
Anzeige samtweich.
Gröner (flüsternd): Alter Trick. In Trailern ver-
führen Voiceover-Artists mit ihrem Sound, im
Film raspeln dann die Schauspieler.
Stimme: Hallo? Herzprinz2009, bist du’s?
Gröner: Herzprinz2009?
Stadler: Schscht!
Gröner: Wenn du dich jetzt rührst, bist du ver-
loren.
Stimme: Da ist doch jemand!
Stadler und Gröner bewegen sich nicht. Es
klopft. Schwere Schläge auf die Tür. Schließlich:
Schritte entfernen sich.
Gröner: Gott sei Dank!
Stadler: Die ganze Schreiberei umsonst. Ich
hasse Trailer!
Gröner: Nein, nein, nein. Denk doch mal an
unseren größten Helden.
Stadler: Catweazle?
Gröner: Nein. Godard.
Gröner geht zum Bücherschrank, holt sich ein
Buch, blättert.
Gröner (liest vor): »Was ich zum Beispiel gern
machen würde, sind Trailer. Aber an denen ist
wieder das Dumme, das sie nur fünf Minuten
dauern dürfen. Es sind kleine Filme, wo man
sagt: Demnächst in diesem Theater…Für mich
ist das der perfekte Film. Ich würde das im
Grunde lieber machen als die Filme. Meine
Trailer würden vier oder fünf Stunden dauern,
das heißt, länger als der ganze Film, weil ich
den Film lang und breit behandeln würde, den
Sie sehen würden.«
Siehste: Für Godard ist der Trailer wichtiger
als der Film.
Stadler: Und wenn sie doch was Tolles war?
Gröner: Wer weiß.
Stimme (von draußen): Ich weiß es. Ich bin
wieder da, Herzprinz2009. Laß mich rein.
Stadler kniet, schaut durchs Schlüsselloch, steht
auf.
Stadler (ernst): Godard steh mir bei.
Stimme (von draußen): Amen.
Gröner nickt Stadler zu.
Sie öffnen die Tür.
Stadler und Gröner sind Filmkritiker, mögen’s aber auch mal kurz. Trailer-Fans und solchen, die es
werden wollen, empfehlen sie die Website des Regisseurs Joe Dante: www.trailersfromhell.com
xl012_C1_Couch Trailer 17.06.2009 16:32 Uhr Seite 40
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xl012_Z_Abo 18.06.2009 5:52 Uhr Seite 41
chael Beckmann. Und gibt auch gleich zu: Dies sei
ein Idealfall für einen Musikberater. Und der
kommt in der Wirklichkeit recht selten vor.
Oft genug nämlich stolpert die Filmproduktion
über die Rechteklärung der verwendeten Musik
und sieht sich im ungünstigsten Fall mit hohen
Nachforderungen seitens der Musikverlage kon-
frontiert. Den Extremfall gibt es, wie so oft, in den
USA. Hier kann es schon mal vorkommen, daß ein
Film deshalb gar nicht mehr kommerziell ausge-
wertet werden kann – wie es zuletzt der unabhän-
gigen Filmemacherin Nina Paley mit ihrem ersten
Animationsfilm Sita Sings the Blues passierte. Sie
verwendete elf Songs der Sängerin Annette Han-
shaw aus den 1920er Jahren – und stellte ihr Film-
werk samt der Musik unter die »Creative Com-
mons«-Lizenz, um wenigstens eine freie
Verwertung zu ermöglichen.
Weil aber nicht jeder Filmschaffende Aktivist in
der »Free Culture«-Bewegung werden will, braucht
es Musikberater, wenn es um die Verhandlungen
mit den Musikverlagen und den Erwerb von Li-
Wim Wenders sagt, er wäre wohl Anwalt gewor-
den, gäbe es da nicht die Liebe zur Musik. Noch
heute offenbart sich sein verborgener Hang zur
Kategorisierung in ganz einfachen Dingen: »Wim
ist der einzige, den ich kenne, der die Sternchen-
Bewertungsfunktion auf I-Tunes benutzt«, sagt
Milena Fessmann und muß doch ein wenig über
die Eigenart des Regisseurs lächeln, weiß aber
auch begeistert von dessen Musikkenntnissen zu
schwärmen. Es war für die Musikberaterin schon
eine besondere Begegnung, weil sie mit ihrem
Partner Michael Beckmann für Wenders Film Pa-
lermo Shooting eher ungewöhnliche Wege be-
schreiten mußte. Es sei nämlich durchaus eine
Herausforderung, dem Regisseur Musiker näher
zu bringen, die er nicht sowieso schon seit Jahren
zu seinem Freundeskreis zählt. »Wir saßen mit
ihm in der Berliner Columbiahalle, Wein aus
Pappbechern trinkend, und wurden nach dem
Konzert Portishead vorgestellt. Danach waren es
die Musiker, die sich wegen der Lizenzierung an
ihre Plattenfirma gewandt haben«, erzählt Mi-
Report | Cinesong cınearte XL 012
42
Musik fürMillionenWer seinen Film so richtig groovy, funky oder neuerdings modern kraß oder schlicht fett klingen
lassen will, merkt schon: Man braucht einen Berater. Nicht nur wegen des Musikgeschmacks.
Text Karolina Wrobel | Fotos Sabine Felber
xl012_B1_Cinesong 17.06.2009 15:27 Uhr Seite 42
cınearte XL 012 Report | Cinesong
43
Sieht nach einem Traumjob aus:
Stundenlang durch Platten blättern
und dann seine Lieblingslieder auf
die Leinwand bringen. Der zweite
Teil ist aber gar nicht so einfach,
wissen Michael Beckmann und
Milena Fessmann. Die Sache mit
der Musik im Film wird von
Produzenten gerne unterschätzt.
xl012_B1_Cinesong 17.06.2009 15:27 Uhr Seite 43
Report | Cinesong cınearte XL 012
44
zenzen geht. Gerade darauf hat sich die Radio-
Eins-Moderatorin Milena Fessmann mit »Cine-
song« spezialisiert. Sie kam durch Sonja Schmidt,
Produzentin bei Boje-Buck, zum Film, für die sie
ihre erste Musikzusammenstellung gemacht hatte
– damals noch auf Kassette, für Leander Hauß-
manns Sonnenallee.
Aus ihrer Zusammenstellung wurde nichts –
Fessmann blieb aber trotzdem beim Film und
lernte bei einem Meeting zu Almut Gettos Ficken-
de Fische Michael Beckmann kennen. Der hatte
sich schon als Filmkomponist mit Vanessa Jopps
Vergiß Amerika und Engel und Joe etabliert und
pflegt als Mitbegründer der »Rainbirds«, die mit
dem Song Blueprint internationale Erfolge feierte,
beste Kontakte zur Musikindustrie.
Ihre Herangehensweise als Musikberater ist
recht einfach: »So wie ein Kameramann sich einen
›Look‹ für den Film überlegt, so überlegen wir, wie
der Film klingen soll. Musik kann eine unmittelba-
re Wirkung auf den Zuschauer haben, Zeit und Ort
der Erzählung transportieren. Es ist nicht damit
getan, einen tollen Song vorzuschlagen. Und dann
muß man sehen, ob ihn die Filmproduktion mit
dem vorhandenen Budget bezahlen kann«, erklärt
Fessmann.
»Die Filmschaffenden machen sich oft keine
Vorstellung davon, daß Musik teuer ist. Ideal wä-
ren 3 bis 5 Prozent des Gesamtbudgets, die man
dafür aufwenden sollte«, sind die Erfahrungswerte
von Michael Beckmann. Die Musikkosten können
sich in einem ganz unterschiedlichen Verhältnis
zusammensetzen: Da gibt es zum einen die zu li-
zenzierenden oder zu produzierenden Songs und
zum anderen den Score. Die Lizenzkosten für Mu-
sik sind keinesfalls in Stein gemeißelt, sie hängen
vom Budget des Films und von der Bekanntheit
des Künstlers ab, dessen Musik man verwenden
möchte.
Aber schon das Kerzen-Ausblasen kann für den
Filmemacher teuer werden: »Für ›Happy Birthday‹
muß man beispielsweise mit 3.000 bis 15.000 Euro
rechnen. Aber das Schöne ist ja, das man das klä-
ren kann. Und die Summen sind Verhandlungssa-
che, da kann es manchmal schon wie auf dem Ba-
sar zugehen«, lacht Fessmann, die ihre eigene
diplomatische Disposition – sie ist studierte Poli-
xl012_B1_Cinesong 17.06.2009 15:27 Uhr Seite 44
cınearte XL 012 Report | Cinesong
45
tologin – bei den Verhandlungen einsetzt. Sie
warnt jedoch davor, sich beim Dreh durch die
Rockklassiker zu singen. »Je früher man als Musik-
berater in ein Projekt einsteigt, umso mehr Zeit
hat man auch, um da Konzepte zu entwickeln«.
Zum Konzept von »Cinesong« gehört auch die
Unabhängigkeit von Musikkonzernen, die durch
ständiges An- und Verkaufen von Labels und
Unterlabels über so große Kataloge verfügen, daß
sie bisweilen nur Schätzwerte zum Umfang ihrer
Portfolios angeben können oder diese Auskunft
überhaupt vermeiden, wie eine Anfrage bei Sony
Music und der EMI Music ergab. Auch die Musik-
experten Fessmann und Beckmann greifen auf die
Bibliotheken dieser großen Konzerne zurück – wie
etwa auf das der »Universal Publishing Group«,
unter deren Namen sich auch die Verlage »MCA
Music Publishing« und »Polygram Music Publis-
hing« verbergen.
Die Lizenzierung von Musik rückt dabei ins-
gesamt immer mehr als Erlösquelle für die Major
Labels in den Mittelpunkt, das bestätigt auch der
Bundesverband der Musikindustrie: Das Ge-
schäftsfeld solle dazu beitragen, die alte Abhän-
gigkeit vom klassischen Musikverkauf abzulösen.
Den ersten Vorstoß hat das Unternehmen Sony
Music gemacht, das den Geschäftsbereich für Mu-
siklizenzierung ausgelagert hat: Zu diesem Zweck
gründete es erst Ende 2008 die deutsche Vermarkt-
ungsgesellschaft »Ocean Music Artists & Brands«
mit Sitz in München. Unter dem Motto »Unsere
Stars machen Ihre Marke für Ihre Zielgruppe er-
lebbar« sollen Vermarktungsstrategien vom Klin-
gelton bis zu Testimonials, in denen die Stars sich
als überzeugte Nutzer des Produkts ausgeben,
auch in der Filmbranche vermehrt Einsatz finden.
Noch einfacheren Zugriff auf das Musik-Portfolio
verspricht das Portal »Movie Tunes« des amerika-
nischen Mutterkonzerns, das vor allem den dort
heimischen Filmemachern die selbstständige Su-
che erleichtern soll. Hier schickt man seine auto-
matisierte Anfrage mit kurzer Plotbeschreibung
und bekommt im Gegenzug Vorschläge. »Wir ha-
ben aber die Erfahrung gemacht, daß vor allem
deutsche Filmemacher auf persönliche Beratung
setzen«, erklärt Fessmann.
Was war nochmal der Unter-
schied zwischen Grime und
Garage? Populäre Musik
kann bisweilen ein musisch-
soziologisches Studienfach
sein. Da holt man sich als
Filmemacher am besten
einen Musikberater.
Fessmann und Beckmann
sind in den Plattenregalen
zu Hause: Er war Mit-
begründer der Rainbirds,
sie spielte im Radio seine
Lieder.
xl012_B1_Cinesong 17.06.2009 15:27 Uhr Seite 45
Report | Cinesong cınearte XL 012
46
Dies sei auch unter anderem ein Grund dafür,
warum sich das amerikanische Song-Plugging in
Deutschland wenig etablieren konnte. Diese
Agenturen bringen aktuellste Musik-Portfolios
verkaufsfördernd in den Medien unter und wer-
den nicht von der Film- oder Fernsehproduktion
bezahlt, sondern von der Musikindustrie. »Gerade
erfolgreiche Serien wie O. C. California werden auf
diese Weise pro Folge mit einem kompletten
Soundtrack besetzt«, weiß Beckmann.
Für einen unabhängigen Musikberater in
Deutschland kann es dagegen eine Herausforde-
rung sein, herauszufinden, in welchen Händen die
Rechte für den einen Song liegen, den der Regis-
seur unbedingt einbinden will. »Die Strukturen
werden immer komplizierter – gerade dadurch,
daß sich die Musikindustrie zurzeit atomisiert. Es
gibt immer weniger große Schallplattenfirmen,
dafür verwalten immer mehr Künstler ihre Rechte
selber. Oft dauert es Monate, bis man einen Song
wirklich bis ins letzte Detail geklärt hat«, erzählt
der Musikproduzent und sagt, es tauche manch-
mal noch immer jemand auf, der im Vertrag erfaßt
werden muß. Und bei älteren Songs sei dies auch
nicht einfacher: Da ist der Künstler zwar tot, die
Erben aber oft zerstritten.
Will man indes einen namhaften, aber leben-
den Künstler für den Titelsong seines Films enga-
gieren, muß man die komplizierten Zyklen der
Musikindustrie mit denen der Filmbranche ver-
einbart bekommen. »Da hilft es, den Filmstart mit
dem möglichen Veröffentlichungstermin eines Al-
bums zu synchronisieren«, sagt der Bassist, der für
Filme wie Thomas Jahns Auf Herz und Nieren
selbst Songs produzierte.
Cinesongs erfolgreichste Titelsong-Idee war
bislang Summer Wine für Achim Bornhaks Das
wilde Leben. Den Song produzierte Andreas »Boo-
gieman« Herbig, der auch sonst hinter deutschen
Erfolgsmarken wie Udo Lindenberg, Ich + Ich, Sas-
ha oder Juli steht. Hier hatten die beiden Musikex-
perten aus Berlin schließlich mit dem finnischen
Sänger der Band HIM den richtigen Duettpartner
für Natalia Avalon gefunden.
Doch so sehr eine Idee glücken kann, so sehr
kann sie manchmal auf ganz unvorhergesehenen
Ebenen scheitern, erzählt der 48jährige. Wie zu-
letzt bei Antje Kruskas und Judith Keils Film Wenn
Die richtige Musik ist nicht
einfach nur Geschmacks-
frage. Die Rechte müssen
geklärt werden. Und das
kann manchmal ganz schön
dauern. Andererseits ist bei
der Musik auch ganz schön
vile Spielraum drin. Als
»Cinesong« sorgen
Fessmann und Beckmann
für den richtigen Ton im Film
– und dafür, daß er für den
Filmproduzenten bezahlbar
bleibt.
xl012_B1_Cinesong 17.06.2009 15:27 Uhr Seite 46
cınearte XL 012 Report | Cinesong
47
die Welt uns gehört: »Die Regisseurinnen wollten
den Song »The Kill« der kalifornischen Band 30 Se-
conds To Mars haben, und tatsächlich signalisier-
te uns der Musikverlag, es sei möglich, diesen
Song in den Film einzubinden. Ein paar Tage spä-
ter verriet die Zeitungslektüre, daß die Plattenfir-
ma diese Band verklagt hatte und der Song auf-
grund des Rechtsstreits quasi nicht mehr
vorhanden war«, erinnert er sich – auch daran, wie
Christian Alvart für Antikörper Johnny Cashs Ver-
sion von Depeche Modes »Personal Jesus« haben
wollte und die Rechte für den Song durch eine
Übernahme des Konzerns Universal lange Zeit im
Niemandsland lagen.
So interessant Michael Beckmann auch die
Rechteklärung und damit die Geschichte hinter
einem Song findet, so gerne überläßt er diese Tä-
tigkeit Milena Fessmann, der er ein »juristisches
Gen« nachsagt. Der Musiker arbeitet lieber als
Mittler zwischen Film- und Musikerseite. »Zur
Musik kann jeder etwas sagen. Jeder hat schließ-
lich eine Musikerfahrung«, erklärt die Partnerin
das vorhandene Konfliktpotential. »Oft kommen
dann Begriffe wie ›hip‹ oder ›jung‹ – aber was heißt
das? Ist das Speed Metal? Hip-Hop? Beyoncé?«
Oft gehe es auch um »große Klänge«, berichtet
Beckmann über die Vorgespräche. Und auch da
stelle sich die Frage nach Instrumentierung, Mu-
sikstil und dramaturgischen Absichten. Zunächst
heißt es deshalb, Begrifflichkeiten für die Musik
im Film zu entwickeln. Die beiden Musikexperten
vermitteln zudem auch schon mal zwischen Film-
komponist und Produktion – wie beim Kinderfilm
Hexe Lilli. »Der Komponist Klaus Badelt wählte die
Flöte als archaisches Instrument für den altertüm-
lichen Drachen, eine tolle Idee«, erinnert sich
Beckmann. »Deshalb war auch das Leitthema als
mittelalterliches Flötenstück angelegt, was ähn-
lich zu einer heutigen Moll-Tonart klingt. Die Pro-
duzenten fanden, es klinge deshalb ›traurig‹. Sie
wußten aber keine Verbesserungsvorschläge zu
machen. Dabei war es eigentlich ganz einfach: sie
wollten es in Dur hören.«
Eine kleine Anregung helfe schon mal, weiß der
Musiker, denn der Filmkomponist steht oft selbst
unter Zeitdruck und konzentriert sich in erster Li-
nie auf die musikalische Welt, die er für den Film
erschließen muß.
Tatsächlich aber beklagen Fessmann und Beck-
mann die Berührungsängste der beiden Bran-
chen: »Bei der ›Oscar‹-Verleihung sitzen die zehn
größten nationalen Künstler im Publikum, dort ist
das ganz normal. Den ›Deutschen Filmpreis‹ besu-
chen dagegen nur wenige deutsche Musiker, bis
auf die Filmkomponisten. Umgekehrt kann man
die Filmleute beim ›Echo‹ mit der Lupe suchen«,
erklärt die aus München stammende Radiomode-
ratorin.
Dabei lohnt es sich, Kontakt zur Musikszene zu
halten, ergänzt ihr Partner: »Mit einem fantasti-
schen deutschen, europäischen und mittlerweile
auch internationalen Künstler kann man für den
Film einen originären Song entwickeln, der dann
auch nur einen Bruchteil der Rechte kostet – weil
man an den Musiker direkt einen Auftrag vergibt«.
Richtig vorteilhaft wird es dann auch, wenn die
Rechte sogar ganz oder teilweise der Filmproduk-
tion gehören. Deshalb spezialisiert sich »Cine-
song« immer mehr darauf, Songs zu entwickeln,
anstatt solche zu lizenzieren, »die schlimmsten-
falls schon seit zwei Jahren auf dem Markt sind«,
machen die Berater den Nachgeschmack von vor-
konfektionierter Musik deutlich. Gerade bei Ju-
gend- und Kinderfilmen wird zudem der Marke-
tinggedanke immer wichtiger – wie im Jugendfilm
Sommer von Mike Marzuk mit dem Bravo-
Schwarm Jimi Blue Ochsenknecht. »Hier ent-
wickelten wir ein Dutzend Songs, die dramatur-
gisch den Film getragen und die Zielgruppe
emotional berührt haben«, erklärt der Musikpro-
duzent.
Dieses Modell funktioniere auch bei kleineren
Produktionen im Arthouse besonders gut, weil de-
ren Budget oft nicht dafür ausreicht, den Film
komplett mit vorhandener Musik abzudecken
oder von einem Filmkomponisten vertonen zu
lassen. »Man muß nicht immer mit Hits um sich
werfen«, schließt der Musikberater. »Wenn man
auf wirklich gute und inspirierte Musiker zugeht
und sie fragt, ob sie an einem Film mitarbeiten
würden, ist es manchmal wirklich erstaunlich, wie
sehr sie sich dafür begeistern lassen.« c
xl012_B1_Cinesong 17.06.2009 15:27 Uhr Seite 47
Analyse | Schindlers Liste cınearte XL 012
48
Farbtupfer fürVor 15 Jahren erzählte Steven Spielberg eine völlig andere Geschichte aus dem Holocaust:
Die verstörende Wahrheit über einen Mitläufer und Profiteur, der Hunderte von Juden vor dem
sicheren Tod rettet. Vor dem Happy End führt uns der Regisseur aber gnadenlos den langen
Weg in die Vernichtungslager vor Augen.
Text Ian Umlauff Fot
os:U
nive
rsal
xl012_A3_Analyse Schindlers 17.06.2009 15:51 Uhr Seite 48
cınearte XL 012 Analyse | Schindlers Liste
49
Es war anzunehmen, daß etwas Besonderes dabei herauskommt:
Ein amerikanischer Spitzenregisseur schart um sich einen polni-
schen Kameramann, amerikanische, polnische und deutsche
Schauspieler, einen Iren für die Hauptrolle, die schillernde Figur ei-
nes Deutschen, der vom Kriegsgewinnler zum »Gerechten« wird…
Und das alles in einem Film nach dem Roman eines gebürtigen Aus-
traliers. Daß der Film zahlreiche Auszeichnungen der Branche er-
die Dramaturgie
Nach dem Erfolg von Jurassic Park schuldete
Universal Steven Spielberg einen Gefallen.
Um ihn an das Studio zu binden, finanzierte
man ein Projekt, an dem der Regisseur bereits
seit zehn Jahren saß. Zum allgemeinen
Schrecken bestand Spielberg darauf, in
Schwarzweiß zu drehen: Die Bildzeugnisse
zum Holocaust, und damit das kollektive
Gedächtnis, seien schließlich ebenfalls in
Schwarzweiß. Im Ergebnis bedeutete das aber
nicht den Verzicht auf Farbe. Pointiert einge-
setzt, wirkte sie als dramaturgisches Mittel.
xl012_A3_Analyse Schindlers 17.06.2009 15:52 Uhr Seite 49
Analyse | Schindlers Liste cınearte XL 012
50
hielt, wunderte niemanden. Daß Steven Spiel-
bergs Film Schindlers Liste jedoch trotz oder viel-
leicht gerade wegen seines Themas nicht nur ein
künstlerischer, sondern auch ein großer kommer-
zieller Erfolg wurde, hatte dagegen niemand er-
wartet. Am wenigsten Spielbergs Geldgeber: Uni-
versal Pictures.
Spielberg hatte dem US-Major kurz zuvor mit
Jurassic Park zu einem »Blockbuster« verholfen.
Nun hoffte man, den Regisseur weiter an das Stu-
dio zu binden, indem man ihm jenen Film finan-
zierte, den er bereits seit etwa zehn Jahren realisie-
ren wollte, der aber als kommerziell völlig
aussichtslos galt. Zur allgemeinen Verwunderung
spielte der Film jedoch mit 317 Millionen US-Dol-
lar mehr als das Zwölffache seines Budgets von 25
Millionen Dollar wieder ein.
Spielberg erhielt für seinen gesellschaftpoli-
tisch so immens wichtigen Streifen nicht nur Aus-
zeichnungen der Branche, sondern zahlreiche
weitere, darunter das deutsche Bundesverdienst-
kreuz. Von den Lesern der Zeitschrift Cinema wur-
de Schindlers Liste kurz nach seinem Erscheinen
gar zum »Besten Film aller Zeiten« gewählt, noch
vor James Camerons Titanic und Quentin Taranti-
nos Pulp Fiction.
Die Kritik war, mit wenigen Ausnahmen, voll des
Lobes. Spielberg hatte die meisten Rezensenten
von der »Wahrhaftigkeit« seines Filmes überzeugt.
Im Gegensatz dazu erschien Marvin J. Chomskys
damals vielbeachteter und -diskutierter Fernseh-
vierteiler Holocaust von 1978 wie eine Seifenoper.
Warum?
Auch Schindlers Liste ist weit davon entfernt,
auf dramaturgische und bildgestalterische Vor-
stellungen und Stilmittel à la Hollywood zu ver-
zichten. Zumindest nicht ganz. Das wird schon zu
Beginn deutlich: Wenigstens die ersten 90 Sekun-
den sind in Farbe gedreht, um die Zuschauer nicht
Nicht genug, daß sich Steven Spielberg (links, mit dem Hauptdarsteller Liam Neeson) überhaupt an ein so anspruchsvolles Thema
wagen wollte: Zum Schrecken des Studios sollte Janusz Kaminski Schindlers Liste auch noch in Schwarzweiß fotografieren.
Trotzdem und zur allgemeinen Überraschung hatte der Film über den Holocaust auch an der Kinokasse Erfolg. Vide
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xl012_A3_Analyse Schindlers 17.06.2009 15:52 Uhr Seite 50
cınearte XL 012 Analyse | Schindlers Liste
51
gleich völlig zu verschrecken. Zwei Kerzen werden
angezündet. Eine jüdisch-orthodoxe Familie feiert
Sabbat (hebräisch: Schabbat). Aber noch bevor die
Kerzen heruntergebrannt sind, ist die Familie ver-
schwunden. Als die letzte Flamme verlischt, steigt
vom glimmenden Docht eine schmale Rauchfah-
ne auf. Schnitt. Ab jetzt ist das Bild schwarzweiß:
Rauch aus dem Schornstein einer Dampflokomo-
tive… Zwar macht man das Zugeständnis der Far-
bigkeit, aber schon innerhalb der ersten zwei Mi-
nuten findet man so viele Symbole, wie es für das
kommerziell orientierte amerikanische Kino un-
gewöhnlich ist.
Mutig, wenn auch nicht völlig neu oder be-
sonders originell, ist die Idee, einen relativ teuren
abendfüllenden Spielfilm »in Schwarzweiß« zu
drehen. Universal hoffte in der Tat bis kurz vor
Drehbeginn, der Film würde vollständig in Farbe
gedreht. Selbst wenn die farbige Anfangsszene
(die übrigens in der ersten Drehbuchvariante von
Steven Zaillian nicht zu finden ist) auch ein Zuge-
ständnis an die Sehgewohnheiten des Publikums
und die Bedenken von Universal sein mag, ist der
überwiegende Rest des Films unter anderem des-
halb in Schwarzweiß gedreht, um bestimmten
Motiven und Bildelementen durch nachträgliche
Koloration eine besondere dramaturgische Funk-
tion zu geben. Erst zum Ende des Filmes wird das
Bild wieder farbig, was hilft, den Zeitsprung in die
Gegenwart und von einer Realitätsebene in die
andere nachzuvollziehen.
Wie schon oft praktiziert, ließ Spielberg seinen
polnischen Kameramann Janusz Kaminski
Schindlers Liste fast ausschließlich in Schwarz-
weiß drehen, um dem Film eine größere Authenti-
zität zu verleihen. Fast alle bekannten Bilddoku-
mente über die Judenverfolgung im »Dritten
Reich«, sowohl fotografische als auch filmische,
sind schwarzweiß. Den Film in Farbe zu drehen,
erschien Spielberg künstlerisch einfach nicht adä-
quat. Einer der offensichtlichsten Punkte, die
Schindlers Liste von Holocaust unterscheidet.
Anderthalb Jahre hatte Kaminski Zeit, sich auf
Schindlers Liste vorzubereiten, indem er sich in-
tensiv mit Schwarzweiß-Fotografie beschäftigte
und zeitgeschichtliche Fotobände studierte. »Man
Spielberg verzichtete nicht völlig auf die Dramaturgie
Hollywoods und setzte trotz des ernsten Themas das Stilmittel
des »comic relief« ein: Die Szene, in der Schindler seine
Sekretärin aussucht, schildert dessen Vorliebe für schöne
Frauen. Aus einer Kameraeinstellung aufgenommen, wird der
Zeitablauf durch den Maler im Hintergrund verdeutlicht.
xl012_A3_Analyse Schindlers 17.06.2009 15:52 Uhr Seite 51
ken. Niemand sollte später auf die Idee kommen,
besonders ausgefeilte Kamerabewegungen zu lo-
ben.
Man verzichtete auf Storyboards, drehte ohne
shot-lists und wußte oft genug morgens nicht ge-
nau, was am anstehenden Drehtag wie gedreht
werden sollte. Spielberg wünschte sich die Kame-
raarbeit unauffällig, unmerklich und »unsicht-
bar«, wie er es in einem Interview formulierte.
Wichtig ist nur, was vor der Kamera passiert – die
Kamera selbst ist zweitrangig. Er strebte eine Art
Nachrichtenstil an als entscheidendes Mittel, dem
Film Authentizität zu verleihen. So wandert die
Kamera oftmals einfach umher, als ob sie zum Bei-
spiel die Gespräche der Ghettobewohner als Teil-
nehmer verfolgte.
Kaminski paßte sich aber auch an die Bildge-
staltung der 30er und 40er Jahre des vorigen Jahr-
hunderts an und pickte sich heraus, was ihm zum
Erzählen der jeweiligen Szene stimmig und strin-
gent erschien. Schildert der Film das Tun und
Handeln Schindlers, des nach außen souverän
versucht, so tief wie möglich in die Materie vorzu-
dringen in der Hoffnung, die Kenntnisse mögen
Emotionen zu dieser Zeit heraufbeschwören, die
schließlich die eigene Kreativität beflügeln«, er-
läuterte Kaminski im American Cinematographer
sein Vorgehen. Obwohl Schindlers Liste ein groß
angelegter Film war, floß dennoch vergleichsweise
wenig Planung in die Kameraarbeit und diverse
andere Bereiche der Filmgestaltung. Entscheidun-
gen zur Bildgestaltung wurden erst in den letzten
Wochen vor Drehbeginn gefällt.
Spielberg und Kaminski einigten sich auf eine
unprätentiöse Kombination aus unbewegter Ka-
mera oder lediglich sehr verhaltenen und mini-
malen Kamerafahrten mit einer aus der Hand ge-
führten Kamera. In seinem bisher persönlichsten
Film wollte Spielberg die Kamera anders einset-
zen, als er es bisher gewohnt war. Sie sollte in kei-
ner Weise durch besonders beeindruckende Ein-
stellungen auf sich aufmerksam machen und so
vom Bildinhalt auch nur im entferntesten ablen-
Analyse | Schindlers Liste cınearte XL 012
52
Schindlers arrogantes Auftreten wird
durch eine ruhige Kamera betont.
Fahrten sind selten.
Die »Liste« taucht als Motiv immer wieder im Film auf: Ständig müssen sich Menschen in Schlangen einreihen, um ihre Namen
xl012_A3_Analyse Schindlers 17.06.2009 15:52 Uhr Seite 52
und mondän auftretenden Geschäfts- und Lebe-
manns, sein selbstbewußt joviales Auftreten vor
den lokalen Nazi-Größen, ist die Kamera fast rigi-
de ruhig, was auch Schindlers Arroganz zu ver-
sinnbildlichen scheint. Fahrten sind selten, viele
Einstellungen bleiben in der Kadrierung völlig sta-
tisch. Selbst Korrekturschwenks werden möglichst
vermieden. Die Darsteller halten sich ruhig oder
bewegen sich nur langsam, taxieren sich gegensei-
tig. Schwenks mit sich bewegenden Figuren bei-
spielsweise sind relativ selten und immer streng
motiviert.
Schildert der Film jedoch Szenen, in denen
Angst und Gewalt das vorherrschende Motiv sind,
wird die Kadrage durch die Führung der Kamera
aus der Hand betont instabil. Nicht zu unterschät-
zen ist dabei der synergetische Effekt, den die wa-
ckelige Kameraführung in Verbindung mit dem
Gebrüll der SS-Leute und dem panischen Schreien
und verzweifelten Wimmern bei der Räumung des
Krakauer Ghettos erzielt.
Ein ähnliches Sublime wird zusammen mit
John Williams’ Musik auch in den Szenen ver-
mittelt, die die Exhumierung und Verbrennung er-
mordeter Juden zeigen. Mit den Augen eines vom
Entsetzen geschüttelten Zeugen müssen wir Zu-
schauer verfolgen, wie jüdische Gefangene, von
der SS angetrieben, halb verrottete Leichen aus-
scharren und auf ein Förderband schleppen, um
sie zu einem monströsen Scheiterhaufen aufzu-
türmen. Völlig von Sinnen schreiend feuert ein SS-
Mann noch einmal in den Berg verkohlter und
verwester Leichen. Williams läßt dazu eine Kombi-
nation aus schweren orchestralen Passagen, ver-
bunden mit Chorgesang, ertönen, die an ein Re-
quiem erinnern, einen gigantischen Totengesang.
Den Kamera-Schwenker ließen Spielberg und
Kaminski sich so spontan bewegen, wie es ein
Kriegsberichterstatter getan hätte. Eine Vorge-
hensweise, die beide in Der Soldat James Ryan
weiter perfektioniert haben. Nach Proben mit den
Schauspielern kam die Kamera dazu, und soweit
cınearte XL 012 Analyse | Schindlers Liste
53
erfassen zu lassen. Kaminski zeigt dazu Gesichter in Halbgroß- oder Großaufnahmen, die in Sekunden ganze Leben erzählen.
Kaminski orientierte sich auch an der Bildgestaltung
der 1940er Jahre. Um Neeson vorteilhafter erscheinen
zu lassen und seine Anziehungskraft zu verdeutlichen,
empfand er die Glamour-Fotografie der Zeit nach.
xl012_A3_Analyse Schindlers 17.06.2009 15:52 Uhr Seite 53
Analyse | Schindlers Liste cınearte XL 012
54
dies möglich war, wurde gedreht, ohne die Kame-
rabewegungen im Detail festzulegen und zu pro-
ben. Trotzdem sind viele an der Bewegung an-
schlußgenaue Schnitte gelungen.
Spielberg läßt unmittelbar vor der Kamera Ge-
walthandlungen ablaufen, die kein seriös arbei-
tender Fernsehsender zeigen würde. Kaminski
zeigt Gesichter von Menschen, von Individuen,
sehr unmittelbar und in Halbgroß- oder Großauf-
nahmen. Die richtige Besetzung, die Auswahl viel-
sagender Gesichter und hohe darstellerische Au-
thentizität waren hier besonders wichtig. Manche
scheinen uns fast anzusehen, so nah schauen sie
an der Kamera vorbei. Binnen Sekunden er-
wecken sie den Eindruck, ganze Lebensgeschich-
ten zu erzählen. Und im nächsten Moment, wenn
möglich noch ohne einen vorherigen Schnitt, se-
hen wir eine Schußwaffe, ein Mündungsfeuer, hö-
ren den Schuß, sehen das Geschoß den Kopf tref-
fen, ihn zurückschleudern. Blut spritzt. Das
Geschoß tritt in einem Blutschwall wieder aus.
Und noch bevor der Körper leblos zu Boden gefal-
len ist, blutet es pulsierend aus der Wunde, breitet
sich eine Blutlache aus. Und die ganze Zeit über
»hält die Kamera voll drauf«, wie mancher Berich-
terstatter heute sagen würde.
Viele Kinozuschauer konnten diese Momente
des Films, wie beabsichtigt, kaum ertragen. Und
den Mitwirkenden erging es nur wenig anders. »Es
gab Tage, da wollte ich um ein Uhr Schluß machen
und alle ins Hotel schicken. Ich wollte den Film
nicht mehr machen. Es war mir zuviel«, erzählte
Spielberg später in einem Interview. Gott sei Dank
hat er weitergemacht.
Sicherlich hilft das Schwarzweiß in diesen Sze-
nen nicht nur zur Authentisierung der Szenen,
sondern auch zur Abstraktion. Dieselbe Szene in
Vor der Kamera laufen Gewalthandlungen ab, die kein
Fernsehsender zeigen würde. Aus der Nahaufnahme eines
Gesichts springt die Kamera auf eine Schußwaffe, ein Schuß
knallt, Blut spritzt… und die Kamera »hält voll drauf«.
Die Räumung des Ghettos ist in großen Teilen mit der
Handkamera aufgenommen. Subtiler wirkt die
Vertreibung der jüdischen Besitzer aus Schindlers
Wohnung. Um die »Ruhe« der Situation einzufangen,
wurde die Szene mit einem Steadicam-System gedreht.
xl012_A3_Analyse Schindlers 17.06.2009 15:52 Uhr Seite 54
cınearte XL 012 Analyse | Schindlers Liste
55
Farbe hätte völlig anders gewirkt. Eventuell wäre
es schwer geworden, eine gewisse, reißerische
Wirkung auszuschließen. Dies wird bei der Ent-
scheidung, den Film in Schwarzweiß zu drehen,
sicherlich eine Rolle gespielt haben.
Kaminski drehte mit der Arri 535 und der 535B
als Handkamera. Für einige wenige Steadicam-
Aufnahmen wurde zusätzlich eine Moviecam be-
nutzt. Etwa für jene Szene, in der eine jüdische Fa-
milie ihre Wohnung räumen muß, damit
Schindler, zu Anfang des Filmes noch ganz der
rücksichtslose Kriegsgewinnler, einziehen kann.
Hier begleitet die Kamera die eilig hin und her
laufenden Menschen, die stolz bemüht sind, die
Fassung, sprich Ruhe (des Bildes), zu bewahren,
während sie ihre kostbarsten Habseligkeiten zu-
sammenraffen und die Wohnung nur Minuten
später gezwungenermaßen verlassen. Von ähnlich
subtilem Grauen gibt es noch diverse Szenen,
denn nicht der ganze Film operiert mit unmittel-
barer tätlicher Gewalt.
Die vielleicht eindringlichste der subtileren
Szenen ist jene, in der Schindler in Begleitung sei-
ner momentanen Geliebten hoch zu Pferd von ei-
ner Anhöhe aus die Räumung des Krakauer Ghet-
tos verfolgt. Es ist eine Schlüsselszene des Films.
Denn wann und wodurch Schindler vom egoisti-
schen Kriegsgewinnler zu dem Menschen wurde,
der 1958 in der israelischen Gedenkstätte Yad Vas-
hem in die Reihe der »Gerechten« aufgenommen
wurde und an der »Straße der Erinnerung« einen
Baum pflanzen durfte, weiß bis heute niemand zu
sagen. Weitgehend unbemerkt hat sich dieser
Wandlungsprozeß vollzogen. Trotzdem mußte er
filmisch motiviert werden, was in den Szenen 85
bis 95 in Ziallians Drehbuch sehr visuell angelegt
ist: Die Szenen schildern, wie Schindler im Durch-
einander ein kleines Mädchen entdeckt, das,
scheinbar unbeirrt von dem Chaos und der Ge-
walt um sich herum, die Straße hinunter läuft, um
sich dann in einem bereits geräumten Haus auf
kindlich-naive Weise unter einem Bett zu ver-
stecken.
Während Schindlers Begleiterin den Anblick
der Greuel nicht lange erträgt, kann Schindler sei-
nen Blick nicht abwenden. Seine Aufmerksamkeit
ist von dem kleinen Mädchen gefesselt, als würde
er auf kaum wahrnehmbare Weise darum bangen,
ob es nicht auch der so beliebig erscheinenden
Schießwut der SS zum Opfer fallen würde. Dazu
hört man, neben all den gebrüllten Kommandos,
dem panischen Kreischen und ständigen Schie-
ßen, wie aus weiter Ferne ein Kinderlied, Mark
Warschafskys »Oyf’n Pripetshok«. Auf unwirkliche
Weise unterstützt dieses Lied die kindliche Un-
schuld des Mädchens, für dessen Rolle Spielberg
ein kleines Mädchen mit entzückendem Puppen-
gesicht ausgesucht hat, umrankt von lockigem
blonden Haar.
Weite Totalen, die das Kind inmitten des inferna-
lischen Chaos zeigen, stehen halbgroße und ähn-
liche Ausschnitte von Schindler gegenüber. Wie-
der bleibt die Kamera ruhig und zurückhaltend,
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xl012_A3_Analyse Schindlers 17.06.2009 15:52 Uhr Seite 55
Analyse | Schindlers Liste cınearte XL 012
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Kolorierte Bildelemente dienen als dramaturgische Effekte:
Die Kerzenflamme (unten) und der rote Mantel eines kleinen
Mädchens, das unbehelligt durch die Mordszenen läuft (oben),
markieren Momente der Hoffnung – die am Ende enttäuscht
werden: Beim Abzug der SS taucht das tote Mädchen in dem
gleichen Mantel auf einem Leichenwagen wieder auf.
auch in der Brennweitenwahl. Wirklich kurze oder
extrem lange Brennweiten vermeidet Kaminski.
Das Kind fällt in den weiten Einstellungen, in de-
nen es anfangs nur ganz klein zu sehen ist, durch
die Farbigkeit des Mäntelchens im ansonsten
weiterhin schwarzweißen Bild auf. Wie der unbe-
darfte Zuschauer auch, scheint Schindler mit Ver-
wunderung und Unglauben auf das zu reagieren,
was er sieht.
Nachdem sich einige Male Schuß und Gegen-
schuß abgewechselt haben, springt die Kamera in
die Halbtotale heran an das Kind, das, von den SS-
Männern weiter unbehelligt, umherläuft. »Das
Bild hat etwas damit zu tun, wie irrwitzig das Le-
ben sein kann. Das kleine Mädchen läuft einfach
durch die Menge und niemand kommt darauf, es
zu stoppen«, erläuterte Kaminski die Bildidee im
American Cinematographer.
Das rote Mäntelchen in der Szene der Ghetto-
räumung ist nicht die einzige Gelegenheit, bei der
Spielberg Teile des Bildes nachkolorieren ließ. In
der erwähnten Exhumierungsszene entdeckt
Schindler auch das besagt kleine Mädchen unter
den Leichen. Wieder schimmert sein Mäntelchen
rötlich, als einziges farbiges Bildelement. Digitale
Rotoskopie diente auch dazu, die Stempel auf dem
sogenannten Blauschein, der vorläufig lebensret-
tenden Arbeitskarte der Ghettoinsassen, leicht
bläulich zu färben. Kurz vor Ende des Filmes ent-
zünden die »Schindlerjuden« zwei Kerzen, um das
erste Mal seit langem wieder Sabbat zu feiern.
Auch ihre Flammen, Symbole für die Hoffnung auf
ein baldiges Ende des Martyriums, sind farbig.
So markieren die kolorierten Bildelemente, die
Blauscheine, das Mäntelchen des kleinen Mäd-
chens und schließlich die Sabbatkerzen, meist
Momente der Hoffnung unter teilweise widrigsten
Umständen. Als Schindler bei der Exhumierung
die verweste Leiche des kleinen Mädchens ent-
deckt, ist das im Gegensatz dazu ein dramatischer
Rückschlag und die Motivation dafür, seine An-
strengungen zum Schutz »seiner Juden« noch wei-
ter zu erhöhen.
Der spartanischen Art, die Kamera zu bewegen
und die Szenen visuell aufzulösen, steht die Licht-
setzung entgegen. Zwar stimmt es, daß Kaminski
xl012_A3_Analyse Schindlers 17.06.2009 15:52 Uhr Seite 56
cınearte XL 012
meist düstere Lichtstimmungen erzeugte und mit
hohen Helligkeitskontrasten operierte, dennoch
wirken zahlreiche Einstellungen und ganze Sze-
nen glamourös und teilweise ein wenig zwielich-
tig. Die Szenen, in denen Schindler zu Anfang vor-
gestellt wird, arbeiten mit einer
Beleuchtungsgestaltung, mit der wir Glamour ver-
binden: Vorderlicht setzt Kaminski oft nur mini-
mal, stattdessen benutzt er Kanten und durch ent-
sprechende Filterung leicht überstrahlende
Spitzlichter.
Als der Zuschauer nach einer ganzen Weile
Schindler endlich von vorne zu sehen bekommt,
wird sein Kopf von Seitenlicht und Kante vorteil-
haft und spannungsreich moduliert. Außerdem
hält er die Hand mit einer Zigarette vor die untere
Gesichtshälfte, die noch dazu halb abgekascht im
Dunkeln liegt. Auf diese Weise zum Teil verborgen,
belauert Schindler jene, die seine Opfer sein wer-
den: die SS-Offiziere an den Nebentischen, zu de-
nen er Kontakt knüpfen wird, anfangs einzig und
allein, um über sie an lukrative Geschäfte heran-
zukommen.
Neeson ist ein sehr guter Schauspieler, aber ge-
wiß nicht der attraktivste. Kanten und Seitenlicht
lassen seinen Kopf schlanker erscheinen, als er ist.
Eine im Dunkeln liegende untere Gesichtshälfte
verleiht ihm naheliegenderweise etwas Geheim-
nisvolles, Zwielichtiges, macht es gleichzeitig
plausibler, warum Frauen ihn anziehend finden
sollen. Mit diesem Beleuchtungsstil hilft Kamins-
ki, den Zuschauer durch die Aufnahme ästheti-
scher Muster in die Zeit der Handlung einzufüh-
ren, denn oft sind die Gesichter auch in perfektem
Porträtlicht aufgenommen.
Abgerundet wird die Bildgestaltung dieser Ex-
positionsszene Schindlers durch die Tatsache, daß
hier eines der wenigen Male die Kamera ohne
deutliche inhaltliche Motivation im Bildinhalt
(aufgrund sich bewegender Akteure etwa) in Be-
wegung gesetzt wird. In einer langsamen Umfahrt
bewegen wir uns ein Stück um den Mann herum,
der ruhig in seinem Sessel sitzt, als sollten wir ihn
von allen Seiten eingehend betrachten, dieses
Exemplar Mensch, das über eintausendeinhun-
dert andere vor dem sicheren Tod retten wird. c
Wenn Sie ein bißchenmehr wissen wollen…
…haben wir das nicht nur inXL: cinearte ist der aktuelleInformationsdienst für Film-schaffende. Die neuestenDreharbeiten, Interviewsund Porträts vom Masken-bildner bis zur Kamerafrau,Übersichten von derDrehbuchförderung bis zumKinostart, Hintergrund-berichte, Nachrichten- undServiceteil halten Sie stän-dig auf dem Laufenden –jeden zweiten Donnerstagaufs Neue.
cinearte erscheint als PDF –das ist so schnell wie dasInternet und so schön wiegedruckt. Weil das alles imQuerformat ist, können Sieselbst entscheiden, ob Sielieber am Bildschirm lesenoder auf Papier.
Und das komplette Online-Archiv gibt’s umsonst dazu.
www.cinearte.net
xl012_A3_Analyse Schindlers 17.06.2009 15:52 Uhr Seite 57
»Wann immer ich in Hamburg ankomme – ob auf dem Flughafen,
im Hauptbahnhof oder auf der Autobahn –, habe ich das Gefühl,
ich komme nach Hause! Hamburg, meine (Film-)Heimat:
Ich liebe dich, du bist das Derbste.«
Fatih Akin, Regisseur – Gegen die Wand | Im Juli
Portfolio | Nordlichter cınearte XL 012
58
xl012_A4_Rakete 17.06.2009 17:13 Uhr Seite 58
cınearte XL 012 Portfolio | Nordlichter
59
Text Peter Hartig | Fotos Jim Rakete
So schön kann Standortmarketing sein: Die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein
bat Filmschaffende vor die Kamera, auf daß sie erklären, was ihnen am Norden so gefällt.
Da hören wir gerne zu – und schauen genau hin. Denn hinter der Kamera stand Jim Rakete.
Heimatfilmer–
xl012_A4_Rakete 17.06.2009 17:13 Uhr Seite 59
Portfolio | Nordlichter cınearte XL 012
60
»Was mir am Norden gefällt? Daß man nicht so
viel reden muß…« Es ist ja eigentlich klar, wer so-
was sagt. Zumindest überrascht es nicht, wenn ne-
ben dem Zitat das Gesicht von Detlev Buck er-
scheint. Dem Regisseur, der seine Figuren nicht
viel reden läßt. Oder wenn, dann lieber seltsam-
skurrile Sachen, was am Ende ja dann irgendwie
auch wieder dasselbe ist.
Aus der Ferne betrachtet, wirkt das Filmland
genauso abgeklärt. Wenn Köln, München und Ber-
lin um Senderstandorte und prestigeträchtige Ki-
noproduktionen wetteifern, ist aus dem Norden
wenig zu hören. Was man nun bitte nicht falsch
verstehen soll, findet Jens Stabenow, der stellver-
tretende Geschäftsführer der Filmförderung Ham-
burg Schleswig-Holstein, in der die beiden
Bundesländer vor zwei Jahren ihre Institutionen
vereinigt hatten: »Im Wettbewerb der deutschen
Medienstandorte haben wir vielleicht nicht die
lauteste Stimme, stumm sind wir aber keinesfalls.
Auch in der Sache sind wir nicht weniger ziel-
orientiert und effektiv als ›die anderen‹ und kön-
nen hier mit wunderbaren Kinofilmen und Fern-
sehproduktionen punkten.«
Man muß es ja auch nicht übertreiben mit der
hanseatischen Zurückhaltung. Und kann es trotz-
dem anders machen, mag man sich gedacht ha-
ben, als der neue Production Guide für den verein-
ten Norden geplant wurde. Darum finden sich auf
den rund 190 Seiten des aufwendig produzierten
Handbuchs nicht nur nützliche Adressen oder
zauberhafte Bilder von Drehorten, Sets und Stu-
dios, sondern auch neun bekannte Gesichter der
dortigen Filmszene, die die Vorzüge des Standorts
in eigenen Worten beschreiben. Für die Porträt-
aufnahmen hat die Filmförderung einen der be-
kanntesten seiner Zunft gewählt, obwohl der Ber-
liner ist. Immerhin hat Jim Rakete aber lange Jahre
in Hamburg gelebt und gearbeitet.
Wobei die Standortfrage gar nicht ausschlag-
gebend war. »Wichtig war uns, einen Fotografen
zu finden, der nicht nur fachlich hervorragend ist,
sondern auch einen Zugang zur Branche der Film-
schaffenden hat und von dieser respektiert und
wertgeschätzt wird«, erklärt Stabenow. Da komme
man dann schnell auf diesen Namen: Rakete hat
seit den 1970er Jahren nicht nur Musiker im gan-
zen Land fotografiert (die Neue Deutsche Welle ist
von Spliff bis Nena vor seiner Kamera vorbeige-
rauscht), auch einige der 20 Porträtierten kennt er
bereits aus früheren Zusammenarbeiten – etwa
der Porträtreihe 1/8 sec.
Es sei ganz einfach gewesen, den Fotografen zu
gewinnen: »Es ist mir eine Ehre, mit einer Institu-
tion zusammenzuarbeiten, die frei von Etikette
und Dünkel Produktionen unterstützt und viele
der Karrieren über Jahre auch mit aufgebaut hat«,
sagt Rakete.
Teil der Absprache mit Fotograf und Filmschaf-
fenden war, aus den Aufnahmen der 20 Regisseu-
re, Schauspieler und Autoren noch eine Ausstel-
lung zu konzipieren, in der alle 20 gezeigt werden.
Die Fotos entstammen zwar denselben Fotoses-
sions, zeigen aber einen anderen Blickwinkel und
sind schwarzweiß. Die Bilder von Regisseuren,
Drehbuchautoren und Schauspielern zwischen
Nordseeinseln und Ostseestrand, auf holsteini-
schen Bauernhöfen und im Hamburger Hafen
wurden im Frühjahr auf der Berlinale präsentiert,
wo auch der Production Guide vorgestellt wurde.
Dann ging es weiter in die Stadtgalerie in Kiel.
Im September ist die Ausstellung schließlich im
Rahmen des Hamburger Filmfests vom 24. Sep-
tember bis 3. Oktober im Levantehaus Hamburg
zu sehen. c
Jim Rakete
fotografierte
die Film-
gesichter im
Norden. Fürs
eigene Bild
drückte er
auf den
Selbst-
auslöser. Fot
os:P
hoto
sele
ctio
n
xl012_A4_Rakete 17.06.2009 17:13 Uhr Seite 60
cınearte XL 012 Portfolio | Nordlichter
61
»Nirgendwo sonst trennt das Licht den
Himmel so einmalig und einzigartig von
der Welt. Hier lebt der Horizont!
Ulrike Grote, Regisseurin und Schauspielerin – Ausreißer
xl012_A4_Rakete 17.06.2009 17:13 Uhr Seite 61
Portfolio | Nordlichter cınearte XL 012
62
»Hamburg ist der ideale Filmstandort: Hier hat man traumhafte Film-
kulissen und kann gleichzeitig die hanseatische Gelassenheit genießen.«
Kostja Ullmann, Schauspieler – Sommersturm | Stellungswechsel
xl012_A4_Rakete 17.06.2009 17:13 Uhr Seite 62
cınearte XL 012 Portfolio | Nordlichter
63
»Warum in die Ferne schweifen,
wenn die Ferne liegt so nah.«
Hermine Huntgeburth, Regisseurin – Bibi Blocksberg | Die weiße Massai
xl012_A4_Rakete 17.06.2009 17:13 Uhr Seite 63
Portfolio | Nordlichter cınearte XL 012
64
»Welch einzigartige Vielfalt! Meine Volksschule auf Amrum, mein
Gymnasium im statusbetonten Hamburger Westen.
Die katholischen kleinen Leute auf der Insel Wilhelmsburg zwischen
Harburg und Hamburg in ihren Hochhäusern und Arbeitersiedlungen,
wo wir ›Nordsee ist Mordsee‹ drehten.
Das protestantische Großbürgertum der Elbvororte, in dessen Mitte
›Moritz, lieber Moritz‹ entstand.
Das unbekümmerte kulturelle Durcheinander Altonas (›Yasemin‹).
Die Stille des Wattenmeeres, das Krachen und Summen der Kieler
Werften.
Die Gediegenheit der Lübecker Altstadt, der grelle Fleischmarkt von
St. Pauli. Das Märchenland des Sachsenwaldes, das modernste und
größte Flugzeug der Welt, die A380, auf Finkenwerder.
Und was nicht sonst noch alles. ›Den Düwel ok‹, wie Thomas Mann
sein Lübecker Nobelpreiswerk begann.
Kein anderes Gebiet Deutschlands umfaßt so viele Menschengruppen
unterschiedlichen Profils, so viele gegensätzliche Drehorte wie unser
Land zwischen den Harburger Bergen und der Flensburger Förde.«
Hark Bohm, Regisseur und Schauspieler – Nordsee ist Mordsee | Yasemin
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»Paris – zu chic!
London – zu teuer!
Rom – zu heiß!
Berlin – nicht schlecht!
Aber Hamburg und der Norden – großes Kino!
Gustav Peter Wöhler, Schauspieler
Urlaub vom Leben | Stellungswechsel
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»Hafen, Schiffe, die Umarmung der zwei
Meere. Einmal im Jahr muß ich nach Sylt
und Frau Meer liebkosen. In Hamburg
bin ich geboren und aufgewachsen.
Hier war ich Menschlein, hier will ich sein
und bleiben. Für mich ist Hamburg die
Schönste. Hol di stief min Deern.
Hannelore Hoger, Schauspielerin
Henri Vier | Bella Block
»Ein Freund ist jemand, der deine Vergangenheit versteht, an deine
Zukunft glaubt und dich heute nimmt, wie du bist. Und genau dieses
Gefühl habe ich in Hamburg und Schleswig-Holstein.
Sibel Kekilli, Schauspielerin – Gegen die Wand | Winterrreise
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»Hanns Dieter Hüsch hat mal gesagt: Wer die Berge hat,
hat die Berge. Wer sie nicht hat, der braucht Fantasie.
Peter Jordan, Schauspieler – Die Schimmelreiter
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cınearte XL 012 Portfolio | Nordlichter
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»Was mir am Norden gefällt? Daß man nicht so viel reden muß…«
Detlev Buck, Regisseur und Schauspieler – Wir können auch anders | Knallhart
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»In der Nähe vom Hamburger
Schulterblatt liegt mein Schnei-
deraum. Ich kenne keine andere
Straße in Deutschland, in der so
viele verschiedene Nationalitäten
leben. Ein türkisches Geschäft
liegt neben einem griechischen
Restaurant, dann kommt ein
Italiener, ein Franzose, ein Inder,
Thailänder, Portugiese. Hier will
man nicht mehr weg.
Ina Weisse, Schauspielerin – Katzenzungen |
Die Weisheit der Wolken
»Unter der kalten Oberfläche des
Nordens gibt es viel Historie und
noch mehr Geschichten. Sie ans
Tageslicht zu bringen ist Aufga-
be der Literatur und des Films.
Armin Mueller-Stahl, Schauspieler –
Avalon | Die Manns
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cınearte XL 012 Portfolio | Nordlichter
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»Hamburg liegt an der Elbe,
Kappeln an der Schlei.
Das ist für mich dasselbe –
naß sind alle zwei.
Ruth Toma, Drehbuchautorin –
Solino | Emmas Glück
»Für mich ist die Zusammenlegung
der Filmförderungen beider
Länder ein großes Glück.
Endlich muß ich mich nicht mehr
entscheiden ob ich ein schleswig-
holsteinischer Hamburger oder
ein in Hamburg lebender
Schleswig-Holsteiner bin.«
Lars Jessen, Regisseur – Am Tag, als Bobby
Ewing starb | Dorfpunks
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»Wo wird das Tanzbein geschwungen?
Bei uns Norddeutschen!«
(Nordisch by Nature von Fettes Brot)
Lars Becker, Regisseur und Drehbuchautor
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cınearte XL 012 Das wahre Leben
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Der Prozeß ist schleichend. Sein Anfang liegt irgendwo zwischen dem Ende der Beziehung und
dem Beginn des Rosenkrieges, der oft folgt, Protagonisten sind die ehemaligen Partner, Gerichte
und Jugendämter, sein Verlauf ist unaufhaltbar und sein Ende von unglaublicher Konsequenz:
Kindesentzug. Oder, was im Ergebnis dasselbe ist, freiwilliger Verzicht auf den Umgang mit den
Kindern. Zum Wohle der Kinder. Die Triebfeder des Prozesses ist das Gegenteil von Liebe: Angst,
Kälte, Gleichgültigkeit, Egoismus, und derjenige (Mann), der Teil dieses Prozesses wird, bemerkt
seinen Sog meist erst, wenn es bereits zu spät ist. Den so entsorgten Vätern bleibt nichts anderes,
als zu schweigen. Und zu zahlen. Regisseur und Produzent Douglas Wolfsperger erfährt dieses
Schicksal am eigenen Leib, und es läßt ihn verzweifeln: »Ich weiß, daß ich großen Anteil hatte am
Scheitern unserer Beziehung, und daß ich meiner Ex-Freundin großen Schmerz zugefügt habe«,
Es gibt eine Welt jenseits der Leinwände. Bilden wir sie ab! Unsere neue Kolumne ist dem
Dokumentarfilm gewidmet – Trends und Diskusionen am Beispiel eines aktuellen Werks.
Text Christoph Brandl
Autobiografisches
So war das nicht geplant. Als der Dokumentarfilmer Douglas Wolfsperger sich mit entsorgten Vätern beschäftigte, geriet
er plötzlich selbst ins Bild.
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Das wahre Leben cınearte XL 012
74
sagt er, »aber was hat unser gemeinsames Kind damit zu tun? Wieso verliert meine Tochter des-
wegen ihren Vater?«
Wolfsperger beschließt, über das Thema einen Film zu machen. Auf der Suche nach betroffe-
nen Vätern landet er in Karlsruhe. Hier findet er vier Männer, die bereit sind, sich filmen zu las-
sen. Doch daß Wolfsperger selbst in seinem Film Der entsorgte Vater auftauchte, war so zunächst
nicht geplant. »Anfangs war es für mich nicht klar, daß ich mich persönlich in diesen Film ein-
bringen werde«, sagt Wolfsperger, »es war eher eine Entwicklung dahingehend, die sich während
des Drehs und Schnitts ergab. Denn es war atemberaubend für mich, wie nah die Entstehung des
Filmes an meiner eigenen Geschichte entlang lief. Das habe ich so noch nie erlebt.«
Die Parallelität der Ereignisse also. Vor fast genau einem Jahr, nach jahrelangem Kampf um ein
geregeltes Umgangsrecht mit seiner elfjährigen Tochter Hanna*, nach unzähligen geplatzten Va-
ter-Tochter-Treffen, nach etlichen Gerichtsverfahren und schlimmer noch: Nach unerträglichen
Provokationen durch den neuen Mann seiner Ex-Freundin, der sich plötzlich als Hannas Vater
ausgibt, schreibt die Tochter ihrem Vater einen vernichtenden Brief. Sie behauptet darin, ihren
Vater nicht zu mögen und keine Lust zu haben, freiwillig oder auf Geheiß des Familiengerichts et-
was mit ihm zu unternehmen. Douglas, der Mann, der wie die Parfümkette heißt – so bezeichnet
sie ihn an anderer Stelle – solle sie in Ruhe lassen. Daraufhin stellte das Gericht Wolfsperger vor
die Wahl: Er könne weiterhin auf ein Umgangsrecht mit Hanna klagen, dadurch würde er aller-
dings die so stark benötigte Ruhe seiner Tochter gefährden, oder er könne sich von ihr verab-
schieden. Für immer.
In diesem Moment entschließt sich Wolfsperger, in seinem eigenen Film mitzuwirken, auch
wenn er dem Unterfangen bis zum Ende kritisch gegenüber stand. »Wenn das jetzt so eine Na-
belschau gegeben hätte, und man sich am Ende fragen würde, was gehen mich die Probleme von
diesem Typen an? Und wenn es in der Inhaltsangabe hieße, Regisseur und Produzent auf der letz-
ten Reise zu seiner Tochter, hätte ich es nicht gemacht. Das sind nämlich genau die Filme, die ich
selbst nie sehen würde.«
*Name von der Redaktion geändert
Dokumentarfilmer im eigenen Fokus. Der Schweizer Thomas Haemmerli tritt in Sieben Mulden und eine Leiche selbst-
ironisch vor die Kamera (links), Niko von Glasow setzt sich in Nobody’s Perfect in Szene (rechts).
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cınearte XL 012 Das wahre Leben
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Wolfsperger, der sich zum ersten Mal an dieses Genre wagte, fügt hinzu: »Wenn man autobio-
grafische Filme machen will, funktioniert es nur, wenn man ein gutes Maß an Selbstironie besitzt.
Aber der Film muß auch selbstkritisch sein, weil er sonst nicht zu ertragen ist.«
Und er muß bewußt gegen die ehernen Grundsätze des Dokumentarfilms verstoßen: Dezi-
dierte Analyse und kritische Distanz, also eine objektive Haltung, sind im autobiografischen Film
per definitionem ausgeschlossen. Denn wie anders, wenn nicht durch konsequente Subjektivität
kann ein Dokumentarfilmer sein eigenes Leben aufarbeiten? Doch die inhärente Distanzlosigkeit
zum eigenen Schicksal erfordert einen Balanceakt, der nicht jedem gelingt. Denn zu groß ist die
Versuchung, sich selbst in Szene zu setzen und der eigenen Person im Film mehr Raum zu geben,
als nötig – oder verträglich.
Filme, bei denen diese Gratwanderung gelungen ist, sind beispielsweise Am seidenen Faden
(2005) von Katharina Peters, in dem sich die Filmemacherin auf eindringliche und nie aufdring-
liche Weise mit der schweren Krankheit ihres Mannes auseinandersetzt. Traumsequenzen von be-
törender Schönheit und Eleganz sind der harten Realität gegenübergestellt – und machen da-
durch beides erst erträglich: Realität und Film. Auch Sieben Mulden und eine Leiche (2007) des
Schweizers Thomas Haemmerli funktioniert. Thomas und Eric Haemmerli müssen die Wohnung
ihrer kürzlich verstorbenen Messie-Mutter ausräumen. Dabei entdecken sie die eigene Familien-
geschichte, die bis ins Jahr 1880 zurückreicht. Haemmerli umgeht die Gefahr, sich selbst zu be-
mitleiden und schafft stattdessen einen intelligenten und selbstironischen Film. Er nähert sich
selbstkritisch dem Tod seiner Mutter und zwingt dadurch auch den Zuschauer, sich mit dem letz-
ten Tabu unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen: Dem Tod. Gerade bei diesem Film wären Ei-
telkeit und Selbstverliebtheit der Genickschuß.
Nobody’s Perfect (2008) von Niko von Glasow gewann dieses Jahr den »Deutschen Filmpreis«
für den besten Dokumentarfilm. Doch von Glasow, der sich sehr um Authentizität bemüht, miß-
lingt der Versuch, durch Stilmittel wie Schrillheit und Distanzlosigkeit wirklich authentisch von
seiner eigenen Conterganschädigung und der von elf weiteren Menschen zu erzählen. Der Film
wirkt streckenweise aufgesetzt und konstruiert, besonders dann, wenn einer der Geschädigten
nach seiner Vergangenheit als Busengrabscher befragt wird, und ein anderer von seinen Prügel-
attacken erzählen muß. Diese Fragen und Antworten sollen wohl lustig sein, denn die beiden sind
armlos. Doch der Film, der stellenweise sehr mutig ist, gerät mehr und mehr zur Selbstdarstellung
des Regisseurs. Oft hart an der der Grenze zur Selbstverliebtheit, ist von Glasow stets versucht,
sich über seine Protagonisten zu erheben. Und oft gelingt der Versuch.
Ähnliches gilt für Marco Wilms, Regisseur von Ein Traum in Erdbeerfolie (2009). Wilms, ein
selbsterklärtes Ex-Topmodell, beschäftigt sich mit der Mode- und Modelszene in der ehemaligen
DDR, der auch er angehörte. Anfänglich interessiert es ihn noch, sich mit dem Schaffen einer mo-
debewußten DDR-Jugend auseinanderzusetzen. Doch spätestens, als Wilms, seinen Sohn auf
dem Arm, diesem das geteilte Berlin erklärt, übertritt er die Grenze zum Erträglichen. Und die am
Ende des Films à la frühen 1980ern ad hoc inszenierte Modeschau im Wilmsschen Wohnzimmer
– mit Wilms als reaktiviertem Model – besitzt kaum mehr als Homemovie-Qualität.
Auch der Österreicher Marko Doringer dreht sich in Mein halbes Leben (2008), ausschließlich
um sich selbst. Der Inhalt des Films, der 2008 Österreichs Dokumentarfilm des Jahres war, ver-
spricht genügend Selbstironie für 90 Minuten: Man behaupte etwas über sich, nämlich daß man
im Alter von 30 Jahren noch nichts geleistet habe und mache die Probe aufs Exempel, indem man
sich von Freunden, Verwandten und ehemaligen Freundinnen endlich einmal die Wahrheit gei-
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Das wahre Leben cınearte XL 012
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gen läßt. Soweit, wie gesagt, ganz lustig. Das Problem entsteht dann, wenn nichts Tiefergehendes
bei dieser Wahrheitssuche herauskommt, sondern nur Banales, wie »Das Leben ist ein ewiger
Kampf, und der hört nie auf.« Dann wird das Betrachten des Films schnell mühsam und man fragt
sich, warum man der Selbstfindung eines Anfang-30ers beiwohnen solle.
Wolfsperger ist für den Auftritt im eigenen Film heftig kritisiert worden. Doch für ihn ist diese
Kritik nicht gerechtfertigt: »Meine Auftritte sind ganz genau kalkuliert. Bei jeder Einstellung von
mir haben mein Cutter Bernd Euscher und ich überlegt, ob wir die brauchen für die Geschichte
oder nicht. Denn ich wollte eine Selbstdarstellung auf jeden Fall vermeiden, weil ich dazu einfach
nicht der Typ bin.«
Die eigene Biografie wird auch von Künstlern anderer Gattungen zur Kunstform erhoben,
etwa in der Konzeptkunst von Tracey Emin und Sophie Calle. Doch anders als bei genannten Do-
kumentarfilmen entsteht hier die Kunst erst durch und mit dem Inszenierten, mit bewußt Künst-
lichem. Denn erst das Verschwinden des Künstlers hinter seiner Inszenierung gibt den Blick auf
das Kunstwerk frei. Eines der bekanntesten Werke der Engländerin Tracey Emin ist ihre Installa-
tion My Bed, von der sie behauptete, es sei ihr eigenes ungemachtes Bett, um das ihre blutver-
schmierte Unterwäsche und von ihr und ihren Lovern benutzte Kondome lagen. Doch die Erhe-
bung der Installation in den Kunstraum macht es überflüssig, den Wahrheitsgehalt dieser
Behauptung in Frage zu stellen.
Sophie Calle, eine ehemalige Stripperin aus Frankreich, geht noch einen Schritt weiter. Für das
Projekt The Detective bat sie ihre Mutter, einen Detektiv zu beauftragen, der sie beschatten sollte.
Die Fotos des Detektivs stellte sie anschließend aus. Aber was sie den Detektiv beobachten ließ,
bestimmte sie selbst, wie sie sagt: »Meine Projekte haben sich oft ineinander verschachtelt. Nach-
dem ich den Leuten nachgegangen bin, wollte ich selbst verfolgt werden, um dann damit zu
spielen.«
Wolfsperger weiß noch nicht, ob er jemals wieder einen Teil seines eigenen Lebens in den
Mittelpunkt eines Filmes stellen wird. Ausschließen möchte er es jedoch nicht: »Ich habe Gefal-
len gefunden an der Form, aber das heißt nicht, daß ich jetzt alle Filme so machen werde. Jeden-
falls hoffe ich nicht, daß ich noch einmal eine ähnlich schlimme Erfahrung mache, über die ich
dann einen Film machen muß.«
Weil die forcierte Entfremdung zwischen Wolfsperger und seiner Tochter bereits zu weit voran
geschritten ist, als daß man sie noch umkehren kann, bleibt dem verzweifelten Vater keine Wahl.
Er entscheidet sich für die endgültige Verabschiedung und gibt seiner Tochter im Beisein eines
Verfahrenspflegers ein letztes Mal die Hand. Am Ende des sehenswerten Filmes begleitet die Ka-
mera den verkleideten Wolfsperger auf einen Spielplatz, auf dem ganz nah ein Mädchen spielt,
das seine Tochter sein könnte. Als ihn das Mädchen einen Augenblick lang ansieht, übermittelt
Wolfsperger ihr eine Botschaft: »Ich bin immer für dich da.«
Und da spürt man, worum es Wolfsperger mit diesem Film eigentlich geht: Wenn er den Pro-
zeß des Kindesentzuges schon nicht mehr umkehren kann, möchte er doch immerhin ein Doku-
ment schaffen, damit seine Tochter erfährt, wie sehr er sich um sie bemüht. Später, wenn sie er-
wachsen ist.
Der entsorgte Vater startet am 11. Juni im Kino: www.der-entsorgte-vater.de
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cınearte XL 012 Gesetze der Serie | Die Simpsons
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Text Hartmut Tabakmann
Vorspann. Gibt es noch jeman-
den, der diese Szenenfolge nicht
kennt? Der Himmel über der
Stadt Springfield lichtet sich, ein
Chor singt den aufscheinenden
Titel »The Simpsons« mit. Der
kleine Rebell Bart muß nachsit-
zen und wieder und wieder ei-
nen Satz an die Schultafel
schreiben. Dann springt er auf
sein Skateboard. Sein Vater Ho-
mer verläßt seinen Arbeitsplatz
im Kernkraftwerk – mit einem
strahlenden grünen Brennstab
im Kragen. Das Baby der Fami-
lie, Maggie, wird im Supermarkt
über die Kasse gezogen, Mutter
Marge erschrickt nur kurz.
Dann geht es im Auto heim. Die
altkluge Tochter sprengt den
sich der Blick ins Universum
hinein und langt schließlich
über Atome und DNS-Stränge
wieder beim gelben Kahlschädel
von Homer Simpson an. In an-
deren Episoden treten die Simp-
sons als Knet- oder Lego-Figu-
ren auf. Es kommt zu Begeg-
nungen mit der Familie
Feuerstein, mit der Ästhetik der
Monty Pythons oder James
Bond. Nichts ist zu fordernd:
Auch René Magritte (die Familie
hängt im Museum als Bild an
der Wand, darunter steht der
Text »Ceci n’est pas un couch
gag«) und die Beatles (die Simp-
sons als Sergeant-Pepper-Trup-
pe) bekommt das Publikum
zum Lachen vorgesetzt. Klare
Ansage: Diese Serie ist so unbe-
rechenbar wie das Leben. Und
lest mal nach, was Magritte so
trieb.
Musikunterricht mit einem
Jazz-Solo. Die ganze Familie
sprintet vor den Fernseher, so
schnell, daß der ankommende
Homer fast überfahren wird.
Dieser Anfang zeigt, wie ver-
spielt und detailverliebt die Se-
rie ist: Die halbe Stadt tritt in ei-
nem Schwenk auf, ohne Pau-
sentaste erkennt man die
Figuren aber erst gar nicht. Jede
Episode wird schon hier zum
kleinen Kunstwerk: Ob bei Lisas
immer wieder variiertem Saxo-
fon-Solo, den stets neuen
Sätzen, die Bart an die Tafel
schreibt (»Ich genieße keine di-
plomatische Immunität«) oder
der Art, wie die Familie vor dem
Fernseher landet. Einmal ist
dieser »Couch-Gag« ein Zoom
aus dem Zimmer ins Weltall, als
ob man bei Google Maps gelan-
det wäre. Immer weiter entfernt
Wenn einer fünf Geschichten auf einmal erzählt,
sich dafür 1001 Minute Zeit nimmt und trotzdem
kein Ende findet, freuen sich die Zuschauer.
Fernsehserien wecken Begeisterung wie nur
wenige Kinofilme. Warum eigentlich?
Gesetze der Serie:
05_Die Simpsons
xl012_C2_Serie Simpsons 17.06.2009 15:59 Uhr Seite 77
Gesetze der Serie | Die Simpsons cınearte XL 012
78
Worum geht’s wirklich? Im
Spiegel sehen wir uns natürlich
selbst: Die Simpsons, das ist
Welttheater für die Postmoder-
ne, ernst gemeint und deshalb
dreifach durch die Metamangel
gedreht. Ob Religionswahn,
Umweltzerstörung, Kriegstrei-
berei und Profitgier – hier wer-
den heiße Themen angefaßt
und in Gelb getaucht. Nachdem
Homer schwule Paare in seiner
Garage traute, gingen Konserva-
tive in den USA auf die Straße.
Dieser Familienvater ist ehrlich
und geradeheraus: Mit seiner
täppischen Ignoranz untergräbt
er die Gleichgültigkeit der Ge-
sellschaft. Und entlarvt damit
immer wieder die Leute seiner
Stadt Springfield. Für den deut-
schen Bestseller-Autor Daniel
Kehlmann ist die amerikanische
TV-Comic-Serie eines der »intel-
Worum geht’s? Um den »Ame-
rican Way of Life« und seine Ab-
wege: Ständig strebt jemand
nach Profit, Aufmerksamkeit
oder dem Ersten Platz in einem
Vielfraß-Wettbewerb. Alles an-
dere als Hochglanzbilder. Den
USA wird mit Homer, der ge-
nauso zu epischen Taten wie zu
Völlerei und Trotteligkeit neigt,
der Spiegel vorgehalten.
ligentesten und vitalsten Kunst-
werke« unserer Zeit. Den Dreh-
buchautoren der Serie sei es ge-
lungen, aus wohl über hundert
wiederkehrenden Mitspielern
»runde, psychologisch reiche
Charaktere zu machen, die man,
ohne zu zögern, so manchen Fi-
guren der Weltliteratur an die
Seite stellen kann«, lobte Kehl-
mann in einem Beitrag für den
Spiegel: »Die Simpsons, das ist
die Synthese von Disneyscher
Buntheit und Tolstoischer Cha-
rakterzeichnung, von Voltaires
Schärfe und der massenkompa-
tiblen Präsenz von Pepsi, Star-
bucks und Burger King.« Das
zeigt vor allem eins: Zu den
Simpsons haben selbst Erfolgs-
autoren eine gut formulierte
Meinung. Weil man an dieser
Serie auch die eigene Welt ver-
messen kann.
Zeit und Ort. Matt Groening
wollte nicht, daß sein Spring-
field geographisch festzulegen
ist. Springfields gibt es in den
USA fast so häufig wie McDo-
nald’s an der Straßenecke… na
gut, zumindest in jedem Bun-
desstaat wenigstens eines. Als
der Simpsons-Kinofilm – übri-
gens kein Fortschritt zur Serie –
beworben wurde, stritten sich
14 Springfields darum, die offi-
zielle Heimpremiere abzuhal-
ten. Am Ende konnte sich eine
Stadt in Vermont freuen.
Und die Stadt ist scheinbar
aus der Zeit gefallen: Die Kinder
wachsen nicht, das Baby Maggie
fängt nicht an zu sprechen (wo-
bei sie einmal eine Ausnahme
macht und »Daddy!« sagt). Es
gibt kaum Entwicklung (und
wenn, sieht die Zukunft für Bart
ziemlich schlecht aus). Spring-
field, das ist vor allem ein
immerwährendes Jetzt, daß sich
direkt an den Zuschauer richtet.
xl012_C2_Serie Simpsons 17.06.2009 15:59 Uhr Seite 78
cınearte XL 012 Gesetze der Serie | Die Simpsons
Helden. »Do the Bartman« war
die erste Berührung Deutsch-
lands mit dem gelben Univer-
sum. Ein seltsamer Pop-Rap mit
einer Piepsstimme, geschrieben
von Michael Jackson, der sich
1990 in den Charts festsetzte.
Erst danach lief die Serie im öf-
fentlich-rechtlichen Fernsehen,
und Bart stand damals im
Mittelpunkt. Weniger boshaft
und durchtrieben als heute,
eher ein Widerstandskämpfer
im System.
Sein Vater Homer wirkte da
eher blaß und mitleiderregend.
Das hat nicht lange gehalten:
Seine Ausfälle sind mittlerweile
glorreich überhöht, in manchen
Folgen kann das in einen Aktio-
nismus ausarten, der einiges be-
wegt. Manchmal scheint er so-
gar zu abstrakten Gedanken fä-
hig – Homer ist längst die
zentrale Figur. Seine Tochter
Lisa mag ihm intellektuell über-
legen sein, Marge ihre Haus-
frauenrolle immer wieder über
Bord werfen. Aber im Ernst:
Sind wir nicht alle vor allem ein
bißchen Homer?
79
Philosophischer Ansatz. Die
Serie kennt keine Gnade, wenn
sie mit dem Finger auf die kor-
rupte Natur der Menschen zeigt.
Aber das oder Skurrilität alleine
hätte den anhaltenden Erfolg
nicht begründet. Erfinder Matt
Groening sagte einmal: »Wir
tanzen an der Grenze zum dun-
klen Humor entlang. In den
Simpsons können wir uns im-
mer erkennen.«
Die Simpsons sind anti-süß,
anti-glamourös, aber auch anti-
zynisch. In dieser Stadt haben
alle Lebensmodelle und damit
auch philosophischen Haltun-
gen Platz. Deshalb ist es auch
kein Wunder, daß es eben kei-
nen einzige Philosophie gibt.
Das Buch Die Simpsons und die
Philosophie verstaut die Serie
nicht in einer Schublade: Der
Aufsatz »Homer und Aristote-
les« zeigt zum Beispiel, daß die
praktische Vernunft nicht in die-
sen Kahlschädel will. Und »Wa-
rum Maggie wichtig ist – Klänge
der Stille aus Ost und West«
stellt Sartres Philosopie der Wor-
te und das Schweigen der öst-
lichen Philosophen gegenein-
ander. Die Simpsons vertreten
keine geschlossene Ideologie,
machen aber Lust aufs Philoso-
phieren.
Stammpersonal. Das Stamm-
personal ist eine ganze Stadt.
Wen sollte man zuerst nennen?
Den verfetteten Chief Wiggum,
der es mit dem Gesetz nicht so
genau nimmt, wenn er gerade
Donuts ißt? Oder Montgomery
Burns, Atomkraftwerksbetreiber
und Machtechse von Springfield
in biblischem Alter? Seine kraft-
lose Körpersprache mit den
hängenden Händchen ist ein
treffendes Porträt der Gier. Oder
doch Apu, der indisches Besitzer
des »Kwik-E-Mart«, bei dem der
amerikanische Traum nicht so
recht ankommt und der seine
Kinder aus Not einmal an eine
Reality-Revue verscherbelt?
Jede Folge kann eine Neben-
figur in den Mittelpunkt zerren
und eine ganz neue Person be-
leuchten: Jahrelang hat Barney
nur gerülpst. Und dann gibt es
die Folge, in der er sich als Fil-
memacher kurz über die Gosse
erhebt – bis zum nächsten Duff-
Bier. Aber er hatte seine 30 Mi-
nuten Ruhm.
xl012_C2_Serie Simpsons 17.06.2009 15:59 Uhr Seite 79
Vorbilder. Die Serie ist wie
ein Schwamm. Ästhetisch,
philosophisch, soziologisch, po-
litisch – sie saugt ihre Zitate aus
allen Bereichen des Lebens.
Aber woher kommt der Stil? In
seiner Jugend wollte Matt Groe-
ning so wie Charles Schultz
zeichnen. Die Peanuts sind also
nähere Verwandte, auch wenn
Bart Simpson dem melancholi-
schem Charlie Brown vermut-
lich in den Bauch boxen würde.
Groening gibt zu, daß er
Schultz’ feinen Stil mit Skurri-
lität ersetzte – aber die Berüh-
rungspunkte sind deutlich: Na-
mentlich erinnert Barts Freund
Milhouse van Houten an den
Peanut Linus van Pelt.
Überhaupt die Namen: Die
Hauptcharaktere entstammen
dem persönlichen Umfeld von
Matt Groening: Sein Vater heißt
Homer, seine Mutter Margaret,
die beiden Söhne heißen Homer
und Abe. »Ay Caramba«, kann
man da nur mit Bart Simpson
sagen. Groenings Familie trägt
die Entfremdung angesichts des
Erfolgs mit Fassung.
Gesetze der Serie | Die Simpsons cınearte XL 012
80
Visuelle Merkmale. Gelb.
Musik. Erstaunlich frisch ist der
Score, den Danny Elfman für
Die Simpsons komponierte –
selbst nach zwei Serienjahr-
zehnten. Elfman hat für Tim
Burton und Sam Raimi viele an-
dere verquere Visionen erfolg-
reich vertont, und es ist erstaun-
lich, wie dieses Thema die
Widersprüche vereint: bombas-
tisch einerseits, aber ohne Pa-
thos, stets gehetzt – und doch zu
jedem Tempowechsel bereit.
Wunderbar, daß Lisas Saxofon-
Solo sich erlaubt, die Aufregung
und Perfektion quasi zu durch-
brechen – jeder hat hier seinen
eigenen Rhythmus.
Gimmicks. Wer Rang und Na-
men in den USA hat oder derzeit
hip ist, wird mit einem Simp-
sons-Auftritt erst geadelt. Die
Smashing Pumpkins oder John-
ny Cash gaben sich die Ehre,
aber genau schaute die doku-
mentarische Lasagne Michael
Moore vorbei. Pamela Anderson
wurde nachgemalt, aber auch
Star-Architekt Frank Gehry. Der
Zeitgeist wird gelb.
Legendär sind auch die Hel-
loween-Folgen, die zeigen, wie
wenig diese Serie (nur) für Kin-
der gemacht ist. Bezugnahmen
auf das Werk von Edgar Allan
Poe, B-Horror und psychedeli-
sche Filme aus den Sechzigern
zeigen, daß sich die Macher ge-
rade hier austoben – und ziemli-
che Nerds sind.
Auch sonst gilt: Das ständige
Aufbrechen von dramaturgi-
schen Strukturen gehört zu den
Simpsons wie das immergleiche
»Gute Nacht, John Boy« zu den
Waltons. Die Gimmicks sind
hart erarbeitet: An einer Folge
sitzen die Autoren und Zeichner
mindestens ein halbes Jahr.
xl012_C2_Serie Simpsons 17.06.2009 15:59 Uhr Seite 80
cınearte XL 012 Gesetze der Serie | Die Simpsons
81
c
Einfluß. Zum 20. Jubiläum gibt
es Simpsons-Briefmarken in den
USA, schon im Jahr 2000 klebte
die gelbe Familie auf kirgisi-
schen Briefen. In der arabischen
Welt heißt Homer Simpson
Omar Shamsun; es herrscht
Bierverbot in der Serie. Überall,
wo sie zu sehen sind, wirkt die
Familie aus Springfield als
Gegenstimme und setzt sich im
kollektiven Gedächtnis fest. Sie
sind die Vorboten einer völlig
entpolitisierten Demokratie,
aber immerhin: die flache Mei-
nung lassen sie sich nicht ver-
bieten!
Die lose Struktur der Serie,
ihre stilistischen Brüche haben
Serien wie Southpark und Fami-
ly Guy erst möglich gemacht.
Die Simpsons sind bejahender,
versöhnlicher als ihre Nachfol-
ger – ein einigendes Element für
eine ganze Generation der 90er
Jahre. Der Autor Chris Turner
nannte sein Buch über das Phä-
nomen Planet Simpson, und Ge-
neration-X-Autor Douglas Cou-
pland schrieb das Vorwort dazu
– das sagt eigentlich schon alles.
Und doch hat die Serie ihre Be-
deutung bis heute nicht verlo-
ren. In einer der nächsten Staf-
feln soll eine Folge in Israel spie-
len. Nur auf eines können sich
Juden, Christen und Muslime
dabei einigen: Wut gegen Ho-
mer. Ein gelber Mann mit
Bauchansatz und wenig Haar
entspannt den Nahost-Konflikt
mit Ignoranz.
Suchtfaktoren. Die Welt ist un-
übersichtlich geworden, und
Die Simpsons wollen daran auch
nichts ändern. Es gibt mittler-
weile Hunderte Folgen – selbst
Matt Groening sagt, er kann sich
nur an einen Bruchteil erinnern.
Aber Die Simpsons so etwas wie
ein medialer Anker. Ein geziel-
tes, spitzes, Homersches »Nein!«
kann Freundschaften begrün-
den. Die Serie ist so etwas wie
das Wetten, daß…? der Thirty-
somethings; darüber reden geht
immer. Im übrigen hilft die Mi-
schung aus infantilem Humor
und extrem kultivierter Anspie-
lung, nicht zu früh erwachsen
zu werden.
Zahlen. Ganz einfach die erfolg-
reichste Zeichentrickserie der
Fernsehgeschichte: Die Simp-
sons überholten vor über einem
Jahrzehnt die Feuersteins, die
Muppets (okay, nicht ganz
Zeichentrick) brachten es auch
nicht auf mehr als 120 Episoden.
Die Simpsons haben die 400 Fol-
gen dagegen überschritten. Daß
die Serie 20 Jahre alt geworden
ist, sieht man ihr nicht an. Ab
1991, zwei Jahre nach dem US-
Start, fanden sie den Weg nach
Deutschland. Die jüngste Staffel
wurde hier noch nicht ausge-
strahlt, die letzte neue Episode
sahen im März 1,89 Millionen
Menschen auf Pro Sieben.
Die Serie hat einen eigenen
Stern auf dem Walk of Fame und
hat über die Jahre 24 »Emmys«
erhalten. Angesichts der vor-
abendlichen Dauerversorgung
mit Wiederholung und weiterer
geplanter Staffeln in den USA
wird auch die nächste Genera-
tion sicher mit ihrer Simpsons-
Dosis vorsorgt.
xl012_C2_Serie Simpsons 17.06.2009 15:59 Uhr Seite 81
Porträt | Marc Rothemund cınearte XL 012
82
DerGeldsuchervon SchwabingMarc Rothemund will einen Film über die Schwabinger Bohème und ihre »Königin«
Fanny zu Reventlow drehen. Tolle Idee. Aber Geld bekommt er nicht dafür. Schade.
Unser Autor hätte es ihm gerne gegeben.
Text und Fotos Christoph Gröner
xl012_B2_Marc Rothemund 17.06.2009 16:38 Uhr Seite 82
cınearte XL 012 Porträt | Marc Rothemund
83
Die Geschichte ist verrückt und wahr, zugleich
ein historischer Stoff und modern: Fanny Comtes-
se zu Reventlow, alleinerziehende Mutter, Lebens-
künstlerin und Schriftstellerin, widersetzte sich
zeitlebens den Forderungen der wilhelminischen
Gesellschaft. Ihr Leben umspannte genau die Kai-
serzeit – von 1871 bis zum endgültigen Zu-
sammenbruch 1918. Rebellisch blieben ihre An-
sichten bis zum Ende, den Beweis dafür führte sie
nicht nur mit ihren zahllosen Liebhabern an.
Ihr Biografie ist untrennbar mit der bayeri-
schen Hauptstadt verbunden, in der die gebürtige
Husumerin lebte, als hier der Himmel laut Tho-
mas Mann »von blauer Seide« war und »München
leuchtete«. Die Reventlow war das personifizierte
Leuchten. Ihr Leben sei »eines von denen (…), die
erzählt werden müssen«, schrieb ihr Verehrer Rai-
ner Maria Rilke. Marc Rothemund will genau das:
»Die Königin von Schwabing« auf die Leinwand
bringen. Wenn er denn könnte. Denn Geld hat er
derzeit nicht einmal für die Entwicklung.
Am Tag des Treffens mit dem Regisseur steht die
Sonne schon schräg, von blauer Seide am Himmel
sprechen höchstens Reiseführer, die man im Regal
lassen sollte. München wirkt manchmal, als hätte
es sich kreative Energiesparlampen eingedreht:
Bis es richtig leuchtet, vergeht Zeit. Aber wenn
Marc Rothemund mit seinem Koautor Hellmut
Fulss ins Synchronschwärmen über die Epoche
kommt, ist ein wenig vom alten Schwabing zu
spüren. Ein knapp 30seitiges Treatment hat er mit-
gebracht, es ist voll mit Fotos der Wende zum 20.
Jahrhundert, die Biografie der rebellischen Gräfin
findet hier kaum Platz. »Daß sich München Welt-
stadt nennen darf, liegt zum guten Teil an dieser
Zeit.«, erzählt Rothemund. Und Fulss: »Was für
eine Frau. Ihre Geschichte ist natürlich auch die
von Schwabing. Da schwärmen alle von der
Simplicissimus und mehr – Marc Rothemund auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
xl012_B2_Marc Rothemund 17.06.2009 16:38 Uhr Seite 83
Porträt | Marc Rothemund cınearte XL 012
84
Vorgarten der Bohème: Der Regisseur am Kleinhesseloher See
im Englischen Garten (oben) und mit seinem Koautor Fulss im
»Alten Simpl« an der Türkenstraße auf der Suche nach Spuren
des alten Schwabings.
Irgendwie sah das hier auch mal anders aus: Marc
Rothemund an der Ecke Amalien- und Theresienstraße,
wo sich einst Künstlerkreise im »Café Stefanie« trafen:
Auferstehung eines anarchischen München. Bloß – wo
war das Café? Diskussionen in Schwabing.
xl012_B2_Marc Rothemund 17.06.2009 16:38 Uhr Seite 84
cınearte XL 012 Porträt | Marc Rothemund
85
Künstlergruppe ›Der Blaue Reiter‹. Aber wie ist der
Weltruf dieses Viertels entstanden?«
Beide sitzen im »Alten Simpl« in der Türken-
straße. Als die Kneipe – nach der satirischen Wo-
chenschrift – noch »Simplicissimus« hieß, schlug
sich die Schwabinger Intellektuellenszene hier die
Nächte um die Ohren, die Reventlow diskutierte
mit und verdrehte den Männern den Kopf. Die
Speisekarte hier verkündet es noch immer nostal-
gisch: »Die barfüßige Gräfin Reventlow, die
Schwabing und den Rest der Welt als ›Wahnmo-
ching‹ verstand«, und Intellektuelle wie Erich
Mühsam, Oskar Maria Graf und Joachim Ringel-
natz gaben sich ein Stelldichein.
Die Bohemiens waren verrückt nach ihr, nach
ihrem Freiheitsdrang und ihrer Sinnlichkeit.
Schon 1899 hat sie in dem Essay Viragines oder
Hetären? ihre libertinären Ansichten verbreitet:
»Vielleicht entsteht noch einmal eine Frauenbe-
wegung in diesem Sinn, die das Weib als Ge-
schlechtswesen befreit, es fordern lehrt, was es zu
fordern berechtigt ist, volle geschlechtliche Frei-
heit, das ist, freie Verfügung über seinen Körper,
die uns das Hetärentum wiederbringt. Bitte, kei-
nen Entrüstungsschrei. Die Hetären des Altertums
waren freie, hochgebildete und geachtete Frauen
(…). Das Christentum hat statt deßen die Einehe
und – die Prostituzjon geschaffen. Leztere ist ein
Beweis dafür, daß die Ehe eine mangelhafte Ein-
richtung ist.« Das wirkt heute noch kontrovers, die
Frauenbewegung stand quer zu diesen Ansichten.
Aber in München gab es Raum für wilde Le-
bensentwürfe unter dem Prinzregenten Luitpold,
die Stadt wurde zum Anziehungspunkt der Künst-
ler. »Das reizt uns: Wir zeigen ein liberales, anar-
chistisches München«, sagt Helmut Fulss. Qualitä-
ten, die man heute gemeinhin Berlin zuschreibt.
München ist zweifellos bedächtiger (und teurer),
die Betonung der Unterschiedlichkeit wirkt aber
oft albern. Marc Rothemund jedenfalls pendelt
zwischen den Städten und findet, beide hätten
eine »Seelenverwandschaft«.
Die Figur der Reventlow wäre auch in Berlin
Ausnahmerscheinung. Zahlreiche Biografien und
natürlich auch ihre Romane wie Herrn Dames Auf-
zeichnungen zeugen davon, in denen sie aus ih-
rem abenteuerlichen Leben schöpfte. Das ist weit
mehr als die domestizierte Postkarten-Weltstadt
mit Herz. Aber die dunkle Zeit Münchens als reak-
tionäre Hochburg, als Keimzelle der Nazi-Bewe-
gung hat das nachhaltig überdeckt. »Ich war scho-
ckiert, wie wenig ich wußte über die absolute
Hochzeit Schwabings«, gesteht auch Rothemund.
»Die Künstler verbrachten den Tag bei einer Tasse
Kaffee und konnten noch anschreiben«, sagt er.
Neubauten monatelang für wenig Geld »warmzu-
wohnen«, sei eine billige Unterkunftsmöglichkeit
gewesen.
Überall seien die Spuren noch zu finden, sagt
Rothemund und kommt mit auf eine kleine Spu-
rensuche durch Reventlows »Wahnmoching«. Ein
paar Minuten Fußweg vom »Simpl« entfernt, gab
es früher das »Café Stephanie« an der Amalien-
straße. Auf dem Weg dahin hängen in einem Anti-
quariat alte Simplicissimus-Ausgaben, das Stück
für fünf Euro. Rothemund greift zu, schließlich pu-
blizierte die Reventlow hier Artikel über die wilhel-
minische Obrigkeit, der ihren Verleger Albert Lan-
gen vier Monate ins Gefängnis brachten. Die
Geschichte der Künstler hängt hier noch in den
Schaufenstern, nicht selten liegt sie auf der Straße.
Nur das »Café Stephanie«, den zweiten großen
Treffpunkt der Bohemiens, gibt es längst nicht
mehr. Da hilft Rothemund und Fulss auch kein
historischer Bildband, mit dem sie die Kreuzung
an der Theresienstraße vergleichen. An den Neu-
bauten ist nichts mehr zu erkennen. Aber um
Motive machen sich Fulss und Rothemund keine
Sorgen: »Hier gibt es Aufgänge, Flure, Treppenauf-
gänge, Innenhöfe, die suchst du in der ganzen
Welt«, meint Rothemund. Er will seinen Film vor
allem als Kammerspiel in Kneipen und Wohnun-
gen anlegen, dort, wo sinnenfroh das Leben
genossen wurde und intellektuelle Kämpfe ausge-
fochten wurden. Als Höhepunkt ihres gesellschaft-
lichen Lebens gründete die Reventlow 1903 die er-
ste Wohngemeinschaft im Deutschen Kaiserreich
mit ihrer großen Liebe, dem polnischen Kunstma-
ler Bohdan von Suchocki, ihrem Sohn Rolf und
dem neun Jahre jüngeren Schriftsteller Franz Hes-
sel. Das »Eckhaus« an der Kaulbachstraße wurde
für wenige Jahre zum Mittelpunkt der Schwabin-
xl012_B2_Marc Rothemund 17.06.2009 16:38 Uhr Seite 85
Porträt | Marc Rothemund cınearte XL 012
86
ger Künstlerszene. Und Franz von Hessel später
ein Vorbild für Jules und Jim – München nahm die
Nouvelle Vague voraus.
Das damalige Schwabing war ein »Zustand« für
die Reventlow, den es gegen alles Reaktionäre zu
verteidigen galt. Etwa gegen den Kreis der soge-
nannten Kosmiker, die sich zunächst in elitären
Fantasien ergingen und ihre Feste in Togen feier-
ten und später zu brutalen Antisemiten wurden.
Im Gewand der Avantgarde steckte schon der
fürchterliche Spießer. Auch von diesem »Schwa-
binger Krach« will Rothemund natürlich erzählen,
Sechs Millionen Euro, so überschlägt er, würde die
ganze Geschichte kosten. Aber bislang hat ihm die
bayerische Filmförderung selbst 20.000 Euro für
die weitere Entwicklung des Drehbuchs verwei-
gert. Stattdessen dreht Rothemund nun erst ein-
mal Komödie: Alles für Lila. Als »Notting Hill für
Teenager« beschreibt er das – man merkt ihm an,
woran das Herz hängt.
Über die Ablehnung reden will Marc Rothemund
nicht. Schließlich vergrätzt es sich kein Regisseur
in Deutschland mit den Förderinstitutionen, ohne
die nichts läuft. Es mag an der derzeitigen Finanz-
krise liegen, daß vor allem große Produktionsfir-
men Geld zur Standortförderung bekommen, und
ein anderes Argument könnte sein, daß es bereits
einen Dreiteiler von Löwengrube-Regisseur Rainer
Wolffhardt über die Reventlow gibt. Aber das war
1980, und über die »Weiße Rose« und Sophie
Scholl gab es sogar schon zwei Filme, als Rothe-
mund mit Sophie Scholl ein preisgekröntes Werk
über die Widerstandskämpferin drehte. An dem
Schwabing-Film soll auch Julia Jentsch wieder
interessiert sein. Wie die Reventlow um die Drei-
ßig, sagt Rothemund, ebenfalls keine Münchne-
rin.
Nach seiner Filmografie kann man man jeden-
falls von echter Leidenschaft für die Münchner
Geschichte ausgehen. Nicht nur der Widerstands-
ikone Sophie Scholl hat er ein Denkmal gesetzt. Er
war Regieassistent bei Dietls Schickeria-Standard
Rossini, er hat Das merkwürdige Verhalten ge-
schlechtsreifer Großstädter zur Paarungszeit hier
untersucht. Wenig erfolgreich war zwar sein Por-
norama, der Ausflug in die Sexfilmindustrie der
1970er Jahre. Aber auch hier ist die persönliche
Verbindung nicht von der Hand zu weisen, denn
sein Vater hatte unter dem Pseudonym Siggi Götz
viele dieser Streifen gedreht. Rothemund kennt
das Viertel gut und auch seine Hinterhöfe. In ei-
nem der schönsten direkt am Englischen Garten
wird er sich am nächsten Tag noch einmal beim
Grillen ablichten lassen. Das steht für das Laissez-
Faire, daß er selber stets mit Cap, Sakko und Jeans
lebt und auch in seinem Film haben will. Aber je-
des dieser Bilder sagt auch: Ich kenne Schwabing!
Ich kann Schwabing! »Ich bin hier geboren und
aufgewachsen. Wenn du siehst, was hier allein in
den letzten 100 Jahren passiert ist, was es für ein
reichhaltiges Reservoir an Geschichten gibt, dann
fasziniert mich das besonders«, kommentiert Ro-
themund.
Seine Treatment ist bisher Stoffsammlung, ihm
fehlt noch die Form, die etwa Sophie Scholl zu ei-
nem intensiven Porträt machte. Aber das Leben
der Fanny zu Reventlow bietet zahllose Wendun-
gen. »Ich steh’ wieder auf, wenn der liebe Gott
mich 1000 Mal in die Kniekehlen schlägt«, schrieb
sie einmal in ihr Tagbuch, als sie mal wieder noto-
risch pleite war. Rothemund geht es zur Zeit mit
der Finanzierung auch nicht anders. Aber den an-
archischen Geist der Epoche auf die Leinwand zu
bringen, wird er sich kaum nehmen lassen. Dazu
ist er zu sehr in der Stadt und ihrem Filmschaffen:
Bei dem Treffen im »Simpl« klingelt schließlich
sein Telefon, er verabredet sich zum Abendessen –
natürlich im Stammitaliener »Rossini«. c
Ihren Verleger
brachten ihre
Ideen ins
Gefängnis: Fanny
zu Reventlow
verdrehte der
Münchner
Bohéme den
Kopf – nicht nur
in Gedanken.
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xl012_B2_Marc Rothemund 17.06.2009 16:38 Uhr Seite 86
cınearte XL 012 Abspann | Letzte Bilder
87
Abspann
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Casablanca
USA 1942
Regie Michael Curtiz
Drehbuch Julius J. Epstein, Philip G. Epstein und Howard Koch
Kamera Arthur Edeson
Szenenbild Carl Jules Weyl
Maske Perc Westmore
Kostüm Orry-Kelly
Montage Owen Marks
Musik Max Steiner
Produktion Hal B. Wallis
xl012_X_Abspann 17.06.2009 18:42 Uhr Seite 87
Lange Zeit war der Vorspann nur eine Folge
von Texttafeln, die auflisteten, wer am Film so
mitgearbeitet hatte. Allmählich erhielten sie
mehr und mehr dekorative Elemente. Heute ist
ein gelungener Vorspann ein eigener Kurzfilm,
der in Stimmung und Stil des Hauptwerks
einführt. Das ist das Werk von Spezialisten –
genannt werden sie allerdings oft nicht einmal
im Abspann. Bis jetzt.
Abspann | Vorspann cınearte XL 012
88
Fantastische SchriftenF
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xl012_X_Abspann 17.06.2009 18:42 Uhr Seite 88
cınearte XL 012 Abspann | Vorspann
89
Es schneit auf das weltberühmte Logo der 20th Century Fox. Und nicht golden strahlt
der Schriftzug von der Leinwand, sondern ist in den fahlen blauen Schein eines Vollmonds
getaucht. Bei Tim Burtons Gruselmärchen Edward mit den Scherenhänden mußte sich
auch das mächtige Studio dem Gesamtkunstwerk unterordnen.
Der Vorspann ist eine subjekte Kamerafahrt durch das verwunschene Schloß, in dem
Edward von einem Wissenschaftler (dargestellt von der Horror-Ikone Vincent Price in ei-
ner seiner letzten Rollen) erschaffen wird: Schattenstarke Detailaufnahmen in bläulichem
Licht von Treppenstufen, verwitterten Skulpturen und seltsamen Apparaten, die inein-
andergeblendet werden. Alles ist in sanfter Bewegung – die Credits, deren Form in eine of-
fene Schere paßt, drehen sich leicht im Bild, das seinerseits unaufhörlich weiterfließt.
Darüber liegt die Musik von Danny Elfman, die der Komponist selbst einmal als sein
bestes Werk bezeichnet hat. Und selten klafft die Ton-Bild-Schere so weit auseinander: Vi-
suell könnte der Vorspann einem jener Mad-Scientist-B-Movies aus den 1940er Jahren
entstammen – die spieluhrartige Melodie verleiht den unheimlichen Bildern eine traum-
hafte Note. »Mit den Haupttiteln versuche ich immer, die Stimmung des jeweiligen Stücks
zu treffen«, erklärt Burton dazu. Edward war seine erste Zusammenarbeit mit dem Titel-
designer Robert Dawson, der uns schon den Kuß der Spinnenfrau versüßt hatte. Er führte
seitdem auch in die weiteren fantastischen Filme von Burton wie Sleepy Hollow oder Big
Fish ein. Die gleitenden Schriften haben es dem Designer angetan, wie man etwa im Ver-
mächtnis der Tempelritter nachschauen kann – nur einer der 120 Filme, die Dawson seit
einem Vierteljahrhundert geschaffen hat. Jan Fedesz
xl012_X_Abspann 17.06.2009 18:42 Uhr Seite 89
Abspann | Mein Arbeitsplatz cınearte XL 012
90
Wie arbeitet man eigentlich für den Film? Wir fragten die Filmkomponisten Jakob Ilja.
»Ich dachte früher, es sei besser, schon während der Drehbuchentwicklung einzusteigen. Aber zum
Komponieren brauche ich das Bild. Ich beginne in der Regel um 9 Uhr früh meinen Arbeitstag und be-
ende ihn so gegen 23 Uhr, wobei ich abends nur noch editiere und den administrativen Teil meiner Ar-
beit erledige. Drei Wochen vor der Endmischung wird es dann stressig, weil die Zeit davonrennt. Freizeit
gibt’s erst nach der Abgabe.
In der Regel beginne ich die Arbeit an einem Film, indem ich mir zunächst eine leicht zugängliche
Szene herausgreife. Dann nehme ich meine Gitarre und spiele einfach dazu, rein assoziativ: Töne, Frag-
mente, Rhythmen – ganz egal. Wenn es sich mit dem Bild verzahnt, zum Gestus, zur Atmosphäre paßt,
dann bin ich auf dem richtigen Weg. Natürlich gibt es auch Vorgaben vom Regisseur, die mit einfließen.
Bei dem aktuellen Projekt, dem DFFB-Abschlußfilm Schwerkraft von Maximilian Erlenwein, sollte die
Musik roh, laut und verstörend sein. Das waren Charakteristika, die gewünscht waren und die sich aus
den Bildern ergaben. Es geht mir aber auch immer um Wahrhaftigkeit. Gerade junge Regisseure haben
oft Angst vor der Emotion, also eine Liebesgeschichte als solche konkret zu benennen und nicht als Ver-
meidungsstrategie analytisch zu zerpflücken. Und dann mache ich da eben in der Musik Vorschläge.
Ich arbeite eher chaotisch, aber beständig. Wenn ich mein Leitthema gefunden habe, nehme ich es
auf. Ich bringe es in Form, instrumentiere und arrangiere es. Diese ›Layouts‹ schicke ich dann dem Re-
gisseur. Für manche Musikrichtungen engagiere ich aber auch Genre-Musiker. Bei Schwerkraft habe ich
für die Psychobilly-Stücke – das ist eine trashige Form des Rockabilly – auf den Musiker Moe Jaksch zu-
rückgegriffen. Der schüttelt mir so ein Stück quasi aus dem Ärmel. Der musikalische Kosmos des Films
muß ja oft verschiedene Aspekte umfassen. Mit dem Regisseur treffe ich mich meist einmal die Woche.
Dann wird diskutiert, nicht selten geht es heiß her. Alle zwei oder drei Wochen kommen auch die Pro-
duzenten hinzu. So ein Entscheidungsprozeß kann bis zu drei Monate dauern. Manchmal habe ich
schon produziert und produziert, und es war für die Katz. Manchmal gibt es eine kreative Kehrtwende
kurz vor der Mischung – dann muß ich eine Musik innerhalb von 24 Stunden komponieren und einspie-
len. In der Regel sind die Kompositionen aber eineinhalb Wochen vor der Endmischung fertig. Dann sage
ich: Das ist gut so, das lassen wir jetzt. Die Regie ist nämlich unersättlich.
Beim Komponieren verliere ich mich auch. Ich neige dazu, da noch ein Instrument und hier noch was
Kleines einzufügen. Das überfrachtet die Komposition sehr leicht. Eine große Hilfe ist mir da meine Frau
Ann-Katrin, die selbst Regie studiert hat. Ihr spiele ich alle meine Entwürfe vor, dann sagt sie: raus, raus,
raus – und dann bekommt es eine klare Linie. Wir lesen auch die Drehbücher zusammen und schauen
uns die Rohschnitte an. Deshalb bekommt sie im Abspann auch einen Credit als meine Koproduzentin.«
Protokoll und Foto Karolina Wrobel
Mein Arbeitsplatz
xl012_X_Abspann 17.06.2009 18:42 Uhr Seite 90
cınearte XL 012 Abspann | Mein Arbeitsplatz
91
Der Filmkomponist Jakob Ilja, Jahrgang 1959, heißt tatsächlich Jakob Friderichs und stand die meiste Zeit seiner Musikerkarriere
als Gitarrist von »Element of Crime« auf der Bühne. Ganz woanders, nämlich beim Abwaschen in der Küche, lernte er den Regis-
seur und Drehbuchautor Ingo Haeb kennen. Der überredete ihn, für seine Narren die Musik zu schreiben. »Warum nicht?«, stimm-
te Friderichs bei und ahnte nicht, wie nervenaufreibend das Komponieren für den Film sein kann. So schlimm war es dann aber
wohl doch nicht, denn Haeb stellte den Berliner kurz darauf auch Lars Jessen vor, für den er die Musikberatung bei Am Tag, als
Bobby Ewing starb übernahm und zuletzt die Kompositionen der Schimmelreiter und Dorfpunks schuf. Dabei behauptet der Auto-
didakt, er habe keine Ahnung von Noten: Mit über 30 Jahren Erfahrung als Musiker komponiert er heute noch alles nach Gehör.
xl012_X_Abspann 17.06.2009 18:42 Uhr Seite 91
Abspann | Statistik cınearte XL 012
92
Filme und Fernsehserien, in denen Adolf Hitler in Haupt- oder Nebenrollen verkörpert wird 253
Filme und Fernsehserien, in denen Jesus Christus in Haupt- oder Nebenrollen verkörpert wird 278
Filme und Fernsehserien, in denen Santa Claus (auch bekannt als der Weihnachtsmann) in
Haupt- oder Nebenrollen verkörpert wird 725
Verhältnis der Auftritte von Jesus zu denen des Weihnachtsmanns 1:2,6
Platz, auf dem Disneys Hannah Montana mit ihrem Kinodebüt in den US-Charts einstieg 1
Wochen, die der Film diese Position hielt 1
Wochen, nach denen Hannah Montana auf Platz 10 stand 4
Filme unter den 15 kommerziell erfolgreichsten Filmen aller Zeiten, die kein Teil einer Reihe sind 1
Male, die das Wort »fuck« in Martin Scorseses Good Fellas gesprochen wird 296
Durchschnittliche Verwendung pro Minute 2
Male, die der Schauspieler Christian Bale in seiner fast vierminütigen Beschimpfung des
DoP Shane Hurlbut am Set von Terminator: Die Erlösung das Wort »fuck« verwendet 38
Durchschnittliche Verwendung pro Minute 10
Zahl der Lebewesen, die in Tobe Hoopers Kettensägenmassaker Blutgericht in Texas aus
dem Jahr 1974 getötet werden 5
Dauer des Originalfilms in Minuten 83
Ungefähre Minuten, um die die bis heute indizierte deutsche Version, gekürzt worden war 10
Alter, ab dem eine neue, um insgesamt 15 Minuten gekürzte Fassung heute in Deutschland
freigegeben ist, in Jahren 16
Mindestzahl der Lebewesen, die im Animationsfilm Shrek aus dem Jahr 2000 getötet werden 68
Alterbegrenzung der FSK für Shrek in Jahren 0
[1-3 | 9 | 14 | 18] Internet Movie Database [5-7] Movie Maze [8] Boxoffice Mojo [11] Youtube [13 | 17] DVD-Forum [15-16] Schnittberichte
Die Welt in Zahlen
xl012_X_Abspann 17.06.2009 18:42 Uhr Seite 92
cınearte XL 012 Abspann | Lexikon
93
Das gab’s früher nicht. Vor 50 Jahren war das Kino noch eine Sache für Erwachsene. Höhepunkt
eines Wochenendes, der Gesprächsstoff für die übrige Zeit gab: Große Romanzen, wilde Abenteuer –
aber eben nichts für Kinder. Von Zeichentrickfilmen zur Unterhaltung und dem einen oder anderen pä-
dagogischen Stück mal abgesehen – die Teufelskerle etwa, wo Spencer Tracy als tapferer Pfarrer Vaterer-
satz für eine Bande renitenter Halbwüchsiger ist. Oder der Hitlerjunge Quex, mit dem die Nazis um die
gleiche Zeit dem Nachwuchs die Welt auf ihre Weise erklärten. Mit dem Leben ganz normaler Jugend-
licher hatte beides nichts zu tun. Und das Rollenmodell war immer ein Erwachsener.
Dann kam lange Zeit erst mal gar nichts. Bis in den USA James Dean als Rebel Without a Cause er-
schien, und in der Bundesrepublik Horst Buchholz als Halbstarker. Mitten im Wirtschaftswunder stell-
ten zwei jugendliche Helden unbequeme Fragen. Die Antworten waren noch die alten, die Erwachsenen
behielten das letzte Wort, und James Dean fuhr sich zu Tode, Horst Buchholz endete in der Astro-Show.
Aber es war etwas in Bewegung gekommen. Mit dem Rock’n’Roll strebten auch die jungen Musiker auf
die Leinwand und scherten sich wenig um Regeln – wie die Beatles in ihrem Dokuspiel A Hard Days
Night. Die alten Autoritäten machte kurz darauf ein rothaariges Mädchen vollends unmöglich: Pippi
Langstrumpf begründete Skandinaviens Vorsprung auf dem Gebiet des Kinder- und Jugendfilms.
Es dauerte aber noch ein paar Jahre, bis die Teenager richtig als Zielgrupe entdeckt wurden. Genau
genommen hatten sie sich selber entdeckt: George Lucas, damals 29 Jahre alt, erzählte in seinem zwei-
ten Langfilm American Graffity in einer Nacht vom Ende der High-School-Zeit, Freundschaften, Erstem
Mal und den Träumen und Ängsten einer ungewissen Zukunft. Selbstfindung zwischen Drama und Ko-
mödie. Erstmals war die Jugend sich selbst ein Vorbild.
Und war als zahlungskräftige Kundschaft entdeckt. American Graffity gab die Themen vor. Doch die
Pubertät hat es in sich, wie jeder weiß, der schon mal da war. Weshalb die Teenie-Komödie auch leicht
abrutscht und die Selbstfindung an der Grenze des Geschmacks verläuft. Wenn American Pie etwa haar-
genau dieselben Fragen angeht wie American Graffity, unterscheidet sich das doch stark vom Vorbild.
Aber es geht auch anders. Lukas Moodyssons Raus aus Åmål etwa zur Homosexualität, Jason Reit-
mans Juno über eine Teenager-Schwangerschaft oder Benjamin Quabeck Nichts bereuen zur Frage, wie
das alles nun eigentlich weitergehen soll. Die Antworten finden die jungen Helden letztlich selbst. Und
zeigen, trotz angedrohter großer Dramen: Eigentlich ist doch alles ganz normal… Jan Fedesz
JJugendfilm
xl012_X_Abspann 17.06.2009 18:42 Uhr Seite 93
Die bewegten Bilder werden immer kompakter.
Inzwischen hat der ganze Lawrence von Arabien
schon in einem Mobiltelefon Platz und kann sich
noch Dr. Schiwago zum Filmegucken einladen.
Das war mal ganz anders gedacht. Vor mehr als ei-
nem halben Jahrhundert sollten die Bilder mög-
lichst immer größer werden – ein Versuch gegen
das aufkommende Fernsehen zu bestehen. Das
konnte zwar nur schwarzweiß, in einem bullau-
genartigen Fenster, und das Programm war auch
nicht so besonders. Aber es wurde nun mal als die
Technik der Zukunft angepriesen, und wer hip
sein wollte, guckte in die Röhre.
Dabei waren die Filmingenieure doch viel krea-
tiver. Unter was für schillernden Namen sie sich
immer neue Wege zur gleichen Idee ausdachten,
war schon allein die Kinokarte wert: »Wondera-
ma«, »Panoramico«, »Vista Vision«… da kann das
Imax-Kino einpacken. Selbst der Ostblock machte
mit im Wettstreit der Systeme. »Sovscope« zeigte
die ganze Weite blühender Ähren und glücklicher
Kolchosen im Abendrot.
Die Berlinale hat dem kurzen Wunder, das bis
heute noch seine begeisterten Anhänger hat (Tom
Tykwer etwa hat sich als einer zu erkennen gege-
ben), in diesem Jahr eine Retrospektive gewidmet.
Und siehe da: Licht und klar strahlten die Bilder
von der Leinwand – feineres Korn, mehr Schärfe,
vollere Farben. So ungefähr stellen sich Fernseh-
ingenieure in Werbebroschüren wohl HD vor.
Schlau machen kann man sich aber auch nach-
her, im Buch zur Retrospektive. Das versammelt
nach einem einführenden Aufsatz zum Thema alle
»sogennannten echten Breitfilme«, nach Verfah-
ren sortiert und nennt nicht nur die Regisseure,
sondern auch die Bildermacher, vulgo Kameraleu-
te (dies nur als anerkennende Anmerkung, weil es
leider immer noch nicht selbstverständlich ist).
Die 21 Filme der Retrospektive werden ausführ-
licher vorgestellt, und obendrein gibt’s ein Glos-
sar, das all die Fachbegriffe zum Thema erklärt.
Damit man endlich weiß, was »Fox Grandeur« ist.
Das alles in zwei Sprachen auf 166 Seiten mit vie-
len Bildern von vor und hinter der Kamera.
Einen dicken Wermutstropfen gibt’s deshalb
leider auch: Das Buch soll halt nur der Katalog zur
Retrospektive sein. Was bedeutet: kein feineres
Korn, keine volle Farben, sondern Lawrence von
Arabien nur im Standardformat in Schwarzweiß.
Fast so wie auf dem Handy. Carlo Vivari
Die volle Breite
Deutsche Kinemathek (Hg.): 70 mm – Bigger than Life | Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2008 | ISBN
978-3-86505-190-5 | 22,90 Euro
Abspann | Buch cınearte XL 012
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xl012_X_Abspann 17.06.2009 18:42 Uhr Seite 94
cınearte XL 012 Abspann | Musik
95
Es wird viel getanzt in Caroline Links Drama Im
Winter ein Jahr, die Bewegung verspricht Aus-
bruch aus dem emotionalen Stillstand einer Fami-
lie, eingefroren in Trauer nach dem Tod des Soh-
nes. Dieser dreht sich selbst am Anfang noch
quicklebendig im Schnee, die Kopfhörer über den
Ohren, wobei die Musik, die der Zuschauer hört,
von Niki Reiser stammt: minimalistische, inein-
andergeschichtete Motive, gespielt von Klavier
und Gitarre. So lakonisch und lauernd, daß man
meint, Reiser hätte für einen Western komponiert
– im Stil von Ennio Morricone, bei dem der heute
51jährige Schweizer Filmkomponist vor langer
Zeit tatsächlich mal einen einwöchigen Workshop
absolviert hatte.
Reiser spielt hier das Lied vom Tod und der
Trauerarbeit, ohne in pathostrunkene Melodien
zu verfallen. In diesem Jahr ausgezeichnet mit
dem »Deutschen Filmpreis«, übt sich sein Score,
die vierte Zusammenarbeit mit Caroline Link, in
Zurückhaltung. So, wie die Familie sich nur lang-
sam, mit Hilfe eines Malers, aus der Erstarrung be-
freit, so tastet sich Reisers Score in motivischen
Kreisbewegungen voran. Gitarren-Arpeggien er-
zeugen eine innere Spannung, die sich in keiner
Melodie entlädt.
Im Film drückt Tochter Lilli tanzend ihre Trauer
und Wut zu Peter Gabriels »Signal to Noise« aus.
Das episch stampfende Orchesterstück gab auch
der zentralen Kampfszene in Scorseses Gangs of
New York Drive; auf dem Soundtrack zu Im Winter
ein Jahr fehlt es. Stattdessen bringt der »Tango für
Max« Abwechslung, von Reiser à la Gotan Project
komponiert und mit belebender Wirkung: Wenn
Geige und Akkordeon mit elektronischen Beats
unterlegt werden, fährt selbst Josef Bierbichler (im
Film) der Tango in die Beine.
Zum versöhnlichen Finale von Im Winter ein
Jahr fällt erneut der Schnee – Sängerin Alev Lenz
summt und haucht Reisers introspektiver Musik
warme Gefühle ein. Auf der Score-Veröffentli-
chung wurden die zwei Tracks mit ihr an den An-
fang gestellt, was dramaturgisch eher unglücklich
ist, wartet man doch beim weiteren Hören verge-
blich auf ein Wiederauftauchen ihrer Stimme.
Stattdessen hört die CD mit einer Reprise eines
energetischen Gitarrenthemas auf, mit dem Reiser
Lillis letztlich scheiternde Affäre mit einem Künst-
ler unterlegt.
So steht, im Gegensatz zum Film, am Anfang
der CD die sanfte Erlösung. Die Krise kommt da-
nach. Michael Stadler
Tango zur Erlösung
Niki Reiser: Im Winter ein Jahr | Königskinder Schallplatten | ASIN B001JCZYN6
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Abspann | Musik cınearte XL 012
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Batman und der britische Fernsehmoderator
David Frost mögen auf den ersten Blick wenig ge-
mein haben. Und doch, musikalisch läßt sich
leicht eine Brücke schlagen, zumindest entsteht
dieser Eindruck, wenn man Hans Zimmers Musik
für Ron Howards Frost/Nixon mit seinen, zusam-
men mit James Newton Howard komponierten
Scores für die letzten beiden Batman-Filme ver-
gleicht. Resultat: verdächtig ähnlich. Cello und tie-
fe Streicher puschen im Ostinato die Helden vor-
an, der Rhythmus ist schnell wie der Puls eines
Sprinters, und da ergibt sich schon eine Verbin-
dung: jene Entschlossenheit, die Batman und
Frost auch brauchen, um sich im Duell mit ihren
irre smarten Kontrahenten zu beweisen.
Nixon ist ein Joker ohne Grinsen, dafür mit
Schweiß auf der Oberlippe. Um ihm nach Water-
gate ein Schuldgeständnis vor der Fernseh-Nation
abzuringen, müssen Frost und seine Helfer alles in
die Waagschale werfen, was sie an journalisti-
schen Kniffen drauf haben; das Vergnügen, das in
der Recherche, im riskanten Spiel liegt, kann man
den verspielten, gar beschwingten Tracks »Beverly
Hilton« und »Insanely Risky« ablauschen. Das ste-
te Ticken der Percussion läßt dabei keinen Zweifel:
Der Countdown zum Bekenntnis läuft.
Bis dahin gönnt die Musik kaum Atempausen,
»Frost Despondent« ist ein atmosphärisch dichter
Moment der Melancholie, Synthie-Geigen dürfen
im Track »Cambodia« schluchzen – im Film be-
kommt Nixon Dokumaterial vom Kambodscha-
Krieg gezeigt. Der Ex-Präsident soll berührt wer-
den.
Und gibt am Ende nach: Das schnelle Klavier-
Motiv von »The Final Interview« wird in »Nixon
Defeated« zur elegischen Untermalung einer
Niederlage ausgebremst. In der finalen Suite »First
Ideas« mischt Zimmer kalte Klang-Teppiche mit
Score-Motiven – es handelt sich dabei wohl tat-
sächlich um die Resultate erster Gedankengänge,
vor den im Film verwendeten Kompositionen. Da
hat einer wieder bei sich geklaut – und war doch
inspiriert. Kurioserweise funktioniert nämlich der
dunkle Zimmer-Sound im Politdrama besser als
bei Batman: Beim Dunklen Ritter zeichnet die
Musik eine Bewegung nach, die man sowieso
schon sieht. Bei Frost/Nixon dynamisiert sie eine
Geschichte, die sich in Gesprächen, im Stehen, auf
zwei Stühlen abspielt.
Die Action findet in den Köpfen statt. Zimmer
macht das Ticken der Hirnzahnräder hörbar.
Michael Stadler
Score reloaded
Hans Zimmer: Frost/Nixon | Colosseum | ASIN B001LHMVD0
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[5]
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cınearte XL 012 Abspann | Tip 5
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Eigentlich ist Leben ganz einfach. Fünf talentierte Nichtsnutze, die zeigen, wie erträglich die
Leichtigkeit des Seins doch ist.
Auch ein Sheriff braucht mal Hilfe [USA 1968] Weit im wilden Westen ist noch alles
möglich. Doch James Garner sucht bereits nach unbegrenzteren Möglichkeiten, die er
noch weiter westlich in Australien vermutet. Nur um die Reisekasse aufzubessern, ver-
längert er seinen Zwischenstop und übernimmt den Job des Sheriffs im Goldgräber-
städtchen Calendar. Wodurch er sich mit der örtlichen Verbrecherfamilie anlegt. Wel-
che allerdings an seinen unkonventionellen Methoden, für Recht und Ordnung zu
sorgen, alsbald verzweifelt. Die Tochter des Bürgermeisters erobert er nebenbei auch.
Diva [Frankreich 1981] Zwei Stunden dauert Jean-Jacques Beineix’ Kult-Debüt um eine
geklaute Kassette, die in der Tasche eines Postboten landet. Der hat seinerseits ein Kon-
zert illegal mitgeschnitten und erlebt nun, wie gefährlich der Verstoß gegen das Urhe-
berrecht sein kann. Fast zwei Stunden lang sitzt derweil Richard Bohringer scheinbar
teilnahmslos im Hintergrund herum und puzzlet. Als er endlich fertig ist, zeigen die
abertausend Teile nichts weiter als eine winzige Möwe vor einer riesigen Welle. Und der
Künstler erhebt sich und löst alle Probleme mit zwei trägen Handgriffen.
An deiner Schulter [USA, Großbritannien, Deutschland 2005] Dieser Titel steht garan-
tiert nicht zum letzten Mal hier. Demnächst werden wir uns fünf Filme mit Kevin Cost-
ner als Ex-Baseball-Spieler vornehmen. In Mike Binders Familiendrama verbringt er
also seine reichliche Freizeit als Radiomoderator, signiert Basebälle oder gießt sich ei-
nen hinter die Binde. Letzteres am liebsten und lieber noch mit der Nachbarin, um die
es in diesem Film eigentlich geht und deren Lebenskrise (der Mann ist ihr abhanden
gekommen, und die vier Töchter postpubertieren heftig) der Sportler nebenbei auflöst.
Stirb langsam [USA 1988] Zugegeben – nicht ganz der Lebensentwurf, den wir uns so
vorstellen, aber wie Bruce Willis barfuß und unbewaffnet ein Hochhaus zertrümmert
und mit dem Böse-Buben-Club abräumt, hat schon was. Erst recht, weil er das ganz
und gar nicht freiwillig tut. Denn eigentlich ist er nur auf die Weihnachtsfeier gekom-
men, um seine Eheprobleme zu lösen. Also stapft er blutend über Glasscherben und
jammert mehr als einmal, daß er ganz woanders sein will. Nicht sehr männlich. Aber
ungeheuer cool.
Im Zeichen der Jungfrau [USA 1988] Noch so ein Titel, der demnächst wieder auf-
taucht, wenn wir die fünf besten Serienmörderfilme empfehlen – zwischen Schweigen
der Lämmer und Sieben. Dabei nehmen Kevin Kline als Hippie-Profiler und Alan Rick-
man als sein abgedrehter Malerfreund und Computerexperte das Genre nicht zu ernst,
sondern spielen mit allen Stereotypen bis zur verblüffenden Auflösung. Zudem liefert
uns John Patrick Shanley einen der coolsten Aufreißsprüche, die sich ein Drehbuchau-
tor je erträumt hat. Auch wenn der in der Wirklichkeit nur selten funktioniert.
Genial daneben
xl012_X_Abspann 17.06.2009 18:42 Uhr Seite 97
Abspann | Rätselraten cınearte XL 012
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LebensweisheitenWeniger ins Kino gehen und lieber ein gutes Buch lesen? Die Weisheiten des Lebens lauern
mitunter da, wo man sie am wenigsten vermutet.
Unser Held hat sich nicht darum gerissen, daß die Massen ihm hinterherlaufen und von ihm Erleuch-
tung fordern. Darum fordert er sie auf, selber zu denken und ruft ihnen zu:
IIhhrr sseeiidd aallllee IInnddiivviidduueeeenn!!
Worauf die Menge antwortet:
WWiirr ssiinndd aallllee IInnddiivviidduueeeenn!!
Nur einer erwidert:
IIcchh nniicchhtt..
Wir wollen wissen: Aus welchem Meisterwerk der Kinematografie stammt dieses Zitat? Wenn Sie die Ant-
wort wissen, schreiben Sie sie bitte auf eine hübsche Postkarte und senden Sie das Ganze an:
cinearte – Peter Hartig, Friedrichstraße 15, 96047 Bamberg.
Unter allen richtigen Einsendungen verlosen wir gemeinsam mit der
Süddeutschen Zeitung 15 Mal je eine DVD aus der Reihe »Screwball
Comedy – Hollywoods schönste Beziehungskomödien«.
Einsendeschluß ist der 20. September. Der Rechtsweg ist ausgeschlos-
sen (das müssen wir schreiben).
Wonach wir voriges Mal gefragt hatten? Im Sumpf des Verbrechens. Fot
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xl012_X_Abspann 17.06.2009 18:42 Uhr Seite 98
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xl013_O_Titel 20.09.2009 1:34 Uhr Seite 3
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