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Aufsätze 66 – jahrgang 8 – ausgabe 2 - 2012 »Dem Ungesagten zuhören« Giorgio Agambens Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Eine kritische Reflexion Alina Bothe Freie Universität Berlin, Osteuropa-Institut E-Mail: [email protected] Abstract This article discusses Giorgio Agambens Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone from a historians perspective. The origin of this article lies in different irritations while reading Agambens inspiring discussion of testimonies from Shoah survivors. These irritations are mostly based in Agamben’s methods as well as his understanding of Shoah history. Nevertheless, this article does not aim to discard Agambens work, but tries to discuss certain methods and premises positively challenging and developing the arguments. Schlüsselwörter Agamben, Auschwitz, Zeugnis, Shoah, Jüdischer Widerstand bothe.indd 66 1/4/13 1:58 AM

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Aufsätze

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»Dem Ungesagten zuhören«Giorgio Agambens Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Eine kritische Reflexion

Alina Bothe

Freie Universität Berlin, Osteuropa-InstitutE-Mail: [email protected]

AbstractThis article discusses Giorgio Agambens Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone from a historians perspective. The origin of this article lies in different irritations while reading Agambens inspiring discussion of testimonies from Shoah survivors. These irritations are mostly based in Agamben’s methods as well as his understanding of Shoah history. Nevertheless, this article does not aim to discard Agambens work, but tries to discuss certain methods and premises positively challenging and developing the arguments.

SchlüsselwörterAgamben, Auschwitz, Zeugnis, Shoah, Jüdischer Widerstand

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Giorgio Agamben hat 1998 unter dem Titel Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone, in der deutschen Übersetzung Was von Auschwitz bleibt. Das Ar-chiv und der Zeuge (2003), höchst komplexe und kontroverse Thesen zur Philoso-phie, Geschichte und Theorie der Shoah veröffentlicht. In dem schmalen Band von knapp einhundertfünfzig Seiten sind Reflexionen über diverse Fragestellungen zu finden: Auf der einen Seite versucht das Buch Leitlinien einer terra ethica post Auschwitz zu vermessen, auf der anderen Seite reflektiert das Werk grundlegende Einsichten in die Geschichte der Shoah und ihre Erinnerung. Dabei geht Agam-ben jedoch nicht von Fragestellungen der Erinnerungstheorie oder Überlegungen zum Trauma der Shoah aus, sondern verwendet einen dezidiert diskurstheore-tischen und biopolitischen Ansatz, der ihm zum einen ermöglicht, bestimmte innovative Gedanken zur Geschichte und Theorie der Shoah zu formulieren, ihn zum anderen aber zu Thesen bringt, die kritisch zu hinterfragen sind. Der theo-retische Ansatz des Autors schlägt sich auch in seiner Methodik nieder. Agamben äußert sich zu geschichtswissenschaftlichen Themen und Fragestellungen unter Einbezug geschichtswissenschaftlicher Quellen, ohne jedoch auf die Methodik der Disziplin zurück zu greifen. Insbesondere nutzt er das Repertoire der Quellenkri-tik und hierbei vor allem die Kontextualisierung von Quellen nicht. Aufgebaut ist das Buch nach einer kurzen, aber sehr prägnanten Einleitung als fortlaufender »Kommentar[...] zum Zeugnis« (Agamben 2003, 8). Agamben bezieht verschiede-ne Zeugnisse Überlebender ein, in der Hauptsache allerdings kommentiert er das Zeugnis Primo Levis, mit welchem er über den Verlag Einaudi persönlich bekannt war. Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass die einzelnen Kapitel des Werkes oftmals recht unverbunden wirken. Sie sind jedoch durch den Anspruch, sich an den Kern dessen, was Auschwitz als Synonym der Shoah bedeutet, anzunähern, verbunden.

Die Homo Sacer Bände, deren dritter Band Was von Auschwitz bleibt. Das Ar-chiv und der Zeuge ist, beinhalten Giorgio Agambens in der Fluchtlinie Michel Foucaults stehende Überlegungen zu Macht und Herrschaft in Zeiten der Biopo-litik. Die weiteren bisher erschienenen Bände Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben und Ausnahmezustand wurden 2002 und 2004 in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Insbesondere seine Thesen zum Lager als Nomos der Moderne und zum Ausnahmezustand, die irritierende Kontinuitätsli-nien zwischen den Lagern des Nationalsozialismus und Guantanamo ziehen, sind

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erheblich kontrovers diskutiert worden. Der dritte Band steht hingegen thema-tisch etwas außerhalb der restlichen Reihe und vielleicht deswegen wiederum in ihrem Zentrum. Zentral ist für die gesamte Trilogie der Homo Sacer als Gegen-subjekt des Souveräns. Der Homo Sacer war im altrömischen Recht eine vogel-freie Person, die getötet, nicht aber geopfert werden durfte und sich damit in der Hierarchie der Rechtspersonen auf der untersten Stufe befand. Dieses Bild über-trägt Agamben im dritten Band auf den Muselmann, den lebenden Toten der na-tionalsozialistischen Vernichtungslager. Muselmänner waren im Lagerjargon von Auschwitz die Häftlinge, deren Lebenswillen gebrochen war. In anderen Lagern waren andere Ausdrücke üblich, die Figuration des Muselmannes gab es in allen Lagern.

Zwei zentrale Fragestellungen lassen sich in Was von Auschwitz bleibt ausma-chen. Erstens: Wie kann die Shoah menschlich begriffen werden und wo liegen die Grenzen des Begreifens? Diese Frage ist von der Idee geleitet, dass »Auschwitz nicht für immer unverstehbar bleibt« (Agamben 2003, 7). Zweitens: Welche ethi-schen und politischen Implikationen hat die Shoah und wie ist es um ihre Aktua-lität, im Sinne ihrer Bedeutung in der Gegenwart, bestellt. Die zweite Fragestel-lung führt Agamben dann zu Überlegungen zur bereits genannten terra ethica post Auschwitz (Agamben 2003, 9), die aus seiner Sicht eine terra incognita ist, deren Vermessung noch aussteht.

Ausgangspunkt des nachfolgenden Beitrags sind Irritationen, die sich bei der Lek-türe von Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge ergeben haben. Diese Irritationen liegen zum einen in der Methodik Agambens begründet und zum anderem in dem, was er als Geschichte der Shoah begreift, sprich der Konzep-tion oder Meta-Narration der Shoah. Der vorliegende Beitrag hat daher nicht zum Ziel, sich den ethischen Überlegungen zu widmen, sondern Agambens Konzeption oder Meta-Narration der Shoah und damit die Grundlage seiner ethisch-philoso-phischen Überlegungen aus geschichtswissenschaftlicher Sicht kritisch zu reflek-tieren. Hierbei werden Irritationen formuliert, die aufgrund bestimmter kontex-tualisierender Auslassungen und historischer Darstellungen (Re-Präsentationen) ebenso wie aus der Übernahme der Sprache eines Überlebenden entstehen. Die Intention des Textes ist es hierbei nicht, die Überlegungen Agambens grundsätz-lich zu verwerfen, jedoch bestimmte Methoden und Prämissen Agambens in Fra-

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ge zu stellen und konstruktiv zu diskutieren. Dabei ist selbstverständlich stets zu berücksichtigen, dass Agambens Ansatz kein geschichtswissenschaftlicher ist und seine ethisch-philosophischen Überlegungen gewisser Zuspitzungen und Verall-gemeinerungen bedürfen. Nichtsdestotrotz erscheint es hilfreich die Grundlagen, auf denen diese Überlegungen fußen, nachzuvollziehen, um seine gerade auch in der Historiographie der Shoah relevanten Schlussfolgerungen mit geschichtswis-senschaftlicher Methodik einzuordnen und zu kontextualisieren. Dennoch ist zu betonen, dass es sich um differente disziplinäre Positionen und Perspektivierun-gen handelt.

Zum Werk Der Zeuge und der Muselmann

Bevor nachfolgend verschiedene Kritikpunkte an Agambens Argumentation aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive formuliert werden, soll zuvor kurz zu-sammenfassend auf einige für diesen Beitrag relevante Aspekte des diskutierten Werks eingegangen werden. Nach einem prägnanten Vorwort ist das Buch in die vier Kapitel 1. Der Zeuge, 2. Der »Muselmann«. 3. Die Scham oder Über das Sub-jekt und 4. Das Archiv und das Zeugnis unterteilt. Die Überschriftentitel liefern dabei die zentralen Stichworte in Agambens Reflexion. Das Vorwort führt mehrere zentrale Aspekte ein: Erstens Agambens Überlegungen zur Aporie von Auschwitz, zweitens seine Überlegungen zu einer neuen Ethica more Auschwitz demonstrata, einer Ethik wie sie sich in und durch Auschwitz erwiesen hat, drittens Aspekte sei-ner Konzeption der Geschichte der Shoah und viertens Grau als Symbol einer neu-en Ethik. Bereits im Vorwort entwickelt Agamben seine Überlegungen zur Aporie von Auschwitz, die nachfolgend etwas ausführlicher hergeleitet und kontextuali-siert werden sollen, da sie zu den zentralen Thesen des Werkes gehören.

Die Aporie von Auschwitz ist das philosophisch-ethische Problem einer (Nicht-)Verstehbarkeit der Shoah. Primo Levi hat mit dem Satz »Hier ist kein Warum«1

festgehalten, was an der Shoah nicht zu verstehen ist. Geoffrey Hartman hat dies »the one question that haunts us« genannt, auf die Hannah Arendt mit der These von der Banalität des Bösen eine am Ende unbefriedigende Antwort gegeben hat.

1 Diese prägnante Formulierung ist die Wiedergabe einer Antwort eines SS-Mannes, den Levi kurz nach seiner Ankunft in Auschwitz nach dem Sinn einer Bestimmung fragte. »›Warum?‹ frage ich in meinem beschränkten Deutsch. ›Hier ist kein Warum‹, gibt er mir zur Antwort und treibt mich mit einem Stoß zurück.« (Levi 2007: 31).

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Die Unmöglichkeit der Beantwortung dieser Frage nach dem Warum hat Agam-ben als die Aporie von Auschwitz bezeichnet. Die Aporie von Auschwitz ist, kurz formuliert, die Unmöglichkeit des Verstehens. Agamben schreibt zunächst von einer »Wirklichkeit, die notwendig ihre faktischen Elemente übersteigt« (Agam-ben 2003, 8), also der Unfähigkeit des menschlichen Begreifens (Agamben 2003, 7) dessen, was in den Vernichtungslagern geschah. Ihm geht es um »die Nicht-Koinzidenz von Fakten und Wahrheit, von Konstatieren und Verstehen« (Agam-ben 2003, 8). Zentral ist für ihn an dieser Stelle das, was Primo Levi mit Hier ist kein Warum angedeutet hat: Die Absolutheit der Wahrheit der Gaskammern von Auschwitz als Synonym für alle Vernichtungslager steht nicht in Frage, und zugleich ist diese Wahrheit im Sinne eines menschlichen Begreifens nicht zu ver-stehen. Agamben selbst formuliert, was in den Vernichtungslagern geschah, sei

»das einzig Wahre und als solches Unvergeßliche; andererseits ist diese Wahrheit in genau demselben Maß unvorstellbar, d. h. nicht auf die sie kon-stituierenden Wirklichkeitselemente reduzierbar« (Agamben 2003, 8).

Hier ist kein Warum oder auch die Nicht-Koinzidenz von Fakten und Verstehen bedeutet nicht, Auschwitz als ein Mysterium in religiöser Verklärung bestehen zu lassen, sondern sich der Grenze des Vorstellbaren als einer Herausforderung einer Ethik post Auschwitz zu stellen und sie gleichzeitig als solche bestehen zu lassen, Nicht-Verstehbarkeit erstens zu akzeptieren und zweitens zu hinterfragen.

Auf eine noch zu kartografierende neue ethische Welt ist Agambens Text ausge-richtet, auf das, Was von Auschwitz bleibt. Auschwitz bzw. die Shoah sind zu-gleich Ausgangsort wie »Probe« (Agamben 2003, 9) dieser neuen terra ethica. Agamben bringt dies in die an Baruch de Spinoza angelehnte Formel einer Ethica more Auschwitz demonstrata, also einer Ethik, wie sie in Auschwitz zu erkennen gegeben worden ist. Der Bezug auf Baruch de Spinozas Ethica, ordine geometri-co demonstrata lässt sowohl eine Kontinuität zur modernen ethischen Tradition nach Spinoza wie zugleich auch den Bruch mit ihr erkennen. Denn die Ethik, wie sie in Auschwitz zu erkennen gegeben worden ist, ist eine neue Ethik, die sich an Auschwitz erweisen muss. Nur ethische Überlegungen, die in ihrer Anwendung Auschwitz standhalten, sind nach dieser These Agambens zulässig. Es ist die For-derung nach einer Ethik, die Primo Levis »Hier ist kein Warum« erträgt (Agam-

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ben 2003, 41). Einer Ethik, die der Extremfigur des Muselmannes, des lebenden Toten unter den Lagerhäftlingen, angemessen ist. »Denn keine Ethik darf sich an-maßen, einen Teil des Menschlichen auszuschließen, so unangenehm und schwer es auch sein mag, ihn anzuschauen« (Agamben 2003, 55).

Im ersten Kapitel Der Zeuge leitet Agamben den Begriff des Zeugen aus dem Wort superstes ab. Der superstes sei derjenige, »der etwas erlebt hat, der ein Ereignis bis zuletzt durchgemacht und deswegen Zeugnis davon ablegen kann« (Agamben 2003, 14). Hier folgt Agamben der disziplinären Diskussion der shoah studies in der Begrifflichkeit. Der Zeuge ist nach klassischem Sprachverständnis derjenige, der (unbeteiligt) etwas beobachtet hat und anschließend davon berichtet. In Be-zug auf die Zeugnisse der Shoah ist der Zeuge zugleich Überlebender. Nicht jeder Überlebende hingegen ist Zeuge bzw. wird zum Zeugen, dies setzt voraus, dass der Überlebende über seine Erinnerung spricht oder schreibt, Zeugnis ablegt.

»Zeugnis ablegen bedeutet, die eigene Person für die Wahrheit der Geschich-te einzusetzen und das eigene Wort zum Bezugspunkt einer umstrittenen oder unbekannten Realität zu bestimmen, die man selbst erfahren oder beob-achtet hat« (Baer 2000, 7).

Mit dem Begriff des superstes geht Agamben auf die Gewalt der Erinnerung, das Trauma des Erinnerns ein, ohne es als solches zu benennen. »Der Überlebende, der superstes, ist zur Erinnerung berufen, er ist gezwungen zu erinnern« (Agam-ben 2003, 23).

Im ersten Kapitel werden neben dem Begriff des superstes weitere Begriffe erst-malig verwendet. Diese entstammen oftmals juristischen Kategorien und sind zu-gleich Primo Levis Werk entlehnt. Die Begriffe Opfer und Henker, Verantwortung und Schuld prägen Agambens Argumentation maßgeblich. Ein weiterer Begriff, der als nicht juristische Kategorie auffällt und wiederum Levis Werk entlehnt ist, ist die Grauzone, »in der die Opfer Henker und die Henker Opfer« (Agamben 2003, 15) seien. Die Grauzone sei ein von Levi entdecktes »neues ethisches Ele-ment« (Agamben 2003, 18),

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»die Zone, durch die sich die ›lange Verbindungskette zwischen Opfern und Henkern‹ zieht; wo der Unterdrückte zum Unterdrücker wird und der Hen-ker seinerseits als Opfer erscheint. Eine graue, unaufhörliche Alchemie, in der Gut und Böse und mit ihnen sämtliche Metalle der überkommenen Ethik ihren Schmelzpunkt erreichen« (Agamben 2003, 18).

Seine Überlegungen zur Grauzone konkretisiert Agamben unter Anderem ge-genüber dem Sonderkommando. Als Sonderkommando bezeichnete die SS in Auschwitz diejenigen Häftlinge, die in den Gaskammern und Krematorien arbei-ten mussten. Wegen ihrer erzwungenen Rolle während der Vernichtung existiert bis heute ein negatives Bild der Sonderkommando-Häftlinge (Friedler, Siebert, Kilian 2005, 7). In Zeugen aus der Todeszone. Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz argumentieren Eric Fiedler, Barbara Siebert und Andreas Kilian aller-dings, dass dieses negative Bild »weit von der Wahrheit entfernt sei« (Friedler, Siebert, Kilian 2005, 8). Die Mitglieder des Sonderkommandos waren in einer Welt der »choiceless choices« (Langer 1995, 46) gefangen.

»Die Häftlinge des Sonderkommandos waren selbst hilflose Opfer, die von der SS zur grauenhaftesten Tätigkeit verdammt wurden, die es in Auschwitz gab: Als Arbeitssklaven mussten sie mit ihrer Körperkraft dazu beitragen, dass in den Vernichtungsanlagen der Massenmord an Männern, Frauen und Kindern effektiv und rationell ablief. Die SS mordete, doch alle Arbeiten, die mit der vollständigen Beseitigung der Leichen verbunden waren, mussten die Häftlinge des Sonderkommandos ausführen« (Friedler, Siebert, Kilian 2005, 8).

Das Sonderkommando ist in Was von Auschwitz bleibt die Extremfigur der so genannten Grauzone (Agamben 2003, 22).

Nachdem Agamben den Begriff des Zeugen eingeführt hat, argumentiert er, dass der Bericht des Zeugen schlussendlich eine Lücke, das Fehlen eines anderen Be-richts bezeugt, denn es ist der Bericht des Überlebenden. Das Auffällige an Agam-bens Argumentation ist dabei, dass seines Erachtens nicht das Zeugnis der in den Gaskammern Ermordeten fehlt, sondern das der Muselmänner. Jene seien als einzige wirkliche Zeugen gewesen. »Die ›wirklichen‹ Zeugen, die ›vollstän-

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digen Zeugen‹ sind für ihn diejenigen, die kein Zeugnis abgelegt haben und kein Zeugnis hätten ablegen können« (Agamben 2003, 30). Den Gedanken des wirk-lichen Zeugen bzw. vollständigen Zeugen leitet Agamben ebenso von Primo Levi ab, der damit die Muselmänner bzw. jene, die das Grauen und damit auch den Tod in Gänze erblickt haben, bezeichnete und schrieb, dass er und die anderen Überlebenden als Bevollmächtigte an ihrer statt Zeugnis ablegten. Schon davon ausgehend, dass die Zeugnisse der Untergegangenen, der Ermordeten über ihren Tod fehlen, gibt Agamben zwei weitere Fragen zu bedenken, die an die Schwelle zwischen Mensch und Nicht-Mensch, zwischen Subjekt und Nicht-Subjekt führen: »Was heißt es, Subjekt einer Entsubjektivierung2 zu sein? Wie kann ein Subjekt von seinem eigenen Untergang Rechenschaft ablegen« (Agamben 2003, 123). Es ist nur dann möglich, so gibt er als Antwort, wenn der Nicht-Mensch in Erweite-rung des Menschen Mensch wird (Agamben 2003, 117). Das Nicht-Subjekt ist der Muselmann. Agamben beschreibt den Muselmann als »ein undefiniertes Wesen […], die vollkommene Chiffre des Lagers, des Nicht-Ortes« (Agamben 2003, 41), »er markiert die Schwelle zwischen dem Menschen und dem Nicht-Menschen« (Agamben 2003, 47), an ihm brechen sich herkömmliche ethische Konzepte wie Würde, denn er »ist der Wächter an der Schwelle einer Ethik, einer Lebensform, die dort beginnt, wo die Würde endet« (Agamben 2003, 60).

Der Zeuge, der für den Muselmann als dessen Bevollmächtigter das Zeugnis über dessen Unfähigkeit zu sprechen ablegt, und der Muselmann sind »geschieden und trotzdem untrennbar« (Agamben 2003, 118). Zwischen Differenz und Immanenz liegt die Relation des Zeugen und des Muselmannes.

»Weil es Zeugnis nur gibt, wo es eine Unmöglichkeit zu sagen gab, weil es ei-nen Zeugen nur gibt, wo eine Entsubjektivierung stattfand – deswegen ist der Muselmann tatsächlich der vollständige Zeuge, deswegen ist es nicht mög-lich, den Muselmann vom Überlebenden zu trennen« (Agamben 2003, 138).

2 Der Auschwitz-Überlebende Henry Oertelt beschreibt diesen Moment der Ent-Subjek-tivierung, als ihm in Auschwitz seine Lagernummer tätowiert wird: »You have lost your name, that is the ultimate dehumanization« (Webseite der Survivors of the Shoah Visual History Foundation, Online-Ausstellung Surviving Auschwitz. Five Personal Journeys, eigenes Transkript).

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Der Zeuge legt Zeugnis für den Muselmann ab. Es ist der Rest des Menschlichen, der Zeugnis ablegt für den Menschen über den Nicht-Menschen (Agamben 2003, 117). Das Verhältnis zwischen Muselmann und Zeuge ist bestimmend für Agam-bens Überlegungen.

Entlang der Struktur des Buches sollen nachfolgend verschiedene Irritationen, die sich aus Agambens Methodik und seiner Konzeption der Geschichte der Shoah ergeben, reflektiert werden. Es ist der Begriff Irritation gewählt worden, um den Ausgangspunkt eines Gedankenganges, eine Anregung zum Weiterdenken und Hinterfragen zu benennen.

Ausreichende Untersuchung? Der historische Forschungsstand

Bereits der erste Satz des Vorworts enthält sogleich zwei Aspekte, die der Reflexi-on bedürfen.

»Dank einer Reihe immer umfassenderer und genauerer Untersuchungen, unter denen Raul Hilbergs Buch eine besondere Stellung einnimmt, ist das Problem der historischen (materiellen, technischen, bürokratischen, juristi-schen…) Umstände der Vernichtung der Juden ausreichend geklärt« (Agam-ben 2003, 7).

Diese Irritationen behandeln zum einen die geschichtswissenschaftliche Konzep-tion der Geschichte der Shoah bei Raul Hilberg und zum zweiten das Wort »aus-reichend«.

Agamben lässt offen, auf welches Buch Hilbergs er sich bezieht. Hilberg hat vor dem Erscheinen von Was von Auschwitz bleibt drei Werke veröffentlicht. Es ist je-doch davon auszugehen, dass Agamben sich auf Hilbergs 1961 erschienenes Opus Magnum The Destruction of the European Jews bezieht. Dieses Buch war zugleich Hilbergs Dissertationsschrift. Hilberg hat später weitere Bücher publiziert, von denen zwei besonders bekannt und relevant geworden sind. Zum einen hat er 1992 mit Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933 – 1945 differente AkteurInnen der Shoah erfasst und teilweise theoretisch konzipiert. Zum anderen hat er 1994 seine Autobiographie Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holo-caust-Forschers vorgelegt und darin die Entstehungsgeschichte von The Destruc-

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tion of the European Jews reflektiert. Agamben verweist, wie eingangs zitiert, gleich zu Beginn seines Buches darauf, dass Hilbergs Werks zentral für die Hi-storiographie der Shoah sei. Dies steht sicher nicht zur Diskussion. Die einleiten-de Einschätzung Agambens weist aber vor allem darauf hin, welchem Historiker Agamben in seiner Konzeption der Geschichte der Shoah folgt. Und genau dies ist zu reflektieren, denn Raul Hilbergs Konzeption der Geschichte der Shoah ist nur eine der möglichen. The Destruction of the European Jews ist eines von mehreren Büchern, die Anfang der 1960er Jahre erschienen sind und wesentliche Beiträge zur historiographischen Erfassung der Shoah geleistet haben. Um Hilbergs Werk einzuordnen, sei beispielsweise auf die Arbeiten Leon Poliakovs und Joseph Wulfs hingewiesen, die im gleichen Zeitraum wie Hilberg forschten. Während Hilberg in den USA publizierte, forschten Poliakov in Paris und Wulf in Berlin. Beide veröf-fentlichten 1955 in deutscher und 1959 in französischer Fassung Das Dritte Reich und die Juden. Aber auch weitere, spätere wegweisende Studien zur Geschichte der Shoah, wie die Arbeiten Christopher Brownings oder auch Saul Friedländers sind zu nennen. Anders als die Schriften Poliakovs und Wulfs erreichte Hilbergs Werk schnell öffentliche Aufmerksamkeit. Hierzu trug sicher bei, dass Hannah Arendt in ihrer Einleitung zu Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Bana-lität des Bösen auf Hilbergs Buch verwies (Arendt 1999, 51).

Hilbergs Werk ist eine sehr detailgenaue Studie der Bürokratie der Vernichtung, wobei sein Fokus explizit auf den Tätern liegt.

»Lest one be misled by the word ›Jews‹ in the title, let it be pointed out that this is not a book about the Jews. […] Not much will be read here about the victims. The focus is placed on the perpetrators« (Hilberg 1961, v).

Aus diesem Grund betrachtet er die jüdischen Institutionen zur Zeit der Shoah aus deutscher Sichtweise »as tools which were used in the destruction process« (Hilberg 1961, v). Mit wenigen Ausnahmen geht Hilberg von einem Grundmuster jüdischer Passivität gegenüber den deutschen Mördern aus, eine Annahme, die Hannah Arendt im Übrigen teilte. Beide sahen nur den bewaffneten Kampf gegen die Vernichtung als Widerstand an. Arendt macht dies besonders deutlich in ihrer Schilderung des Auftritts von Zivia Lubetkin, einer der führenden AkteurInnen des Warschauer Ghettoaufstands, als Zeugin im Eichmann-Prozess. Poliakov und

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Wulf haben in ihrem Werk Das Dritte Reich und die Juden eine wesentlich gerin-gere Fokussierung auf die Perspektive der Täter als Hilberg. Bezogen auf Agam-bens Einleitungssatz, dass Raul Hilbergs Buch eine besondere Stellung einnimmt, wäre also anzumerken, dass ohne die Bedeutung von Hilbergs Arbeit auch nur im geringsten mindern zu wollen, weitere Werke bereits in den 1950er und 1960er Jahren historiographische Interpretationen der Geschichte der Shoah lieferten, die andere und ergänzende Perspektiven ermöglichten. Hilberg selbst hat die Pro-minenz seines Werkes kritisch betrachtet und dabei auf den narrativ-interpreta-torischen Charakter jeglicher und damit auch seiner eigenen historischen Darstel-lung verwiesen:

»I have had to reconstruct the process of destruction in my mind, combining the documents into paragraphs, the paragraphs into chapters, the chapters into a book. I always considered that I stood on solid ground: I had no anxie-ties about artistic failure. Now I have been told that I have indeed succeeded. And that is a cause of some worry, for we historians usurp history precisely when we are successful in our work, and that is to say that nowadays some people might read what I have written in the mistaken belief that here, on my printed pages, they will find the true ultimate Holocaust as it really hap-pened« (Hilberg 1988, 25).

Das zweite Irritationsmoment ist das Wort ausreichend im einleitenden Satz des Vorwortes. Kann es eine ausreichende Untersuchung der Umstände der Vernich-tung der Juden überhaupt geben? Wäre »ausreichend« nicht erst erreicht, wenn die Ermordung jedes und jeder Einzelnen nachvollzogen werden könnte, wenn alle Namen bekannt wären? Ausreichend könnte geradezu implizieren, dass kaum mehr Forschungsbedarf bestünde. Dass dem nicht so ist, lässt sich exemplarisch an Hilbergs Interpretation der Geschichte des jüdischen Widerstands gegen die Vernichtung aufzeigen. Anders als Wulf, der selbst dem jüdischen Widerstand in Polen angehörte, und Poliakov, der sich der Résistance zugehörig sah, hielt Hil-berg den jüdischen Widerstand nur für marginal bedeutsam. Hilbergs Position ist eine in der Forschung gängige. Andere Forschungspositionen, wie die Arno Lustigers, der sich mit Hilberg eine lange Kontroverse über den jüdischen Wider-stand lieferte, hingegen verweisen auf die Bedeutung des jüdischen Widerstands und differenzieren ihn in u.a. religiösen, kulturellen, sozialen oder bewaffneten

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Widerstand. Auch in einer möglicherweise globalen sowie in differenten natio-nalen Erinnerungskulturen wird der jüdische Widerstand ausgesprochen unter-schiedlich bewertet (Erler et al. 2003). Schon diese Diskussion um die Bedeutung des jüdischen Widerstands gegen die Shoah führt vor Augen, dass Hilberg diesen Aspekt der Geschichte nicht »ausreichend« klärt. Die fortdauernde Kontrover-se zeigt, dass die »Umstände der Vernichtung« sich noch immer in Erforschung befinden. Ein anderes Thema, das noch wesentlich stärker emotional aufgeladen diskutiert wird, ist die Bewertung der Rolle der Judenräte. Hier sei stellvertre-tend auf die teilweise gar polemische Diskussion um Chaim Rumkowski, den Älte-sten der Juden im Ghetto Łodz, verwiesen. Auch hier ist noch kein ausreichender Forschungsstand erreicht. Davon abgesehen, dass die historiographische Erfor-schung der Shoah also bei weitem nicht als abgeschlossen gelten kann, ist auch das Attribut »ausreichend« zu hinterfragen. Dennoch hat Agamben recht, wenn er schreibt, dass »ein Gesamtbild […] als gesichert gelten« (Agamben 2003, 7) kann. Das, was während der Shoah passiert ist, ist im Groben und auch in vielen Details rekonstruiert worden, dennoch besteht historiographisch noch wesentli-cher Forschungsbedarf. Nach der Feststellung, dass ein Gesamtbild als gesichert gelten kann, konstatiert Agamben, dass wenngleich die historische Erfassung aus-reichend ist, dies nicht für die ethische und politische Bedeutung (Agamben 2003, 7) der Shoah gelte. »Hier fehlt nicht allein so etwas wie der Versuch einer Gesamt-deutung« (Agamben 2003, 7). Dies ist Agambens Ansatzpunkt, der aber für Was von Auschwitz bleibt schlussendlich nicht inhaltlich prägend ist. Eine mögliche Gesamtdeutung der Shoah findet sich in seinem Buch nicht. Und auch hier ist zu fragen: Kann es eine Gesamtdeutung geben?

Schematisierung der Vernichtung

Als Schematisierung lässt sich die Herausbildung eines narrativen Musters bei einem oftmals wiederholten Vorgang oder einem häufig wiederholten Text be-greifen. Schematisierung oder Modellbildung sind alltäglich und wissenschaftlich übliche Praxen der Weltaneignung und -durchdringung. Sie sind notwendig, den-noch sollten sie reflektiert werden als das, was sie sind: Schemata. Eine weitere Ir-ritation leitet sich aus einer Schematisierung der Vernichtung ab, die Bestandteil von Agambens historischer Narration der Shoah ist und die unreflektiert bleibt.

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Bereits im Vorwort beschreibt Agamben deutlich, was seines Erachtens als Ge-schichte von Auschwitz rekonstruiert ist:

»Unter historischem Gesichtspunkt wissen wir beispielsweise bis ins kleinste Detail, wie sich in Auschwitz die letzte Phase der Vernichtung abspielte, wie die Mitglieder des ›Sonderkommandos‹ die Deportierten – ihre eigenen Ge-fährten – in die Gaskammern führten, wie sie dann die Leichen herauszogen und wuschen, die Goldzähne und Haare bargen und die Körper schließlich in die Krematoriumsöfen schoben« (Agamben 2003, 7).

Diese Rekonstruktion des Gesamtbilds von Auschwitz hat schematischen Charak-ter. Es ist ein bekanntes Schema, das folgendermaßen ergänzt werden kann:

Viehwaggons kommen nach einer mehrtägigen Fahrt an der Rampe von Auschwitz an. Diejenigen, die noch leben, werden selektiert. Mittels Daumen wird durch ei-nen SS-Mann Gaskammer oder Arbeitslager angezeigt. Die Menschen, die sofort ermordet werden sollen, werden in Richtung der Gaskammern geführt, die ihnen noch verbliebenen Wertsachen abgenommen, von den Mitgliedern des Sonder-kommandos in die Gaskammern getrieben, vergast und verbrannt. Ihre Asche fällt auf das Lager. Diejenigen, die noch nicht sofort ermordet werden, müssen sich entkleiden, werden geschoren und mit einer Häftlingsnummer tätowiert, erhal-ten Häftlingskleidung und werden anschließend einer Baracke zugewiesen Dieses Schema ist so nicht in Was von Auschwitz bleibt zu finden. Es ist nur als mögliche Ergänzung des vorherigen Bildes gedacht.

Nichts an diesem Schema ist falsch, alles daran ist grausam. Aber: Es ist ein Sche-ma, ein Modell, eine Meta-Narration. Jeder Transport nach Auschwitz, jede Mor-daktion in den Gaskammern verlief anders, war durch andere individuelle Tragö-dien gekennzeichnet, war nicht gleich diesem Schema. Indem die Geschichte von Auschwitz – und Auschwitz steht hier wiederum als Synonym für alle Vernich-tungslager – auf ein Schema oder eine Meta-Narration reduziert bzw. generalisiert wird, muss die historische Rekonstruktion in merkwürdiger Opazität respektive Undurchsichtigkeit belassen werden. Auf der anderen Seite ist es kaum möglich, die Geschichte von Auschwitz nicht zu schematisieren. Um Agambens Hinweis auf die Nicht-Vorstellbarkeit der Wahrheit von Auschwitz, deren Wirklichkeit ihre

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faktischen Elemente übersteigt, aufzunehmen, lässt sich argumentieren, dass es diese Nichtvorstellbarkeit der Wahrheit ist, die die Schematisierung notwendig macht. Dennoch: Die Reflexion dieser Schematisierung sollte gegeben sein.

Zalman Leventhal: einer der grauen Leute – oder ein Widerstands-kämpfer?

Nachfolgend wird sehr ausführlich auf ein Zitat eines Mitglieds des Sonderkom-mandos von Auschwitz eingegangen, da dieses Zitat zu Beginn des Buches eine komplexe Argumentation Agambens eröffnet, die ein Kernelement seines Werk bildet: Die Argumentation der Grauzone, die für Agambens Verständnis von Tä-tern und Opfern zentral ist. Daher erscheint es gerechtfertigt, umfänglich auf die-ses Zitat und seine Kontextualisierung respektive Nicht-Kontextualisierung einzu-gehen, zumal es auch Fragen der dem Werk zugrunde liegenden Meta-Narration der Shoah berührt. Zudem wird ausführlich auf die Herkunft des Zitats eingegan-gen, da die entsprechenden, folgend geschilderten Rechercheergebnisse weitere Fragen respektive Irritationen aufwarfen.

Zwei Fragen sind entscheidend für die nachfolgend beschriebene Irritation: Er-stens, welche Form der Kontextualisierung eines Zeugnisses und vor allem eines Zeugen ist notwendig? Und zweitens, wie verändert diese Kontextualisierung die auf einem Zeugnis basierenden Kommentare? Konkret bezieht sich diese Irritati-on auf Zalman Leventhal und sein Zeugnis, das Agamben in ungewöhnlicher und vielleicht auch unzureichender Weise kontextualisiert.

Agamben zitiert im Vorwort aus einem besonderen Dokument, dem Zeugnis von Salmen Lewental, auch Zalman Leventhal, der als Mitglied des Sonderkomman-dos von Auschwitz mehr als anderthalb Jahre unvorstellbare Zwangsarbeit an den Gaskammern und Krematorien leisten musste. Agamben schreibt zu Leventhal und dessen Zeugnis, »Salmen Lewental, ein Mitglied des Sonderkommandos von Auschwitz, der sein Zeugnis einigen Zetteln anvertraute, die beim Krematorium III vergraben waren und siebzehn Jahre nach der Befreiung des Lagers entdeckt wurden« (Agamben 2003, 7), und verweist dann noch darauf, dass dieser »in sei-nem einfachen Jiddisch« (Agamben 2003, 7) geschrieben habe.

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Weiter wird Leventhals Zeugnis nicht durch Agamben kontextualisiert. Eine wei-tergehende Kontextualisierung des Zeugnisses hätte einige der nachfolgenden An-gaben enthalten können. Zunächst den Hinweis, dass Leventhal zwei Dokumente hinterließ. Bereits im Juli 1961 wurde ein Tagebuch eines unbekannten Juden aus Łodz gefunden, welches Leventhal vermutlich in den Auskleideräumen der Gas-kammern gefunden und anschließend vergraben hatte. Diesem Text hatte er einen auf den 15. August 1944 datierten Kommentar hinzugefügt. (Friedler, Siebert, Ki-lian 2005, 162; Czech 1996, 189). 1962 wurde dann das Dokument gefunden, in dem Leventhal seine Erfahrungen im Sonderkommando von Auschwitz bezeugt.

Zalman Leventhal wurde in Ciechanów bei Warschau geboren (Langbein 1972, 222). Als Geburtsjahr wird 1918 angegeben (Cohen 1994, 527). Leventhal ist am 10. Dezember 1942 mit seiner Familie aus Tschechanov nach Birkenau deportiert worden und wurde am 10. Januar 1943 dem Sonderkommando zugewiesen. Sein Todesdatum ist unbekannt, es muss nach dem 10. Oktober 1944 liegen. Mit die-sem Tag sind seine letzten bekannten Aufzeichnungen datiert. Zentrale Quelle für diese biographischen Angaben zu Leventhal ist Ber Marks (Bernhard Mark) Scrolls of Auschwitz, die in der englischen Fassung posthum 1985 erschienen ist.

Relevant ist zudem, dass Leventhal als Mitglied des Auschwitzer Lagerwiderstands an den Vorbereitungen des Aufstands des Sonderkommandos von Auschwitz be-teiligt war. Er wird u.a. in der englischsprachigen Forschungsliteratur zu den zentralen Personen bei der Vorbereitung des Aufstandes des Sonderkommandos gerechnet (Cohen 1994). Am 7. Oktober 1944, dem Tag des Aufstands des Son-derkommandos in Auschwitz, war Leventhal allerdings nicht direkt in den Auf-stand involviert. In Menschen in Auschwitz findet sich folgende Charakterisie-rung Leventhals, die von Dov Paisikovic, der als Mitglied des Sonderkommandos Auschwitz überlebt hatte, stammt: »Er war ›tüchtig und anständig, wie man selten jemanden findet‹« (Langbein 1972, 222). Giorgio Agamben hat für sein 1998 er-schienenes Werk Was von Auschwitz bleibt auf Hermann Langbeins3 Menschen in

3 Langbein, Gerechter unter den Völkern, war ein österreichischer Kommunist, der als Mitglied der Internationalen Brigaden aus französischer Internierungshaft 1941 in die Hände der Deutschen fiel, die ihn 1942 nach Auschwitz deportierten. Langbein gehörte dem internationalen Lagerwiderstand in Auschwitz an und hat nach 1945 diverse Werke zu Auschwitz und zum KZ-System veröffentlicht. Dabei hat er explizit immer wieder auf den Widerstand innerhalb der Konzentrations- und Vernichtungslager verwiesen.

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Auschwitz aus dem Jahr 1972 zurückgegriffen. Langbein hat Leventhal in diesem Werk nicht direkt mit dem Widerstand und Aufstand des Sonderkommandos in Verbindung gebracht. Allerdings geht Langbein relativ ausführlich auf den Auf-stand am 7. Oktober 1944 ein, der, wenngleich er scheiterte, ausgesprochen be-merkenswert war.

Das nach dem 7. Oktober 1944 von Leventhal angefertigte Zeugnis selbst enthält eine ausführliche Schilderung der Vorbereitung des Aufstands des Sonderkom-mandos, nennt die Namen und biographischen Angaben zu mehreren direkt in die Aufstandsplanungen involvierten Personen, berichtet in groben Zügen den Ver-lauf des Aufstands und kritisiert scharf den allgemeinen, internationalen Lagerwi-derstand, der dem Sonderkommando nicht zur Hilfe gekommen sei.

An dieser Stelle wird kurz die Ereignisgeschichte dieses Aufstands dargelegt, da der Aufstand erstens wenig bekannt ist und zweitens das Argument bekräftigt, den Widerstand in die in Was von Auschwitz bleibt ausgeführten Überlegungen einzubeziehen. Das Krematorium III wurde beim Aufstand des Sonderkomman-dos unbrauchbar gemacht, einige SS-Männer getötet. Die SS schlug den Aufstand blutig nieder, mehr als 450 Mitglieder des Sonderkommandos wurden sofort ge-tötet. In den folgenden Tagen wurden weitere Mitglieder des Lagerwiderstands verhaftet und ermordet. Bereits 1943 begann im Sonderkommando der Aufbau von konspirativen Widerstandszellen, die allerdings wegen der extremen Bedro-hungssituation, differenten Zielvorstellungen aufgrund der nationalen und eth-nischen Herkunft ihrer Mitglieder und teilweise bestehender Differenzen mit der Widerstandsleitung des Gesamtlagers erst im Oktober 1944 den Aufstand realisie-ren konnten. Zuvor hatten sich die Mitglieder des Sonderkommandos an anderen Aktivitäten des Lagerwiderstands beteiligt, die vor allem darin bestanden, zu ver-suchen die Weltöffentlichkeit ob der Geschehnisse in Auschwitz zu informieren (Friedler, Siebert, Kilian 2005, 244). Mitglieder des Sonderkommandos versuch-ten genaue Daten über die Ermordungen in den Gaskammern in das Stammla-ger und von dort in die Außenwelt zu schmuggeln. Zudem wurden verschiede-ne bewaffnete Widerstandsaktionen, die auf Flucht, die Erhebung des gesamten Lagers und die Zerstörung der Mordeinrichtungen abzielten, geplant. Ab Ende 1943 wurden kleinere Mengen Sprengstoff von in Auschwitz gefangenen Frauen ins Stammlager geschmuggelt. Der Sprengstoff stammte aus den Weichsel-Union-

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Metallwerken, in denen Zwangsarbeit geleistet wurde. Über ein komplexes Netz-werk gelangte ein Anteil des Sprengstoffs an das Sonderkommando, das hieraus Sprengkörper fertigte. Nachdem mehrere zuvor geplante Zeitpunkte für die Erhe-bung aus verschiedenen Gründen verstrichen, erhob sich am 7. Oktober 1944 das Sonderkommando, da eine weitere Selektion im Sonderkommando bevorstand, die zur Vergasung der Selektierten geführt hätte. Der Aufstand ist binnen weniger Stunden blutig niedergeschlagen worden. Die SS verfolgte daraufhin wochenlang den Widerstand in Auschwitz. Vier der jungen Frauen, die Sprengstoff ins Lager und zum Sonderkommando geschmuggelt hatten, wurden aufgespürt und nach Wochen brutaler Folter am 7. Januar 1945 erhängt, knapp drei Wochen vor der Befreiung des Lagers (Lustiger 1994, 214f.).

Das 1962 gefundene Zeugnis Leventhals wurde 1972 von den Staatlichen Museen zu Auschwitz zum ersten Mal in der Bearbeitung von Jadwiga Bezwińska und Da-nuta Czech mit dem Titel Inmitten des grauenvollen Verbrechens. Handschriften von Mitgliedern des Sonderkommandos in transkribierter, aus dem Jiddischen übersetzter und editorisch kommentierter Form auf Deutsch veröffentlicht. In dieser Auflage ist nur Leventhals Zeugnis aus dem Oktober 1944 enthalten. 1996 ist der Band in der zweiten bearbeiteten Auflage mit dem gleichen Titel erschie-nen. Dieser Band enthält auch Leventhals im August 1944 niedergeschriebenen Kommentar zum Tagebuch des unbekannten Juden aus Łodz.

Aus dem Zeugnis von Zalman Leventhal zitiert Agamben in Was von Auschwitz bleibt mehrfach. Bereits im herausragenden Vorwort des Buches findet sich an prominenter Stelle ein Zitat Leventhals.

»›So genau‹, – schreibt Lewental in seinem einfachen Jiddisch – ›wie die Geschehnisse selbst verliefen, kann sie kein Mensch sich vorstellen, denn es ist unvorstellbar, daß man so genau unsere Erlebnisse wiedergeben kann. […] Wir […] – die kleine Gruppe grauer Leute, die den Historikern keine geringe-re Mühen bereiten werden […]‹« (Agamben 2003, 7).

Agamben zitiert Leventhal bei diesem Fragment nach Langbein (1972). Langbein selbst gibt keine Seitenzahl des Zitats an, sondern schreibt, dass diese Worte Le-venthals am Anfang von Inmitten des grauenvollen Verbrechens stünden und da-

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nach weiteres gelesen werden könne (Langbein 1972, 222). Im Quellenverzeichnis wird dann die Herausgabe der Leventhal-Handschrift durch Bezwińska und Czech aus dem Jahr 1972 im Auftrag des Staatlichen Auschwitz-Museums aufgeführt. Allerdings findet sich in der 1972 erschienenen Fassung von Inmitten des grauen-vollen Verbrechens dieses Zitat Leventhals nicht.

Im Literaturverzeichnis von Was von Auschwitz bleibt nennt Agamben nicht nur Langbein 1972 als Quelle für das Zeugnis Zalman Leventhals, sondern Leventhal selbst wird als Autor genannt und zwar in dem von Bezwińska und Czech heraus-gegebenen Band. Agamben hat aus dem 1972 veröffentlichten Zeugnis mindestens ein anderes Zitat entnommen. Dieses Zitat hat er am Anfang des ersten Kapitels zum Zeugen verwendet und als zitiert aus dem Band von Bezwińska und Czech aus dem Jahr 1972 angegeben. Es findet sich am angegebenen Ort (Agamben 2003, 13). In der 1996 erschienenen zweiten Ausgabe von Inmitten des grauenvollen Verbrechens, in dem beide überlieferten Texte Leventhals enthalten sind, findet sich das obig zitierte und am angegebenen Ort nicht aufzufindende Fragment in Leventhals Kommentar zum Tagebuch des unbekannt gebliebenen Juden aus dem Ghetto Łodz. Allerdings weicht das Fragment in der Ausgabe von 1996 von der von Langbein 1972 veröffentlichten Fassung ab:

»So genau, wie die Ereignisse selbst [verliefen], das kann sich kein Mensch vorstellen, denn man kann sich nicht vorstellen, daß man so genau unsere Erlebnisse wiedergeben [kann] « (Lewental 1996, 196) »[…] Wir aber – eine kleine Gruppe grauer Menschen, mit denen sich die Historiker nicht weniger beschäftigen werden, als mit irgendwelcher […] Geschichte […]« (Lewental 1996, 195).

Über die Gründe, warum das entsprechende Textfragment vom 15. August 1944, das wie dargelegt bereits 1961 aufgefunden worden war, nicht in die 1972 erschie-nene Ausgabe von Inmitten des grauenvollen Verbrechens aufgenommen wurde und Langbein dies jedoch in seinem ebenfalls 1972 erschienenen Werk angibt, ohne dabei eine genaue Seitenzahl zu nennen, lässt sich nur spekulieren. Langbein gibt allerdings ohnehin durchgehend keine Seitenzahlen für die von ihm verwen-deten Quellen an. Gleiches gilt für die Gründe, warum in der 1996 erschienenen zweiten, überarbeiteten Ausgabe von Inmitten des grauenvollen Verbrechens das

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entsprechende Zitat in erkennbarer, aber doch abgewandelter Form enthalten ist. Hier sind weitere Forschungen durchzuführen. Bezüglich des nicht in der Ausgabe von 1972 enthaltenen Zitats kann eine mögliche Erklärung in einer Kontroverse zwischen dem Staatlichen Auschwitz-Museum und dem Żydowski Instytut Histo-ryczny, dem Jüdischen Historischen Instituts (ŻIH), in Warschau über die Qua-lität einer ersten vom ŻIH angefertigten und nicht vom Staatlichen Auschwitz-Museum veröffentlichten Übersetzung vom Jiddischen ins Polnische liegen. Diese Kontroverse wird in der Einleitung von Bezwińska und Czech ausführlich darge-legt und betrifft gemäß ihren Ausführungen die Qualität der Übersetzungen ge-nauso wie politische Überlegungen der Zeit. Sie verweisen auf »ernsthafte Zweifel nicht nur an der Rechtmässigkeit« (Bezwinska, Czech 1972, 9) der vorgenomme-nen Rekonstruktion der Handschrift durch die namentlich genannten Mitarbeiter des ŻIH und fügen dann ein politisches Argument an.

»Man befürchtete auch, dass A. Rutkowski und A. Wein [die Mitarbeiter des ŻIH, A.B.], indem sie sich von einer schlecht verstandenen nationalen Solida-rität hätten lenken lassen, sich bemühen würden, den zukünftigen Lesern ein unfreundliches Verhalten der polnischen und russischen Häftlinge den jüdi-schen Häftlingen gegenüber zu suggerieren, um den Misserfolg des Aufstands des Sonderkommandos zu erklären« (Bezwińska, Czech 1972, 16).

Aufgrund dieser Einschätzung des Staatlichen Auschwitz-Museums wurde eine »neuerliche Übersetzung der Handschrift mit vollständiger Wahrung der Beson-derheit der einzelnen Seiten« (Bezwińska, Czech 1972, 16) durch den Krakauer Orientalisten Dr. Roman Pytel vorgenommen. Zu dieser Kontroverse ist außerdem anzumerken, dass die Reihenfolge der Blätter, auf denen Leventhal im Oktober 1944 sein Zeugnis ablegte, nach der Ausgrabung bei notwendigen konservatori-schen Maßnahmen durcheinander geriet und anschließend nicht wieder sicher re-konstruiert werden konnte. Die korrekte Reihenfolge ist aber nur einer der Streit-punkte der Kontroverse gewesen. Auch hierzu sind weitere Forschungen notwen-dig, die aber nicht das zentrale Argument dieser Irritation betreffen und daher an dieser Stelle außen vor gelassen werden.

Ein weiterer bemerkenswerter Punkt betrifft die englische Übersetzung Remnants of Auschwitz. The Witness and the Archive von Agambens Werk. Der Satz aus dem

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Zeugnis von Leventhal ist hier folgendermaßen formuliert übersetzt und damit sinnverändert.

»›Just as the events that took place there cannot be imagined by any human being,‹ Lewental writes in Yiddish, ›so it is unimaginable, that anyone could exactly recount how our experiences took place .... we, the small group of obscure people who will not give historians much work to do‹« (Agamben 2008, 12).

Zwischen »Historikern keine geringeren Mühen bereiten«, »Historiker nicht we-niger beschäftigen« und »not give historians much work to do« sind die Unter-schiede offenkundig. Es bedarf also, wie bereits formuliert und zu betonen ist, weiterer Forschungsarbeit.

Bereits aus Langbeins Werk Menschen in Auschwitz deutet sich Leventhals Ein-bindung in den Lagerwiderstand an, in der Übersetzung seiner Handschrift aus dem Jahr 1972 ist seine führende Rolle bei der Planung des Aufstands klar zu erkennen. Davon abgesehen, ob Agamben bekannt war oder sein konnte, das Zal-man Leventhal Mitglied des Widerstands des Sonderkommandos von Auschwitz war, ist zu konstatieren, dass in Agambens drittem Band der Homo Sacer Reihe der Widerstand in Auschwitz, sowohl jener des Sonderkommandos als auch der internationale Lagerwiderstand außerhalb des Sonderkommandos, über den u.a. Langbein ausführlich schrieb, nicht erwähnt wird. Die Nichtberücksichtigung des Widerstands ist einer der Gründe, aus denen heraus es mir angemessen erscheint, Agambens Konzeption der Shoah, respektive die Meta-Narration, der er folgt, zu hinterfragen. Es ist auch zu fragen, ob die Aussagen aus dem Zeugnis Leventhals vor diesem Hintergrund nicht anders zu lesen sind, bzw. anders gelesen werden können. Dies ist dann auch auf die Schlussfolgerungen, die Agamben für das Son-derkommando als Extremfigur der Grauzone formuliert, zu übertragen. Langbein formulierte eine Vorbedingung, die vor jeder Beschäftigung mit dem Sonderkom-mando stehen sollte:

»Will man sich mit dem Verhalten der Mitglieder eines Sonderkommandos befassen, dann hat die Warnung Lewentals gegenwärtig zu bleiben. Alle Ver-gleiche müssen versagen. Die Grenzen, welche durch eine erzwungene Arbeit

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dieser Art überschritten worden sind, kann man nachträglich selbst gedank-lich nicht überwinden. Man hat zur Kenntnis zu nehmen, was über die Exi-stenz und das Verhalten dieser Menschen festzustellen ist« (Langbein 1972, 222).

Widerhall dieser Bedingung findet sich auch in Agambens Ausführungen. Die Mit-glieder des Sonderkommandos stehen exemplarisch für jene, die in der Grauzo-ne waren, in der aus den Opfern Henker werden. Wenn Leventhals Zeugnis vor dem Hintergrund des Widerstands in Auschwitz, spezifischer des Widerstands des Sonderkommandos in Auschwitz, kontextualisiert wird, verändert dies die nach-folgenden Interpretationen über die Scham des Subjekts, des Überlebenden, über das Wirken in der Grauzone. Dies verweist auf eine weitere Problematik der Argu-mentation Agambens aus geschichtswissenschaftlicher Sicht. Die einzelnen Frag-mente, die Agamben verschiedenen Zeugnissen entnimmt, werden nicht kontex-tualisiert. Weder werden die Situationen dargelegt, über die die Zeugen berichten, noch wird die Art, das Genre, der Zeugnisse gespiegelt. Dies betrifft zwar nicht den Inhalt des Zeugnisses, zumindest den Kern der Aussagen, verweist aber auf reflexionsbedürftige Differenzen der Form. Die unterschiedliche Form der Zeug-nisse darzulegen ist Bestandteil einer soliden Kontextualisierung. An dieser Stelle ist aber hervorzuheben, dass es sich hierbei um eine geschichtswissenschaftliche Kritik an einem philosophischen Werk handelt.

Eine Kontextualisierung des Zeugnisses ist der Einschub »in seinem einfachen Jiddisch«, mit dem Agamben Leventhals Text charakterisiert, der eine weitere Irritation des Textes darstellt. Leventhals Zeugnis ist kein sprachlich wohldurch-dachter und komponierter Text, Nathan Cohen beschreibt ihn wie folgt: »His words are simple and direct, written from a storm of feelings« (Cohen 1994, 527). Die Formulierung »einfaches Jiddisch« hat bei Agamben dennoch eine merkwür-dige, pejorative Konnotation. In der italienischen Fassung des Werkes ist in der Einleitung der gleiche Einschub vorhanden, „scrive Lewental nel suo semplice jid-dish“ (Agamben 1998, 8) Es ist bemerkenswert, dass in der englischen Fassung nur »in Yiddish« (Agamben 2008, 12) ohne eine Wertung übersetzt wurde.

Leventhal hatte eine Schulbildung abgeschlossen und anschließend in einer War-schauer Yeshiva studiert. Davon abgesehen, ist das Jiddische in jenen Jahren in

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Ost- und Ostmitteleuropa nicht nur Vernakular-, sondern auch Literatursprache. Es ist keine an sich einfache Sprache. In der Fassung von Inmitten des grauenvol-len Verbrechens aus dem Jahr 1972 wird im Vorwort zur Handschrift Leventhals folgende Einschätzung der sprachlichen Qualität durch den Übersetzer Roman Pytel wiedergegeben: Die Rechtschreibung im Jiddischen sei nicht ganz fehlerfrei, die Hebraismen des Jiddischen und die Wendungen aus dem Talmud hingegen vollkommen fehlerfrei (Bezwińska, Czech 1972, 134). An dieser Stelle ist anzumer-ken, dass erst in den 1920er Jahren begonnen worden ist, das Jiddische zu kodifi-zieren. Hinzu kommt, dass mehr als 40 Prozent des Textes Leventhals unleserlich geworden sind, bevor das Zeugnis aufgefunden wurde. Einige Passagen sind daher nur bruchstückhaft zu entziffern gewesen (Bezwińska, Czech 1972, 134).

Die Anmerkung »in seinem einfachen Jiddisch« verwundert daher begründet. Und sie ist umso irritierender, wenn sie in Bezug zu folgender Aussage nur wenige Zeilen später gesetzt wird.

»Viele Zeugnisse – sowohl der Henker als auch der Opfer – stammen von gewöhnlichen Menschen, wie auch die ›grauen‹ Leute offensichtlich die gro-ße Mehrheit der Lagerbewohner bildeten. Eine der Lehren von Auschwitz besteht gerade darin, daß es unendlich viel schwieriger ist, den Geist eines gewöhnlichen Menschen zu begreifen, als den Geist Spinozas oder Dantes (Hannah Arendts so häufig mißverstandene Behauptung einer ›Banalität des Bösen‹ muß auch in diesem Sinne verstanden werden).« (Agamben 2003, 8)

Es drängt sich der Verdacht intellektueller Distanz auf. Diese Kontextualisierung von Leventhals Zeugnis, die auf seine angenommene intellektuelle Befähigung ver-weist, – drei Tage nach Niederschlagung des Aufstands des Sonderkommandos, am Rande der Gaskammern verfasst – erscheint nicht sonderlich hilfreich. Wenn man sich das Zitat Leventhals auf der sprachlichen Ebene anschaut, erscheint vor allem die Satzstellung ungewöhnlich, allerdings nicht schwer verständlich. Dar-über hinaus ist schlicht unklar, worauf Agambens Hinweise zur Verständlichkeit des Geistes »gewöhnlicher« Menschen abzielen.

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Wer hat die Gorgo erblickt?

Im zweiten Kapitel arbeitet Agamben seine zentrale These aus, dass die Musel-männer die wahren Zeugen der Shoah seien und die Zeugen, die überlebten und berichteten, nur als ihre Stellvertreter sprechen könnten. Er formuliert wiederum in Rezeption Levis, dass bezogen auf die Muselmänner

»ihr Tod kein Tod ist […], sondern etwas viel Schmachvolleres. In Auschwitz starb man nicht, es wurden Leichen produziert. Leichen ohne Tod, Nicht-Menschen, deren Umkommen zum Serienprodukt entwürdigt wurde« (Agam-ben 2003, 61f).

Die Muselmänner sind eine zentrale Erscheinung im nationalsozialistischen La-gersystem. Agamben übernimmt Levis Definition, sie seien diejenigen, die »die Gorgo erblickt« (Agamben 2003, 30) hätten. Aber es ist zu diskutieren, ob sich die Gorgo, jene mythologische Schreckensgestalt, die Levi symbolhaft nennt, nicht vor allem in den Gaskammern und weiteren Mordeinrichtungen der Vernich-tungslager manifestierte. Agambens Fokus, dass nur das Zeugnis der Muselmän-ner fehlen würde, erscheint unzureichend. Es fehlt ebenso das Zeugnis derjenigen, die in den Gaskammern ermordet wurden. Auch ihr Tod ist ein Tod ohne Tod, Lei-chen entwürdigt als Serienprodukt. Es mag an der Ausrichtung der Homo-Sacer-Trilogie liegen, dass Agamben den Muselmann als Äquivalent des Homo Sacers darstellt, aber dies wird der auch industrialisierten Vernichtung nicht ausreichend gerecht. Denn, hierauf sei am Rande verwiesen, der Massenmord der Shoah fand ebenso in den Ghettos, an Erschießungsplätzen wie Ponar und Babi Yar statt, in Massakern an vergessenen Orten. Auch jene Opfer haben versucht Zeugnis zu hin-terlassen und sie haben zugleich die Gorgo erblickt. Indem Zalman Leventhal das Zeugnis eines unbekannten Opfers aus Łodz versuchte zu sichern und der Nach-welt zu hinterlassen, hat er versucht, Zeugnis zu geben, für jemanden, der dies selbst nicht mehr konnte, und versucht die Erinnerung an die in den Gaskammern Ermordeten zu bewahren.

Verfälschte Erinnerung?

Die historische Rekonstruktion der Geschichte der Shoah sollte auf verschiedenen

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Quellen basieren. Eine dieser Quellen ist die Erinnerung der Überlebenden. Eine diffizile Quellenart, denn die Erinnerung des Menschen ist eigenwillig, trauma-tische Erfahrungen können sich der Erinnerung entziehen, Biographie und erin-nerungskulturelle Narrative können Einfluss auf Erinnerung haben. Trotz dieser Problematiken der Erinnerung ist es üblich und angemessen, dem oder der Zeu-gIn, die Hoheit über die eigene Geschichte zu lassen. In einer kurzen Randsequenz in Was von Auschwitz bleibt findet sich auch in diesem Kontext eine Irritation. Im zweiten Kapitel formuliert Agamben anhand seiner Rezeption verschiedener Zeugnisse die These, dass niemand im Lager die Muselmänner hätte sehen wollen. »Aber der Anblick der Muselmänner ist ein ganz neues Szenario, unerträglich für menschliche Augen« (Agamben 2003, 44). So beschreibt Agamben die Kamera-führung britischer Soldaten nach der Befreiung von Bergen-Belsen. Der Anblick von Leichenhaufen ist erträglicher, als der Anblick der Muselmänner, der ent-würdigten lebenden Toten respektive toten Lebenden, derjenigen an der Grenze. Im Unterkapitel 2.9 setzt sich Agamben mit Bruno Bettelheims Begriff des Mu-selmannes auseinander. Agamben zitiert u.a. folgende Passage aus Bettelheims Schrift: »Andere Häftlinge versuchten oft, wenn sie es konnten, freundlich zu den Muselmännern zu sein, ihnen Essen zu geben usw« (Agamben 2003, 50). Die-se Erinnerung Bettelheims kommentiert Agamben folgendermaßen: »Nicht nur verfälscht er [Bettelheim, Anm. A.B.] sein eigenes Zeugnis (alle Zeugen berich-ten übereinstimmend, daß niemand im Lager ›freundlich zu den Muselmännern‹ war)« (Agamben 2003, 50). Drei Anmerkungen sind hierzu zu machen: Erstens verändern sich Erinnerungen im Verlauf des Lebens, auch traumatische Erinne-rungen werden im Verlauf des Lebens unterschiedlich erzählt. Forschungen zur Erinnerung Überlebender der Shoah haben dies deutlich zu Tage gebracht. Bet-telheim hier ein Verfälschen seiner Erinnerung vorzuwerfen, setzt Absicht voraus. Dies ist eine gewagte These. Zweitens sind die Erinnerungen Bettelheims zu kon-textualisieren. Bettelheim selbst war zwischen 1938 und 1939 für insgesamt elf Monate in Dachau und Buchenwald gefangen. Beide Konzentrationslager waren schon in diesen Jahren grauenhafte Orte des Schreckens, aber sie waren different zu den Jahren 1944 und 1945 in Auschwitz. Aus jener späteren Phase stammen die meisten anderen Zeugnisse, die Agamben verwendet und vor allem jenes Primo Levis. Es ist also durchaus möglich, dass sich das Verhalten der anderen Häftlinge gegenüber den Muselmännern 1938 in Dachau zu 1944 in Auschwitz unterschied.

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Drittens beschreibt zwar auch Jorge Semprun in der Tote mit meinem Namen sehr deutlich eine Ablehnung vieler anderer Häftlinge gegenüber den Muselmän-nern im KZ Buchenwald 1944 (Semprun 2003, 30f.). Er selbst aber kümmerte sich um sie, um einen namenlosen jungen Muselmann ebenso, wie um Maurice Halbwachs, seinen vormaligen Soziologie-Professor.

Was bleibt, ist die Sprache

Es ist bereits mehrfach die Verwendung bestimmter Worte in Was von Auschwitz bleibt als irritierend vermerkt worden. Dies gilt unter anderem für die Begriffe »Henker« und »Opfer«. Sie deuten eine juristisch gesicherte, mehr oder minder gesetzmäßige Relation zwischen diesen beiden Akteursgruppen an. Aufgrund des-sen wird zumeist die Bezeichnung Täter für die nationalsozialistischen Mörder verwendet, wie auch Raul Hilbergs Buchtitel Täter, Opfer, Zuschauer andeutet. Agamben folgt in der Wortwahl Henker Primo Levi. Allerdings reflektiert er nicht, dass seine Position eine andere ist, als die Levis. Dominick LaCapra hat die Be-deutung der eigenen Position des oder der HistorikerIn der Shoah sehr deutlich formuliert.

»In discussing the Holocaust, for example, it makes a difference – at least an ini-tial difference – whether the historian is a survivor, the child of a survivor, a Jew, a Palestinian, a German or an Austrian, a child of perpetrators, someone born later, and so forth, with subtle distinctions and variations that it would take very long even to touch upon« (LaCapra 2001, 41).

Auch in der Bezeichnung Grauzone folgt Agamben Levi, wie bereits dargestellt. Wiederum irritiert hier die Wortwahl. Schuld und Scham sind Gefühle, die viele Überlebende formuliert haben. Sie aber als Henker zu bezeichnen, ist different in der Aussage, wenn Levi oder Agamben sie vornehmen. Dies ist besonders zu betonen, da Agamben nicht auf den Widerstand in Auschwitz und den Aufstand des Sonderkommandos eingeht. Erst Ende des zweiten Kapitels formuliert er die Differenz zwischen Tätern und Opfern. Es sind die Opfer, die die Erfahrung des Nicht-Menschen durchleiden mussten und die Täter, die diese Grenze nie über-schritten (Agamben 2003, 68). Diese Differenz erscheint von größter Bedeutsam-keit, da sie Orientierung in der Grauzone verleiht.

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Fazit

Der vorliegende Beitrag hat seinen Ausgang in Irritationen genommen, die sich bei der Lektüre des Werkes Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive eingestellt haben. Es handelt sich hierbei um Irritationen, die das Buch nicht selbst in Frage stellen, sondern ledig-lich bestimmte Aspekte zugespitzt in die Diskussion bringen sollen. Nach einem kurzen Überblick über die für diesen Beitrag relevanten Inhalte des Buches sind dann verschiedene Irritationen formuliert, begründet und abgewogen worden.

Einer der zentralen Kritikpunkte liegt in der Methode Agambens begründet, die Zeugnissegmente, die er kommentiert, nicht zu kontextualisieren. Es lässt sich ar-gumentieren, dass dies geschieht, weil es weniger um die individuelle Geschichte der ZeugInnen geht, sondern um einen Kern, eine Wahrheit, die in diesen Zeug-nissen verborgen liegt. Dennoch ist es ein Vorgehen, das Gefahr läuft, ahistorisch zu sein. Zudem bleibt seine Auswahl der Zeugnisse weitgehend unbegründet. Eine der wenigen Begründungen gibt er am Beginn des Buches: »Primo Levi ist ein perfektes Beispiel des Zeugen« (Agamben 2003, 13). Dies steht ganz sicher außer Frage, aber auch weitere Zeuginnen und Zeugen haben beeindruckende Zeugnis-se abgelegt, Imre Kertezs genauso wie Elie Wiesel, Rachel Auerbach ebenso wie Marek Edelman. Es ist vollständig berechtigt, eine Reflexion einer terra ethica post Auschwitz entlang des Zeugnisses von Primo Levi vorzunehmen. Es ist dann nur auch zu formulieren, dass dies getan wird und warum andere Zeugnisse und damit Aspekte der Zeugenschaft unberücksichtigt bleiben. Der Argumentation Agambens würde es dann auch hilfreich sein, die Segmente aus Levis Werken in dessen Über-Lebensgeschichte einzubetten und gleichzeitig seine spezifischen Er-fahrungen als italienischer Antifaschist und Widerstandskämpfer zu beschreiben.

Die zweite Kritik liegt in seiner Konzeption der Geschichte der Shoah: Hier sind verschiedene Aspekte dargelegt worden, die Darstellung von Opfern und Tätern, die Schematisierung der Ereignisse, seine These, dass die historiographische Er-fassung ausreichend sei, die Deutung von Erinnerung, ebenso wie die fehlende Re-flexion seiner eigenen Position. Den Widerstand der Opfer hat Agamben an keiner Stelle thematisiert. Er spricht von denjenigen, die ihre Würde verloren. Die in der Erfahrung der Nicht-Würde des Menschen, Mensch blieben. Aber die Versuche,

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Würde und/ oder Leben selbst in Auschwitz zu retten, thematisiert er nicht. Ma-rek Edelman, einer der überlebenden Kommandeure der jüdischen Kampforgani-sation im Ghetto Warschau, sprach über die Würde derjenigen, die ins Gas gingen.

»Diese Menschen [jene, die deportiert wurden, A.B.] gingen ruhig und würdevoll. Es ist schrecklich, wenn man so ruhig in den Tod geht. Das ist wesentlich schwie-riger als zu schießen. Es ist ja viel leichter, schießend zu sterben, als für einen Menschen, der auf den Waggon zugeht und dann im Waggon fährt und dann eine Grube für sich gräbt und sich dann nackt auszieht [...]« (Krall 1980, 52). Hermann Langbein berichtet solche, wenngleich seltenen Ereignisse aus Auschwitz.

»Vielen Frauen blieb eine Szene unvergeßlich: Französinnen, die auf einem Last-wagen zur Gaskammer gefahren wurden, stimmten die Marseillaise an. Diese De-monstration eines ungebrochenen Willens unmittelbar vor dem Tod war außerge-wöhnlich« (Langbein 1972, 133). Hinzu kommen diverse Fluchten, der Schmuggel von Informationen, verzweifelte Versuche des Widerstands im Angesicht der Gas-kammern und vor allem aber auch der Versuch des Sonderkommandos, sämtliche Gaskammern zu zerstören. Die Integration des Widerstands in die Meta-Narrati-on der Shoah würde die Orientierung in der Grauzone verändern.

Wenn also der Begriff der Grauzone kritisch hinterfragt wird, zeigen sich mehrere Probleme. Die Grauzone ist ein Begriff eines Opfers und beschreibt die Inkongru-enz zwischen dem moralischen und ethischen System, in dem die Opfer vor und nach der Shoah lebten, und ihren Erfahrungen während der Shoah. Wenn Primo Levi den Begriff der Grauzone verwendet, dann beschreibt er aus der Sicht eines Überlebenden eine moralische Erfahrung in einer Welt, für die Lawrence Langer den Begriff der »choiceless choice« verwendet. Daher ist der Begriff der Grauzone in der Verwendung von Agamben ein höchst problematischer, denn die Grauzone impliziert, es hätte Wahlmöglichkeiten gegeben. Agambens Begriff der Grauzone wird noch problematischer, da er mit Leventhals Zitat zu Beginn eingeleitet wird und durch die fehlende Kontextualisierung Leventhals dieser zu einem Gewährs-mann einer Position wird, die er selbst nicht geteilt hat. Zudem geht Agamben wie dargelegt, v.a. Hilbergs Interpretation der Geschichte der Shoah folgend und von jüdischer Passivität respektive compliance aus. Leventhals Zeugnis zeigt sei-ne Verzweiflung ob der »choiceless choices« und seine Reaktionsversuche: Betei-

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ligung in der Vorbereitung des bewaffneten Aufstands, Dokumentation des Ge-schehens, Bewahrung von Zeugnissen. Es sind also nach dieser Darlegung sowohl die Verwendung des Begriffs der Grauzone bei Agamben als auch die von ihm dargelegten Konsequenzen für Erinnerung und Ethik nach der Shoah in Frage zu stellen. Denn das Grau der Grauzone überlagert die Erinnerung und Konzeption von Vergangenheit und Zukunft. Dieser Aspekt der Argumentation Agambens ist mit Blick auf die dargelegten Gedanken zu kritisieren.

Agambens an Foucault orientierter diskurstheoretischer Zugang zur Geschichte der Shoah ermöglicht bestimmte wertvolle Erkenntnisse. Auffällig ist jedoch, dass bestimmte Begriffe und Konzepte, die die Diskussion der Geschichte der Shoah prägen, nicht in Was von Auschitz bleibt, aufgenommen sind. Insbesondere die zwar an sich schwierige, aber sicher zutreffende Kategorie des Traumas bietet di-verse Optionen, Agambens Ideen weiterzuentwickeln.

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