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Birgit Alber

Einführung in die Phonologie des Deutschen

QuiEdit2007

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Copyright© by QuiEdit di S.D.S. s.n.c.Via S. Francesco, 7 – 37129 Verona, Italy

tel. 045 595900 – fax 045 8040494www.quiedit.it

e-mail: [email protected]

ISBN: 978-88-89480-25-0

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort 71. Einleitung 112. Diskrete Einheiten in der Phonologie 213. Phonologische Prozesse und Regeln 674. Phonologische/Phonetische Merkmale 975. Prosodische Phonologie: Einheiten und Regeln 1056. Laut und Schrift 157Appendix 161Transkriptionsbeispiele: 165

Ausgewählte Bibliographie 167

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Vorwort

Diese Einführung in die Phonologie des Deutschen richtet sich inerster Linie an Universitätsstudenten, die an der italienischenUniversität Germanistik studieren. Das Buch soll sie mit denwichtigsten phonologischen Charakteristiken der deutschenSprache vertraut machen.

Doch damit werden sozusagen nur die linguistischenGrundbedürfnisse gestillt. Das Buch enthält außerdem zahlreichekontrastive Analysen des deutschen und des italienischen Laut-systems und versucht auf diese Weise, etwas von der Faszinationdes Sprachvergleichs zu vermitteln. Zwei oder mehrere, am bestenalle Sprachen miteinander zu vergleichen und in ihren Strukturendas Hervortreten von universalen Tendenzen und sprachspezifi-schen Strategien zu beobachten, das zählt meines Erachtens zu denaufregendsten Forschungstätigkeiten, denen sich ein Linguistwidmen kann.

Das fünfte Kapitel wagt sich noch etwas weiter vor undbietet der studentischen Leserschaft eine kleine Einführung in dieOptimalitätstheorie, in der Hoffnung, dass das Hineinschnuppernin eine moderne phonologische Theorie auch ein wenig vom Reizvermittelt, den theoretische Erklärungsmodelle haben. Sollte derKontakt mit dem theoretischen Modell sogar den einen oderanderen Leser zu einem linguistischen Aha-Erlebnis führen, dannwäre der Zweck der Einführung mehr als erfüllt.

Die Einführung ist als Lehrbuch für das Grundstudium, alsoim italienischen Universitätssystem, für die laurea triennalegedacht. Die Zeit, die in einem Einführungsmodul der dreijähri-gen Studiengänge der Phonologie des Deutschen gewidmetwerden kann, ist eher gering. Aus diesem Grund und auch, weilich davon überzeugt bin, dass es besser ist, im Unterricht wenigerMaterial zu bearbeiten aber sich dafür mehr Zeit für Erklärungen,Übungen und Diskussionen zu lassen, habe ich auf Vollständig-

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Vorwort 8

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keit der Themen verzichtet. Über Phonologie auf der Satzebenewird gar nicht gesprochen und auch wichtigen Themen wie demder Merkmalsgeometrie oder der metrischen Phonologie wirdwenig Platz eingeräumt. Der dadurch frei gewordene Raum wirddafür verwendet, um andere Dinge, wie z.B. die Struktur der Silbe,um so ausführlicher zu besprechen.

Das Lehrbuch enthält viele Übungen, meines Erachtens einwesentlicher Teil jeder Einführung in die Linguistik. Die Lösungder meisten Übungen wird gleich im Text, der auf die Übungfolgt, besprochen. Ich kann jedoch nur jedem Leser dringlichstraten, zuerst selbst zu versuchen, die Übungen zu lösen, bevor erweiterliest. Wenn man nicht selbst Hand an sprachliche Daten legt,wird man das Handwerk der linguistischen Analyse nicht lernen.

Wie in Lehrbüchern üblich enthält dieser Text nur einMinimum an bibliographischen Angaben. Eine ausgewählte Bi-bliographie am Ende gibt einen Überblick über weiterführendeLiteratur zur Phonologie des Deutschen, des Italienischen, desEnglischen und zur Phonologie im Allgemeinen.

Dieser Text hat seinen Ursprung in den vielen Notizen,Folien, Skripten, die ich für meinen Unterricht an denUniversitäten Marburg, Trient und Verona vorbereitet habe. Eingroßer Dank geht an die Studierenden in meinen Seminaren, diemir mit ihren Fragen klar gemacht haben, welche Teile einerPhonologieeinführung einer besonders ausführlichen Erklärungbedürfen. Die Fragen der Studierenden sind es auch, die eineEinführungsveranstaltung, auch wenn man sie zum zehnten Malhält, nicht langweilig werden lassen. Außerdem bin ich vielenKollegen zu Dank verpflichtet, die Zeit gefunden haben, mit mirüber die Vermittlung der Linguistik im universitären Bereich zudiskutieren. Genannt seien hier vor allem Franz Lanthaler, IngoPlag, Alan Prince und Stefan Rabanus. Roberto Zamparelli wareine entscheidende Hilfe bei den Computerproblemen und dergraphischen Feinarbeit der letzten Minuten. Walter Alber hat dengesamten Text mit üblicher und dennoch immer wieder

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Vorwort 9

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beeindruckender Sorgfalt und Blick auf die pädagogischeEignung redigiert. Ein besonderer Dank geht an AnnelieseSteiner. Ohne ihre kontinuierliche und liebevolle Hilfe mit Alexund Valentin wäre das Schreiben um vieles schwieriger.

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1. Einleitung

In dieser Einführung geht es um Phonologie, jenen Teilbereichder Linguistik, der sich mit der lautlichen Struktur der Sprachebeschäftigt. Bevor wir jedoch damit beginnen, diese Struktur ken-nenzulernen, wollen wir uns zuerst ein paar allgemeinen Fragenzuwenden.

Wenn kleine Kinder sprechen lernen, dann gibt es etwa abdem 2. Monat ein Stadium, in dem wir Erwachsenen zwar hören,dass das Kind anfängt, vor sich hinzuplappern, es fällt uns aberschwer, in dem Geplappere einzelne Sprachlaute auszumachen. Esgurrt und gurgelt, und schmatzt und schnalzt, und ab und zuglaubt man auch, einzelne Laute erkennen zu können, aber indieser ersten Lallphase produziert das Kind eher noch Geräuscheals Laute. Ein paar Monate nach dieser Phase, etwa ab dem 6.Monat, beginnt das Kind nun Lautsequenzen von sich zu geben,die wie amma, mamma, papa ... klingen. Das Kind will damitnoch nicht seine Mutter oder seinen Vater rufen, [a] [m] und [p]gehören einfach zu den Lauten, die ein Kind als erstesaussprechen lernt. Es ist daher kein Zufall, dass die Namen, mitdenen Kinder ihre Eltern bezeichnen, in vielen Sprachen der Weltgenau diese Laute enthalten. Hier ist eine Liste von sehrverschiedenen Sprachen und das Wort, mit dem Kinder dieserSprache ihre Mutter rufen:

(1) Deutsch: Mama, MamiItalienisch: mammaEnglisch: mum, mummyPolnisch: mamaEstnisch: mammaSwahili: mamaMaori: mämä (ausgesprochen: maama)

Das Kind hat in dieser Phase damit begonnen, Laute voneinanderzu unterscheiden. Es wird nun im Laufe seiner Entwicklung

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1. Einleitung 12

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immer neue Laute dazulernen, bis es schließlich alle Laute seinerSprache kennt und verwenden kann.

Warum ist aber die menschliche Sprache so beschaffen, dasswir Ketten von einzelnen Lauten bilden? Warum bleiben wir nichtbei der ersten Lallphase und verwenden als Bezeichnung fürBAUM ein kräftiges Schmatzen? Im Grunde ist es doch vielanstrengender, sich Laut für Laut anzueignen. Immerhin brauchenkleine Kinder mehrere Monate, um ihre Zunge so weit zubeherrschen, dass sie Silbenketten bilden können.

Der Grund für die Verwendung von Lautsequenzen, imGegensatz zu Geräuschen, liegt darin, dass auch die lautlicheStruktur der Sprache, wie Sprache überhaupt, auf diskretenE i n h e i t e n beruht. So wie wir Wörter aus Morphemenzusammensetzen und Sätze aus syntaktischen Phrasen bauen, sobestehen auch lautliche Strukturen aus klar voneinanderunterscheidbaren Einheiten.

Wie in der Morphologie und Syntax so beschäftigen sichauch Phonetik und Phonologie damit, wie diese Einheiten –Phone, Phoneme, phonologische Merkmale, Silben u.s.w. –beschaffen sind und nach welchen Regeln sie sich miteinanderverbinden. Im 2. Kapitel dieser Einführung werden wir uns mitden Einheiten der Phonologie beschäftigen. Wir werden sehen, wieLaute klassifiziert werden und wie man Phone und Phonemedefinieren kann.

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1. Einleitung 13

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Übung 1Aus wievielen Lauten bestehen die folgenden Wörter? In welchenFällen entsprechen mehrere Buchstaben einem Laut? In welchenFällen entsprechen mehrere Laute einem Buchstaben?

SchaleZopfBuchHexeMitteSchuhe

Aber warum sind diskrete Einheiten so wichtig für diemenschliche Sprache? Wenn menschliche Sprache nicht überdiskrete Einheiten verfügen würde, dann müssten wir uns für jedenBegriff ein neues Geräusch merken. Wenn wir an die Einträgedenken, die sogar ein kleines Wörterbuch hat, dann würde da eineganz schöne Anzahl von Geräuschen zusammen-kommen.Dadurch, dass wir unsere Wörter hingegen aus Lautsequenzenbilden, entlasten wir unser Gedächtnis um einiges. Eine Sprachewie Deutsch verfügt über etwa 40 Phoneme. Mit diesen Lautenkönnen wir eine ziemlich große, im Prinzip unendliche Anzahlvon Wörtern bilden, wir benötigen dazu aber nur eine endlicheAnzahl von Lauteinheiten, nämlich 40 Phoneme.

Die Artikulation von Sprachlauten braucht große Präzisionvon Seiten der Sprechorgane und unser Ohr muss außerdemlernen, die einzelnen Laute voneinander zu unterscheiden. DieHauptarbeit leistet aber eigentlich unser Gehirn. Denn obwohl wiroft undeutlich sprechen, obwohl oft ein Laut mit dem anderenverschmilzt, obwohl im Hintergrund oft viele Geräusche stören –dennoch gelingt es uns immer wieder, zu verstehen, was unsereKommunikationspartner gesagt haben, welche Laute sie

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1. Einleitung 14

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aneinandergereiht haben. Unser Gehirn scheint irgendwie dafürbestimmt zu sein, ein Kontinuum von Lauten in Einzellaute zuunterteilen. Wir scheinen eine Prädisposition für die Analyse desLautstroms in seine Einzelteile zu haben. Diese Tatsache zeigt unsauch, dass wir es bei der Zusammensetzung aus diskretenEinheiten mit einer sehr tiefen, universellen Charakteristik dermenschlichen Sprache zu tun haben.

Wir haben bis jetzt nur von Lauten als Einheiten derphonologischen Struktur gesprochen. Es gibt aber auch andereEinheiten der lautlichen Struktur der Sprache, bei denen es sichnicht unbedingt um Einzellaute handelt. Die Rede ist hier von"größeren" Einheiten wie der Silbe, die ihrerseits aus Einzellautenbesteht. Diese Einheiten werden im fünften Kapitel dieserEinführung ("Prosodische Phonologie") behandelt.

Wie in Syntax und Morphologie, so unterliegt auch dieAneinanderreihung von lautlichen Einheiten bestimmten Regeln.Nicht jede Sequenz von Lauten ist wohlgeformt. Eine Sequenz wieschmar könnte es im Deutschen geben, eine Sequenz wie schamrhingegen nicht. Dazu kommt noch, dass bestimmte Laute ingewissen Positionen phonologischen Prozessen unterliegen.Betrachten wir die folgenden Beispiele: 1

(2) Das Wort <Räte> wird ausgesprochen als Rä[t]eDas Wort <Räder> wird ausgesprochen als Rä[d]er

Das Wort <Rat> wird ausgesprochen als Ra[th]Das Wort <Rad> wird ausgesprochen als Ra[th] !!

Wir sehen, obwohl der letzte Buchstabe des Wortes Rad ein <d> ist,wird der letzte Laut des Wortes als ein stimmloses, aspiriertes [th]ausgesprochen. Und das, obwohl wir im Plural von Rad, in Räder, 1 Grapheme (Buchstaben) schreibt man zwischen spitzen Klammern (<...>),Phone werden zwischen eckige Klammern gesetzt ([...]). Phoneme (zu demUnterschied zwischen Phonen und Phonemen kommen wir noch!) schreibt manzwischen Schrägstrichen (/.../).

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1. Einleitung 15

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ein stimmhaftes [d] haben. Die Aussprache von Rad ist also genaudieselbe wie die von Rat. Die Aussprache der beiden Wörterunterscheidet sich nur im Plural, nicht aber im Singular. DerGrund dafür ist ein phonologischer Prozess des Deutschen, denman Auslautverhärtung nennt. Wir werden uns diesen Prozessnoch im Detail anschauen, im Augenblick soll nur gesagt werden,dass er dazu führen kann, dass stimmhafte Konsonanten am Endedes Wortes stimmlos werden.

Übung 2Wie werden wohl die folgenden Wörter des Deutschenausgesprochen, wenn man den Prozess der Auslautverhärtungberücksichtigt?

TodLobaktivKindliebsag!Job

Phonologische Prozesse sind den Sprechern nicht bewusst. Siewerden von ihnen automatisch angewandt, und es ist für dieSprecher fast unmöglich, sie zu unterdrücken, wenn sie eineFremdsprache sprechen. So ist es für deutsche Sprecher sehrschwierig, die Regel der Auslautverhärtung nicht anzuwenden,wenn sie z.B. Englisch sprechen. Da wird dann aus einem jo[b]leicht ein Jo[ph].

Interessanterweise haben die Laute, die von derAuslautverhärtung betroffen sind ([b, d, g, v, z]) alle etwasgemeinsam. Es handelt sich hier immer um Laute, bei denen derLuftstrom, der bei ihrer Produktion entsteht, behindert wird.

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1. Einleitung 16

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Entweder wird er ganz blockiert, wie bei [b, d, g] oder er wird sostark blockiert, dass ein Reibegeräusch entsteht (wie bei [v] und[z]). Diese Klasse von Lauten nennt man Obstruenten.

In jeder Sprache gibt es phonologische Prozesse und wirwerden uns im 3. Kapitel mit den phonologischen Prozessen desDeutschen befassen.

Eine Frage, mit der sich Phonologen intensiv beschäftigen,ist die nach den Charakteristiken von phonologischen Prozessenund Regeln. Wir werden uns im 5. Kapitel vor allem mit zweiAspekten beschäftigen.

Erstens wollen wir uns in diesem Einführungstext immerwieder fragen, was an den phonologischen Prozessen und Regeln,die wir untersuchen, sprachspezifisch ist und was hingegenuniversell ist.

So wissen wir z.B., dass die Auslautverhärtung ein typischerProzess des Deutschen ist, der in anderen Sprachen der Welt nichtauftaucht. Andererseits hat dieser Prozess auch universelleCharakteristiken. Er betrifft eine Klasse von Lauten (dieObstruenten) und es scheint in allen Sprachen der Welt so zu sein,dass Prozesse immer Klassen von Lauten betreffen und nicht eineListe von zufällig zusammengewürfelten Einzellauten.

Ein zweiter Aspekt von universellen Regeln und Prinzipien,den wir vor allem im 5. Kapitel diskutieren werden, betrifft ihreVerletzbarkeit. Gelten universelle phonologische Prinzipienimmer, in allen Sprachen der Welt? Wenn ein Prinzip universell ist,sollte es seiner Definition nach eigentlich immer und überallgelten. Seit etwa zehn Jahren gibt es in der Phonologie jedoch eineTheorie, die sogenannte Optimalitätstheorie, die einen ziemlichradikalen Standpunkt vertritt. Sie behauptet, dass allephonologischen Beschränkungen universelle Gültigkeit haben.Wie sollen wir dann aber die Unterschiede zwischen den einzelnenSprachen erklären? Die Hypothese der Optimalitätstheorie ist, dass

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1. Einleitung 17

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alle phonologischen Beschränkungen universell sind (d.h. in allenSprachen vorhanden sind), dass diese Beschränkungen jedoch inbestimmten Sprachen, in bestimmten Kontexten verletzt werdenkönnen. Ausserdem verwenden Sprachen verschiedene Strategien,um diese Beschränkungen zu erfüllen.

Schauen wir uns ein Beispiel an, damit diese Hypotheseetwas klarer wird. Es gibt eine universelle Beschränkung, diebesagt, dass eine Silbe mit einem Konsonanten beginnen sollte.Die Details dieser Beschränkung werden wir noch im 5. Kapitelgenauer untersuchen, hier formulieren wir diese Beschränkungeinfach folgendermaßen:

(3) Silbenanlautbeschränkung (s. Onset-Bedingung-Teil 1, Kap.5.1.3):Silben müssen mit einem Konsonanten beginnen

Wir sehen, dass diese Beschränkung wahr sein muss, wenn wir unsüberlegen, dass das Wort Amerika wohl immer als A.me.ri.kasilbifiziert werden wird und nie als Am.er.ik.a.

Das Deutsche verfolgt eine besondere Strategie, um dieseBeschränkung zu befolgen. Wenn Wörter mit einem Vokalbeginnen, dann wird vor diesen Vokal ein Konsonant eingefügt.Bei diesem Konsonanten handelt es sich um einen glottalenPlosiv. Das ist ein Konsonant, der gebildet wird, indem man dieÖffnung zwischen den Stimmbändern kurz verschließt, und danndie Luft auf einmal herausströmen läßt. Versucht, leicht zu husten,dann produziert ihr genau diesen Laut. Das phonetische Symbolfür den glottalen Plosiv ist []. Man hört diesen Laut sehr deutlich,wenn man einen Satz wie den folgenden, bei dem jedes Wort miteinem Vokal beginnt, langsam ausspricht:

(4) []Anton []aß []am []Abend []immer []Auflauf

Wird die Silbenanlautbeschränkung im Deutschen immer befolgt?Nein, es gibt Fälle, in denen sie verletzt wird. Das geschieht zum

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1. Einleitung 18

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Beispiel, wenn sich die vokalinitiale Silbe im Wortinneren befindetund nicht betont ist. Ein Beispiel dafür ist das Verb sehen. Diephonetische Transkription zeigt uns die Aussprache diesesWortes:2

(5) [ze:.n] <sehen>

Bei dem ersten Laut handelt es sich um ein stimmhaftes [z]. Dannfolgt ein langes [e:] und anschließend ein weiterer, e-ähnlicherLaut, ein sogenanntes schwa . Beachtet, dass das <h> nichtausgesprochen wird. Es dient nur dazu, uns zu zeigen, dass dervorangehende Vokal lang ist.

Die zweite Silbe dieses Wortes beginnt auch mit einemVokal. Trotzdem wird hier kein glottaler Plosiv eingefügt. DieSilbenanlautbeschränkung wird also im Deutschen nur inbestimmten Fällen befolgt.

Im Italienischen ist die Sache wieder etwas anders. Auf denersten Blick sieht es so aus, als würde die Silbenanlautbe-schränkung im Italienischen keine besonders große Rolle spielen.Schließlich gibt es viele Wörter, die mit einem Vokal beginnen, wieamore, agguato, o, e, inverno u.s.w. Vor diese Wörter werdenkeine Konsonanten gesetzt, die ersten Silben beginnen also miteinem Vokal. Trotzdem sieht man den Einfluss derSilbenanlautbeschränkung auch im Italienischen. Wenn dieseWörter nämlich nach Wörtern mit einem finalen Konsonantenerscheinen, dann kann man etwas Auffallendes beobachten:

(6) co.n a.mo.redel.l' in.ver.noi.n ag.gua.to

Lest diese Beispiele langsam, wie bei einem Abzählreim. Ihrwerdet beobachten, dass die letzten Konsonanten des ersten Wortes

2 Die Silbengrenze bezeichne ich mit einem Punkt "."

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1. Einleitung 19

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mit dem ersten Vokal des zweiten Wortes silbifiziert werden. DasItalienische verwendet also eine andere Strategie als das Deutsche,um Silben mit einem Anfangskonsonanten zu versehen: es "zieht"den Konsonanten eines vorangehenden Wortes in die vokalinitialeSilbe hinüber. Durch diese Strategie kann es sogar zu Fällen vonAmbiguität kommen, wie z.B. in den folgenden Sätzen:

(7) Ambiguität, die sich durch Resilbifizierung ergibt:

       a. La spiaggia greca aveva  u.n' a.re.na strepitosa       a'. La spiaggia greca aveva u.n a.re.na strepitosa

b. Il veterinario provò con u.n' a.ve.na diversab'. Il veterinario provò con u.na ve.na diversa

Wenn wir diese Sätze nur hören, aber nicht lesen, können wir nichtunterscheiden, ob es sich um die Bedeutung in a. oder a'., b. oderb'. handelt. Die Sätze klingen gleich, da das Italienische dieGrenze zwischen un und dem darauffolgenden, vokalinitialenWort nicht markiert, sondern Resilbifizierung des letztenKonsonanten von un erlaubt.

Wir haben in diesen Beispielen drei Dinge gesehen. Erstensscheint es in der Tat eine universelle Silbenanlautbeschränkung zugeben, deren Einfluss sich sowohl im Deutschen als auch imItalienischen bemerkbar macht. Diese Beschränkung ist jedochverletzbar: eine "schöne" Silbe sollte mit einem Konsonantenbeginnen, aber im Deutschen ist das im Inneren des Wortes nichtimmer möglich und im Italienischen ist das auch am Anfang desWortes nicht immer möglich. Beide Sprachen versuchen jedoch –soweit möglich – die Silbenanlautbeschränkung zu befolgen.Dazu verfolgen Deutsch und Italienisch unterschiedlicheStrategien: im Deutschen wird ein Konsonant eingesetzt, imItalienischen wird über Wortgrenzen hinweg silbifiziert.

Diese drei Charakteristiken von phonologischen Beschrän-kungen (Universalität, Verletzbarkeit, sprachspezifische Strategien,

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1. Einleitung 20

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um sie zu erfüllen) werden wir im Kapitel über die Silbenstrukturnoch genauer diskutieren.

Fassen wir nun kurz zusammen, was bisher gesagt wurde.Wir haben in dieser Einleitung einige Charakteristiken desLautsystems der menschlichen Sprache gesehen, mit denen wir unshier befassen werden:

- das Lautsystem der menschlichen Sprache besteht aus diskretenEinheiten. In Kapitel 2 werden wir sehen, wie diese Lauteinheitenaussehen, welche Arten von Lauten es gibt und welche Laute imDeutschen verwendet werden. Wir werden in diesem Kapitel auchdie Unterschiede zwischen den Einheiten Phon und Phonemdiskutieren. In Kapitel 4 werden die kleinsten Einheiten derPhonologie, die phonologischen Merkmale besprochen. Kapitel 5diskutiert sehr ausführlich die Silbe, eine phonologische Einheit,die größer als ein Laut ist. In Kapitel 6 wird noch kurz dasVerhältnis von Lauten und Schriftzeichen diskutiert. DerAppendix enthält Tipps zur phonetischen Transkription.

- das Lautsystem der menschlichen Sprache unterliegt regelhaftenProzessen. In Kapitel 3 werden wir uns vor allem mit denphonologischen Prozessen beschäftigen, die wir im Deutschenfinden.

- das Lautsystem jeder menschlichen Sprache hat sowohluniverselle als auch sprachspezifische Charakteristiken. Mit diesemAspekt und der Behandlung dieses Aspektes im Rahmen derOptimalitätstheorie werden wir uns in Kapitel 5 beschäftigen.

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2. Diskrete Einheiten in der Phonologie

2.1 Phone – Exkurs zur Phonetik

Bevor wir die Einheiten vorstellen, mit denen sich die Phonologiebefasst, müssen wir uns zuerst ein wenig mit den physikalischenEigenschaften von Lauten im Allgemeinen beschäftigen.

Mit den physikalischen Charakteristiken der Sprachlautebeschäftigt sich das linguistische Teilgebiet der Phonetik. DiePhonetik untersucht, wie Laute von den Sprechorganen produ-ziert werden (artikulatorische Phonetik), wie die akustischenEigenschaften von Sprachlauten aussehen (akustische Phonetik)und wie Sprachlaute gehört werden (auditive Phonetik).

Im Gegensatz zur Phonetik beschäftigt sich die Phonologiemit dem System, in das die Sprachlaute eingebunden sind. Siefragt z.B. danach, wie die bedeutungsunterscheidenden Einheiten(die Phoneme, s. Kap. 2.2) einer Sprache organisiert sind, wievielePhoneme es in einer Sprache gibt oder auch welchePhoneminventare es im Allgemeinen in den Sprachen der Weltgibt und welche nicht. Und sie beschäftigt sich damit, auf welcheArt und Weise die Phoneme durch phonologische Prozessemanipuliert werden.

2.1.1 Akustische Phonetik

Wir werden uns im nächsten Abschnitt vor allem mitartikulatorischer Phonetik beschäftigen, da die Laute in derPhonologie zum größten Teil nach artikulatorischen Aspektenklassifiziert werden. Es wird also vor allem darum gehen, wieunsere Sprechorgane die einzelnen Laute produzieren.

Zur Illustration, wie die akustische Phonetik arbeitet, wollenwir uns jedoch ein Spektrogramm ansehen und versuchen zu

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2. Diskrete Einheiten in der Phonologie 22

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verstehen, wie ein Laut physikalisch gesehen aussieht. Spektro-gramme sind Darstellungen des physikalischen Sprachlautes.

Sprachlaute sind, wie andere Geräusche auch, Schallwellen,die gemessen werden können. Die Frequenz einer Welle gibt dieTonhöhe an, die Amplitude die Lautstärke. Sprachlaute - vorallem Vokale - sind nicht einfache, sondern komplexe periodischeWellen, d.h., sie bestehen aus mehreren überlappenden perio-dischen Wellen. Viele Laute haben deshalb mehrere Frequenzen.Vokale sind z.B. durch ein ganz bestimmtes Frequenzspektrumcharakterisiert.

Wie sieht nun so ein Spektrogramm aus? Die x-Achse stelltdie Zeit dar, die y-Achse die Frequenz der akustischen Welle. DieIntensität der Schwärzung gibt die Lautstärke des Lautes an.

In der folgenden Abbildung seht ihr das Spektrogramm derLautsequenzen der Bast und der Gast.3

3 Die hier abgebildeten Spektrogramme wurden mit dem Programm praat erstellt.Dieses Programm wurde von Paul Boersma und David Weenink entwickelt. Mankann es kostenlos unter der folgenden Web-Adresse herunterladen:http://www.fon.hum.uva.nl/praat/. Probiert das Programm aus! Ihr könnt damiteure Aussprache von deutschen Wörtern aufnehmen und analysieren.

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2. Diskrete Einheiten in der Phonologie 23

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Spektrogramm der Sequenz "der Bast":

[ d e b a s t]

Spektrogramm der Sequenz "der Gast":

[d e g a s t]

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2. Diskrete Einheiten in der Phonologie 24

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Die Spektrogramme zeigen uns einige interessante Dinge desphysikalischen Sprachlautes:

• Vokale sind durch mehrere schwarze "Ringe"gekennzeichnet. Diese Ringe sind die charakteristischenFrequenzen des betreffenden Vokals. Ihr könnt dieFrequenzen der Vokale der Wörter der und Bast bzw. Gastdeutlich sehen. Sie werden in diesen Spektrogrammendurch eine rote Linie hervorgehoben. Die Frequenzeneines spezifischen Vokals werden auch als seineFormantenstruktur bezeichnet.

• Konsonanten wie [b] in Bas t und [g] in Gast s i n dgekennzeichnet durch - Stille! Wenn ihr genau hinschaut,so erscheint über den Konsonanten fast gar keineSchwärzung.

• worin unterscheiden sich dann die einzelnenKonsonanten? Wie können wir das Wort Bast vom WortGast unterscheiden? Wenn wir das [b] von Bast mit dem[g] von Gast vergleichen, dann sehen wir, dass derUnterschied vor allem in der Formantenstruktur desdarauffolgenden Vokals besteht. Die erste und zweiteFormantenlinie des Vokals [a] nach dem [g] bilden eineArt von Kurve, die sie nach [b] nicht bilden: die zweiteFormantenlinie beginnt sehr hoch, fast bei der drittenFormantenlinie, und fällt dann ab, während die ersteFormantenlinie tief beginnt und dann steigt. Wir könnenalso erst beim Hören des Vokals [a] feststellen, ob ihm ein[b] oder [g] vorausgeht.

[b] und [g] sind Plos ive (sie werden auch Verschlusslautegenannt). Sie werden gebildet, indem die Mundhöhle an einerbestimmten Stelle geschlossen wird. Im Mund wird so ein(Luft)druck aufgebaut, der dann plötzlich gelöst wird, sobald dieBlockierung gelöst wird. Beim Plosiv [b] zum Beispiel wird derLuftstrom bei den Lippen blockiert. Bei diesem Prozess werdenkeine Schallwellen produziert, deshalb hinterlassen Plosive aufdem Spektrogramm oft keine Spur. [b]und [g] sind stimmhafte

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2. Diskrete Einheiten in der Phonologie 25

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Laute, bei ihrer Produktion vibrieren die Stimmbänder. DieseVibration kann man auch ganz leicht auf den Spektrogrammensehen. Bei der Produktion der stimmlosen Plosive [p], [t] und [k]hingegen herrscht vollkommene Stille. Andere Konsonanten, wiez.B. das [s] in unserem Beispiel produzieren Geräusche, die manauf dem Spektrogramm sehen kann.

In so kurzen Sequenzen wie auf dem vorliegendenSpektrogramm lassen sich einzelne Segmente noch ziemlich gutvoneinander unterscheiden. Wenn wir jedoch ganze Sätzeaufzeichnen, dann ist es oft schwierig zu verstehen, wo ein Lautaufhört und wo der andere anfängt. Der Grund dafür ist, dass dieLautsequenz physikalisch gesehen ein Kontinuum bildet, ein Lautist nicht immer klar von dem anderen abgegrenzt. Dennoch habenwir die Intuition, dass ein Wort aus einzelnen, klar voneinanderunterscheidbaren Lauten besteht.

2.1.2 Artikulatorische Phonetik – Die Sprechwerkzeuge

In der Phonologie werden Laute traditionell nach artikulatori-schen Gesichtspunkten klassifiziert. Wie werden nun aber Sprach-laute produziert?

Schauen wir uns zuerst die Sprechwerkzeuge an, jeneOrgane, mit denen wir die Laute unserer Mutterspracheproduzieren. In der folgenden Abbildung seht ihr einenQuerschnitt des menschlichen Kopfes mit den wichtigstenSprechorganen:

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2. Diskrete Einheiten in der Phonologie 26

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Abbildung der Sprechwerkzeuge

Nasenhöhle

Mundhöhle

Nase

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1

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5

6

78

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Folgende Sprechorgane spielen bei der Artikulation vonSprachlauten eine Rolle:

- die L u n g e (it.: polmoni): bei der Erzeugung von Lautenfunktioniert die Lunge wie eine Pumpe, die den Luftstrom liefert.In den meisten Sprachen der Welt werden alle Laute mit einemLuftstrom gebildet, der von der Lunge über die Mundhöhle nachaußen dringt (egressiver, pulmonarer Luftstrom). Es gibt aberauch in manchen Sprachen Laute, die anders gebildet werden. EinBeispiel dafür sind die Klick-Laute in bestimmten afrikanischenSprachen (z.B. Xhosa und Zulu). Einige dieser Laute ähneln demZungenschnalzen eines Kutschers, der seine Pferde antreibt, oderdem Schmatzen, wenn man sich auf Entfernung ein Küsschenzuwirft.4

① Lippen (it.: labbra): die Lippen werden dazu verwendet, labialeLaute wie z.B. [p, b, f, m] zu produzieren

② Zähne (it.: denti): in der Region der Zähne werden Laute wiedas Englische interdentale [] (wie im Wort thin) ausgesprochen.Auch Laute wie [d, t, s, z, n, l] können eine dentale Realisierunghaben.

③ Alveólen (it.: alvéoli): die Alveolen, auch Zahndamm genannt,befinden sich in der Mundhöhle gleich hinter den Zähnen. Inmanchen Sprachen werden die Laute [d, t, s, z, n, l] an denAlveolen produziert, man nennt sie also alveolare Laute. Für dieSprachen Deutsch, Italienisch und Englisch ist die Unterscheidungzwischen dental und alveolar nicht relevant. Ihr könnt also dieLaute [d, t, s, z, n, l] sowohl alveolar als auch dental nennen.

4 Auf der homepage des Phonetikers Peter Ladefoged kann man sich diese clicksanhören und sogar ein Röntgenbild von einem Sprecher sehen, der einen Klickproduziert:http://hctv.humnet.ucla.edu/departments/linguistics/VowelsandConsonants/course/chapter6/6aiarstream.html

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④ Palatum (harter Gaumen) (it.: palato duro ): am hartenGaumen werden im Deutschen palatale Laute wie das [j] oder das[] (der sogenannte ich-Laut) produziert.

⑤ Velum (weicher Gaumen) (it.: palato molle): in der Region desVelum werden die velaren Laute [k, g, ] und das [x] (dersogenannte ach-Laut) produziert.

⑥ Uvula (Zäpfchen) (it.: ugola): an der Uvula werden zwei r-Laute des Deutschen, der Vibrant [R] und der Frikativ []produziert

- die Zunge (it.: lingua): die Zunge ist ein wichtiges Sprechorgan.Sie wird normalerweise in drei Zonen eingeteilt

⑦ Apex (Zungenspitze) (apice): dieser Teil der Zungevibriert, wenn das apikale [r] des Italienischen produziertwird⑧ Dorsum (Zungenrücken) (dorso): der Zungenrückenwird zur Produktion von palatalen, velaren und uvularenKonsonanten verwendet, die man dann alle zusammendorsale Konsonanten nennt.⑨ Zungenwurzel (radice): sie wird z.B. zur Produktion vonpharyngalen Konsonanten verwendet, wie wir sie in denarabischen Sprachen finden.

⑩ Glottis (glottide): ist eigentlich kein Organ, sondern der Raumzwischen den Stimmbändern

- sie ist offen: bei stimmlosen Lauten, also wenn wir z.B. ein[p] produzieren

- sie ist geschlossen: beim glottalen Plosiv []- Stimmbänder sind eng beieinander und vibrieren: bei

stimmhaften Lauten

Zustand der Glottis: der Zustand der Glottis, d.h., ob sie offenoder geschlossen ist, ob die Stimmbänder vibrieren oder nicht, obdie Stimmbänder gleich am Anfang der Lautproduktion oder erstspäter vibrieren - all diese Dinge charakterisieren die Qualität der

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Sprachlaute. Hier sollen nur einige besondere Charakteristiken derdeutschen Sprachlaute in Bezug auf den Zustand der Glottisgenannt werden.

Stimmhaftigkeit: wir produzieren stimmhafte Laute [b, d, g, v, z,m, l] oder natürlich auch alle Vokale, indem wir die Stimmbänderzusammenziehen, die Glottis also praktisch schließen, und dieStimmbänder zum Vibrieren bringen. Wenn ihr nicht sicher seid,ob ein Laut stimmhaft oder stimmlos ist, dann legt einen Fingerauf den Hals, auf der Höhe der Glottis. Bei der Produktion einesstimmhaften Lautes werdet ihr die Vibration spüren. Ihr könntauch eure flache Hand auf den Kopf legen, auch dort spürt ihr dieVibrationen, die ein stimmhafter Laut verursacht.

Teilweise stimmhafte Konsonanten: oft sind Konsonanten imDeutschen nicht durchgehend stimmhaft bzw. stimmlos. Wennz.B. ein [b] am Wortanfang steht, wie im Wort Baum, so wirddieses [b] in seiner ersten Aussprachephase als stimmlos realisiert.Die Stimmbänder beginnen erst nach dieser ersten stimmlosenPhase zu vibrieren. Diese teilweise Stimmlosigkeit von Lauten wie[b, d, g, v] erweckt dann bei Nicht-Muttersprachlern oft denEindruck, man habe [p, t, k, f] gesagt. Das kann besonders einemitalienischen Muttersprachler passieren, denn im Italienischenwerden die Laute [b, d, g, v] meist voll stimmhaft realisiert. Euchist sicher schon aufgefallen, dass ein deutscher Muttersprachler,wenn er Italienisch spricht, oft die stimmhaften Laute zu "hart"ausspricht. Das Wort bambino klingt dann oft wie pampino. Jetztwisst ihr, woran das liegt, ein deutscher Muttersprachler spricht denLaut [b] eben oft nicht als voll stimmhaft aus.

In der phonetischen Transkription drücken wir die Tatsache,dass [b, d, g, v] am Wortanfang nur teilweise stimmhaft sind, durcheinen Kringel unter bzw. über den stimmhaften Konsonanten aus,wie in den folgenden Beispielen:

(8) <böse> [b ]öse<doch> [d ]och

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<gut> []ut<Wiese> [v]iese

Aspiration: ein aspirierter Laut entsteht, wenn nach der Explosiondes Konsonanten die Stimmbänder noch für eine kurze Zeit offenbleiben. Luft fließt dann für kurze Zeit ohne Behinderung durchdie Glottis. Erst danach setzt wieder Stimmhaftigkeit (desdarauffolgenden Vokals) ein. Im Standarddeutschen werden diestimmlosen Konsonanten [p, t, k] vor allem am Wortanfang, amWortende oder vor betonten Vokalen stark aspiriert (s. Kap. 3.3).Das gilt allerdings nicht für die süddeutschen Varietäten, woAspiration weitgehend unbekannt ist. Aspiration eines Lautes wirddurch ein hochgestelltes [ h] ausgedrückt, wie in den folgendenBeispielen:

(9) <Park> [ph]ark<Ton> [th]on<kam> [kh]am

Wenn man vergleicht, was wir hier über teilweise stimmhafteKonsonanten und Aspiration gesagt haben, dann kann manfesthalten, dass sich die Konsonanten [b, d, g] und [p, t, k] amWortanfang also nicht so sehr in ihrer Stimmhaftigkeit unter-scheiden, sondern dadurch, dass erstere teilweise stimmhaft undletztere aspiriert sind.

So unterscheiden sich die beiden Wörter Bar und Paardadurch, dass der Anfangskonsonant des ersten Wortes teilweisestimmhaft, der des zweiten Wortes stimmlos und aspiriert ist:

(10) <Bar> vs. <Paar> = [b ]ar vs. [ph]aar

Übung 31. Sprecht alle Laute, die als Beispiele für die einzelnenSprechwerkzeuge angegeben sind, laut nach. Versucht zu"spüren", wo diese Laute genau ausgesprochen werden

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2. Sprecht nacheinander die Laute [p, t, k], dann [b, d, g], dann [m,n, ] aus und versucht zu spüren, wie sich die Zunge bei derProduktion dieser Laute immer weiter nach hinten verschiebt.3. Gibt es eurer Meinung nach im Deutschen stimmhafte aspirierteKonsonanten wie [bh, dh, gh]? Versucht, diese Laute auszusprechen.

Falls ihr über die Antwort auf die dritte Frage dieser Übung insGrübeln geraten sein solltet: im Deutschen gibt es keine stimm-haften aspirierten Konsonanten! Diesen Konsonantentyp gibt esaber in anderen Sprachen, z.B. in vielen Sprachen des indischenSubkontinents.

2.1.3 Artikulatorische Phonetik - Die Klassifikation derKonsonanten

Konsonanten werden traditionell nach ihrem Artikulationsort (woim Mund der Laut ausgeprochen wird) und nach ihrerArtikulationsart (wie er ausgesprochen wird) klassifiziert. Außer-dem sagt man bei Plosiven und Frikativen noch dazu, ob siestimmhaft oder stimmlos sind:

(11) [p] ist ein stimmloser bilabialer Plosiv

Artikulationsort Artikulationsart

Es folgt hier eine Liste der Artikulationsorte, wie sie nach demIPA, dem Internationalen Phonetischen Alphabet normalerweiseangenommen wird. Ihr solltet diese Liste mit der Liste derSprechwerkzeuge im letzten Kapitel vergleichen, die beiden Listenstimmen fast überein. Die Erklärung der Aussprache einzelnerLaute findet ihr in der Diskussion des IPA, wo wir versuchenwerden, die Konsonanten des Deutschen, Italienischen und desEnglischen im IPA wiederzufinden.

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(12) Artikulationsorte nach dem IPA:

bilabial: [p, b, m]labiodental: [f, v]dental: [t, d, s, r]5

alveolar: [t, d, s, r]postalveolar: []retroflex: [] in der sizilianischen Aussprache von Trapanipalatal: [, j]velar: [k, g, x, ]uvular: [R, ]pharyngal: [], in den arabischen Sprachen (s. unten)glottal: []

Was die Artikulationsart betrifft, so gibt es verschiedene Arten,einen Konsonanten zu produzieren: man kann den Luftstromdabei an irgendeiner Stelle im Mund komplett blockieren,teilweise blockieren, kaum blockieren. Man kann die Luft durchden Mund entweichen lassen, oder durch die Nase.

Plosive (auch Verschlusslaute genannt, engl: stops oder plosives,it.: occlusive): zwei Sprechorgane blockieren den Luftstromgänzlich. So wird er z.B. bei den labialen Lauten [p, b] von denLippen blockiert, bei den dentalen Lauten [t, d] von der Zungeund den Zähnen, bei den velaren Lauten [k, g] von Zungenrückenund Velum. Beim glottalen Plosiv [] wird der Luftstrom durchdas Schließen der Glottis blockiert.

Frikative (engl.: fricatives, it.: fricative): der Luftstrom wirdteilweise blockiert, dabei entsteht ein reibendes Geräusch. z.B. [f,v], [s, z], [], [, x], [], [h].

5 Wie schon gesagt werden diese Laute in manchen Sprachen eher dental, inanderen eher alveolar ausgesprochen.

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Nasale (engl.: nasals, it.: nasali): der Luftstrom wird in derMundhöhle blockiert, aber die Luft kann durch die Naseentweichen (bei gesenktem Velum). z.B. [m], [n], [],

Laterale (engl.: laterals, it.: laterali): der Luftstrom wird in derMundhöhle blockiert, aber die Luft kann seitlich entweichen. z.B.[l]

Vibranten (engl.: trills it: vibranti): ein bewegliches Sprechorganvibriert: z.B. die Zungenspitze, bei [r], oder die Uvula, bei [R]

Approximanten (engl.: approximants, it.: approssimanti): derLuftstrom muss wie bei den Frikativen durch einen engen Kanal,aber es entsteht kein Reibegeräusch. z.B. [j]

Übung 4Warum muss man bei Nasalen, Lateralen, Vibranten undApproximanten nicht angeben, ob sie stimmhaft oder stimmlossind?

Plosive und Frikative erscheinen in vielen Sprachen sowohl inihrer stimmhaften als auch in ihrer stimmlosen Form. So gibt esz.B. im Italienischen einen stimmhaften labialen Plosiv, das [b],und daneben gibt es auch den stimmlosen labialen Plosiv, das [p].Nasale, Laterale, Vibranten und Approximanten hingegenerscheinen normalerweise immer als stimmhaft, es ist alsoüberflüssig, außer Artikulationsart und -ort noch dieStimmhaftigkeit anzugeben.

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Am Ende dieses Buches findet ihr das InternationalePhonetische Alphabet (IPA),6 das versucht, eine internationalgültige Transkriptionsweise aller Laute aller Sprachen anzubieten.Wir werden uns in unseren Transkriptionen nach diesem Alphabetrichten. Zuerst wollen wir uns die Tabelle der Konsonanten an-schauen und uns diejenigen Konsonanten heraussuchen, die inden Sprachen Deutsch, Italienisch und Englisch vorkommen. Wieschon gesagt, man klassifiziert einen Konsonanten nach seinerArtikulationsart und seinem Artikulationsort, ihr findet also imIPA in der 1. Spalte alle relevanten Artikulationsarten (plosive,nasal, trill u.s.w.) und in der 1. Zeile alle relevanten Artikulations-orte (bilabial, labiodental, dental u.s.w.).

Im Netz hat Peter Ladefoged ein IPA zur Verfügung gestellt, beidem man die einzelnen Laute anklicken und dann ihreAussprache hören kann: ihr findet das "sprechende" IPA unterhttp://hctv.humnet.ucla.edu/departments/linguistics/VowelsandConsonants/

Schaut dort nach unter: Vowels and Consonants 1. Sounds and languages -The IPA

chart sounds

Schauen wir uns die verschiedenen Gruppen von Lauten, geordnetnach Artikulationsarten an und überlegen uns, welche von ihnenes in den Sprachen Deutsch, Italienisch und Englisch gibt.

Plosive: im Deutschen finden wir die bilabialen Plosive [p, b], diealveolaren (oder dentalen) Plosive [t, d], die velaren Plosive [k, g]und den glottalen Plosiv []. Falls ihr Schwierigkeiten habt, denglottalen Plosiv zu produzieren, so versucht, leicht zu husten. Ihrwerdet merken, wie sich eure Glottis schließt. Nun versucht, das 6 Abgedruckt mit Erlaubnis der International Phonetic Association (Departmentof Theoretical and Applied Linguistics, School of English, Aristotle Universityof Thessaloniki, Thessaloniki, Greece).

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Wort []Anton auzusprechen, indem ihr eure Glottis schließt, bevorihr den initialen Vokal aussprecht. Auch wenn das seltsamerscheinen mag, der glottale Plosiv ist vom artikulatorischenStandpunkt aus ein Konsonant wie jeder andere auch. ImDeutschen wird er dazu verwendet, einen Anfangskonsonanten fürSilben zu beschaffen, die mit Vokal beginnen, aber im Arabischenist dieser Konsonant distinktiv (man kann dadurch Wörterunterscheiden) und gleich wichtig wie z.B. ein [t]. Im Italienischenund Englischen gibt es auch bilabiale, alveolare und velare Plosive.Im Englischen, aber nicht im Italienischen, gibt es auch denglottalen Plosiv []. Er ersetzt in bestimmten Varietäten desEnglischen (z.B. Cockney, Scottish English) am Silbenanfang vorunbetontem Vokal oder am Wortende die "normalen" Plosive, wiez.B. in der Aussprache der folgenden Beispiele (Giegerich 1992):

(13) <pit> [p] <mat> [ma]<Peter> [pi] <map> [ma]<mighty> [ma] <mack> [ma]

Weder im Deutschen noch im Italienischen oder Englischen gibtes retroflexe Plosive. Es gibt in diesen Sprachen überhaupt keineretroflexen Laute, mit Ausnahme der amerikanischen Aussprachedes r-Lautes. Retroflexe Laute kann man allerdings in einigensizilianischen Dialekten finden. Vielleicht habt ihr schon einmalgehört, wie Leute aus Trapani den Namen Trapani aussprechen?Sie produzieren am Wortanfang einen retroflexen Konsonanten-cluster. Verbreiteteter sind retroflexe Laute allerdings in einigenSprachen Indiens. Wer sich dafür interessiert, wie retroflexe Lautegebildet werden, und wie sie sich anhören, der sollte die homepagevon Peter Ladefoged (s. oben) besuchen.

Auch uvulare Laute sind im Deutschen, Italienischen undEnglischen kaum präsent. Wir finden hier nur die r-Laute [R, ]des Deutschen (s. unten), aber keine Plosive oder Nasale. UvularePlosive finden wir z.B. in einigen Eskimosprachen.

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Nasale: Im Deutschen, Italienischen und Englischen finden wirden bilabialen Nasal [m], den alveolaren/dentalen Nasal [n] undden velaren Nasal []. Das [], auch angma [ma] genannt,taucht z.B. in den folgenden Wörtern auf:

(14) Dt.: <Ring> [R]It.: <anche> [ake]Engl.: <sing> [s]

Im Italienischen gibt es außerdem noch den palatalen Nasal [],wie in lasagne, gnocchi.

Vibranten: das italienische "r" wird als ein alveolarer Vibrant [r]realisiert. Da bei der Produktion dieses Lautes die Zungenspitzevibriert, spricht man auch von einem "apikalen r". Im Deutschenhingegen finden wir den uvularen Vibranten [R], den manbesonders deutlich am Anfang eines Wortes hören kann, wie z.B.in raus, rein, rasen.

Taps und Flaps: der Tap/Flap [] ist ein Laut, bei dem dieZungenspitze nicht vibriert, sondern nur einmal kurz an dieAlveolen schlägt. Diesen Laut finden wir im AmerikanischenEnglisch in der Aussprache von [t] und [d] nach einem betontenVokal (Giegerich 1992), wie z.B. in:

(15) <city> [s] <writing> [ra]<pity> [p] <riding> [ra]

Frikative: Im Deutschen gibt es die labiodentalen Frikative [f, v],die alveolaren Frikative [s, z], die postalveolaren Frikative [, ],den palatalen Frikativ [], den velaren Frikativ [x], den uvularenFrikativ [ ] und den glottalen Frikativ [h]. Der stimmhaftepostalveolare Frikativ [ ] kommt im Deutschen nur inFremdwörtern wie Genie [e'ni:] und Garage [ga'Ra:] vor. Undauch bei der Aussprache dieser Wörter ersetzen viele deutscheSprecher das stimmhafte [] durch ein stimmloses [] und sagen[e'ni:] und [ga'Ra:]. Der stimmlose palatale Frikativ [] wird

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auch ich-Laut genannt, da er genauso ausgesprochen wird, wie derKonsonant im Wort ich. Der stimmlose velare Frikativ [x]hingegen wird ach-Laut genannt, weil er so wie der Konsonant imWort ach ausgesprochen wird. Der uvulare Frikativ [] entsprichteiner der Realisierungen des r-Lautes im Deutschen. Wir findendiesen Laut vor allem im Wortinneren, z.B. in Wörtern wie fahren.Wir können ihn jedoch auch am Wortanfang hören. Wir werdendie Realisierung der verschiedenen r-Laute in einem späterenKapitel noch ausführlich diskutieren.

Das Italienische hat weniger Frikative als das Deutsche, ihmfehlen die Frikative [, , x] und [h]. Im Englischen finden wir denstimmlosen interdentalen Frikativ [ ] wie in thin und denstimmhaften interdentalen Frikativ [] wie in the.

Approximanten: unter den Approximanten finden wir den Laut[j], der dem Anfangskonsonanten im Wort ja entspricht.

Laterale: Unter lateral appoximant finden wir den einzigenLateralen des Deutschen, das alveolare/dentale [l]. Im Italienischenfinden wir außerdem noch einen palatalen Lateralen [], der denBuchstaben <gl> in Wörtern wie aglio, meglio entspricht. Lateraleund r-Laute werden oft unter dem Begriff Liquidezusammengefasst.

Affrikaten: erscheinen nicht in der IPA-Konsonantentabelle, dennsie sind in einem gewissen Sinne Kombinationen von zweiKonsonanten. Im Deutschen haben wir Affrikaten, deren ersterTeil aus einem Plosiv besteht, der zweite aus einem Frikativ, undzwar:- die stimmlose labiale Affrikate: [pf] wie in <Pferd>- die stimmlose alveolare Affrikate: [ts] wie in <Zeit>- die stimmlose postalveolare Affrikate: [t] wie in <Matsch>

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Übung 51. "Bearbeitet" eure IPA-Tabelle: macht um alle Laute desDeutschen einen Kreis, malt die Konsonanten des Italienischen rotan, schattiert die Konsonanten des Englischen - verschafft eucheinen Überblick über die Laute, die es in diesen drei Sprachengibt.2. Sind die Laute [, , x, h] stimmhaft oder stimmlos?3. Macht eine kleine kontrastive Studie:- welche Konsonanten, die es im Deutschen gibt, gibt es imItalienischen nicht?- welche Konsonanten, die es im Italienischen gibt, gibt es imDeutschen nicht?- gibt es im Italienischen auch Affrikaten? Welche?- mit welchen Konsonanten werden also deutsche bzw. italienischeSprecher besondere Schwierigkeiten haben?4. Schaut euch noch einmal die englischen Beispiele zu denglottalen Plosiven und den Taps/Flaps an. Welche Problemekönnten sich bei den Beispielen mat, map, mack, writing, ridingfür den Hörer ergeben?

Fassen wir hier noch einmal zusammen, was wir zu denKonsonanten des Deutschen und des Italienischen gesagt habenund versuchen wir, die größten Unterschiede zwischen den beidenSprachen festzuhalten. Im Deutschen gibt es zwei uvulare Laute[R, ] und zwei glottale Laute [, h], während die uvulare undglottale Region im Italienischen nicht vertreten ist. ImItalienischen gibt es hingegen zwei palatale Laute, [, ], die es imDeutschen nicht gibt. Im Italienischen fehlen außerdem die beidenFrikative [, x] des Deutschen. Unterschiede zwischen den beidenSprachen gibt es auch in der Realisierung der r-Laute: dasItalienische verwendet dazu den alveolaren Vibranten [r], dasDeutsche hingegen den uvularen Vibranten [R] und den uvularenFrikativ [].

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Affrikaten gibt es im Italienischen auch, es sind aber nichtdieselben wie im Deutschen. Im Italienischen finden wir diealveolare Affrikate [ts], wie in mazzo, [mats:o]7 und, im Gegensatzzum Deutschen, auch ihr stimmhaftes Gegenstück, wie in zona[dzna]. Es gibt außerdem die postalveolare Affrikate [t] wie incena [tena] und ihr stimmhaftes Gegenstück [d] wie in maggio[mad:o].

Ihr könnt euch nun vorstellen, mit welchen Lauten deutscheSprecher besondere Schwierigkeiten haben und wie sie diese Lauteaussprechen werden. Probleme gibt es mit dem apikalen [r], daswahrscheinlich durch die uvularen r-Laute [R, ] ersetzt werdenwird. Auch [, ] sind für einen deutschen Sprecher schwerauszusprechen. Hier hört man oft eine Aussprache, die sich nachder Schrift richtet, also Lasa[gn]e und a[gl]io. Problematisch sindauch die stimmhaften Affrikaten, die es im Deutschen nicht gibt,sie werden oft stimmlos ausgesprochen. Man hört dann für dieoben beschriebenen Wörter die Aussprachen [tso:na] und [mato].

Umgekehrt wird ein italienischer Sprecher Schwierigkeitenmit den r-Lauten des Deutschen haben, er wird sie wahrscheinlichapikal als [r] realisieren. Auch die Frikative [, x] können schwerauszusprechen sein, sie werden bei italienischen Sprechern manch-mal durch [k] (z.B. machen als [maken]) ersetzt. Die glottalenLaute [ , h] werden von italienischen Sprechern oft einfachausgelassen. Das ist weniger schlimm beim glottalen Plosiv [], dadieser im Deutschen nicht distinktiv ist. Es kann aber zuVerständigungsschwierigkeiten beim [h] führen, wenn z.B. Hauswie aus ausgesprochen wird. Schwierigkeiten kann es auch mit derlabialen Affrikate [pf] geben. Diese wird aber auch in vielendeutschen Varietäten zu [f] vereinfacht. In diesen Varietäten wirddann Pferd als [f]erd ausgesprochen.

7 Ein Doppelpunkt nach Konsonanten und auch nach Vokalen drückt aus, dassdiese lang sind. Lange Konsonanten nennt man auch Geminaten.

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Was die glottalen Verschlusslaute und die flaps/taps imEnglischen betrifft, so gibt es hier ein ganz offensichtlichesProblem. Wenn z.B. im Scottish English alle Plosive am Endeeines Wortes durch den glottalen Plosiv ersetzt werden, so weiß einHörer, wenn er [ma] hört, nicht mehr, ob der Sprecher nun mat,map oder mack meint. Und beim amerikanischen flapping kann esdazu kommen, dass man die beiden Wörter writing und ridingnicht mehr unterscheiden kann! Einen phonologischen Prozessdieser Art nennt man Neutralisierung, da durch ihn Unterschiedezwischen distinktiven Lauten neutralisiert werden.

2.1.4 Artikulatorische Phonetik - Klassifikation der Vokale

Auf der IPA-Tabelle seht ihr in der Mitte rechts das sogenannteVokaltrapez. Es ist eine schematische Darstellung der Artikula-tionsorte der Vokale. Es symbolisiert sozusagen den Raum inunserer Mundhöhle, in dem die Vokale artikuliert werden. Ambesten versteht man das, wenn man es selbst ausprobiert. Sprechtzuerst den Vokal [i] aus, dann den Vokal [u]. Ihr werdet spüren,dass die Zunge bei beiden Vokalen hoch gehoben wird. DerUnterschied zwischen den beiden Vokalen besteht darin, dass dieZunge beim [i] nach vorne, beim [u] hingegegen nach hinten ge-schoben wird. Nun sprecht hintereinander die Vokale [i], [e] und[a] aus. Ihr solltet dabei merken, dass die Zunge bei der Aus-sprache dieser Vokale von oben nach unten wandert. Das [i] istalso ein hoher Vokal, das [e] ein mittlerer Vokal und das [a] eintiefer Vokal. Nun versucht dasselbe mit der Lautsequenz [u, o, a].Ihr werdet wieder merken, bei [u] steht die Zunge höher als bei [o]und bei [o] höher als bei [a]. Nun sprecht hintereinander dieLaute [i, u, o, a, e] aus, und ihr habt ungefähr die Ecken des Vo-kaltrapezes mit der Zunge nachgezeichnet. Wenn ihr alle Eckengenau nachzeichnen möchtet, solltet ihr versuchen, für die untererechte Ecke ein hinteres [] und für die untere linke Ecke ein vor-deres [a] zu sprechen. Die Lautpaare [i] und [u] auf der einen Sei-te und [e] und [o] auf der anderen unterscheiden sich nicht nurdadurch, dass die Zunge vorne bzw. hinten steht, sondern auch da-durch, dass bei den Vokalen [u, o] die Lippen gerundet werden,

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bei den Vokalen [i, e] jedoch nicht. In dem Raum, der durch dieVokale [i, u, o, , a, e] eingegrenzt wird, können viele Vokalerealisiert werden. Ihr könnt sie im Vokaltrapez des IPA sehen:dieses enthält alle Vokale aller Sprachen der Welt.

Wir werden nun im Folgenden versuchen, die Vokale desDeutschen zu beschreiben und sie mit denen des Italienischen zuvergleichen. Die Vokale des Deutschen werden nach folgendenMerkmalen klassifiziert:- nach der Höhe der Zungenposition: hohe, tiefe, mittlere Vokale- nach der horizontalen Zungenposition: vordere, hintere,zentrale Vokale- nach der Lippenrundung: gerundete oder ungerundete Vokale- danach, ob die Zunge bei der Produktion gespannt oderungespannt ist: gespannte und ungespannte Vokale.

In den folgenden Tabellen, die das Vokaltrapez simulieren,sind die Vokale des Deutschen zuerst alleine und dann anhandvon Beispielen dargestellt. Wir werden sie weiter unten imEinzelnen diskutieren.

(16) Die Vokale des Deutschen:vorne zentral hinten

hoch gespannt: [i:] gespannt: [u:]ungespannt: [] ungespannt: []gerundet gespannt: [y:]gerundet ungespannt: []

mittel gespannt: [e:] schwa: [] gespannt: [o:]ungespannt: [] vokalisiertes "r": [] ungespannt: []

[:]gerundet gespannt: [ø:]gerundet ungespannt: [œ]

tief gespannt: [a:],ungespannt: [a]

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(17) Die Vokale des Deutschen: mit Beispielenvorne zentral hinten

hoch gespannt: M[i:]te, <Miete> gesp.: sp[u:]ken, <spuken>ungespannt: M[]tte, <Mitte> ungesp.: sp[]cken, <spucken>gerundet gesp.: H[y:]te, <Hüte>gerundet ungesp.: H[]tte, <Hütte>

mittel gespannt: B[e:]t, <Beet> schwa: ruf[]n, <rufen> gesp.: Sch[o:]ten,<Schoten>

ungespannt: B[]tt, <Bett> vok. "r": nu[], <nur> ungesp.: Sch[]tten, <Schotten>[:]re, <Ähre>

gerundet gesp.: H[ø:]le, <Höhle>gerundet ungesp.: H[œ]lle, <Hölle>

tief gesp.: B[a:]n, <Bahn>ungesp.:B[a]nn,<Bann>

Die ersten beiden Merkmale, nach denen die Vokale desDeutschen klassifiziert werden, sind einfach zu verstehen. Wie inallen Sprachen der Welt gibt es im Deutschen Vokale, die nach derZungenhöhe unterschieden werden:

- hohe Vokale: [i:, , y:, , u:, ]- mittlere Vokale: [e:, , :, ø:, œ, , , o:, ]- tiefe Vokale [a:, a]

Außerdem gibt es Vokale, die nach der horizontalen Zungenposi-tion unterschieden werden:

- vordere Vokale: [i:, , y:, , e:, , :, ø:, œ]- zentrale Vokale: [, , a:, a]- hintere Vokale: [u:, , o:, ]

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Ein wichtiges Merkmal im Deutschen ist außerdem das derLippenrundung. In den meisten Sprachen der Welt sind diehinteren Vokale gerundet, die vorderen Vokale hingegenungerundet. Es gibt dann aber auch Sprachen wie das Deutsche(und z.B. auch das Französische oder bestimmte lombardischeDialekte), in denen es die etwas ungewöhnlicheren gerundetenVordervokale gibt:

- gerundete Hintervokale: [u:, , o:, ]- gerundete Vordervokale: [y:, , ø:, œ]

Versucht, ein [i:] wie im Wort Miete, und danach ein [y:] wie imWort Hüte auszusprechen. Ihr solltet dabei merken, dass die Zungeungefähr in derselben Position verbleibt. Das einzige, was diesebeiden Laute unterscheidet ist, dass das [i:] ungerundet ist, das [y:]jedoch gerundet. Nun wiederholt dieselbe Ausspracheübung mit[e:] wie in Beet und [ø:] wie in Höhle. Wieder unterscheiden sichbeide Laute nur durch die Lippenrundung. Nun wisst ihr, was ihrjemandem raten sollt, der die Umlaute <ü> und <ö> nichtaussprechen kann: zuerst ein [i:] bzw. ein [e:] aussprechen unddann die Lippen runden!

Es gibt auch einige Sprachen, in denen es ungerundeteHintervokale gibt. So wird z.B. im Japanischen der hohe hintereVokal als ein ungerundetes [] ausgesprochen. Versucht selbst,ungerundete hintere Vokale zu artikulieren!

Ein weiteres Merkmal, das im Deutschen relevant ist, ist dasder Gespanntheit. Ein gespannter Vokal unterscheidet sich voneinem ungespannten Vokal dadurch, dass die Zunge bei seinerProduktion weiter oben und weiter gegen die äußere Grenze desVokaltrapezes gestreckt steht als beim ungespannten Vokal.Vergleicht auf dem Vokaltrapez des IPA die Position desgespannten [i] und des ungespannten [], um zu verstehen, washier gemeint ist.

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- gespannte Vokale: [i:, y:, e:, ø:, a:, u:, o:]- ungespannte Vokale: [, , , :, œ, a, , ]

Man hört den Unterschied zwischen gespannten undungespannten Vokalen am besten, wenn man Minimalpaare wieMiete und Mitte, Hüte und Hütte, Beet und Bett, Höhle und Hölle,spuken und spucken, Schoten und Schotten vergleicht. Bittebeachtet, dass sich die Wörter Miete und Mitte nicht durch dieLänge des Konsonanten [t] unterscheiden. Im Unterschied zumItalienischen gibt es im Deutschen keine langen Konsonanten(keine Geminaten). Die Doppelkonsonanten, die man in derOrthographie verwendet, zeigen nur an, dass der vorhergehendeVokal kurz ist. Die Wörter Miete und Mitte werden also als [mi:t]und [mt] ausgesprochen. Beide Wörter enthalten ein [t] undunterscheiden sich nur durch die Gespanntheit bzw. Länge derbeiden Vokale.

In den meisten Varietäten des Englischen finden wir einenähnlichen Kontrast zwischen gespannten und ungespanntenVokalen, wie z.B. in den folgenden Wörtern (Giegerich 1992):

(18) <beat> , b[i:]t vs. <bit>, b[]t<pool>, p[u:]l vs. <pull>, p[]ll

Im Deutschen korreliert die Gespanntheit der Vokale mit derVokallänge, d.h. im nativen Wortschatz sind gespannte Vokaleimmer lang und ungespannte Vokale immer kurz. Die einzigeAusnahme bildet hier der Vokal [:]. Es handelt sich hier umeinen ungespannten, mittleren Vokal, der jedoch lang ist. Es gibtSprecher des Deutschen, die diesen Vokal in bestimmten Wörtern,die mit Umlaut <ä> geschrieben werden, verwenden (z.B. in Ähreoder Bär). Es gibt aber auch viele Sprecher, die diesen Vokal nieverwenden, und stattdessen ein langes [e:] aussprechen. Im nicht-nativen Wortschatz, d.h. in Fremdwörtern, ist die Korrelationzwischen Gespanntheit und Vokallänge nicht so streng. Hierkönnen wir dann z.B. auch gespannte Vokale finden, die kurzsind. Es handelt sich dabei immer um Vokale, die nicht betont

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sind, bei betonten Vokalen gilt wieder die Korrelation Länge-Gespanntheit:

(19) <Philosophie> Ph[i]l[o]s[o]ph[i:]<Bibliothek> B[i]bl[io]th[e:]k

Es kann für einen Sprecher des Italienischen sehr schwierig sein,gespannte und ungespannte Vokale auseinanderzuhalten, da esdiesen Unterschied im Italienischen höchstens für die mittlerenVokale gibt (s. unten). Es ist etwas leichter - aber immer nochschwierig - zu erkennen, ob ein Vokal lang oder kurz ist. Wennman das festgestellt hat, dann kann man, jedenfalls für den nativenWortschatz, Rückschlüsse auf die Gespanntheit anstellen: wennman einen langen Vokal hört, dann sollte er auch gespannt sein,wenn man einen kurzen Vokal hört, dann ist erhöchstwahrscheinlich ungespannt.

Was die Gespanntheit betrifft, so unterscheiden sich dietiefen Vokale [a:] und [a] von den anderen Vokalen dadurch, dasssich zwischen dem langen, gespannten [a:] und dem kurzen,ungespannten [a] kaum ein Unterschied in der Vokalqualitäthören lässt. In der Tat ist der Status von [a] im Deutschenkontrovers. Manche Phonologen nehmen an, dass es auch beim[a] einen Unterschied in der Vokalqualität zwischen kurzemungespanntem [a] (wie in Bann) und langem, gespanntem [:](wie in Bahn) gibt. Wir werden mit Wiese (1996) annehmen, dasses im Deutschen nur eine Unterscheidung zwischen langem [a:]und kurzem [a] gibt, dass sich aber die beiden Laute nicht in ihrerVokalqualität unterscheiden

Es gibt im Deutschen auch zwei mittlere zentrale Vokale,das sogenannte schwa [] und das "vokalisierte r" []. Das schwakommt im Deutschen nie als Wurzelvokal vor und kann nie betontwerden. Wir finden es aber in den Vokalen aller Flexionssuffixeund in vielen Derivationssuffixen. Hier sind einige Beispiele:

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(20) Infinitivsuffix: <lieben> lieb[]nPersonalendungen am Verb: <liebe> lieb[]Adjektivflexion: <schöne> schön[]Pluralflexion: <Tage> Tag[]Substantive auf -e: <Liebe> Lieb[]Präfix be-: <begreifen> b[]greifen

Das vokalisierte [ ] ist das Resultat eines phonologischenProzesses, den wir weiter unten noch genauer besprechen werden.Um den Unterschied zwischen der Aussprache des schwa und desvokalisierten [] zu verstehen, solltet ihr einen Muttersprachlerbitten, euch einige Minimalpaare wie die folgendenvorzusprechen:

(21) <Liebe> vs. <lieber> [li:b] vs. [li:b]<Ehe> vs. <eher> [e:] vs. [e:]<schöne> vs. <schöner> [ø:n] vs. [ø:n]

Wenn ihr euch vor allem die letzten beiden Beispiele, die beidenAdjektivformen schöne und schöner, vor Augen haltet, so werdetihr plötzlich verstehen, warum es so schwierig ist, ein deutschesDiktat zu schreiben: der Unterschied in der Aussprache der beidenVokale in der Flexion ist minimal, man muss also schon wissen, obin der Nominalphrase ein schön_ Hund die Endung -e oder dieEndung -er eingesetzt werden muss. Hören kann das ein Nicht-Muttersprachler oft nicht!

Schließlich gibt es im Deutschen, wie in vielen anderenSprachen, Diphthonge, also komplexe vokalische Laute, die miteinem Vokal beginnen und dann, in derselben Silbe, in einenanderen Vokal übergehen. Im Deutschen gibt es die Diphthonge[a] (wie in Eis), [a] (wie in Haus) und [i] (wie in euch).

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Übung 61. Versucht, anhand von folgenden Beispielen das Vokalsystemdes Italienischen zu skizzieren:butti, batte, botte (nel senso di picchiare), botte (un barile), pesca(frutto), pesca (attività per catturare pesci), ride, rade, rode, rude.2. Welche Vokalklassen gibt es im Deutschen, die es imItalienischen nicht gibt? Welche Schwierigkeiten ergeben sichdadurch für Sprecher des Italienischen, wenn sie Deutsch lernen?Versucht, die Vokalklassen anzugeben, nicht nur die einzelnenVokale aufzulisten.3. Gibt es, eurer Meinung nach, im Italienischen lange und kurzeVokale, so wie im Deutschen?4. Gibt es im Italienischen Diphtonge? Welche?

Das Italienische verfügt über viel weniger Vokale als das Deutsche,wodurch sich einige Schwierigkeiten für italienische Sprecherergeben, die Deutsch lernen. Auch im Italienischen gibt es hoheVokale, wie [i] und [u], mittlere Vokale, wie [e, , o, ] und dentiefen Vokal [a]. Aber im Italienischen gibt es keine gerundetenVordervokale, wie sie die Vokale [y:, , ø:, œ ] im Deutschendarstellen. Auch der Gespanntheitskontrast ist bei den italienischenVokalen stark reduziert. Es gibt keinen Unterschied zwischengespannten und ungespannten Vokalen, was die hohen und dietiefen Vokale [i, u, a] betrifft. Bei den mittleren Vokalen gibt esdiesen Kontrast allerdings auch im Italienischen. Man spricht hieroft von vocali aperte und vocali chiuse. Es gibt jedoch nur wenigeMinimalpaare, an denen man ihn direkt beobachten kann. Füreinige (aber nicht alle!) Sprecher des Italienischen gibt es einenKontrast zwischen p[]sca (der Pfirsich) und p[e]sca (derFischfang), für einige (aber nicht alle!) Sprecher gibt es aucheinen Kontrast zwischen b[]tte (die Schläge) und b[o]tte (dasFass). Die meisten Sprecher werden außerdem zwischen [] (<è>,3. Person Sg. der Verbes essere) und [e] (<e>, koordinierendeKonjunktion) und zwischen [] (<ho>, 1. Person Sg. des Verbes

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avere) und [o] (<o>, disjunktive Konjunktion) unterscheiden.Aber viele Minimalpaare dieser Art kann man für denGespanntheitskontrast der mittleren Vokale nicht finden. Völligfehlen im Italienischen die zentralen Vokale schwa und dasvokalisierte []. Das schwa kann man jedoch in einigenitalienischen Dialekten wie z.B. dem Neapoletanischenwiederfinden. Auch hier taucht das schwa in der Endung auf, z.B.im letzten Vokal der neapolitischen Aussprache von Napule.Die Antwort auf die Frage, ob das Italienische lange und kurzeVokale hat, findet ihr im Kapitel 5.1.4, wo die Struktur derdeutschen und der italienischen Silbe verglichen wird.

Die folgende Tabelle stellt das italienische Vokalsystemnoch einmal schematisch dar:

(22) Die Vokale des Italienischen:

vorne zentral hinten

hoch [ i ] <ride> [u] <rude>

mittel gespannt: [e] <e> gespannt: [o ] <o>ungespannt: [] <è> ungespannt: [] <ho>

tief [a] <rade>

Ihr solltet nun kurz einen Schritt zurücktreten und euch dieVokalsysteme des Deutschen und des Italienischen aus einigerEntfernung ansehen. Ist es nicht beeindruckend, wie symmetrischbeide Systeme sind? Jedem Vordervokal entspricht einHintervokal, jedem hohen Vokal ein mittlerer Vokal und imDeutschen hat jeder gespannte Vokal sein ungespanntesGegenstück. Wir können uns ohne Probleme ein Vokalsystem

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vorstellen, das nicht so symmetrisch ist, das z.B. über die Vokale [i,ø:, , a] verfügt. Extrem unsymmetrische Vokalsysteme sind aberhöchst selten. Im Allgemeinen tendieren Vokalsysteme dazu,symmetrisch zu sein. Sie nützen den Artikulationsraum, denunsere Mundhöhle bietet, auf die bestmögliche Weise aus undverteilen die Vokale symmetrisch auf diesen Raum.

2.2 Phoneme - die distinktiven Einheiten des Lautsystems

2.2.1 Was ist ein Phonem?

In Kap 2.1.2 haben wir darüber gesprochen, dass die stimmlosenPlosive [p, t, k] im Deutschen oft als aspirierte Plosive [ph, th, kh]ausgesprochen werden. Der Unterschied zwischen einemaspirierten [th] und einem nicht aspirierten [t] scheint aber nichtgleich wichtig zu sein wie z.B. der Unterschied zwischen denLauten [t] und [k].

Wenn wir nämlich im Wort Tante den ersten Laut [t] durchein [k] ersetzen, dann erhalten wir ein ganz neues Wort, das WortKante. Wenn wir jedoch im Wort Tür das aspirierte [th] durch einnicht aspiriertes [t] ersetzen, dann erhalten wir kein neues Wort!Unsere Aussprache klingt dann vielleicht etwas süddeutsch undnicht ganz standardmäßig, aber wer uns zuhört wird immer nochverstehen, dass wir von einer Tür sprechen. In der Phonologie sagtman, dass der Unterschied zwischen [t] und [k] distinktiv ist (mankann dadurch Wörter voneinander unterscheiden), während dieAspiration im Deutschen nicht distinktiv ist (sie kann keineWortbedeutungen voneinander unterscheiden).

Es gibt allerdings Sprachen, in denen die Aspirationdistinktiv ist. So gibt es z.B. im Hindi das folgende Minimalpaar:

(23) [p]al = 'sich um jemanden kümmern'[ph]al = 'Messerklinge'

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Ein Minimalpaar ist ein Paar von Wörtern, das sich nur in einemdistinktiven Merkmal unterscheidet, in diesem Fall in dem derAspiration. Wenn wir [p]al ohne Aspiration aussprechen, so hatdas Wort eine bestimmte Bedeutung, wenn wir es mit Aspirationaussprechen, so bedeutet es etwas ganz anderes. Die Aspirationkann somit im Hindi Wörter unterscheiden, sie ist distinktiv. Einphonetisches Merkmal wie das der Aspiration kann also vonSprache zu Sprache unterschiedlich wichtig sein in dem Sinn, dasses in einer Sprache distinktiv ist und Bedeutungen unterscheidenkann, in einer anderen Sprache jedoch nicht.

In diesem Kapitel wollen wir uns nun mit der distinktiven,also bedeutungsunterscheidenden Funktion von Lautenbeschäftigen. Wir diskutieren zunächst den Begriff des Phonems.

Die Linguisten Trubetzkoy und Jakobson haben, nebenanderen, das Phonem als die minimale bedeutungsunterscheiden-de Lauteinheit definiert. Was bedeutet das? Wir wissen, dass Lautean und für sich keine Bedeutung haben, die kleinstebedeutungstragende Einheit der Sprache ist das Morphem. Laute,oder auch bestimmte Merkmale von Lauten, können jedochBedeutungen voneinander unterscheiden. So kann z.B. dasMerkmal der Gespanntheit die beiden Wörter Miete und Mitteunterscheiden.

In vielen phonologischen Arbeiten wird das Phonem nochals eine untrennbare Einheit gesehen. Man sagt dann z.B., dass esim Deutschen die beiden Phoneme /i:/ und // gibt.8 AusBequemlichkeit werden auch wir diese Ausdrucksweise verwenden,aber wenn man ganz präzise sein will, dann sollte man eigentlichnur von distinktiven Merkmalen sprechen, die sich zusammen zueinem Phonem verbinden. Jakobson & Halle (1956: 20) habendiese Einsicht folgendermaßen formuliert:

8 Wie schon erwähnt schreiben wir Phoneme zwischen Schrägstrichen /.../, umsie von den Phonen zu unterscheiden, die wir zwischen eckigen Klammern [...]schreiben.

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(24) "The distinctive features are aligned into simultaneousbundles called phonemes"

Wir können also Phoneme als Bündel von gleichzeitig vorkom-menden distinktiven Merkmalen sehen. Jakobson und Halle mei-nen damit, dass in jedem Phonem ein Bündel von Eigenschaftenvereint ist. Jede dieser Eigenschaften kann in der betreffendenSprache Bedeutungen unterscheiden. So beinhaltet das Phonem /i:/im Deutschen das Merkmal [+gespannt]9, das es vom Phonem //unterscheidet. Es enthält auch das Merkmal [-rund], das es vomPhonem /y:/ unterscheidet, das Merkmal [+hoch], das es von denPhonemen /e:/ und /a:/ unterscheidet und das Merkmal [-hinten],das es von /u:/ unterscheidet. Alle diese Merkmale sind imDeutschen distinktiv, denn es genügt eines dieser Merkmale, umWörter mit verschiedener Bedeutung zu unterscheiden. Man kannsich ein Phonem wie /i:/ wie eine Schachtel vorstellen: in derSchachtel sind die Merkmale, die das Phonem kennzeichnen, indiesem Fall [+gespannt, -rund, +hoch, -hinten]. Auf der Schachtelsteht: /i:/.

Auch im Italienischen ist /i/ ein Phonem, es kann Wörter wiez.B. ride und rude unterscheiden. Aber die distinktiven Merkmale,die dieses Phonem kennzeichnen, sind nicht dieselben wie imDeutschen. So ist z.B. das Merkmal [±rund] im Italienischen nichtdistinktiv. Es stimmt zwar, dass die hinteren Vokale imItalienischen rund sind und die vorderen ungerundet, aber umvordere und hintere Vokale zu unterscheiden genügt das Merkmal[±hinten], wir brauchen kein Merkmal [±rund] dazu. DieSchachtel des Phonems /i/ wird also im Italienischen kein Merkmal[±rund] enthalten, weil dieses Merkmal im Italienischen nichtdistinktiv ist.

Untersuchen wir noch ein Beispiel, indem wir die labialenPlosive im Deutschen und im Hindi miteinander vergleichen. Im

9 Eine genaue Definition der distinktiven Merkmale des Deutschen findet sich inKap. 4, in dem der Begriff des phonologischen Merkmals im Detail erläutert wird.

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Hindi ist /ph/ ein Phonem, das aus einer ganzen Reihe vondistinktiven Merkmalen besteht. Jedes dieser Merkmale kann fürsich Bedeutungen unterscheiden. So unterscheidet z.B. dasMerkmal [-stimmhaft] /ph/ von /bh/, denn je nachdem, ob ein Wort/ph/ oder /bh/ enthält, kann sich seine Bedeutung ändern. DasMerkmal [LABIAL]10 wiederum unterscheidet /ph/ vom Phonem/th/, das nicht labial sondern dental ist. Das Merkmal [+aspiriert]schließlich unterscheidet /ph/ von /p/. Auch dieses Merkmal kannim Hindi, wie wir gesehen haben, Bedeutungen unterscheiden. DiePhonemschachtel des /ph/ enthält also im Hindi das distinktiveMerkmal [±aspiriert].

Im Deutschen ist die Situation etwas anders. Auch imDeutschen gibt es ein aspiriertes [ph], wie z.B. in dem Wort Pein,[phan]. Es gibt auch das Minimalpaar Pein, [phan] vs. Bein [b an],das sich genau im ersten Laut des Wortes unterscheidet. Bedeutetdas nun, dass die Aspiration im Deutschen distinktiv ist? Nein, undzwar aus zwei Gründen. Erstens gibt es kein Minimalpaar, das sichnur in der Aspiration eines Lautes unterscheidet. Im geradegenannten Beispiel unterscheiden sich [ph] und [b ] nicht nurdurch das Merkmal [±aspiriert], sondern auch durch das Merkmal[±stimmhaft], auch wenn das [b ] nur als teilweise stimmhaftrealisiert wird. Es gibt aber keine zwei Wörter im Deutschen, beidenen die Anwesenheit bzw. Abwesenheit der Aspiration allein dieBedeutung verändert. Es gibt keine zwei Wörter wie z.B. [phan]und [pan], bei denen das erste Schmerzen bedeutet und das zweitevielleicht Freude. Die Aspiration hat also im Deutschen keinedistinktive, d.h. bedeutungsunterscheidende Kraft. Der zweiteGrund dafür, dass wir [ph] nicht als Phonem werten können ist,dass die Aspiration im Deutschen vorhersagbar (it.: predicibile,engl.: predictable) ist. Wir werden die Kontexte, in denenAspiration vorkommt, noch in einem späteren Kapitel genaudiskutieren, aber inzwischen können wir festhalten, dass stimmlose

10 Wenn es euch interessiert, warum [LABIAL] nicht als [±labial] geschriebenwird, dann solltet ihr euch Kapitel 4 anschauen.

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Plosive im Standarddeutschen auf jeden Fall am Wortanfang, vorbetontem Vokal aspiriert werden, wie in den folgenden Beispielen:

(25) <Pein> [phan]<Tonne> [thn]<kann> [khan]

Im Wortinneren hingegen, besonders vor unbetontem Vokal,werden die stimmlosen Plosive nicht aspiriert:

(26) <Rappe> [Rap]<rate> [ra:t]<wecke> [v k]

Wenn die Verteilung eines Lautmerkmales vorhersagbar ist, dannbedeutet das zugleich, dass es nicht distinktiv sein kann. Dennwenn ein Merkmal vorhersagbar ist, dann hängt sein Auftretenvom phonologischen Kontext ("Anfang des Wortes", "Ende desWortes", "vor betontem Vokal" u.s.w.) und eben gerade nicht vonder Bedeutung des Wortes ab. Mit anderen Worten, man könnteauch sagen, dass die Phoneme jenen Teil des Lautsystemsdarstellen, der nicht vorhersagbar ist. Viele Phonologen nennendie Phonemsequenzen, die sich zu Wörtern zusammenschließen,auch das Lexikon, da die Phonemsequenzen der einzelnen Wörter,wie die Lexeme eines Wörterbuchs, von den Sprechern auswendiggelernt werden müssen und nicht vorhersagbar sind.

Aber kehren wir zu den stimmlosen Plosiven des Deutschenzurück. Wie sollen wir dann die Phoneme nennen, durch die sichdas Minimalpaar Pein vs. Bein unterscheidet? Man nimmt imAllgemeinen an, dass es im Deutschen zwei Phoneme gibt, /p/ und/b/, und dass sich diese beiden Phoneme durch das Merkmal[±stimmhaft] unterscheiden. Und das ist auch genau das Merkmal,das das Minimalpaar Pein vs. Bein unterscheidet. Wir könnendann noch hinzufügen, dass das Phonem /p/ in bestimmtenKontexten (z.B. am Wortanfang vor betontem Vokal) alsaspiriertes Phon [ph] realisiert wird. In anderen Kontexten (z.B. im

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Wortinneren vor unbetontem Vokal) wird es hingegen ganz"normal" als stimmloses Phon [p] realisiert. Das Phonem /b/hingegen wird am Wortanfang nur teilweise stimmhaft als [b ]realisiert. Im Wortinneren, besonders zwischen Vokalen, wird dasPhonem /b/ hingegen als vollkommen stimmhaftes Phon [b]realisiert.

Die Beziehung zwischen den Phonemen und ihrenphonetischen Realisierungen wird oft als ein Modell mit zweiEbenen dargestellt. Auf der Ebene der zugrundeliegendenRepräsentation (it.: livello soggiacente, engl.: underlyingrepresentation, UR) stellen wir die Phoneme dar, auf der Ebeneder Oberflächenrepräsentation (it.: livello di superficie, engl.:surface representation, SR) die phonetischen Realisierungen dieserPhoneme. Für die oben diskutierten Beispiele würde das diefolgende Darstellung ergeben:

(27) <Pein> vs. <Bein>:/p/ein /b/ein ← zugrundeliegende Repräsentation

(Ebene der Phoneme)

[ph]ein [b ]ein ← Oberflächenrepräsentation(Ebene der Phone)

Die Wörter Pein und Bein enthalten die Phoneme /p/, bzw. /b/, diesich durch das Merkmal [±stimmhaft] unterscheiden. Da sich diesebeiden Phoneme am Wortanfang befinden, wird das Phonem /p/ alsein aspiriertes Phon realisiert, während das Phonem /b/ als einteilweise stimmhaftes Phon realisiert wird.

(28) <Rappe> und <Rabe>Ra/p/e Ra/b/e ← zugrundeliegende Repräsentation

(Ebene der Phoneme)

Ra[p]e Ra[b]e ← Oberflächenrepräsentation(Ebene der Phone)

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Die Wörter Rappe und Rabe enthalten ebenfalls die Phoneme /p/bzw. /b/. In diesem Fall befinden sich diese Phoneme aber imWortinneren, vor einem unbetonten Vokal. Deshalb wird dasPhonem /p/ ohne Aspiration realisiert und /b/ wird als einvollkommen stimmhaftes Phon [b] realisiert.

Diese Darstellung auf zwei Ebenen zeigt uns zugleich, dassdas Phonem etwas Abstraktes ist. Wir können Phoneme nichtaussprechen, wir sprechen nur ihre konkrete Realisierung, diePhone aus.

Kehren wir noch einmal zum Phonembegriff zurück:Phoneme sind Bündel von distinktiven Merkmalen. Wir könnenannehmen, dass es eine bestimmte, begrenzte Menge vondistinktiven Merkmalen gibt, aus der sich die Sprachen bedienen.Anders gesagt, die Menge an distinktiven Merkmalen ist universalgegeben und jede Sprache verwendet eine Teilmenge davon. Wirkönnen diese Selektion von distinktiven Merkmalen von Seitender einzelnen Sprachen schematisch folgendermaßen darstellen:

(29) Schematische Darstellung der Selektion von distinktivenMerkmalen:

→ M1 → M1 M1→ M2 M2 → M2

L1 M3 L2 → M3 L3 M3→ M4 → M4 → M4→ M5 M5 M5→ M6 → M6 M6

.... .... ....Mn Mn Mn

Wenn wir annehmen, dass der menschlichen Sprache imAllgemeinen n distinktive Merkmale zur Verfügung stehen, dannkönnen wir uns vorstellen, dass die Sprache L1 z.B. davon dieMenge {M1, M2, M4, M5, M6} auswählt, L2 wählt die Menge {M1, M3,M4, M6} und L3 die Teilmenge, {M2, M4}.

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Um festzustellen, ob ein Merkmal in einer Sprache distinktivist, müssen wir herausfinden, ob es Bedeutungen unterscheidenkann, d.h., ob es Minimalpaare gibt, die sich nur in diesemMerkmal unterscheiden. Wir können außerdem versuchenherauszufinden, ob das Merkmal vorhersagbar ist. Wenn derKontext, in dem es vorkommt, vorhersagbar ist, dann kann es sichnicht um ein distinktives Merkmal handeln. In Kapitel 3 werdenwir die wichtigsten phonologischen Prozesse des Deutschendiskutieren. Dort werden wir also auch herausfinden, welche Lautedas (vorhersagbare) Resultat eines solchen Prozesses sind undwelche hingegen Phoneme sind.

2.2.2 Allophone - zwei (oder mehrere) Realisierungen einesPhonems

Übung 7Untersucht die Distribution der Laute [l] und [r] im Koreanischen(Daten nach Kenstowicz 1994: 83):

mul 'Wasser' mu.re 'am Wasser'mul.ka.ma 'ein Platz für Wasser'

mal 'Pferd' ma.re 'am Pferd'mal.ka.ma 'ein Platz für ein Pferd'

pal 'Fuß' pa.ri 'vom Fuß'sul 'Seoul' ru.pi 'Rubin'il.kop 'sieben' ra.tio 'Radio'

1. In welchem Kontext finden wir den Laut [l], in welchemKontext den Laut [r]? Überlegt euch vor allem, in welcherSilbenposition die jeweiligen Laute stehen.2. Ist die Distribution von [l] vorhersagbar? Ist die Distributionvon [r] vorhersagbar?3. Ist [l] also ein Phonem? Ist [r] ein Phonem?

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4. Gibt es einen Kontext, in dem sowohl [l] als auch [r]vorkommen können?5. Wie wird ein koreanischer Sprecher wohl das deutsche WortLehrer aussprechen?

Wenn ihr die koreanischen Daten sorgfältig untersucht habt, dannhabt ihr sicher herausgefunden, dass wir den Laut [l] immer amEnde einer Silbe finden, den Laut [r] immer am Silbenanfang. Dasist besonders auffallend bei Wörtern, die das gleiche Lexementhalten. So enthalten beispielsweise sowohl mul als auch mu.redas Lexem WASSER, aber im ersten Fall finden wir den Laut [l],der immer am Silbenende auftaucht, im zweiten Fall den Laut [r],weil am Silbenanfang nur [r] stehen kann. Wir müssen schließen,dass die Distribution der Liquide [l] und [r] vollkommenvohersagbar ist: [r] steht immer am Silbenanfang, [l] immer amSilbenende. Die beiden Laute [l] und [r] können also keinePhoneme sein. Es gibt außerdem keinen Kontext, in dem sowohl[l] als auch [r] stehen können, denn Silbenanfang und Silbenendeschließen sich gegenseitig als Kontexte aus: was am Silbenanfangsteht, kann nicht zugleich am Silbenende stehen. Man spricht indiesen Fällen von komplementärer Distribution: die Verteilungdieser beiden Laute ist komplementär, wo der eine steht kann nieauch der andere stehen. Und was die letzte Frage betrifft: einkoreanischer Sprecher wird das Wort Lehrer wahrscheinlichirgendwie wie R e r e l aussprechen, indem er den erstensilbeninitialen Liquid durch [r] ersetzt und den letzten,silbenfinalen durch [l].

Wenn [l] und [r] im Koreanischen keine Phoneme sind, wassind sie denn dann? Laute, die in komplementärer Distributionzueinander stehen und die man als Realisierungen ein unddesselben Phonems betrachten kann, nennt man Allophone.

Es gibt also im Koreanischen ein Phonem, nennen wir esganz allgemein 'Liquid', das, je nach Kontext, zwei Allophonerealisieren kann, entweder [l] oder [r]:

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(30) /Liquid/ ← zugrundeliegende Repräsentationf h[l] [r] ← Oberflächenrepräsentation

(Ebene der (Allo)phone)Kontext: Kontext:Silbenende Silbenanfang

Schauen wir uns noch einmal die Beispiele mul und mure genauan, um den Vorteil zu erkennen, den ein Modell bietet, das einezugrundeliegende phonematische Ebene und eine phonetischeOberflächenrepräsentation annimmt. Wir können das Wort mure inzwei Morpheme zerlegen, mur-e, von denen das erste der Wurzelmit der Bedeutung WASSER entspricht, das zweite einerLokalangabe mit der Bedeutung NAHE BEI/AM. Das würde aberbedeuten, dass das Lexem WASSER, wenn es allein durch dieWurzel ausgedrückt wird, die Form mul hat, wenn es aber durchein lokales Suffix ergänzt wird, die Form mur. Wie ist diesesLexem wohl in unserem mentalen Lexikon abgespeichert? Mitbeiden Formen? Mit einer von beiden? Wenn wir ein Modell mitzwei Ebenen annehmen, dann können wir einfach sagen, dass wirin unserem mentalen Lexikon die zugrundeliegende Form, alsodie Phonemsequenz abspeichern. Wir würden uns also für dasLexem WASSER im Koreanischen ungefähr die Phonemsequenz/m/, /u/ und /Liquid/ merken. Vielleicht merken wir uns auch diePhonemsequenz /mul/ oder die Phonemsequenz /mur/, d.h.,vielleicht entscheiden wir, dass /l/ bzw. /r/ das zugrundeliegendeElement ist, statt ein unbestimmtes Phonem /Liquid/. Aber waswichtig ist, ist, dass wir uns nicht zwei Formen für das LexemWASSER merken müssen, sondern nur eine. Das spartSpeicherplatz im Gehirn. Die konkrete Realisierung des Phonems/Liquid/ (oder, wenn ihr wollt, /l/, oder /r/) hingegen leiten wir voneiner Regel ab, die wir auch in unserem Gehirn abgespeicherthaben und die uns sagt, dass wir am Silbenanfang immer [r]finden müssen, am Silbenende immer [l]. Wir müssen uns alsonicht für jedes Lexem, das einen Liquid enthält, zwei Formen, einemit [l] und eine mit [r] merken. Wir merken uns nur jeweils eine

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Form des Lexems und wir merken uns die Regel, die uns dabeihilft, die Liquide korrekt zu realisieren.

Nun schauen wir uns ein Beispiel für allophonischeRealisierung eines Phonems im Deutschen an, die Assimilationder dorsalen Frikative (ich- und ach-Laut).

Übung 8

Lasst euch die folgenden Beispiele von einem deutschenMuttersprachler vorsprechen und versucht herauszufinden, inwelchen Wörtern der palatale Frikativ [ ] (ich-Laut) und inwelchen der velare Frikativ [x] (ach-Laut) zu hören ist.

dich Dach Kuhchen (kleine Kuh)Tuch Tschechow fauchenTücher Milch Pfauchen (kleiner Pfau)Loch manch Chemielöchern Kuchen China1. Schreibt neben jedes Wort, ob es ein [] oder ein [x] enthält.2. Macht eine Liste der Laute, die vor [] auftreten und eine Listeder Laute, die vor [x] auftreten. Gebt auch an, ob sich vor denbeiden Frikativen jeweils eine Morphemgrenze befindet oder nicht3. Beschreibt die Distribution von [] und [x]:[] tritt in folgendem Kontext auf: ________________________[x] tritt in folgendem Kontext auf: ________________________4. Sind [] und [x] zwei Phone oder zwei Phoneme?5. Falls [] und [x] Allophone sind, welches ist dann dasentsprechende Phonem? // oder /x/?

Wenn ihr gut zugehört habt, dann solltet ihr den ich-Laut [] infolgenden Wörtern gehört haben: dich, Tücher, löchern,Tschechow, Milch, manch, Kuhchen, Pfauchen. Wahrscheinlichhabt ihr ihn auch als ersten Laut in den Wörtern Chemie, China

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gehört. Falls der Muttersprachler, den ihr befragt habt, aus demSüden des deutschen Sprachraumes kommt, dann hat erwahrscheinlich [k]emie und [k]ina gesagt. Den ach-Laut [x] solltetihr in den Wörtern Tuch, Loch, Dach, Kuchen, fauchen gehörthaben.

Die Liste der Laute, die vor dem ich-Laut auftauchen, siehtdemnach folgendermaßen aus: [, y:, œ, , l, n, u:+Morphem-grenze, a+Morphemgrenze, Wortanfang]. Mit [u:]+Morphem-grenze und [a]+Morphemgrenze sind die letzten beiden Beispie-le gemeint, Kuh-chen und Pfau-chen, bei denen der ich-Lautgenau an der Morphemgrenze, am Anfang des Diminutivmor-phems -chen zu stehen kommt. Mit Wortanfang sind die beidenBeispiele Chemie und China gemeint, in denen der ich-Laut amWortanfang steht. Eigentlich handelt es sich in diesen beidenFällen auch um eine Morphemgrenze, denn ein Wortanfang istauch immer zugleich der Anfang eines Morphems. Wir könnennun versuchen, diese Liste von Kontexten in einer etwasallgemeineren Formulierung zusammenzufassen. Wenn wir dieListe der Vokale betrachten, nach denen der ich-Laut auftaucht, sokönnen wir feststellen, dass es sich bei diesen Vokalen immer umvordere Vokale handelt. Wir können also den Kontext für dieDistribution von [] folgendermaßen formulieren: Der ich-Laut[] erscheint nach vorderen Vokalen, nach Konsonanten und amAnfang eines Morphems.

Den ach-Laut finden wir in den obigen Beispielen nach denLauten [u:, , a, u:, a]. Wenn wir hier sagen sollen, zu welcherKlasse diese Vokale gehören, dann fällt uns auf, dass es sich dabeium nicht-vordere, also zentrale oder hintere Vokale handelt. Wirkönnen demnach sagen, dass der ach-Laut [x] im Kontext hinterzentralen oder hinteren Vokalen auftritt. Kehren wir auch nocheinen Augenblick zu den Beispielen Kuh-chen und Pfau-chenzurück. Da wir in diesen Beispielen einen ich-Laut finden, müssenwir schließen, dass dieser ich-Laut auf die Morphemgrenze desSuffixes -chen zurückzuführen ist, und nicht auf die Laute [u:]und [a], die dem Frikativ vorausgehen, denn hinter den nicht-

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vorderen Vokalen [u:] und [a] würden wir uns sonst einen ach-Laut [x] erwarten. Das sehen wir in den sehr ähnlichen WörternKuchen und fauchen, in denen wir den ach-Laut finden, denn vordem Frikativ befinden sich direkt die hinteren Vokale [u:, a],jedoch keine Morphemgrenze.

Wir haben nun die beiden Kontexte gefunden, in denen ich-Laut und ach-Laut vorkommen. Es handelt sich bei der Verteilungdieser Laute ganz klar um komplementäre Distribu-tion, denn esgibt keinen Kontext, in dem wir sowohl ich-Laut als auch ach-Lautfinden können. Wenn die beiden Laute komplementär verteiltsind, dann kann es sich bei ihnen nicht um Phoneme handeln. Ich-und ach-Laut sind zwei Phone, deren Verteilung absolutvorhersagbar und komplementär ist, also handelt es sich bei ihnenum zwei Allophone desselben Phonems.

Welchen Namen können wir nun aber diesem Phonemgeben? Ist das zugrundeliegende Phonem //, das dann die zweiRealisierungen [] und [x] aufweist oder ist das Phonem /x/, daswiederum durch [] und [x] realisiert wird?

(31) /?/ ← zugrundeliegende Formf h[] [x] ← phonetische Form

Kontext: Kontext:- nach vorderen Vokalen - nach hinteren und zentralen Vokalen- nach Konsonanten- am Morphemanfang

Es hat in der phonologischen Literatur viel Diskussion dazugegeben (s. z.B. Wurzel 1981, Hall 1992, Ramers&Vater 1995,Wiese 1996, Hall 2000), ob im Fall der Assimilation der dorsalenFrikative // oder /x/ als zugrundeliegend anzunehmen sei. Wirhaben hier nicht die Möglichkeit, im Detail die Gründe für dieeine oder die andere Lösung nachzuvollziehen, deshalb werdenwir nur eines der Argumente ausführlich diskutieren, da es sich

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2. Diskrete Einheiten in der Phonologie 62

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um ein typisches Argument für Probleme dieser Art handelt. DieArgumentation verläuft folgendermaßen: als zugrundeliegendesPhonem müsse man // annehmen, da die Realisierung [] keinenhomogenen Distributionskontext aufweise. Was bedeutet das? Wirkönnen sehen, dass die Kontexte, in denen [] vorkommt, sehrverschieden (nicht homogen) sind. Es handelt sich eigentlich umdrei Kontexte: nach vorderen Vokalen, nach Konsonanten und amMorphemanfang.

Nehmen wir nun zuerst an, dass das zugrundeliegendePhonem / / ist. Dann ist es ziemlich einfach, eine Regel zuformulieren, nach der das Phonem // nach [+hinten] Vokalen als[x] realisiert wird. Zu den [+hinten] Vokalen werden imDeutschen sowohl die hinteren Vokale als auch die zentralenVokale [a, a:] gezählt, da letztere sich in phonologischenProzessen wie hintere Vokale verhalten (s. Kap. 4). In allenanderen Fällen, die wir nicht weiter spezifizieren müssen, wird dasPhonem / / dann einfach als [ ] realisiert. Wenn wir aberumgekehrt annehmen, dass das zugrundeliegende Phonem /x/ ist,so müssten wir sagen, dass das Phonem /x/ in drei ganzverschiedenen Kontexten (nach vorderen Vokalen, nachKonsonanten und am Morphemanfang) als [ ] realisiert wird.Diese Regel wäre also weitaus komplizierter und weniger elegantals die erste. Da wir davon ausgehen müssen, dass unser Gehirneinfache Regeln bevorzugt, werden wir die erste Hypothesewählen, und annehmen, dass es sich bei dem zugrundeliegendenPhonem um // handelt, wie im Folgenden dargestellt:

(32) // ← zugrundeliegende Formf h[] [x] ← phonetische Form

Kontext: Kontext:- nach [-hinten] Vokalen - nach [+hinten] Vokalen- nach Konsonanten- am Morphemanfang

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Beachtet, dass wir eine Argumentation dieser Art bei unseremkoreanischen Beispiel nicht anwenden könnten, da dort beideKontexte (Silbenanfang vs. Silbenende) gleich homogen sind.

Treten wir nun wieder einen Schritt zurück und überlegenwir uns, was wir hier eigentlich beschrieben haben. Wir haben dieDistribution des ich-Lautes und des ach-Lautes beschrieben.Irgendwo tauchte dann auch der Name dieses phonologischenProzesses auf: Assimilation der dorsalen Frikative. Warumsprechen wir in diesem Fall von einer Assimilation? Nun, schauenwir uns noch einmal an, was hier geschieht: ein palatales Phonem// wird zu einem velaren Laut [x], wenn es sich nach einem[+hinten] Vokal befindet. Wir erinnern uns vielleicht, dass dasPalatum weiter vorne in der Mundhöhle angesiedelt ist als dasVelum. Wenn wir sagen "ein palataler Laut wird zu einem velarenLaut", dann bedeutet das, dass der Laut nach hinten verschobenwird. Nun sollte es uns eigentlich nicht überraschen, dass ein Lautnach hinten verschoben wird, wenn er nach einem [+hinten] Vokalsteht. Es handelt sich hier um einen klaren Fall von Assimilation,bei dem der Vokal den auf ihn folgenden Frikativ beeinflusst. Einhinterer Vokal wie z.B. [u:] wird also den Frikativ [] sozusagen"nach hinten ziehen", bis er zu einem velaren [x] wird. Beachtet,dass diese einfache Erklärung nicht möglich ist, wenn wir voneinem Phonem /x/ ausgehen. In diesem Fall könnten wir auchsagen, dass das /x/, wenn es nach [-hinten] Vokalen zu stehenkommt, "nach vorne gezogen wird" und als [] realisiert wird.Aber es wird viel schwieriger zu erklären, warum /x/ auch nachKonsonanten und am Morphemanfang nach vorne verschobenwird.

In Kap. 3.1 werden wir die Diskussion um ich- und ach-Laut wieder aufnehmen und diesen Prozess in einerphonologischen Regel ausdrücken.

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2.2.3 Freie Variation - nicht-komplementäre Realisierung einesPhonems

Wir haben bis jetzt von allophonischer Verteilung von Phonengesprochen, also von Fällen, in denen zwei oder mehrere Phone alsRealisierungen ein und desselben Phonems zu werten sind undeine komplementäre Distribution haben. Es scheint aber auchFälle zu geben, in denen die Verteilung bestimmter Phone nichtkomplementär, sondern frei ist. Das bedeutet, dass ein Phonemdurch mehrere Phone realisiert werden kann, die aber im selbenKontext auftreten können.

Es ist in der Linguistik eine viel diskutierte Frage, ob esechte freie Variation in den Sprachen der Welt überhaupt gibt. Ofthängt das Vorkommen bzw. Nichtvorkommen eines Lautes ineinem bestimmten Kontext von außersprachlichen Faktoren wieDialektzugehörigkeit des Sprechers, Sprechgeschwindigkeit u.ä.ab.

Im Deutschen wird die Distribution der aspirierten Laute amWortende manchmal als Beispiel für freie Lautvariation angeführt(Ramers&Vater 1995):

(33) to[t] oder to[th]

Am Wortende muss ein stimmloser Plosiv nicht aspiriert werden,man hört ihn in diesem Kontext aber auch oft mit Aspiration. DasAuftreten der Aspiration ist in diesem Kontext frei.

Das Phonem /t/ hat also in diesem Fall zwei Realisierungen,[t] und [th], die jedoch in ihrer Distribution nicht komplementärsondern frei sind. Wir können das in unseren Transkriptionenausdrücken, indem wir die Aspiration in diesem Kontext inKlammern setzen: to[t(h)]. Wie wir in einem späteren Kapitel sehenwerden, ist die Aspiration in anderen Kontexten, wie z.B. demWortanfang nicht frei, sondern absolut vorhersagbar, alsoallophonisch.

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Auch in Bezug auf die beiden r-Laute des Deutschen, denuvularen Vibranten [R] und den uvularen Frikativ [], wird oft vonfreier Variation gesprochen. So können wir z.B. am Silbenanfangmanchmal den einen, manchmal den anderen Laut hören, wie inden folgenden Beispielen:

(34) [R]aus oder []aus[R] iese oder []iesefah[R] en oder fah[]enhö[R] en oder hö[]en

Vielleicht finden wir am Anfang des Wortes etwas öfter denVibranten [R] und im Wortinneren häufiger den Frikativ [],vielleicht ist das [R] charakteristisch für ein langsameresSprechtempo, aber keines dieser Beispiele klingt seltsam oder garfalsch, egal welcher der beiden r-Laute realisiert wurde.

Im Bereich der r-Laute gibt es neben dieser freienVerteilung von [R] und [ ] auch noch eine allophonischeDistribution, die in Kap. 3.2 zur r-Vokalisierung ausführlichdiskutiert wird.

Fassen wir nun kurz den Inhalt von Kap. 2 zusammen. Wirhaben in diesem Abschnitt über die diskreten Einheiten ge-sprochen, die in der Phonologie eine Rolle spielen. Zuerst wurdendie Laute (Phone) im Allgemeinen, ihre Produktionsweise undihre Klassifikation im Bereich der artikulatorischen Phonetikbesprochen. Dann haben wir uns den Phonemen zugewandt, denkleinsten bedeutungsdifferenzierenden Einheiten der Sprache. Wirhaben gesehen, dass ein Phonem eine oder mehrereRealisierungen haben kann und dass diese Realisierungallophonisch (also mit komplementärer Verteilung) oder auch freisein kann. Die freie Distribution von verschiedenen Realisierun-gen eines Phonems ist in der Linguistik kontrovers. Wir habeneinige Beispiele gebracht, von denen angenommen wird, dass sieim Deutschen durch freie Variation charakterisiert sind (uvularer

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Vibrant vs. uvularer Frikativ, Aspiration am Wortende). Außerdemhaben wir in diesem Kapitel gelernt, wie man allophonischeDistribution beschreibt. Wir wenden uns jetzt noch weiterenphonologischen Prozessen des Deutschen zu und versuchen, dieseanhand von phonologischen Regeln präzise zu beschreiben.

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3. Phonologische Prozesse und Regeln

In diesem Kapitel werden die wichtigsten phonologischen Prozessedes Deutschen vorgestellt. Wir werden die Daten untersuchen, diefür diese Prozesse relevant sind und Regeln for-mulieren, um zubeschreiben, was in dem jeweiligen phonolo-gischen Prozesspassiert. Dazu werden wir das oben beschriebene Modellverwenden, das davon ausgeht, dass es eine zugrunde-liegendeForm gibt, die die Sequenz der unvorhersagbaren Elemente, diePhoneme enthält, und dass es eine Oberflächenform gibt, die unszeigt, wie die einzelnen Phoneme realisiert werden. Eine Theorie,die mit (zugrundeliegenden) Phonemen und Pho-nen (an derOberfläche) arbeitet, kann erklären, warum die Struktur derSprache im Grunde ziemlich ökonomisch ist. Wir müssen uns voneinem Wort nicht alle phonetischen Details merken, sondern nurdie Phoneme, aus denen es gebildet ist - und die phonologischenRegeln, die für die ganze Sprache gelten. Wenn wir diephonologischen Regeln auf die Phonemsequenzen anwenden,erhalten wir schließlich die phonetische Oberflächen-form, die nuntatsächlich ausgesprochen wird. Wir müssen uns also eigentlich garnicht so viel merken. Wir müssen uns z.B. nicht merken, dass dasWort Tuch den ach-Laut enthält, Tücher aber den ich-Laut. Wirmerken uns einfach, dass sowohl Tuch als auch Tücher dasPhonem // enthalten. Und wir merken uns die Regel der dorsalenAssimilation der Frikative, die im Fall von Tuch das Phonem // ineinen ach-Laut [x] umwandelt. Diese Annahme, dass wir nichtjedes Wort mit all seinen phonetischen Details abspeichern müssenbedeutet einen enormen Gewinn an Speicherplatz für das Gehirn.So wird überhaupt erst erklärbar, warum Kinder innerhalb vonwenigen Jahren eine riesige Menge an Wörtern lernen können. Siemüssen nämlich nur die Phonemsequenzen der Wörter und diephonologischen Regeln ihrer Muttersprache lernen, die konkreteAussprache ergibt sich dann, indem man die Regeln auf dieeinzelnen Wörter anwendet.

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3. Phonologische Prozesse und Regeln 68

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3.1. Assimilation der dorsalen Frikative (ich- und ach-Laut)

Kehren wir hier noch kurz zum Prozess zurück, der dieDistribution von ich- und ach-Laut bestimmt. Wir hatten in Kap.2.2.2 gesehen, dass bei diesem Prozess das Phonem // nach[+hinten] Vokalen als ach-Laut [x] realisiert wird. Um dieDiskussion dieses typischen phonologischen Prozesses desDeutschen abzuschließen, wollen wir nun noch zeigen, wie manihn in einer phonologischen Regel darstellen kann.

Eine phonologische Regel hat die Struktur

(35) A → B / C _ D

In dieser Formel steht "A" für den input (meistens ein Phonem)und "B" für den output, d.h. das Resultat des phonologischenProzesses. Im Fall der Assimilation der dorsalen Frikative wäre derinput also das Phonem // und der output das Phon [x]. Der Pfeilsteht für "wird realisiert als". Der Strich "_" ist ein Platzhalterstrichund "C" und "D" stehen für den Kontext, in dem sich das Phonembefinden muss, damit der phonologische Prozess stattfindet. "C"steht für die Laute, Morphemgrenzen u.s.w., die vor dem Phonemstehen, "D" für das, was hinter dem Phonem steht. Auf demPlatzhalterstrich müsst ihr euch das Phonem selbst vorstellen. DieRegel für die Assimilation der dorsalen Frikative würde alsofolgendermaßen lauten:

(36) Assimilation der dorsalen Frikative// → [x] / [+hinten] _

Wir können die Regel so lesen: das Phonem // wird im Kontextnach hinteren und zentralen Lauten als Phon [x] realisiert, alsonach Lauten, die das Merkmal [+hinten] besitzen. Warum habenwir nichts für die Variable "D" geschrieben? In diesem Fall war derKontext nach dem Phonem nicht relevant: es ist egal was nach //kommt. Um zu wissen, wie dieses Phonem realisiert wird, müssenwir wissen, was vor ihm steht, nicht was nach ihm steht. Müssen wir

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nun auch noch eine Regel schreiben, in der angegeben wird, dass// zu [] wird? Nein, das müssen wir nicht. // → [] ist dersogenannte elsewhere-case. Wir nehmen an, dass in allen Fällen,die nicht unter unsere Regel fallen (den elsewhere-Fällen), garnichts passiert und das Phonem keine Veränderung erfährt.

Überlegen wir uns noch, wie die Regel aussehen würde, wenn wirvon einem Phonem /x/ ausgingen:

(37) Assimilation der dorsalen Frikative:Hypothese mit Phonem /x/

/x/ → [] / [-hinten] ___[Konsonant][µ

Diese Regel liest sich so: das Phonem /x/ wird als Phon [] realisiertim Kontext nach vorderen Lauten, Konsonanten und demMorphemanfang. Für den Anfang bzw. das Ende einermorphologischen Einheit schreibt man oft eine sich öffnendeeckige Klammer "[" (für den Anfang der Einheit) bzw. eine sichschließende eckige Klammer "]" (für das Ende einer Einheit). Mangibt außerdem den Namen der jeweiligen Einheit mit griechischenBuchstaben an, z.B. µ für Morphem, σ für Silbe u.s.w. Man siehtnun auf Anhieb, dass diese Regel mit ihren drei Kontextangabenkomplizierter ist als die Regel, die wir zuerst formuliert hatten. Esist außerdem nicht ersichtlich, was diese drei Kontexte miteinanderzu tun haben sollten. Wie in anderen Dingen im Leben, so solltenwir auch in der Linguistik versuchen, unsere Darstellungen soeinfach und elegant wie möglich zu halten. Wir werden uns alsofreuen, wenn es uns gelingt, eine einfache Regel wie in (36) zuformulieren und werden hingegen skeptisch die Augenbrauenrunzeln, wenn wir eine Formalisierung wie in (37) finden.

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3.2 Vokalisierung des /r/11

Übung 9

Lasst euch die folgenden Beispiele von einem deutschenMuttersprachler vorsprechen und versucht herauszufinden, inwelchen Wörtern die r-Laute [R] und [] zu hören sind und wo wirhingegen das vokalisierte [] hören.

Tür bitter reinTor Lehrer Rollemehr weiter rufenHerr Wetter Türenhörte Seher Toregestorben sehr fahrenHirte hörst hörenwurde Sport mehrerezer (wie in "zer-reißen") Wirt Lehrerinver (wie in "ver-gessen")

1. Um welche Laute handelt es sich hier? Nennt Artikulationsortund -art (für die Konsonanten) bzw. Zungenposition (für denVokal):

[R] ist ....[] ist ...[] ist ...

11 Für das Phonem, das den r-Lauten zugrunde liegt, wird in der Phonologie desDeutschen traditionell /r/ geschrieben. Das ist etwas seltsam, da das Phon [r] (deralveolare Vibrant) im Standarddeutschen als Laut praktisch nicht mehrvorkommt. Wir werden in diesem Text jedoch die traditionelle Schreibweisebeibehalten.

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3. Phonologische Prozesse und Regeln 71

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2. Schreibt neben jedes Wort, ob das /r/, das es enthält, als [R] bzw.[] oder aber als [] ausgesprochen wird.3. Beschreibt in Worten, in welchen Kontexten das /r/ vokalisiertwird (also wann es als [] realisiert wird). Falls ihr nichtherausfindet, wann das passiert, dann schaut euch noch einmalgenau das Beispiel zum Koreanischen im letzten Kapitel an.4. Konstruiert eine phonologische Regel (Regel der r-Vokalisierung), die das ausdrückt, was ihr unter 3. mit Wortenbeschrieben habt.5. Fasst zusammen: welche Realisierungen hat das Phonem /r/ imDeutschen? Welche dieser Realisierungen müssen wir alsallophonisch werten und welche nicht?

Wenn ihr euch noch einmal die IPA-Tabelle anschaut, dann werdetihr sehen, dass es sich bei dem Laut [R] um einen uvularenVibranten (auf Englisch: trill) handelt. Der Konsonant [] ist auchein uvularer Laut, aber ein Frikativ. Das [] ist kein Konsonant,sondern ein zentraler Vokal. Sein Artikulationsort ist ähnlich wieder des schwa, aber etwas tiefer (s. Kap. 2.1.4, wo schwa und []verglichen werden).Ihr solltet in den obigen Beispielen folgende r-Laute gehörthaben: In der ersten Spalte finden wir Beispiele, bei denen diemeisten Sprecher ein vokalisiertes [] verwenden; es gibt auchSprecher, die nach kurzen Vokalen, wie in den Beispielen Herr,Hirte, wurde kein vokalisiertes [ ] sondern [R] oder []verwenden; die Präfixe zer- und ver- werden als [ts] oder [ts]bzw. [f] oder [f], aber jedenfalls meist mit vokalisiertem []ausgesprochen. Die Beispiele in der zweiten Spalte werden auchmit vokalisiertem [] ausgesprochen, außer - für manche Sprecher- die Beispiele Sport und Wirt, die einen kurzen Vokal enthalten.Wir können außerdem feststellen, dass in den Beispielen bitter,Lehrer, weiter, Wetter, Seher das schwa vor dem finalen /r/ wegfällt.Diese Wörter werden also als [b t, le:R/le:, v at, v t, ze:]ausgesprochen. Beachtet, dass demnach die Wörter Seher und sehrbeide als [ze:] ausgesprochen werden. Der einzige Unterschied

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3. Phonologische Prozesse und Regeln 72

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zwischen den beiden ist, dass Seher aus zwei Silben besteht,während sehr einsilbig ist. Die Beispiele in der dritten Spalteenthalten entweder ein [R] oder ein [ ]. Die Distribution derbeiden Laute ist in diesen Beispielen frei, außer vielleicht dieVorliebe des [R]s für die wortinitiale Position.

In welchen Kontexten wird also das Phonem /r/ vokalisiert?Lassen wir zuerst einmal die Sprecher, die nach kurzen Vokalendas /r/ nicht vokalisieren, beiseite. Für alle anderen Sprecherkönnen wir folgendes beobachten: Am Ende eines Wortes wird ein/r/ auf jeden Fall vokalisiert. Das sehen wir an den Beispielen Tür,Tor, mehr, Herr, bitter, Lehrer, weiter, Wetter, Seher, sehr. "Endedes Wortes" genügt aber noch nicht als Kontext für die r-Vokalisierung, denn das Phonem /r/ wird auch in den Beispielenhörte, gestorben, Hirten, wurde, zer-, ver- vokalisiert. In diesenWörtern bzw. Morphemen steht das /r/ nicht am Ende eines Wortes,es steht jedoch am Ende einer anderen linguistischen Einheit, derSilbe. Sollen wir nun also sagen, dass das /r/ "am Ende eines Wortesund am Ende einer Silbe" vokalisiert wird? Nun, diese Regel würdeziemlich genau die angegebenen Beispiele umfassen, aber sie istnicht besonders elegant. Wie wäre es mit "das Phonem /r/ wird amEnde einer Silbe vokalisiert"? Diese Regel ist kürzer und sieumfasst sowohl Beispiele wie gestorben als auch Beispiele wie Tür,denn das Ende eines Wortes ist immer auch das Ende einer Silbe.Wir haben jetzt aber noch die Beispiele hörst, Sport und Wirt nichtberücksichtigt. In diesen Beispielen steht das /r/ schon irgendwieam Ende der Silbe, aber wenn man ganz genau hinschaut, dannstehen zwischen dem /r/ und dem Silbenende noch einer odermehrere Konsonanten. Ich illustriere das am Beispiel hörst:

(38) . h ø: s t .

Wenn man Silbenanfang und Silbenende mit zwei Punktenausdrückt, dann sieht man, dass sich zwischen dem vokalisierten[] und dem Silbenende "." die beiden Konsonanten [s] und [t]befinden. Wir können also unsere Regel noch etwas präzisieren:"das Phonem /r/ wird am Silbenende vokalisiert, auch wenn

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3. Phonologische Prozesse und Regeln 73

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zwischen dem /r/ und dem Silbenende noch einer oder mehrereKonsonanten stehen". Wenn wir nun die Beispiele in der drittenSpalte betrachten, dann können wir sehen, dass unsere Regelstimmen muss, denn in diesen Beispielen steht das /r/ immer amSilbenanfang und folglich wird es nicht vokalisiert.

Wenden wir uns nun noch den Sprechern zu, die das /r/ nachkurzen Vokalen nicht vokalisieren. Für sie gilt unsere Regel nurbedingt, sie muss etwas eingeschränkt werden, z.B. so: "dasPhonem /r/ wird nach langen Vokalen am Silbenende vokalisiert,auch wenn zwischen dem /r/ und dem Silbenende noch einer odermehrere Konsonanten stehen".

Wir versuchen nun, die Distribution des vokalisierten [], diewir soeben in Worten ausgedrückt haben, in einer formalen Regeldarzustellen. Als input nehmen wir das Phonem /r/, als outputgeben wir das Resultat des phonologischen Prozesses, das [] an:

(39) /r/ → []

Das Phonem /r/ wird durch das Phon [] realisiert. Nun müssen wirnoch angeben, in welchem Kontext das geschieht. Wir hattengesagt, "am Ende der Silbe". Den Kontext "Ende der Silbe",können wir durch eine sich schließende eckige Klammer und dengriechischen Buchstaben sigma ausdrücken: ]σ. Wo steht nun derPlatzhalterstrich, der die Position des Phonems angibt? Vor demZeichen für das Silbenende oder nach ihm? Wenn wir uns einBeispiel wie hörte [hø:.t] anschauen, dann können wir feststellen,dass sich das vokalisierte [] vor dem Silbenende, das durch einenPunkt ausgedrückt wird, befindet. Der Platzhalterstrich steht alsovor dem Symbol für das Silbenende:

(40) /r/ → []/ __ ]σ

Nun fehlt nur noch ein wichtiger Teil unserer Regel: wir müssenausdrücken, dass dieser phonologische Prozess auch dann statt-findet, wenn zwischen dem /r/ und dem Silbenende einer oder

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3. Phonologische Prozesse und Regeln 74

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mehrere Konsonanten stehen. Wir können das darstellen, indemwir zwischen den Platzhalterstrich und das Symbol für dasSilbenende das Zeichen "(C)" einfügen. "C" steht für "Konsonant"und die Klammer bedeutet, dass dieser Konsonnt optional auftritt.Es m u s s also kein Konsonant zwischen dem /r/ und demSilbenende stehen, aber es kann ein Konsonant dort stehen.Unsere Regel wird am Ende also folgendermaßen aussehen:

(41) Regel der r-Vokalisierung:/r/ → []/ __ (C) ]σ

Diese Regel können wir lesen als: "Das Phonem /r/ wird infolgendem Kontext als [] realisiert: wenn es vor dem Silbenendesteht, wobei zwischen /r/ und dem Silbenende ein optionalerKonsonant stehen kann."

Wie müssen wir diese Regel modifizieren, wenn sie auch fürdiejenigen Sprecher gelten soll, die das /r/ nur nach langenVokalen vokalisieren? Wir müssen den Kontext "nach langemVokal" in unsere Regel integrieren:

(42) Regel der r-Vokalisierung: (für einige Sprecher)/r/ → []/ V: __ (C) ]σ

Zusammenfassend können wir über die Distribution der r-Lauteim Deutschen folgendes sagen: Es gibt im Deutschen ein Phonem/r/, das drei Realisierungen hat.

(43) /r/ ← zugrundeliegende Formf g h[R] [] [] ← phonetische Form

Kontext: Kontext:- am Silbenanfang - am Silbenende (vor optionalen

Konsonanten)

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Zwei dieser Realisierungen, [R] und [], kommen im Kontext desSilbenanfangs vor, sind aber untereinander durch freie Variationcharakterisiert. Die dritte Realisierung, [], steht in komplemen-tärer Distribution zu den ersten beiden Realisierungen und kommtam Silbenende vor.

Der alveolare Vibrant [r], der typische r-Laut desItalienischen, ist im Deutschen nicht mehr als eine freie Varianteneben [R] und [] zu werten. Dieser Laut war bis zum ZweitenWeltkrieg charakteristisch für die Bühnenaussprache. In der Tatkann man ihn noch sehr gut in Chansons aus den zwanziger unddreißiger Jahren von Marlene Dietrich oder Lotte Lenya hören.Auch Adolf Hitler, der sich offensichtlich der Bühnenaussprachebediente, verwendete in seinen Reden den alveolaren Vibranten.Heutzutage findet man das [r] aber nur mehr in einigenbayrischen Dialekten, in der Standardsprache wird es nicht mehrverwendet und die meisten Sprecher des Deutschen sind auchnicht fähig, es zu produzieren.

3.3 Nasalassimilation und g-Tilgung

Übung 10

Untersucht die Distribution von [n] und [] in den folgendenBeispielen:Hand [hant(h)] Bank [b ak(h)]ganz [g ants] sink! [zk(h)]Kind [khnt(h)] denken [d kn]Wand [v ant(h)] Tango [thago]Hans [hans] Ungar [uga]Wunsch [v n] Ingo [go]Hanf [hanf]Senf [znf]

1. Bestimmt die Artikulationsart und den Artikulationsort von [n]

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und [] nach dem IPA.2. Gebt an, in welchen Kontexten wir [n] und [] finden.3. Handelt es sich hier um komplementäre Distribution? Sind [n]und [] Phoneme oder Allophone?4. Beschreibt den Prozess, den ihr beobachtet habt, in Worten.5. Beschreibt den Prozess, den ihr beobachtet habt, mithilfe einerphonologischen Regel, indem ihr davon ausgeht, dass das Phonem/n/ in bestimmten Kontexten als Phon [] realisiert wird.6. Was könnte die Funktion dieses Prozesses sein? Warum findet erstatt?7. Wir können [n] vor Frikativen finden, [] aber nur vor Plosiven.Was könnte der Grund für diese Einschränkung sein?

Bei den beiden Nasalen, die wir in den obigen Beispielenvorfinden, handelt es sich um den alveolaren Nasal [n] und denvelaren Nasal [] (auch angma [ma] genannt). Wenn wir dieBeispiele in den beiden Spalten vergleichen, dann können wirbeobachten, dass wir [n] vor den alveolaren Plosiven undFrikativen [t, s, ] und vor dem labiodentalen Frikativ [f] finden.12

Der velare Nasal [] hingegen tritt nur vor den velaren Plosive [k,g] auf. Bei der Distribution der beiden Laute muss es sich umkomplementäre Distribution handeln, denn wir finden nie ein [n]vor einem velaren Laut und nie ein [] vor einem nicht-velarenLaut. Die Nasale [n] und [] sind also aller Wahrscheinlichkeitnach Allophone desselben zugrundeliegenden Phonems. Wirgehen davon aus, dass das zugrundeliegende Phonem /n/, undnicht // ist, da wir [n] in einer größeren Anzahl von Kontexten(vor alveolaren Plosiven und Frikativen, vor labiodentalenFrikativen) finden als [] (nur vor velaren Plosiven).13 Wir könnendiesen phonologischen Prozess also folgendermaßen formulieren:das Phonem /n/ wird vor den velaren Plosiven [g] und [k] als 12 Vor [f] wird [n], bei schneller Aussprache, auch oft zum labiodentalen Nasal[] assimiliert ([haf, sf]). Wir ignorieren diese Aussprache hier.13 s. Wiese (1996: 218) für eine ausführlichere Diskussion des anzunehmendenzugrundeliegenden Phonems.

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velarer Nasal [] realisiert. Als phonologische Regel können wirden Prozess so darstellen:

(44) Nasalassimilation:/n/ → [] / __ [g, k]

Was könnte der Grund für diesen Prozess sein? Wir sehen hier,dass ein Nasal vor einem velaren Laut zu einem velaren Nasallautwird. In anderen Worten, der Artikulationsort des Nasals und desdarauffolgenden Plosivs gleichen sich an. Es handelt sich hier umeinen typischen Fall von Assimilation, in diesem Fall vonAssimilation des Artikulationsortes. Wir haben einen ähnlichenFall schon in Kap. 2.2.2 beschrieben, wo wir über die Distributionvon ich- und ach-Laut gesprochen haben. Assimilierte Strukturenkommen der Faulheit des Sprechers entgegen: er muss die Zungenicht, wie in [nk], von den Zähnen zum Velum bewegen, sonderner kann sie gleich hinten, beim Velum positionieren. Assimilationbedeutet also eine Ersparnis an Zungenbewegungen. Was gut fürden Sprecher ist, ist oft aber nicht gut für den Hörer. Zu vielAssimilation macht es für den Hörer schwierig, die einzelnenSegmente auseinanderzuhalten. In einem Sprachsystem gibt esdeshalb zwar oft Assimilationsprozesse, ihnen sind aber auchimmer gewisse Grenzen gesetzt.

Warum findet dieser Prozess nur vor Plosiven, nicht aber voranderen Konsonanten statt? Nun, wenn wir uns das IPA anschauen,dann sehen wir, dass der einzige andere velare Konsonant, den esim Deutschen gibt, der ach-Laut [x] ist. Der ach-Laut ist also dereinzige Konsonant, vor dem im Prinzip ein /n/ zu einem velaren[] werden könnte. Wir wissen jedoch, dass [x] ein Allophon von[] ist, das nur nach hinteren und zentralen Vokalen auftaucht.Nach Konsonanten, also auch Nasalen, finden wir immer den ich-Laut []. In anderen Worten, den Kontext [nx], der Assimilationauslösen könnte, werden wir im Deutschen nie finden, da wir [x]nie nach einem Konsonanten finden. Wir wissen also eigentlichgar nicht, ob die Nasalassimilation auf Plosive beschränkt ist, da es

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3. Phonologische Prozesse und Regeln 78

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einfach keine Kontexte gibt, in denen wir beobachten könnten,was mit [n] vor einem Nicht-Plosiv passiert.

Wir können also eigentlich unsere Regel noch etwas allge-meiner formulieren, indem wir sagen, dass Nasalassimilation imAllgemeinen vor velaren Konsonanten stattfindet. Da der velareFrikativ [x] nie nach [n] vorkommt, kann er auch kein Problemfür diese Formulierung sein. Velare Konsonanten sind durch dasMerkmal [DORSAL] charakterisiert (s. Kap. 4). Wir könnten alsoz.B. die Regel folgendermaßen formulieren:

(45) Nasalassimilation: allgemeiner formuliert/n/ → [DORSAL] / __ [DORSAL]

Nun sieht man sehr schön, dass es sich hier um Assimilationhandeln muss: ein Nasal wird dorsal in einem dorsalen Kontext.

Bei dem gerade beschriebenen Prozess handelt es sich um einesogenannte regressive Assimilation, da ein Segment ein ihmvorausgehendes Segment beeinflusst:

(46) Regressive Assimilationn k, g

Es gibt im Deutschen aber auch einen Prozess der progressivenNasalassimilation. Dieser Prozess betrifft die sogenanntensilbischen Nasale, d.h. Nasale, die den Nukleus einer Silbe bilden.Silbische Nasale entstehen, wenn in einer Flexionsendung dasschwa wegfällt und der Nasal die Position des Silbennukleusbesetzt (s. Kap. 5.1). Das passiert eigentlich immer bei einemnormalen Sprechtempo. Nur wenn wir langsam und deutlichsprechen, wird das schwa wirklich ausgesprochen. Wirkennzeichnen silbische Konsonanten mit einem vertikalen Strichunter dem IPA-Zeichen, wie im folgenden Beispiel:

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(47)<reden>: Langsame Aussprache normale bis schnelleAussprache

[Re:.dn] [Re:.dn ]

Wenn nun der Nasal silbisch ist, dann unterliegt er nach einemPlosiv einer progressiven Assimilation, d.h., er passt sich an denvorhergehenden Laut an, wie die folgenden Beispiele zeigen:

(48) Langsame Aussprache normale bisschnelle Aussprache

loben [lo:bn] [lo:bm ]geben [ge:bn] [ge:bm ]raten [ra:tn] [ra:tn ]laden [la:dn] [la:dn ]legen [le:gn] [le:g]fragen [fra:gn] [fra:g]

Wir sehen, dass ein silbischer Nasal nach einem labialen [b] zueinem labialen Nasal [m] und nach einem velaren [g] zu einemvelaren Nasal [] wird. Nach einem dentalen Plosiv wie [t, d] bleibtder Nasal natürlich ein dentales [n].

Bei dieser Assimilation handelt es sich um eine progressiveAssimilation, denn der erste Laut, der Plosiv, beeinflusst den aufihn folgenden Laut, also den Nasal:

(49) Progressive AssimilationPlosiv silbischer Nasal

Übung 11

Handelt es sich bei der Assimilation der dorsalen Frikative (ich-/ach-Laut) um eine regressive oder eine progressive Assimilation?

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Kehren wir zur Assimilation von [n] vor einem velaren Plosivzurück. Dieser Prozess ist eng mit dem Prozess der sogenannten g-Tilgung verbunden. Wenn der velare Nasal vor einem [g] steht,dann gibt es nämlich einige Kontexte, in denen das [g] wegfällt,wie z.B. in

(50) <sing!> [z]

Wenn wir uns dieses Beispiel genau anschauen, dann sollte unseigentlich eine Sache besonders verblüffen: wir haben in [z] einassimiliertes [], obwohl der Auslöser der Assimilation, das [g], garnicht mehr da ist! Dieses Phänomen nennt man in der PhonologieOpazität. In unserem Fall ist die Struktur [z] opak, weil derProzess der Nasalassimilation stattgefunden haben muss(immerhin sehen wir ein velares []), aber die Struktur an derOberfläche so aussieht, als hätte er nicht stattfinden können (wirsehen den Auslöser der Assimilation, das [g], nicht mehr).

Diese verzwickten Fälle löst eine regelbasierte Phonologie miteiner geordneten Reihenfolge von Regeln. Nasalassimilation undg-Tilgung können wir beispielsweise folgendermaßen analysieren:- zuerst findet ein Prozess der Nasalassimilation statt- dann findet der Prozess der g-Tilgung statt

In unserem Ebenenmodell können wir das so darstellen:

(51) Ableitung von <sing>:

/zng/ ← zugrundeliegende Repräsentation (Ebene der Phoneme) ← Nasalassimilation

[zg] ← Zwischenebene ← g-Tilgung

[z] ← Oberflächenrepräsentation (Ebene der Phone)

Wir können uns das Ebenenmodell wie eine Maschine vorstellen.Ganz oben werfen wir die zugrundeliegende, phonematische Formin die Maschine. Diese Form erfährt dann den Prozess der

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Nasalassimilation, der eine Zwischenform schafft, [zg]. Beachtet,dass wir diese Zwischenform eigentlich nie sehen, denn das Wort<sing> wird nie als [zg] ausgesprochen. Auf diese Form wirdnun die g-Tilgung angewandt und so erhalten wir am Ende dieOberflächenform [z].

Die genaue Umgebung, in der der Prozess der g-Tilgungstattfindet, ist ziemlich kompliziert (s. Wiese 1996:224), aber wirkönnen für unsere Zwecke hier festhalten, dass ein [g] nach einemNasal getilgt wird, wenn es sich in folgenden Kontexten befindet:- vor einem schwa [] oder vokalisierten []- am Ende eines Morphems, aber nur, wenn der Hauptakzent desWortes nicht auf den Vokal nach der Morphemgrenze fällt.

So finden wir g-Tilgung also in den folgenden Wörtern, beidenen [g] vor schwa oder vokalisiertem [] steht:

(52) Dinge [d ]Engel [l]Inge []Finger [f]

[g] fällt jedoch nicht weg, wenn nach ihm ein "voller" Vokal steht:

(53) Ingo [go]Ungarn [gan]Singular [zgula:]

In den folgenden Fällen steht [g] am Ende eines Morphems. Das[g] fällt weg, wenn auf die Morphemgrenze kein Vokal mitHauptakzent folgt:

(54) läng-lich [ll]Beding-ung [b d]Diphtong [d ft]

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Es bleibt erhalten, wenn auf die Morphemgrenze ein Vokal mitHauptakzent folgt:

(55) fing-íer-en [figí:n]diphtong-íer-en [d ftgí:n]

Übung 12

Welche Form würden wir für das Wort /dng/ erhalten, wenn wir dieOrdnung der beiden Regeln "Nasalassimilation" und "g-Tilgung"invertieren würden, d.h., wenn wir zuerst die g-Tilgung anwendenwürden und dann die Nasalassimilation? Zeichnet ein Ebenenmo-dell dieser Ableitung.

Spielen wir die Inversion der beiden Regeln der Nasalassimilationund der g-Tilgung durch. Beginnen wir mit der zugrunde-liegenden Form /dng/. Wenn wir auf diese Form die Regel der g-Tilgung anwenden, dann passiert - nichts! Denn wir hatten gesagt,dass das [g] nach einem velaren Nasal getilgt wird. In derzugrundeliegenden Form haben wir aber keinen velaren Nasal.Nun wenden wir die Regel der Nasalassimilation an. Wir erhaltendie Form [dg]. Was unsere beiden Regeln betrifft, so könntenwir hier aufhören. Wir wissen aber, dass es im Deutschen auchnoch die Regel der Auslautverhärtung gibt, die stimmhafte Plosiveam Ende eines Wortes zu stimmlosen Plosiven macht. Wenn wirdiese Regel auf die Form [dg] anwenden, so erhalten wir [dk].Der erste Konsonant des Wortes ist außerdem nicht vollkommenstimmhaft, also wird die endgültige Oberflächenform [d k] sein.

Was hier wie ein Spiel mit der Anordnung der verschiede-nen Regeln aussieht, besitzt linguistische Realität. Es gibt nord-deutsche Sprecher, die für /dng/ nicht [d ], sondern [d k] sagen.Diese Aussprache ist typisch nicht allein für bestimmte Dialekte,sondern im Allgemeinen für gewisse norddeutsche Umgangs-

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sprachen. Wir haben hier eine einfache und elegante Art gezeigt,wie man diesen Unterschied zwischen norddeutscher und stan-darddeutscher Aussprache erklären kann: die Sprecher der beidenAussprachevarianten besitzen die gleichen Regeln, aber die An-ordnung dieser Regeln ist in den beiden Varietäten verschieden.

Wir können die "norddeutsche" Ableitung von /dng/schematisch so darstellen:

(56) Ableitung von <Ding>: norddeutsche Varietäten

/dng/ ← zugrundeliegende Repräsentation (Ebene der Phoneme) ← g-Tilgung (nicht anwendbar)

[dng] ← Zwischenebene ← Nasalassimilation

[dg] ← Zwischenebene ← Auslautverhärtung, teilweise Stimmhaftigkeit

[d k] ← Oberflächenrepräsentation (Ebene der Phone)

3.4 Aspiration der Plosive

Wir haben schon in vorhergehenden Kapiteln einige Mal bemerkt,dass die stimmlosen Plosive [p, t, k] im Deutschen oft aspiriertwerden. Wir wollen uns nun genau anschauen, in welchenKontexten das geschieht (s. Hall 1992, Ramers&Vater 1995, Wiese1996 für eine ausführliche Diskussion).

Wir halten zunächst fest, dass nur jene stimmlosen Plosiveaspiriert werden, die alleine am Silbenanfang stehen. Wenn aufden stimmlosen Plosiv noch ein weiterer Konsonant folgt oder ihmein anderer Konsonant vorausgeht, dann finden wir keineAspiration, wie die folgenden Beispiele zeigen:

(57) Keine Aspiration wenn der Plosiv nicht alleine amSilbenanfang stehtTraube [tRab]Platz [plats]

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stehen [te:n]sparen [pa:n]

Wir finden eine starke Aspiration des Plosivs, wenn er vor einembetonten Vokal steht:

(58) Aspiration vor betonten VokalenTanz [thánts]Pech [ph]getan [g thá:n]Natur [nathú:]

Am Wortanfang finden wir oft Aspiration, auch wenn der ersteVokal nicht betont ist:

(59) Talent [thalnt(h)]Pedant [phedánt(h)]Kamel [khamé:l]

Am Wortende ist Aspiration optional (s. Kap. 2.2.3)

(60) tot [tho:t(h)]lieb [li:p(h)]lag [la:k(h)]

Zusammenfassend können wir also sagen, dass die stimmlosenPlosive in folgenden Kontexten aspiriert werden:- vor betonten Vokalen (stark)- am Wortanfang (weniger stark)- optional am Wortende

Wie wir schon erwähnt hatten, gibt es die Aspiration in vielensüddeutschen Varietäten überhaupt nicht. Im Englischen werdenstimmlose Plosive auf sehr ähnliche Weise wie im Deutschenaspiriert. Im Niederländischen, einer Sprache, die dem Deutschensehr ähnlich ist, werden die stimmlosen Plosive wiederum nichtaspiriert. Wir hatten außerdem beobachtet, dass die Aspiration im

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3. Phonologische Prozesse und Regeln 85

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Deutschen - im Gegensatz zu Sprachen wie dem Hindi - nichtdistinktiv ist.

3.5 Auslautverhärtung

Übung 13

Untersucht die Alternation der Stimmhaftigkeit in den folgendenBeispielen:Lobes, Lob [lo:bs] [lo:p(h)]Rades, Rad [Ra:ds] [Ra:t(h)]Tages, Tag [tha:gs] [tha:k(h)]aktive, aktiv [akthi:v] [akthi:f]ewige, ew'ge [e:vg] [e:fg] Beispiel aus Wiese (1996)Rose, Röschen [Ro:z] [Rø:sn]fragen, fragte [fRa:gn] [fRa:kt]jagen, Jagd [ja:gn] [ja:kt]loben, lobst [lo:bn] [lo:pst]

1. Gebt an, welche Laute hier stimmlos werden.2. Beschreibt in Worten den Kontext, in dem die Laute stimmloswerden.3. Schreibt eine phonologische Regel, die diesen Prozessbeschreibt.

Wir können an diesen Beispielen beobachten, dass die Phoneme /b,d, g, v, z/ in bestimmten Kontexten als stimmlose Phone [p, t, k, f,s] realisiert werden. Bei diesen Phonemen handelt es sich um dieKlasse der Plosive und Frikative. Zusammen bilden sie die Klasseder Obstruenten, die so genannt werden, weil der Luftstrom bei derProduktion dieser Laute teilweise oder ganz behindert wird.Obstruenten haben auch noch eine weitere gemeinsame

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Charakteristik: in vielen Sprachen der Welt, wie auch imDeutschen, Italienischen und Englischen, kommen sie immer "inPaaren" vor, d.h., es gibt von den meisten Obstruenten sowohl diestimmhafte als auch die stimmlose Version. So gibt es zum [p]seine stimmhafte "Schwester", das [b], zum [f] das [v] u.s.w.Dadurch unterscheiden sich die Obstruenten von den sogenanntenSonoranten, die normalerweise nur in ihrer stimmhaften Versionauftauchen. Zu den Sonoranten gehören die Nasale, die Vibranten,die Laterale, die Approximanten und die Vokale. Von diesenLauten sagt man, dass sie spontan stimmhaft sind. ZumUnterschied zwischen Obstruenten und Sonoranten kommen wirim Kap. 4 zurück, wo über distinktive Merkmale gesprochen wird.

In welchem Kontext werden nun die Obstruenten stimmlos?Wenn wir die Beispiele Lob, Rad, Tag, aktiv betrachten, sokönnten wir meinen, dass die Auslautverhärtung das Ende desWortes betrifft. Aber schon beim Beispiel ewige, ew'ge werden wireines besseren belehrt. Das Wort e w ' g e stellt eineZusammenziehung des Wortes ewige dar, wie wir sie in lyrischenTexten finden können. Die Zusammenziehung dient dazu, dasWort um eine Silbe zu verkürzen, damit es in die metrischeStruktur des Gedichtes passt. Im Wort ewige ist der Obstruent [v]stimmhaft, in der Zusammenziehung ew'ge hingegen wird er zueinem stimmlosen [f]. Wir müssen uns also fragen, worin derUnterschied zwischen ewige und ew'ge besteht. Wenn wir genauhinsehen, dann können wir beobachten, dass das [v] in ewige amAnfang einer Silbe steht, das [f] in ew'ge hingegen am Ende einerSilbe. Wir müssen also schließen, dass die Auslautverhärtung amEnde einer Silbe stattfindet. Es kann auch nicht sein, dass das /v/am Ende eines Morphems stimmlos wird, denn wir sehen, dass das/v/ weder in ewig-e noch in ew'g-e am Ende eines Morphems steht.Wir können nun die anderen Beispiele untersuchen undkontrollieren, ob unsere Hypothese "Auslautverhärtung findet amSilbenende statt" auch für diese Beispiele zutrifft.

Im Beispiel Röschen befindet sich das Phonem /z/ auch amSilbenende und wird deshalb als stimmloses [s] realisiert. Dasselbe

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gilt für das Beispiel fragte, wo /g/ am Silbenende als [k] realisiertwird. Im Beispiel Jagd sehen wir, dass der stimmhafte Obstruent /g/nicht am absoluten Silbenende stehen muss, es kann sich zwischenihm und dem Silbenende auch noch ein Konsonant befinden.Dieser Konsonant wird natürlich auch als stimmlos realisiert, indiesem Fall als ein stimmloses [t]. Eine ähnliche Situation findenwir in lobst vor. Das stimmhafte /b/ wird stimmlos, auch wenn sichzwischen dem /b/ und dem Silbenende die beiden Konsonanten[st] befinden.

Wir können also unsere Regel für die Auslautverhärtungfolgendermaßen formulieren: Obstruenten werden am Silbenendestimmlos, auch wenn zwischen dem Obstruenten und demSilbenende noch einer oder mehrere Konsonanten stehen.

Wir versuchen jetzt, diese Beobachtung in einerphonologischen Regel auszudrücken. Beginnen wir damit, dass wirden input angeben. Wir könnten z.B. einfach alle betroffenenPhoneme auflisten:

(61) /b, d, g, v, z/ →

Auf diese Weise würden wir jedoch die Generalisierung übersehen,dass es sich hier nicht um eine zufällige Liste von Phonemenhandelt, sondern um Phoneme, die alle etwas gemeinsam haben.Es handelt sich um eine Klasse von Lauten, die Klasse derObstruenten. Wir können also für den input den Namen der Klasseeinsetzen:14

(62) Obstruent →

Was geschieht nun mit den Obstruenten? Sie werden stimmlos:

(63) Obstruent → [-stimmhaft]

14 Eine Darstellung des input in Form von distinktiven Merkmalen werden wir imKap. 4 vornehmen.

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Jetzt müssen wir noch den Kontext angeben, in denen dieserProzess stattfindet, "am Silbenende, auch wenn vor demSilbenende noch einer oder mehrere Konsonanten stehen". Wirhatten schon beim Prozess der r-Vokalisierung gesehen, dass sichein Kontext dieser Art folgendermaßen darstellen lässt:

(64) AuslautverhärtungObstruent → [-stimmhaft]/ __ (C) ]σ

Wir können nun noch einige Überlegungen zur Formulierungdieser Regel anstellen. Warum haben wir z.B. als input nicht"stimmhafte Obstruenten" angegeben?

(65) Auslautverhärtung ?Obstruent → [-stimmhaft]/ __ (C) ]σ[+stimmhaft]

In den Beispielen, die wir untersucht haben, waren es ja immerstimmhafte Plosive und Frikative, die stimmlos wurden.Andererseits können wir uns jedoch auch fragen, ob die Regelohne den Zusatz [+stimmhaft] für die Obstruenten nicht dochfunktioniert. Ohne diesen Zusatz betrifft sie nicht nur stimmhafte,sondern auch stimmlose Obstruenten, wie z.B. ein /p/. Wir würdenalso sagen, dass ein /p/ am Ende einer Silbe stimmlos wird. Das istnicht problematisch, da ein /p/ sowieso schon stimmlos ist. Da dieRegel also auch ohne den Zusatz [+stimmhaft] funktioniert,werden wir diesen Zusatz weglassen, da eine Regel immer soeinfach wie möglich sein sollte. Wir können die Regel in einemgewissen Sinn auch als allgemeines Prinzip formulieren:Obstruenten werden am Silbenende als stimmlos realisiert, egal obsie im input stimmhaft oder stimmlos sind. Bei diesemphonologischen Prozess handelt es sich um eine Neutralisierung,da in einer bestimmten Position (dem Silbenende) der Wert für[±stimmhaft] zu [-stimmhaft] neutralisiert wird. Wir können das inunserem Ebenenmodell am Beispiel der Phoneme /p/ und /b/folgendermaßen darstellen:

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(66) /p/ /b/ ← zugrundeliegende Formy r[p] ← phonetische Form

Kontext:Ende der Silbe

Die Auslautverhärtung ist einer der wichtigsten phonologischenProzesse des Deutschen. Wie wir schon in Kap. 1 gesagt hatten,verwenden deutsche Sprecher diesen Prozess auch unbewusst,wenn sie andere Sprachen, wie z.B. Englisch sprechen. Durch dieAuslautverhärtung kann es dann oft zu echten Verständnis-schwierigkeiten kommen, wenn z.B. die finalen Konsonanten inden Wörtern lice und lies und laugh und love immer als stimmlosausgesprochen werden, obwohl sie im Englischen in lice undlaugh stimmlos und in lies und love stimmhaft sind. DieAuslautverhärtung gibt es aber nicht nur im Deutschen, sondernauch in anderen Sprachen, wie z.B. im Katalanischen und imRussischen.

Wir wollen jetzt noch ein kleines Gedankenexperimentdurchführen, um uns in der Vorgehensweise der linguistischenAnalyse zu üben. Wir hatten gesagt, dass es sich bei dem Prozessder Auslautverhärtung um einen Prozess handelt, bei demstimmhafte Laute stimmlos werden. Das ist auch sicher richtig,unsere Daten stimmen mit der Formulierung dieser Regel überein.Nun nehmen wir aber einmal an, dass es genau umgekehrt ist:stimmlose Laute werden zwischen zwei Vokalen stimmhaft. Wennwir das erste Beipiel aus unserer Datenliste nehmen

(67) Lobes, Lob [lo:bs] [lo:p(h)]

so könnten wir zum Beispiel annehmen, dass daszugrundeliegende Phonem in diesem Fall /p/ ist, wie in [lo:p(h)].Dieses Phonem wird dann stimmhaft, wenn es sich zwischen zweiVokalen befindet, wie in [lo:bs].

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Was hindert uns daran, so eine Regel der "Verstimmlichung"zwischen Vokalen anzunehmen? Was sagt uns, dass die Regel derAuslautverhärtung richtig ist, jene der "Verstimmlichung" aberfalsch? Im Allgemeinen ist es eine gute Idee, sich solche alterna-tive Erklärungen für ein linguistisches Phänomen vorzustellen unddann zu versuchen, eine der beiden Erklärungen zu falsifizieren.

Welche Regel ist also falsch, welche ist richtig? Wenn wir weiterhinauf die Daten starren, die wir bis jetzt verwendet haben, werden wirnicht weiterkommen, für sie funktionieren beide Regeln. Doch wirhatten in Kap. 1 noch ein paar Beispiele gesehen, die hierinteressant sein könnten:

(68) Räte, Rat [R:t] [Ra:t(h)]

An diesen Beispielen sehen wir, dass unsere Regel der"Verstimmlichung" zwischen Vokalen nicht richtig sein kann,denn dann müsste auch das [t] in Räte zu einem [d] werden. Aberdie Tatsache, dass wir stimmlose Obstruenten zwischen Vokalenfinden können, beweist uns, dass es keinen allgemeinen Prozessgibt, der Obstruenten in dieser Position stimmhaft macht. Wirkönnen also guten Gewissens die Auslautverhärtung als richtigeBeschreibung des Phänomens betrachten.

Ich finde übrigens den Begriff Auslautverhärtung äußerst vage.Was ist mit "Auslaut" gemeint? Der letzte Laut des Wortes? DesMorphems? Der Silbe? Und was genau bedeutet "Verhärtung"? ImEnglischen nennt man diesen Prozess final devoicing, imItalienischen desonorizzazione finale, was der Sache schon etwasnäher kommt.

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3.6. Die Phoneme /s/ und /z/

Übung 14

Schaut euch die folgenden Daten zur Distribution von [s] und [z]genau an und beantwortet dann die Fragen.a. reißen ~ reisen [asn] ~ [azn]

strebsam [te:pzam]Stöpsel [tœpsl]

b. See [ze:]so [zo:]sind [znt]

c. Stall [tal]Spiel [pi:l]Stein [tan]

d. schmecken [mkn]schnell [nl]schreiben [abn]

e. Smoking [smok]Slalom [sla:lm]

f. Gräser, Gras [g :.z], [g a:s]Rose, Röschen [o:.z], [ø:s.n]

1. Handelt es sich bei [s] und [z] um zwei Phoneme oderAllophone eines einzigen Phonems? Schaut euch zurBeantwortung dieser Frage besonders die Daten in a. gut an.2. Beschreibt die Distribution von [s] und [z] in Worten. Inwelchen Kontexten kommt immer nur [s] vor, in welchenKontexten kommt immer nur [z] vor?3. Beschreibt den Prozess, der wortinitiale Phone [z] generiert, mitHilfe einer phonologischen Regel nach dem Schema A B/ C_ D4. Wie ist das im Italienischen? Sucht nach italienischen Wörtern,in denen das <s> in den gleichen Kontexten steht wie wir sie hierim Deutschen haben. Beschreibt, was dort passiert.

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Wenn ihr diese Übung in allen ihren Teilen beantwortet habt, dannsolltet ihr Folgendes herausgefunden haben.

Die Beispiele in (a) zeigen uns, dass /s/ und /z/ im DeutschenPhoneme sind, denn sie können Minimalpaare wie reißen undreisen unterscheiden. Auch die Wörter strebsam und Stöpselweisen auf einen bedeutungsdifferenzierenden Kontrast hin: inbeiden Fällen steht vor dem [z], bzw. [s] ein stimmloser Konsonantund dahinter ein Vokal, der Kontext ist in beiden Fällen also sehrähnlich, doch im ersten Beispiel haben wir einen stimmhaften, imzweiten Beispiel einen stimmlosen Sibilanten.

Die Beispiele in (b) zeigen uns, dass die Phoneme /s/ und /z/am Wortanfang vor Vokal immer als [z] realisiert werden. Wirkönnen dieses Phänomen mit einer phonologischen Regelfolgendermaßen ausdrücken:

(69) /s/ → [z]/ [ω __ V

Diese Regel besagt, dass das Phonem /s/ am Anfang eines Wortesund vor einem Vokal als stimmhaftes [z] realisiert wird. Die offeneeckige Klammer mit der Etikette "ω" steht für den Wortanfang, derPlatzhalterstrich "__" zeigt uns den Kontext des betreffendenPhonems an und "V" steht für "Vokal". Müssen wir hier noch einezweite phonologische Regel angeben, die besagt, dass das Phonem/z/ in demselben Kontext auch als [z] realisiert wird, wie infolgender Regel?

(70) /z/ → [z]/ [ω __ V

Nein, das ist natürlich nicht notwendig, denn die Realisierung von/z/ als [z] ist der "Normalfall" (im Englischen sagt man, derdefault-Fall). Im Normalfall nehmen wir an, dass ein Phonemohne phonetische Veränderungen realisiert wird.

Wie bei der Auslautverhärtung, so handelt es sich auch beidiesem phonologischen Prozess um eine Neutralisierung: amWortanfang vor Vokal werden die beiden Phoneme /s/ und /z/ zu

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3. Phonologische Prozesse und Regeln 93

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einem einzigen Laut [z] neutralisiert, d.h., sie werden beide mitdemselben Laut [z] realisiert:

(71) Neutralisierung der Phoneme /s/ und /z/ zu [z] amWortanfang vor Vokal:/s/

[z]/z/

Das bedeutet, dass wir von einem Wort wie ['ze:] gar nicht sagenkönnen, ob es in der zugrundeliegenden Form das Phonem /s/oder das Phonem /z/ hat. Beide Phoneme würden auf jeden Fall als[z] realisiert werden.

Die Beispiele in (c) zeigen uns einen weiterenNeutralisierungsprozess. Wir sehen, dass /s/ und /z/ am Wortanfangvor Konsonant als [] realisiert werden. Das gilt jedenfalls fürnative Wörter wie Stall, Spiel, Stein. Vor den Kononanten /r, l, m,n/ wird die Aussprache als [] auch durch die Orthographieausgedrückt (s. Beispiele in d.). Bei Fremdwörtern finden wir indiesem Kontext auch oft die Realisierung [s], wie z.B. in Smokingund Slalom. Wir können also für den nativen Wortschatz folgendeRegel aufstellen:

(72) /s/, /z/ → []/ [ω __ C

Die Regel besagt, dass die Phoneme /s/ und /z/ am Wortanfang voreinem Konsonanten ("C") als [] realisiert werden. Da es sich umeinen Neutralisierungsprozess handelt, wissen wir auch in diesemFall bei einem Wort wie Spiel nicht, ob zugrundeliegend ein /s/oder /z/ vorliegt. Es könnte zugrundeliegend sogar ein []vorliegen, auch wenn die Orthographie uns eher an ein /s/ oder /z/denken lässt. Was aber auch immer das zugrundeliegende Phonemsein mag, alle drei Phoneme können in diesem Kontext im nativenWortschatz nur als [] realisiert werden:

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3. Phonologische Prozesse und Regeln 94

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(73) Neutralisierung der Phoneme /s/, /z/, // zu [] amWortanfang vor Konsonant:

/s/ // []/z/

Die Beispiele in (f) zeigen uns einen Neutralisierungsprozess, denwir schon kennen, die Auslautverhärtung. Das Phonem /z/ wird amSilbenende als stimmloses [s] realisiert.

In niederdeutschen Dialekten, die im Norden Deutschlandsgesprochen werden, gibt es den Neutralisierungsprozess in (73)nicht. Dort werden Spiel und Stein als [spi:l] und [s tan]ausgesprochen. In den oberdeutschen Dialekten hingegen, die imSüden des deutschen Sprachraums gesprochen werden, findet derNeutralisierungsprozess nicht nur am Wortanfang sondern auchim Wortinneren statt. So kann man in Bayern und Österreich undSüdtirol für Wurst und Mist die Aussprachen Wur[]t und Mi[]thören.

Vergleichen wir nun /s/ und /z/ im Deutschen mit der Distri-bution derselben Laute im Italienischen. Sind [s] und [z] im Italie-nischen bedeutungsunterscheidende Einheiten, also Phoneme?Bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir vorausschicken,dass sich die Realisierung der beiden Laute je nach regionalerVarietät ziemlich unterscheidet. Man kann davon ausgehen, dass /s/und /z/ in den toskanischen Dialekten zwei Phoneme sind, wie unsdas folgende Minimalpaar zeigt (Canepari 1979):

(74) chie[s]e ~ chie[z]e fragte (passato remoto), Kirchen (pl.)

Da das Toskanische oft auch als Maßstab für die italienischeStandardaussprache benutzt wird, gehen die meisten Lehrbücherdavon aus, dass das Italienische /s/ und /z/ als Phoneme kontrastiert.Allerdings gibt es auch im Toskanischen nicht viele Minimalpaaremit /s/ und /z/ .

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3. Phonologische Prozesse und Regeln 95

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In den norditalienischen Varietäten, wie sie z.B. im Venetogesprochen werden, ist es jedoch so, dass im Wortinneren,zwischen Vokalen, immer ein stimmhaftes [z] erscheint. Betrachtetdie folgenden "norditalienischen" Aussprachen:

(75) ca[z]aro[z]aco[z]ame[z]e

Wenn allerdings vor dem Sibilanten im Wortinneren ein Konso-nant steht, dann ist dieser in den Varietäten des Veneto stimmlos:15

(76) sen[s]osal[s]a

Wenn hinter dem Sibilanten ein Konsonant steht, dann können wireinen Assimilationsprozess beobachten: wenn der auf ihn folgendeKonsonant stimmlos ist, dann ist auch der Sibilant stimmlos, wennder auf ihn folgende Konsonant stimmhaft ist, dann ist der Sibilantstimmhaft:

(77) re[s]tolo[s]cobi[z]boccea[z]maO[z]lo

Wie sieht es nun am Wortanfang aus? Sehen wir uns Beispiele an,in denen auf den Sibilanten ein Vokal folgt:

(78) [s]enza[s]ale

15 In den Varietäten des Trentino ist allerdings ein alveolarer Sibilant, der in derWortmitte auf einen (stimmhaften) Konsonanten folgt oft stimmhaft. So hörtman im Trentino oft die Aussprache sen[z]o.

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In allen diesen Fällen ist der betreffende Laut stimmlos.Und wenn auf den Sibilanten ein Konsonant folgt?

(79) [s]torto[s]pendere[s]carto[z]drammatizzarte[z]berla[z]gangherato[z]lovacchia

Wir sehen hier denselben Assimilationsprozess wie im Wort-inneren: der Sibilant ist stimmlos, wenn ein stimmloser Konsonantfolgt und stimmhaft, wenn ein stimmhafter Konsonant folgt.

Dieser Assimilationsprozess der Sibilanten ist Ursache fürein Ausspracheproblem, das italienische Sprecher bei derAussprache des Deutschen haben. So hört man z.B. für das Wortzwei oft die Aussprache [dzv]ei , oder für geschlossen dieAussprache ge[l]ossen, obwohl die deutsche Standardaussprache[tsv]ei und ge[l]ossen vorsieht. Der italienische Sprecher realisiertden Sibilanten als stimmhaft, weil ihm ein stimmhafter Konsonant,das [l], folgt.

Es gibt auch italienische Varietäten, in denen wir amWortanfang vor Konsonant einen ähnlichen Prozess wie imDeutschen finden. So wird ein Sibilant z.B. in den Dialekten derCampania vor einem Konsonanten zu [] und wir findenAussprachen wie []porco, []catola.

Und wie sieht es am Wortende aus? Nun, das ist nicht soleicht zu sagen, da es im Italienischen kaum Wörter mit wortfina-len Konsonanten gibt. Aber in den wenigen Wörtern, wo der Sibi-lant am Wortende steht, wird er eindeutig stimmlos ausgesprochen:(80) lapi[s]

ga[s]rebu[s]

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4. Phonologische/Phonetische Merkmale

Wir haben jetzt die wichtigsten phonologischen Prozesse desDeutschen besprochen und sie in vielen Fällen mit ähnlichenProzessen im Italienischen verglichen. Bevor wir uns dem Themader prosodischen Struktur des Deutschen zuwenden, wollen wiruns noch mit dem Begriff des phonetischen, bzw. phonologischenMerkmals beschäftigen. Wir kehren also wieder zum Thema"diskrete Einheiten" zurück.

Der Begriff des phonologischen oder phonetischenMerkmals ist in den einzelnen Kapiteln dieses Buches immerwieder aufgetaucht. In Kap. 2 hatten wir im Zusammenhang mitdem Begriff des Phonems schon von phonologischen Merkmalengesprochen und betont, dass Phoneme als Bündel von distinktivenMerkmalen zu verstehen sind. Im Kap. 3 sind phonologischeMerkmale dann wieder bei der Formulierung der phonologischenRegeln aufgetaucht. In diesem Kapitel wollen wir nun den Begriffdes phonologischen bzw. phonetischen Merkmals präzisieren undeine Liste der distinktiven Merkmale des Deutschen vorstellen.

Die Merkmale (it: tratti, engl.: features) sind die "Atome",aus denen Phone und Phoneme zusammengesetzt werden. Sie sindsomit die kleinsten phonologischen bzw. phonetischen Einheiten,die es gibt. Phonologische/phonetische Merkmale verbinden sichzu Segmenten, Segmente verbinden sich zu Silben (s. Kap. 5) undSilben verbinden sich dann zu weiteren, größeren phonologischenEinheiten, über die wir noch in den nächsten Kapiteln sprechenwerden.

Nehmen wir zum Beispiel das Phon [p]. Es kann mithilfeder folgenden phonetischen Merkmale charakterisiert werden

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[ph] = [+ konsonantisch][-sonorantisch]16

[- stimmhaft][LABIAL][+aspiriert] u.s.w.

Von diesen phonetischen Merkmalen sind aber nur einige,nicht alle, distinktiv, es können also nur einige dieser Merkmale zuden phonologischen Merkmalen gezählt werden. So sind z.B.[±konsonantisch], [±sonorantisch], [±stimmhaft] und [LABIAL]im Deutschen distinktive, also phonologische Merkmale,[±aspiriert] ist jedoch nicht distinktiv und somit nur einphonetisches Merkmal.

Distinktive Merkmale können dazu benutzt werden, umPhoneme minimal zu unterscheiden. So unterscheiden sich diebeiden Phoneme /b/ und /p/ genau im Merkmal [±stimmhaft], /i:/und // im Merkmal [±gespannt].

Außerdem charakterisieren Merkmale natürliche Klassenvon Lauten, also all jene Mengen von Lauten, auf diephonologische Regeln angewandt werden oder die das Resultatvon phonologischen Regeln sind. Natürliche Klassen sind Mengenvon Lauten, die sich in phonologischen Prozessen gleichverhalten. So kann man zum Beispiel das Resultat derAuslautverhärtung ganz einfach beschreiben, indem man sagt: alleObstruenten bekommen das Merkmal [-stimmhaft].

(81) AuslautverhärtungObstruent → [-stimmhaft]/ __ (C) ]σ

Wenn wir keine Merkmale hätten, müssten wir eine ganze Reihevon Regeln schreiben:

16 [-sonorantisch] sind alle Laute, die keine Sonoranten sind, dieses Merkmalcharakterisiert also die Klasse der Obstruenten (s. unten).

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(82) /b/ → [p] / ___ (C)] σ/d/ → [t] / ___ (C)] σ/g/ → [k] / ___ (C)] σ/v/ → [f] / ___ (C)] σ/z/ → [s] / ___ (C)] σ

Bei einer Regelansammlung dieser Art würde aber dieGeneralisierung übersehen werden, dass in allen diesen fünfRegeln dasselbe passiert: ein stimmhafter Konsonant einerbestimmten Klasse von Lauten (den Obstruenten) verändert eineinziges seiner distinktiven Merkmale, das Merkmal [±stimmhaft].Es wäre höchst verwunderlich, wenn wir plötzlich einenphonologischen Prozess finden würden, bei dem sich das Resultatnicht durch ein gemeinsames Merkmal charakterisieren ließe unddie output-Laute also keine natürliche Klasse bilden würden, wieim folgenden fiktiven Beispiel:

(83) Unmöglicher phonologischer Prozess: der output desProzesses bildet keine natürliche Klasse:

/b/ → [d] / ___ (C)] σ/d/ → [t] / ___ (C)] σ/g/ → [m] / ___ (C)] σ/v/ → [a] / ___ (C)] σ/z/ → [s] / ___ (C)] σ

Genauso unvorstellbar ist es, dass der input des phonologischenProzesses keine natürliche Klasse bildet, also nicht durchgemeinsame Merkmale charakterisierbar ist, wie z.B. im folgendenhypothetischen Beispiel:

(84) Unmöglicher phonologischer Prozess: der input desProzesses bildet keine natürliche Klasse:/t/ → [p] / ___ (C)] σ/d/ → [b] / ___ (C)] σ/x/ → [f] / ___ (C)] σ/n/ → [m] / ___ (C)] σ

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4. Phonologische/Phonetische Merkmale 100

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In diesem Beispiel könnte man allenfalls den output durch eingemeinsames Merkmal charakterisieren, da alle input-Laute dasMerkmal [LABIAL] bekommen, aber der input ist eine zufälligeAnsammlung von Lauten, ohne ein Merkmal, das sie allezusammen charakterisieren würde.

Wir werden uns nun jene distinktiven Merkmale anschauen, die imDeutschen eine Rolle spielen. Die Beschreibung der einzelnenMerkmale folgt der in Hall (2000):

Allgemeine Merkmale:

[± konsonantisch]: dieses Merkmal unterteilt die Phoneme in zweigroße natürliche Klassen: Vokale und Konsonanten. Alle Laute,die [+konsonantisch] sind (also alle Konsonanten), sind durch eineVerengung des Artikulationsraumes zwischen Larynx und Lippengekennzeichnet. So wird z.B. ein [p] produziert, indem derArtikulationsraum bei den Lippen geschlossen wird. Laute, die [-konsonantisch] sind (also Vokale), werden ohne Verengungproduziert. Wenn wir z.B. ein [a] produzieren, dann strömt dieLuft ohne Verengung durch den Artikulationsraum.

[± sonorantisch]: Dieses Merkmal unterscheidet Obstruenten vonSonoranten. Obstruenten (also Frikative und Plosive) sind immer[- sonorantisch]. Sonoranten sind [+sonorantisch]. Zur Gruppeder Sonoranten gehören Nasale, Liquide (also r- und l-Laute) undApproximanten (im Deutschen [j]).Der große Unterschied zwischen Sonoranten und Nicht-Sonoranten besteht darin, dass Sonoranten spontan stimmhaft sind,Nicht-Sonoranten jedoch nicht. Das bedeutet, dass Sonorantennormalerweise immer stimmhaft sind, während es bei denObstruenten die typischen Paare von stimmhaften und stimmlosenKonsonanten gibt. Ein Sonorant wie [m], z.B., ist normalerweise

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4. Phonologische/Phonetische Merkmale 101

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stimmhaft. Ein Nicht-Sonorant wie [b] hingegen hatnormalerweise eine stimmlose "Schwester", nämlich [p].17

Merkmale, die (vor allem) zur Klassifizierung vonKonsonanten verwendet werden:

[± stimmhaft]: dieses Merkmal trennt stimmhafte von stimmlosenLauten. Es unterscheidet also Laute wie /b, d, m, a/ von Lauten wie/p, t, s/.

Merkmale, die die Artikulationsart (der Konsonanten)betreffen:

[± kontinuierlich]: dieses Merkmal ist wichtig, weil es Plosive vonFrikativen unterscheidet. Bei Lauten mit dem Merkmal[- kontinuierlich] kommt es bei der Produktion zu einemkompletten Verschluss in der Mundhöhle, es handelt sich dabeialso um die Plosive. Frikative hingegen sind [+kontinuierlich], weilbei ihrer Produktion der Luftstrom kontinuierlich durch denArtikulationsraum fließt. Nasale werden normalerweise ebenso als[- kontinuierlich] klassifiziert, da sie in phonologischen Regeln ofteine natürliche Klasse mit den Plosiven bilden. Außerdem werdenauch Nasale mit einem kompletten Verschluss produziert.

[± nasal]: dieses Merkmal unterscheidet nasale Laute von nicht-nasalen (oralen) Lauten.

17 Es gibt Sprachen, in denen stimmlose Sonoranten vorkommen, aber es handeltsich dabei meist um das Resultat von allophonischen Prozessen, die denSonoranten in einem bestimmten Kontext stimmlos machen. Es gibt auchSprachen, die z.B. nur ein [p], aber kein [b] haben. Wenn aber einer von denbeiden Lauten im Lautinventar einer Sprache fehlt, dann ist das immer das [b].Diese Tatsache zeigt uns, dass der "normale", unmarkierte Plosiv das stimmlose[p] sein muss, nicht das stimmhafte [b]. Denn in allen Sprachen finden wir [p],aber nicht in allen finden wir auch [b]. Die unmarkierte Charakteristik vonSonoranten ist also die Stimmhaftigkeit, die unmarkierte Charakteristik vonObstruenten hingegen ist die Stimmlosigkeit.

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4. Phonologische/Phonetische Merkmale 102

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[± lateral]: dieses Merkmal unterscheidet die Laterale von allenanderen Lauten.

Merkmale, die den Artikulationsort (der Konsonanten)betreffen:

[LABIAL]: dieses Merkmal charakterisiert die labialen Laute wiez.B. /p, b, f, v, m/. Es ist ein sogenanntes privatives Merkmal, dasheißt, ein Laut hat entweder das Merkmal [LABIAL] oder er hat esnicht, aber es gibt nicht [+labiale] Laute und [-labiale] Laute. Mannimmt an, dass [LABIAL] ein privatives Merkmal ist, da sich dieLaute, die dieses Merkmal besitzen, wie eine natürliche Klasseverhalten, die Laute, die es nicht besitzen, bilden jedoch keinenatürliche Klasse. Das bedeutet, dass es keine natürliche Klasse mitdem Merkmal [-labial] gibt. Das es keine natürliche Klasse dieserArt gibt, kann es auch das Merkmal [-labial] nicht geben. Mitanderen Worten, labiale Laute wie /p, b, f/ u.s.w. sind manchmal alsGruppe das Ziel eines phonologischen Prozesses (bilden also einenatürliche Klasse). Es gibt aber keinen phonologischen Prozess,der Nicht-Labiale als Gruppe betrifft.

[KORONAL]: dieses Merkmal charakterisiert im Deutschendentale/alveolare Laute [d, t, s, z, n, l] und postalveolare Laute [].Diese Laute werden als "koronal" bezeichnet, weil bei ihrerArtikulation der mittlere Teil der Zunge, die corona beteiligt ist.[KORONAL] ist auch ein privatives Merkmal. Entweder besitzt einLaut dieses Merkmal, oder er besitzt es nicht.

[± anterior]: dieses Merkmal kann im Deutschen dazu verwendetwerden, um die alveolaren Sibilanten [s, z] von dem postalveolarenSibilanten [] zu unterscheiden. Dieses Merkmal ist notwendig, daalle diese Sibilanten das Merkmal [KORONAL] besitzen.

[DORSAL]: zu den dorsalen Lauten gehören die palatalen,velaren und uvularen Konsonanten des Deutschen, also [, x, k, g,, R, ]. Diese Laute werden "dorsal" genannt, weil sie unter

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4. Phonologische/Phonetische Merkmale 103

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Beteiligung des dorsum, also des hinteren Teils der Zunge,artikuliert werden.Auch [DORSAL] ist ein privatives Merkmal.

Merkmale, die (vor allem) zur Klassifizierung von Vokalenverwendet werden:

[± rund]: wir verwenden dieses Merkmal, um die gerundetenVokale /y:, , œ:, ø, u:, , o:, / von den ungerundeten Vokalen /i:,, e:, , a:, a/ zu unterscheiden.

[± hoch]: wir verwenden dieses Merkmal, um hohe Vokale wie /i,y, u/ von allen anderen Vokalen zu unterscheiden

[± tief]: wir verwenden dieses Merkmal, um tiefe Vokale wie /a/ zukennzeichnen.N.B.: mittlere Vokale wie /e, o, œ/ sind durch die Merkmale[- hoch] und [-tief] gekennzeichnet

[± gespannt]: dieses Merkmal unterscheidet gespannte Vokale wie/i:, u:, o:/ von ungespannten Vokalen wie /, , /.

[± hinten]: wir verwenden dieses Merkmal, um hintere Vokale wie/u:, o:, / von allen anderen Vokalen zu unterscheiden. Man nimmtan, dass auch die tiefen Vokale /a:, a/ das Merkmal [+hinten]besitzen, da sie sich in bestimmten phonologischen Prozessen wiez.B. der Assimilation der dorsalen Frikative wie hintere Vokaleverhalten.

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4. Phonologische/Phonetische Merkmale 104

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Übung 15Gebt mindestens ein distinktives Merkmal an, das die folgendenMinimalpaare unterscheidet:reißen ~ reisen mehre ~ Möhre mein ~ BeinBann ~ dann sie ~ See Land ~ Randnackt ~ Nacht Sand ~ sindSünde ~ Sunde Pein ~ BeinMiete ~ Mitte Pein ~ feinkein ~ dein Reck ~ Rock

Übung 16Wir haben die Regel der Auslautverhärtung folgendermaßenformuliert:

Obstruent → [-stimmhaft] / ___ (C)] σ

Überlegt euch nun, wie man diese Formulierung verbessernkönnte. Wie kann man die natürliche Klasse der Segmente, die vondieser Regel betroffen sind, mit Hilfe von Merkmalen ausdrücken?Drückt den input der Regel durch distinktive Merkmale aus.

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5. Prosodische Phonologie: Einheiten und Regeln

5.1 Die Silbe

In der Phonologie werden Merkmale zu Lauten gebündelt, aberLaute und Merkmale sind nicht die einzigen phonologischen Ein-heiten. Laute werden wiederum zu einer größeren Einheitverbunden, der Silbe:

(85) Silbef g hLaut Laut Lautfgh fgh fgh

M M M M M M M M M

Die Sprecher einer Sprache haben eine gewisse Intuition, wasSilben betrifft. Sie wissen meistens ziemlich genau, wo eine Silbeanfängt und wo sie aufhört, welche Silben in ihrer Sprachewohlgeformt sind und welche hingegen nicht möglich sind. Soweiß ein Sprecher des Deutschen, dass schmar eine mögliche Silbedes Deutschen sein könnte, schamr jedoch nicht.

Diese Tatsache sollte uns eigentlich ziemlich verwundern,denn es ist praktisch unmöglich, die Silbe einer Sprache zumessen. In einem Spektrogramm können wir also keineSilbengrenzen erkennen. Existiert ein sprachliches Element, dasman nicht messen kann, überhaupt? Diese Unsichtbarkeit der Silbehat einige Linguisten dazu geführt, zu behaupten, dass es dieKategorie der Silbe eigentlich nicht gibt. Wir werden jedoch gleichsehen, dass die Silbe eine große Rolle in unseremSprachbewusstsein spielt. Wenn die Silbe also auch physikalischgesehen unsichtbar ist, so scheint sie doch eine mentale Kategorieunserer Sprachkompetenz zu sein.

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5. Prosodische Phonologie: Einheiten und Regeln 106

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Dass Sprecher die Kategorie der Silbe besitzen, können wirz.B. beobachten, wenn Kinder einen Abzählreim aufsagen:

(86) Ich-und-du-Mül-lers-Kuh-Mül-lers-E-sel-das-bist-du

Bei jeder Silbe zeigt das Kind auf einen anderen Spieler. Esverwendet also, auch wenn es sich dessen nicht bewusst ist, dieKategorie der Silbe zum Zählen der Mitspieler.

Übung 17Im Italienischen scheinen Abzählreime etwas anders zufunktionieren. Zerlegt die folgenden Abzählreime in ihrerhythmischen Einheiten und versucht zu beschreiben, wie dieseEinheiten aussehen. Ihr könnt auch einen Abzählreim aus eurerKindheit verwenden:

Uno, due, trechi non scappa c'è

Ambarabà, cicì, cocò,tre galline sul comò,che facevano l' amore,con la figlia del dottore,il dottore s' ammalò,ambarabà, cicì, cocò

Obwohl die Sprecher einer Sprache meistens ziemlich genauwissen, wo die Silbengrenzen in einem Wort liegen, so gibt es docheinige Zweifelsfälle. Im Deutschen ist es zum Beispiel nicht völligklar, wie das folgende Wort in Silben zerlegt wird:

(87) <Müller> [ml]a. [ml.l] oderb. [m.l] ?

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5. Prosodische Phonologie: Einheiten und Regeln 107

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Wir wissen, dass das Wort "Müller" im Deutschen mit nur einem [l]ausgesprochen wird. Es sollte eigentlich wie in b. getrennt werden.Die Sprecher sind sich allerdings nicht ganz sicher. Einige ziehenes vor, das Wort wie in a. in zwei Silben zu zerlegen, wobei das [l]sowohl die erste Silbe schließt als auch als Silbenanfang derzweiten Silbe dient. Das hängt vielleicht auch damit zusammen,dass die orthographische Norm die Silbentrennung <Mül.ler>vorschreibt.

Die Phonologen sprechen in diesen Fällen vonambisilbischen Konsonanten. Sie gehen davon aus, dass das Wortnur ein Segment [l] enthält, das aber in einem gewissen Sinnesowohl zur ersten als auch zur zweiten Silbe gehört. Man könntesagen, dass die Silbengrenze in die Mitte des Segments fällt.Ambisilbische Konsonanten tauchen immer dann auf, wenn derVokal einer Silbe betont und kurz ist und kein anderer Konsonantdie Silbe schließt.

Auch in Fällen wie den folgenden ist die Intuition derSprecher nicht völlig eindeutig:

(88) Fen.ster oder Fens.ter ?

Gei.stes oder Geis.tes ?

Die orthographische Norm schrieb früher die Trennung Fen.sterbzw. Gei.stes vor, nach der letzten Rechtschreibreform trennt manjedoch Fens.ter und Geis.tes Die Intuition der Sprecher ist auch indiesen Fällen nicht ganz klar.

Weitere Evidenz für die Existenz der Silbe können wir darinfinden, dass bestimmte phonologische Prozesse als Domäne ihrerAnwendung die Silbe haben. So haben wir z.B. gesehen, dass dier-Vokalisierung und die Auslautverhärtung am Ende einer Silbestattfinden. Wenn es die Kategorie der Silbe nicht gäbe, wie solltedann der Anwendungskontext dieser Prozesse beschriebenwerden?

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5. Prosodische Phonologie: Einheiten und Regeln 108

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Zusammenfassend können wir sagen, dass es, auch wenn wirSilben physikalisch nicht messen können, doch einige Evidenz fürdie Existenz der Silbe gibt. Die Silbe scheint Teil unserersprachlichen Kompetenz zu sein, denn wir haben eine gewisseIntuition, was diese Kategorie betrifft: wir wissen normalerweise,wo eine Silbe anfängt und wo sie aufhört, wie eine wohlgeformteSilbe in unserer Muttersprache aussieht, wir verwenden sie spontanin Abzählreimen. Außerdem können wir beobachten, dass dieSilbe den Kontext für viele phonologische Prozesse ausmacht.

Die Silbe selbst besteht aus gewissen Untereinheiten. Dieseinnere Struktur der Silbe werden wir uns im nächsten Kapitelgenauer anschauen.

5.1.1 Die Struktur der Silbe

Eine Silbe ist nicht einfach eine Sequenz von Segmenten. Sie hateine innere Struktur. Es gibt in der Phonologie mehrereVorschläge dazu, wie die Struktur der Silbe genau aussehen soll.Wir werden das folgende Modell verwenden:

(89) σf hOnset Reimf h f hg g Nukleus Codag g f h g

C18 C V V C[ t a ph ] <Staub>

18 "C" steht für "Konsonant" und "V" für "Vokal", wie in der Formulierung derphonologischen Regeln in Kap. 3.

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5. Prosodische Phonologie: Einheiten und Regeln 109

109

Jede Silbe einer natürlichen Sprache besteht aus mindestens einemNukleus (oder Silbengipfel), bei dem es sich meistens um einenVokal handelt. In allen Sprachen der Welt gibt es außerdemSilben, die einen Onset (oder Silbenanlaut) besitzen, d.h. Silben, indenen dem Nukleus einer oder mehrere Konsonanten vorangehen.In manchen Sprachen gibt es außerdem auch Silben, die eineCoda (oder Silbenauslaut) besitzen, d.h., in denen auf denNukleus noch einer oder mehrere Konsonanten folgen.

Übung 18

Transkribiert folgende Wörter und gebt ihnen eine Silbenstruktur:

Kraft, Nase, Onkel, Obst

Wie kommen aber eigentlich die Linguisten dazu, anzunehmen,dass die Struktur der Silbe genau so und nicht anders aussieht?Warum nimmt man an, dass es eine Kategorie wie den Onset gibt,oder dass Nukleus und Coda zusammen eine Einheit bilden, diewir hier mit Reim bezeichnet haben? Im Folgenden werden wirkurz einige Argumente diskutieren, die zu der oben abgebildetenStruktur geführt haben.

Warum nehmen wir an, dass es eine Kategorie Onset gibt?Ein gutes Argument für die Existenz der Kategorie Onset ist dieTatsache, dass es bestimmte Regeln gibt, die sich genau auf dieseKategorie beziehen. Wenn zum Beispiel im Italienischen ein Onsetaus drei Konsonanten besteht, dann muss der erste dieserKonsonanten immer ein [s] sein. Wir können also eine Silbe miteinem Onset wie spr in spre.co haben, aber es gibt keine Silbe, dieetwa mit fpr beginnt.

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5. Prosodische Phonologie: Einheiten und Regeln 110

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Es gibt auch eine etwas lustigere Evidenz für die Existenzdes Onset. In Versprechern ist es oft so, dass die Sprecherverschiedene Laute miteinander vertauschen, wie im folgendenBeispiel:19

(90) mit dem Zinger feigen <= mit dem Finger zeigen

In diesem Beispiel wurden die beiden Onsets der Wörter Fingerund zeigen vertauscht. Es scheint so zu sein, dass bei Versprecherndieser Art meist Untereinheiten der Silbe miteinander vertauschtwerden, also Onsets mit Onsets, Nuklei mit Nuklei, Codas mitCodas, Reime mit Reimen, aber nicht zum Beispiel Onset undNukleus zusammen, denn diese beiden Elemente bilden keineEinheit!

Warum nehmen wir eigentlich an, dass es eine KategorieReim gibt, die aus Nukleus und Coda besteht? Ein gutes Argumentfür die Existenz der Kategorie Reim ist die Tatsache, dass dieseKategorie in der Lyrik verwendet wird: der Reim eines Gedichtesbesteht meistens aus den Einheiten Nukleus und Coda, wie wir imfolgenden Gedicht von Goethe sehen können:

(91) Wer reitet so spät durch Nacht und WindEs ist der Vater mit seinem KindEr hat den Knaben wohl in dem Arm,Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? Siehst Vater, du den Erlkönig nicht!

Den Erlenkönig mit Kron' und Schweif?Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.

(Die ersten beiden Strophen des Gedichtes Erlkönig, JohannWolfgang von Goethe, 1749-1832)

19 Aus der Versprechersammlung von Helen Leuningerhttp://www.uni-frankfurt.de/fb/fb10/KogLi/Lehrstuhl_Leuninger/Psycholinguistik/

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Wir sehen hier, dass in zwei aufeinander folgenden Zeilen immerder Nukleus und die Coda der letzten Silbe (ind, arm, icht, eif),also der Reim, gleich bleiben.

Für die Existenz der Kategorie Nukleus spricht schon alleinedie Tatsache, dass diese Einheit die einzige Untereinheit der Silbeist, die immer realisiert werden muss. Im Deutschen kann derNukleus durch einen (kurzen oder langen) Vokal, einenDiphthong, oder einen silbischen Konsonanten realisiert werden:

(92) a. Kurzer Vokal: W[a].cheb. Langer Vokal: L[i:].bec. Diphthong: L[a].bed. Silbischer Konsonant: war.[tn ] <warten>

ne.[bm ] <neben>Fle.[gl ] <Flegel>

Silbische Konsonanten wie in den Beispielen d. werden imDeutschen vor allem bei schneller Aussprache verwendet (dieschnelle Aussprache stellt den Normalfall dar, nicht dieAusnahme!). Im Beispiel ne.[bm ] wurde außerdem der Nasal anden vorangehenden Plosiv assimiliert (s. Kap. 3.3). Die schwaswerden in diesen Wörtern nur bei sehr sorgfältiger, langsamerAussprache gesprochen. Dann klingen diese Beispielefolgendermaßen:

(93) war.[tn]ne.[bn]Fle.[gl]

Auch für die Silbencoda gibt es Restriktionen, die uns zeigen, dasses eine Kategorie dieser Art innerhalb der Silbe geben muss. Sokönnen z.B. im Italienischen nur bestimmte Konsonanten in derCoda stehen. Ein Nasal in der Coda ist möglich, ein Plosivhingegen nicht (Der Stern "*" bezeichnet hier eineungrammatische Silbe):

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(94) a. ba[n].dabi[m].bo

b. *ba[p].da*bi[t].bo

Außer den Restriktionen in Bezug auf die Silbencoda gibt esaußerdem noch Evidenz aus dem Bereich der Geheimsprachenund Sprachspiele für die Existenz dieser Kategorie. Schauen wiruns das folgende Gedicht von Joachim Ringelnatz an:

(95) Gedicht in Bi-Sprache

Ibich habibebi dibich,Lobittebi, sobi liebib.

Habist aubich dubi mibichLiebib? Neibin, vebirgibib.

Nabih obidebir febirn,Gobitt seibi dibir gubit.Meibin Hebirz habit gebirnAbin dibir gebirubiht.Joachim Ringelnatz (1883-1934)

Dieses Liebesgedicht ist in der sogenannten Bi-Sprachegeschrieben, einer Geheimsprache, wie sie Kinder oft zum Spielverwenden. Es gibt im Deutschen viele verschiedeneGeheimsprachen dieser Art, die man unter den NamenHühnersprache, Löffelsprache, Gabelsprache, Erbsensprache oderRäubersprache finden kann. Wie funktioniert diese Sprache? Hierist ein Tipp: die ersten Zeilen lauten in der "Übersetzung"folgendermaßen:

(96) Ich habe dich,Lotte, so lieb

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Wie werden die Wörter in dieser Sprache gebildet? Wenn man dieerste Zeile "zerlegt", dann bekommt man:

(97) I-bi-ch ha-bi-be-bi di-bi-chLo-bi-tte-bi, so-bi lie-bi-b

Schauen wir uns das Wort di-bi-ch=dich genauer an. Es wurdehier die Sequenz -bi- hinter den Nukleus und vor die Codagesetzt. Wenn wir uns die anderen Wörter anschauen, so sehen, wir,dass dort dasselbe passiert: immer kommt die Sequenz -bi- genauhinter dem Nukleus und vor der Coda. Am Beispiel He-bi-rz=Herzsieht man auch, dass das -b i - nicht etwa vor den letztenKonsonanten des Wortes gesetzt wird, sondern vor alle finalenKonsonanten, also vor die Coda.

Nun, wie lautet der Rest des Gedichtes?

Dieses Beispiel aus dem Bereich der Geheimsprachen zeigtuns, dass die finalen Konsonanten einer Silbe eine Einheit bilden,die Coda. Denn diese Einheit bestimmt, an welche Stelle dieSequenz -bi- gesetzt wird.

Übung 19In den folgenden vier Zeilen habe ich den Anfang von Ringelnatz'Gedicht in die Hühnersprache übersetzt. Die Hühnersprache istetwas komplizierter als die Bi-Sprache. Versucht herauskriegen,wie sie funktioniert! Für welche Unterheiten der Silbe liefert unsdie Hühnersprache Evidenz?

Ihichlefich hahalefa behelefe dihichlefichLoholefo ttehelefe soholefo liehieblefieb

Hahastlefast auhauchlefauch duhulefu mihichlefichliehieblefieb? Neiheinlefein, veherlefer gihiblefib

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Übung 20

Der folgende Vers ist ein sogenannter Schüttelreim:

1."Die Boxer aus der Meisterklasse2. boxten sich zu Kleistermasse3. Und aus dem ganzen Massenkleister4. erhebt sich stolz der Klassenmeister"

a) Transkribiert das unterstrichene Wort in Zeile 1

b) Zerlegt dieses Wort in Silben und gebt die Silbenstruktur dereinzelnen Silben an (N.B. <ss>, ausgesprochen als [s] ist einambisilbisches Segment, d.h. es gehört sowohl zur Coda dervorangehenden Silbe, als auch zum Onset der folgenden)

c) Erklärt das Muster, nach dem die ersten beiden Zeilen (1 und 2)des Schüttelreims gebildet werden. Verwendet dazu dieTerminologie der Silbenstruktur.

d) Erklärt, wie das Rezept für den Schüttelreim nach Zeile 2weitergeht, d.h., wie Zeile 3 aus Zeile 1 und 2 abgeleitet wird. Isteure Erklärung morphologischer oder phonologischer Art?

5.1.2 Die Sonoritätshierarchie

Wir haben in den letzten beiden Kapiteln gesehen, dass esverschiedene Argumente für die Existenz der Silbe und ihreUntereinheiten Onset, Nukleus, Coda und Reim gibt. Ein weitererGrund, an die Existenz der Silbe zu glauben, ist, dass es ein Prinzipgibt, das in allen Sprachen der Welt eine große Rolle bei derinneren Organisation der Silbe spielt. Silben sind meistens soorganisiert, dass die sonorsten Segmente im Zentrum (also im

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Nukleus) stehen, während die Sonorität zum Silbenrand hinabnimmt. Was ist hier mit Sonorität gemeint?20

Viele Linguisten nehmen an, dass sich Segmente auf einerSonoritätsskala anordnen lassen. Wie dieses Skala genau aussiehtist noch nicht klar. Wir werden hier ein Modell nehmen, das voneinigen Linguisten für das Deutsche vorgeschlagen wird (Wiese1988, Vater 1996, Ramers&Vater 1995, Ramers 2001):

(98) Sonoritätsskala: (it.: scala di sonorità)Plosive < Frikative < Nasale < l < r < Vokale

("<" bedeutet: "weniger sonor als")

Auf dieser Skala sind Plosive wenige sonor als Frikative, Frikativesind weniger sonor als Nasale, diese sind wiederum weniger sonorals [l] und [l] ist weniger sonor als [r]. Vokale sind die sonorstenElemente.

Nun kann man beobachten, dass in den Sprachen generell Silbenso konstruiert sind, dass die Sonorität bis zum Nukleus hin ständigansteigt und nach dem Nukleus wiederum bis zum Ende der Silbehin sinkt. Vor dem Nukleus steht also nie ein sonoreres Elementvor einem weniger sonoren Element, nach dem Nukleus ist esgenau umgekehrt. Wir formulieren diese Beobachtung imSonoritätsprinzip:

(99) Sonoritätsprinzip:Die Sonorität nimmt bis zum Nukleus stetig zu und fälltnach dem Nukleus stetig ab

Wir können das am Beispiel von deutschen Silben sehen:

20 Der Begriff Sonorität darf nicht mit dem Begriff Stimmhaftigkeit (it.: sonorità)verwechselt werden! Außerdem ist Sonorität etwas anderes als das distinktiveMerkmal [± sonorantisch] (it.: [± sonorante]), über das wir in Kap. 4 gesprochenhatten.

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(100) a. Kraft k < r < a > f > tb. Kerl k < > r > lc. Knie K < n < i:

Im ersten Beispiel sehen wir, dass die Elemente im Onset nach demSonoritätsprinzip organisiert sind: der Plosiv /k/ ist weniger sonorals /r/, deshalb muss ein /k/ im Onset immer vor einem /r/ stehen,eine Silbe, die mit /rk/ beginnt, ist im Deutschen nicht möglich. Inder Coda ist es genau umgekehrt, die Sonorität fällt nach demNukleus ständig ab. Deshalb ist die Sequenz /ft/ erlaubt, bei der dersonorere Frikativ vor dem weniger sonoren Plosiv steht. Imzweiten Beispiel, Kerl, sehen wir, dass /r/ sonorer als /l/ sein muss,denn /r/ steht in der Coda näher am Nukleus als /l/. Das letzteBeispiel schließlich zeigt uns, dass Plosive weniger sonor als Nasalesind, denn das /k/ steht im Onset vor dem /n/.

Die Sonoritätshierarchie ist nicht unbedingt für alleSprachen gleich und sie wird auch nicht immer in allen Sprachenbefolgt. So gibt es z.B. im Russischen Wörter, bei denen dassonorere /r/ im Onset vor dem weniger sonoren /t/ steht:

(101) rta 'Mund, Genitiv Sg.'

Auch im Deutschen gibt es einige Lautsequenzen, die nicht dieSonoritätshierarchie befolgen. So kann z.B. im Onset vor einemPlosiv noch ein [] oder ein [s] stehen:

(102) Strumpf []trumpfSkala [s]kala

Sibilanten sind allerdings die einzigen Segmente, die in diesemKontext stehen können. Wir werden in den nächsten Abschnittennoch sehen, welche Segmente sich im Deutschen in der Coda überdie Sonoritätshierarchie hinwegsetzen können.

Trotzdem es Segmentsequenzen gibt, die sich nicht an dieSonoritätshierarchie halten, so kann man doch sagen, dass die

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Sonoritätshierarchie von den meisten Sprachen wenigstensgrößtenteils befolgt wird. Es handelt sich also um ein universellesPrinzip.

5.1.3 Universelle Tendenzen: unmarkierte Onsets und Codas

Außer der Befolgung der Sonoritätshierarchie gibt es auch nochandere universelle Tendenzen, die die Struktur der Silbebestimmen. Schauen wir uns einige Beispiele an, die Hall (2000:212) entnommen sind:

(103) [vzdwu] 'entlang' Polnisch[fspla.nout] 'aufflammen' Tschechisch[vpt skvni] 'ich schäle' Georgisch

(104) [a.lo.ha] 'Liebe' Hawaiianisch[wa.hi.ne] 'Frau' Samoanisch[du:.xo] 'Hochzeit' Iraqw

In den ersten drei Beispielen sehen wir Wörter aus den SprachenPolnisch, Tschechisch und Georgisch, in denen sehr vieleKonsonanten im Onset der Silbe erlaubt sind. Nehmen wir z.B. dastschechische Beispiel fspla.nout: der Onset der ersten Silbe enthältvier Konsonanten! Die letzten drei Beispiele hingegen stammenaus Sprachen, in denen höchstens ein Konsonant im Onset stehendarf. Wenn wir nun sehr viele Sprachen untersuchen, dann könnenwir beobachten dass es einerseits Sprachen gibt, in denen nur einKonsonant im Onset erlaubt ist, und andererseits Sprachen, diemehrere Konsonanten im Onset erlauben. Es gibt aber keineSprachen, in denen obligatorisch mehrere Konsonanten im Onsetstehen müssen! Das bedeutet zugleich, dass jede Sprache, dieSilben mit einem komplexen Onset besitzt, auch Silben mit einemeinfachen Onset hat. Wir können diese Beobachtung dahingehendinterpretieren, dass es anscheinend ein Prinzip gibt, das komplexeOnsets verbietet. Manche Sprachen, wie z.B. Hawaiianisch,Samoanisch und Iraqw befolgen dieses Prinzip, andere Sprachen,wie Polnisch, Tschechisch, Georgisch, befolgen es nicht. In der

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Linguistik spricht man in diesen Fällen von markierten undunmarkierten Strukturen. Ein einfacher Onset ist die unmarkierteStruktur, denn wir finden sie in allen Sprachen der Welt, auch indenen, die komplexe Onsets erlauben. Ein komplexer Onset ist diemarkierte Struktur, denn wir finden sie nicht in allen Sprachen,sondern nur in Sprachen wie Polnisch, Tschechisch, Georgisch.

In Bezug auf den Onset können wir eine weitereBeobachtung machen. Alle Sprachen der Welt erlauben Silben miteinem Onset. In einigen Sprachen gibt es auch Silben ohne Onset(z.B. im Hawaiianischen, wie uns die erste Silbe in a.lo.ha zeigt).In anderen Sprachen hingegen sind Silben ohne Onset verboten.Es gibt aber keine Sprache der Welt, in denen Silben mit einemOnset nicht möglich sind. Wir können also hier wieder sagen: dieunmarkierte Silbe ist eine Silbe, die einen Onset besitzt; diemarkierte Silbe ist die Silbe ohne Onset.

Es ist nicht ganz einfach, den Begriff Markiertheit zuerklären. Unter unmarkierten Strukturen versteht man in derLinguistik Strukturen, die im Normalfall vorkommen. MarkierteStrukturen kommen hingegen nur in besonderen Kontexten vor.Unter unmarkierter Struktur verstehen wir hier eine Struktur, diein allen Sprachen der Welt möglich ist und in manchen Sprachender Welt sogar ausdrücklich verlangt wird. Eine unmarkierte Silbeist also somit eine wohlgeformte Silbe in allen Sprachen der Weltund manche Sprachen erlauben nur Silben dieser Art.

Wir fassen die beiden Beobachtungen zur unmarkiertenSilbenstruktur in der Onset-Beschränkung zusammen (s. auch dasSilbenanlautgesetz in Hall 2000: 213):

(105) Onset-Beschränkung, Teil I: Unmarkierte Silben habeneinen Onset

Onset-Beschränkung, Teil II: Unmarkierte Silben habennur einen Konsonanten im Onset

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Wie verhält es sich nun mit der Coda? Welche universelleTendenzen können wir hier beobachten? Schauen wir uns wiederein paar Beispiele an (s. Hall 2000: 214 und die dort angegebenenQuellen):

(106) [o:psts] 'Obsts, Genitiv' Deutsch[tshjlwtxs] 'ihre Kirche' Upriver Halkomelem[osgwd ] 'ich befahl' Svan

(107) [a.lo.ha] 'Liebe' Hawaiianisch[wa.hi.ne] 'Frau' Samoanisch[a.pá] 'Dach' Ngiti

Die ersten drei Beispiele stammen aus Sprachen, in denen ziemlichlange Codas möglich sind. So haben wir im Beispiel aus demDeutschen eine Coda, die aus vier Konsonanten besteht.21 Im Svangibt es sogar Silben, die fünf Konsonanten in der Coda habenkönnen (die letzten beiden Konsonanten sind allerdings eigentlichnur ein Segment, eine Affrikate). Dann gibt es aber auchSprachen, in denen überhaupt keine Silbencodas erlaubt sind. Dieletzten drei Beispiele stammen aus Sprachen dieser Art: keineSilbe hat einen Konsonanten in der Coda.

Wir können also hier wieder eine universelle Tendenzfeststellen. In allen Sprachen der Welt sind Silben ohne Codaserlaubt. In manchen Sprachen der Welt (wie im Hawaiianischen,Samoanischen und Ngiti), sind nur Silben ohne Coda erlaubt. Esgibt aber keine Sprache der Welt, in der Silben ohne Codasverboten sind.

21 Wenn wir die Sprachen, aus denen diese Beispiele stammen, allerdings etwasgenauer untersuchen, dann sehen wir, dass extrem komplexe Codas oft nur amWortende auftauchen können. Das gilt auch für das Deutsche. Eine Coda, die ausder Sequenz [psts] besteht, finden wir zwar in wortfinalen Codas, nicht aber imInneren eines Wortes. Dasselbe gilt für komplexe Onsets: am Anfang einesWortes finden wir oft sehr komplexe Onsets, die im Inneren des Wortes nichterlaubt sind.

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Die unmarkierte Silbe scheint also eine Silbe zu sein, dienicht auf einen Konsonanten endet. Markierte Silben hingegenhaben einen Konsonanten in der Coda.

Es gibt außerdem Sprachen, wie z.B. das Italienische, indenen nur ein Konsonant in der Coda stehen darf. Wir könnenalso wie beim Onset-Prinzip beobachten, dass komplexe Codasmarkierter als einfache Codas sind.

Wir drücken diese Beobachtungen wiederum in zweiBeschränkungen aus:22

(108) Coda-Beschränkung, Teil I: Unmarkierte Silben habenkeine Coda

Coda-Beschränkung, Teil II: Codas mit nur einemKonsonanten sind unmarkierter als Codas mit mehrerenKonsonanten

Wenn wir nun Onset- und Coda-Beschränkung zusammenbetrachten, dann müssen wir den Schluss ziehen, dass dieuniversell unmarkierte Silbe eine CV-Silbe ist, also eine Silbe, dienur aus einem Konsonanten und einem Vokal besteht. In der Tatist diese Silbe die einzige Silbe, die in allen Sprachen der Weltvorkommt!

Es gibt eine weitere Beobachtung, die darauf hinweist, dasses sich bei der CV-Silbe um die universell am wenigsten markierteSilbe handelt. Wenn Kinder anfangen, die ersten Wörter von sichzu geben, dann verkürzen sie diese Wörter gerne auf eine CV-Silbe. Buch wird dann zu bu und Elefant wird zu fa. Erst nachdiesem CV-Stadium kommt dann ein weiteres Stadium, in demKinder auch Silbencodas zulassen. Und erst nach diesem zweiten

22 Für eine ausführliche Diskussion dieser universellen Prinzipien s. auchJakobson (1962) und Prince&Smolensky (1993/2004)

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Stadium kommt ein drittes Stadium, in dem Kinder schließlichauch komplexe Onsets und Codas aussprechen:

(109) Stadien im Spracherwerb: (für das hypothetische BeispielElefant)1. Stadium: CV fa2. Stadium: CVC fan3. Stadium: CCVCC fant

Wenn man es sich genau überlegt, dann ist dieser Spracherwerb inStadien ziemlich überraschend, denn eigentlich können die Kinderwahrscheinlich die meisten Laute des Wortes Elefant schonziemlich früh aussprechen. Warum sagt das Kind fa, wenn es dochdas n und das t der Coda schon aussprechen kann? Der Grundliegt darin, dass das Kind in seinen phonologischenEntwicklungsstadien generell mit unmarkierten Strukturen beginntund erst nach und nach die markierteren Strukturen erwirbt.

Ein letzter Hinweis darauf, dass eine wohlgeformte Silbeeinen Onset aber keine Coda besitzen sollte, bildet derMechanismus der Silbifizierung. Wenn wir eine Sequenz vonLauten vor uns haben, dann gibt es im Prinzip mehrereMöglichkeiten, wie diese Sequenz silbifiziert werden könnte.Nehmen wir z.B.

(110) Amerika: a. A.me.ri.kab. *Am.er.ik.a

Es ist klar, dass ein Wort wie Amerika immer wie in a. silbifiziertwerden wird und nie wie in b. Das heißt, die Silbifizierung wirdimmer so vor sich gehen, dass jede Silbe, wenn möglich, einenOnset hat, aber keine Coda.

Der Mechanismus der Silbifizierung ist allerdings nochetwas komplizierter. Generell wird eine Lautsequenz so silbifiziert,dass der Onset maximiert (bzw. die Coda minimiert) wird. Dasbedeutet, dass die Konsonanten, soweit möglich, alle einem Onset

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zugeordnet werden. Nur wenn ein Konsonant im Onset keinewohlgeformte Struktur mehr ergeben würde, wird er einer Codazugeordnet. Wir sehen das im folgenden Beispiel:

(111) Andreas: a. *A.ndre.as→ verletzt die Sonoritätshierarchieb. An.dre.as → o.k.c. *And.re.as→ verletzt Onset-Maximierungd. *Andr.e.as→ verletzt Sonoritätshierarchie

und Onset-Maximierung

In a. wurde versucht, die Konsonanten /n, d/ und /r/ alle in denOnset der zweiten Silbe zu stecken. Das ist nicht möglich, denn dieSequenz /ndr/ ergibt keinen wohlgeformten Onset, da dieSonoritätshierarchie verletzt würde. Deshalb muss n in der Codableiben. Die anderen beiden Konsonanten können jedoch demOnset zugeordnet werden, wie Beispiel b. zeigt. Beispiel c. und d.sind nicht wohlgeformt, da hier der Onset nicht maximiert wurde.In Beispiel c. wäre die erste Silbe And durchaus eine wohlgeformteSilbe, doch diese Silbifizierung wird nicht gewählt, da das d auchim Onset der darauffolgenden Silbe stehen kann (und also dortstehen muss). Die einzige Silbifizierung, die sowohl dieSonoritätshierarchie befolgt als auch den Onset maximiert, bleibtalso b.

5.1.4 Die deutsche und die italienische Silbe und ihreRestriktionen

In diesem Kapitel wollen wir uns die Silbenstruktur des Deutschenund die Silbenstruktur des Italienischen anschauen und siemiteinander vergleichen. Wie sieht der deutsche Onset aus, wiesieht der italienische Onset aus? Gibt es Ähnlichkeiten oderUnterschiede was die Segmente betrifft, die in den Untereinheitender Silbe auftreten können? Am Ende des Kapitels wollen wir unseinem Problem zuwenden, das jedem, der Deutsch und Italienischspricht, sofort auffällt: deutsche Wörter sind kürzer als italienische

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5. Prosodische Phonologie: Einheiten und Regeln 123

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Wörter.23 Wir werden sehen, dass unsere kontrastivenBeobachtungen zur Silbenstruktur uns helfen können, diesenUnterschied zu erklären.

Beginnen wir mit dem Silbenonset im Deutschen. Der Onsetder Silbe des Deutschen besteht aus höchstens drei, fast immeraber aus mindestens einem Konsonanten.

Wenn wir im Onset drei Konsonanten haben, dann ist dererste immer ein [s] oder ein []. Solche maximale Onsets findenwir in der ersten Silbe der folgenden Beispiele:

(112) []trumpf <Strumpf>[]prache <Sprache>[]plitter <Splitter>[]pray oder [s]pray <Spray>

Das Graphem <s> wird am Wortanfang vor einem Konsonantenmeistens als [] ausgesprochen. Nur in einigen Fremdwörtern wieSpray, Skat, Slalom, Smoking wird es als [s] ausgesprochen (s.Kap. 3.6).

Da der erste von drei Konsonanten in einem Onset immernur ein [s] oder ein [] sein kann, haben einige Phonologenangenommen, dass der deutsche Onset eigentlich höchstens auszwei Konsonanten bestehen kann und dass es sich bei dem [s]oder [] um ein sogenanntes extrasilbisches Segment handelt (s.Wiese 1996). Es gibt auch einen weiteren Grund, um dasanzunehmen: wenn das [s] oder [] wirklich Teil des Onset wäre,dann würde es die Sonoritätshierarchie verletzen, da es als Frikativvor einem Plosiv steht.

Es gibt noch einige andere Beispiele, in denen es so aussieht,als gäbe es drei Konsonanten im Onset: 23 Ich meine hier morphologisch einfache Wörter. Natürlich hat das Deutscheauch ziemlich lange Wörter, wenn man morphologisch komplexe Wörter inBetracht zieht, da das Deutsche sehr lange und komplexe Komposita zulässt.

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(113) [pfl]aume <Pflaume>[pfr]opfen <Pfropfen>[tsv]eig <Zweig>[tsv]anzig <zwanzig>

Wenn man sich diese Wörter allerdings genauer ansieht, dann siehtman, dass es sich in allen Fällen um Sequenzen handelt, in denenam Wortanfang eine Affrikate [pf] oder [ts] steht. Die Tatsache,dass Affrikaten hier in einem Kontext stehen, in demnormalerweise nur ein einzelner Konsonant vorkommt (also imOnset vor einem anderen Konsonanten) ist ein gutes Argumentdafür, dass es sich bei Affrikaten im Grunde um Einzelsegmentehandelt, nicht um zwei unterschiedliche Segmente.

Wenn es in der zugrundeliegenden Form am Anfang einerSilbe keinen Konsonanten gibt, dann wird ein glottaler Plosiv []eingesetzt. So bekommt auch eine Silbe, die sonst mit einen Vokalbeginnen würde einen Onset. Wir hören den glottalen Plosivbesonders gut in einem Satz, in dem alle Wörter mit einem Vokalbeginnen:

(114) []Anton []aß []am []Abend []immer []Auflauf

Aber nicht nur am Wortanfang finden wir den glottalen Plosiv. Erwird von den meisten Sprechern auch vor eine vokalinitiale Wurzelgesetzt:

(115) ver-[]arbeitenver-[]achtenbe-[]eilen[]auf-[]essen

Sprecher des Italienischen müssen bei der Aussprache dieserWörter besonders aufpassen. Das Italienische hat keinen glottalenPlosiv, deshalb neigen Sprecher des Italienischen dazu, in diesenWörtern die Coda des Präfixes als Onset für die Wurzelsilbe zu

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verwenden. Diese Aussprache klingt aber für ein deutsches Ohrziemlich seltsam:(116) Italienische Aussprache vokalinitialer Wurzeln:

*ve.rar.bei.ten*ve.rach.ten*au.fes.sen

Es gibt noch einen Kontext, in dem wir den glottalenPlosiv finden. Auch im Inneren eines Morphems kann esvorkommen, dass eine Silbe mit einem Vokal beginnt. Dasgeschieht dann, wenn zwei Vokale aufeinander treffen und einensogenannten Hiatus bilden:

(117) The.[]á.tercha.[]ó.tischBe.[]á.tein.di.vi.du.[]éll

Süddeutsche Sprecher produzieren in diesem Kontext eigentlichselten einen glottalen Plosiv, aber wer nicht aus dem Südenkommt, wird in diesen Wörtern wahrscheinlich diesenKonsonanten einsetzen.

Beachtet, dass in den letzten Beispielen der Vokal, vor demder glottale Verschluss steht, immer betont ist. Es gibt nämlicheinen Kontext, in dem morphemintern normalerweise keinglottaler Plosiv produziert wird, auch wenn die Silbe mit einemVokal beginnt. Das geschieht, wenn der silbeninitiale Vokal nichtbetont ist:

(118) [zé:.n] *[ze:.n] sehen[é:.] *[e:.] Ehe[bé:.a] *[bé:.a] Bea[ká:s] *[ká:s] Chaos24

24 Es gibt Sprecher, die auch in Chaos einen glottalen Verschluss verwenden. Eskönnte sein, dass auf der zweiten Silbe dieses Wortes, -os-, ein (schwächerer)

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5. Prosodische Phonologie: Einheiten und Regeln 126

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Der glottale Plosiv steht also bei vokalinitialen Silben in folgendenKontexten:25

- am Wortanfang- am Anfang einer Wurzel- morphemintern, wenn der darauffolgende Vokal betont ist

Wir sehen, auch wenn es so aussieht, als gäbe es im DeutschenSilben ohne Onset, so müssen wir doch schließen, dass das in denmeisten Fällen nicht so ist, da bei vokalinitialen Silben meistens einglottaler Plosiv eingesetzt wird.

Der Onset des Deutschen richtet sich im Großen undGanzen nach der Sonoritätshierarchie. Allerdings finden wir nichtalle Sequenzen, die nach der Sonoritätshierarchie erlaubt wären.Die folgenden Sequenzen müssten eigentlich möglich sein, es gibtaber keine Onsets dieser Art im Deutschen:

(119) *kfa*mra*tla

Wir haben schon weiter oben gesehen, dass der Silbennukleus imDeutschen aus einem kurzen oder langen Vokal, einem Diphthongoder einem silbischen Konsonanten bestehen kann:

(120) a. Kurzer Vokal: W[a].che Wacheb. Langer Vokal: L[i:].be Liebec. Diphthong: L[a].be Laubed. Silbischer Konsonant: war.[tn ] warten

ne.[bm ] nebenFle.[gl ] Flegel

Nebenakzent liegt, und dass einige Sprecher glottale Plosive auch vor Vokalesetzen, die einen Nebenakzent tragen.25 Wer an einer detaillierten Analyse dieses Prozesses interessiert ist, kann sichmeinen Aufsatz zum glottalen Plosiv (Alber 2001) anschauen.

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127

In der Coda stehen im Deutschen im Allgemeinen maximal zweiKonsonanten, deren Abfolge sich wieder nach den Prinzipien derSonoritätshierarchie richtet:

(121) WerkhalbHandHelm

Es gibt allerdings Wörter, in denen stehen nach dem Nukleus mehrals zwei Konsonanten (s. Wiese 1996: 48):

(122) ObstMarktHerbstWerft

Es ist interessant, dass der dritte und vierte Konsonant in diesenFällen immer ein [s] oder ein [t] ist. Es können also nur alveolareKonsonanten als dritte und vierte Konsonanten in der Codastehen. Da die Art der Segmente, die nach dem zweitenKonsonanten in der Coda stehen können so beschränkt ist, wurdeauch hier vorgeschlagen, dass diese alveolaren Segmente alsextrasilbisch zu werten sind.

Was die Affrikaten betrifft, so können wir auch in der Codaeine interessante Beobachtung machen. Schauen wir uns diefolgenden Beispiele an:

(123) Pfro[pf] PfropfKo[pf] KopfWi[ts] WitzSa[ts] SatzMa[t] Matsch

Die Affrikaten [pf], [ts] und [t] bestehen aus einem Plosiv-Teil([p], bzw. [t]) und einem Frikativ-Teil ([f], [s] bzw. []). Wenn

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diese beiden Teile als je ein Segment zählen würden, dann würden[pf] und [ts] in der Coda die Sonoritätshierarchie verletzen. Da wirjedoch diese Affrikaten, wie in den obigen Beispielen, in derSilbencoda finden, müssen wir annehmen, dass Affrikaten nur alsein Segment zählen. Wir haben also ein weiteres Argument für denmonosegmentalen Status der Affrikaten gefunden.

Fassen wir noch einmal die gerade genanntenGeneralisierungen zur deutschen Silbe zusammen. Die maximaledeutsche Silbe kann man schematisch folgendermaßen darstellen:

(124) Die maximale deutsche Silbe:

σf hOnset Reimf h f hg g Nukleus Codag g f h f h

extrasilb. C C V V C C extrasilb.[s] oder [] alveolare

Konsonanten

Die maximale Silbe im Deutschen besteht also aus zwei Onset-Konsonanten, einem langen Vokal oder Diphthong im Nukleusund zwei Coda-Konsonanten. Dazu können noch extrasilbischeSibilanten am Silbenanfang oder alveolare Konsonanten amSilbenende dazukommen.

Es ist interessant, dass diese maximale Silbe als solche imDeutschen praktisch nie realisiert wird. Das hat seinen Grunddarin, dass maximal gefüllte Silben des Deutschen (extrasilbischeElemente nicht mitgerechnet) immer entweder über einen langenVokal im Nukleus oder über eine komplexe Coda verfügen. Esgibt also Wörter wie Raub oder Weg, deren Silben einen langenVokal und eine einfache Coda haben oder Wörter wie halb oderHanf, deren Silben einen kurzen Vokal und eine komplexe Coda

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haben, aber es gibt im Deutschen keine Silbe mit langem Vokalund komplexer Coda.

Die minimale Silbe im Deutschen hat mindestens einenNukleus und (außer in einigen wenigen Fällen wie die zweite Silbein sehen) eigentlich auch immer einen Onset, der mindestens auseinem glottalen Plosiv besteht.

Die Silbe des Deutschen hat eine weitere Eigenart, über diees sich lohnt, sich den Kopf zu zerbrechen. Wenn der Vokal imNukleus lang ist, dann kann in den den meisten Silben desDeutschen in der Coda nur ein Konsonant folgen (extrasilbischeKonsonanten nicht mitgezählt). So enthält z.B. das einsilbige WortSchaf einen langen Vokal und einen Coda-Konsonanten. Wennder Nukleus hingegen aus einem kurzen Vokal besteht, dannkönnen in der Coda auch zwei Konsonanten folgen. Ein Beispielfür eine Silbe dieser Art wäre das einsilbige Wort Helm, das einenkurzen Nukleus-Vokal und zwei Coda-Konsonanten enthält. Daswürde bedeuten, dass im Reim nur Platz für drei Elemente ist. DerReim kann also die Struktur VVC oder VCC haben. Wir könntendiese Tendenz der deutschen Silbe dahingehend interpretieren,dass der erste von zwei Konsonanten eigentlich eineNukleusposition besetzt und also die Coda immer nur höchstenseinen Konsonanten enthält.

Wenden wir uns nun der italienischen Silbe zu. Wir wollenversuchen, die Charakteristiken der italienischen Silbenstrukturanhand einer Übung selbst zu erarbeiten. Wir können uns dabei ander Beschreibung der deutschen Silbenstruktur orientieren. Dieitalienischen Daten und Generalisierungen stammen weitgehendaus Nespor (1993).

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Übung 21

1. Als erstes wollen wir herausfinden, wie der Onset deritalienischen Silbe aussieht. Sehen wir uns dazu die folgendenDaten an:

(125) [pr]anzo [str]ano[kl]ima [spr]uzzo[tr]eno [skr]ivere[gl]icine [zgr]adevolea.[tl]e.ta

Beantwortet nun die folgenden Fragen:

a. Wieviele Konsonanten können im Italienischen maximal imOnset stehen?b. Muss mindestens ein Konsonant im Onset stehen?c. Welche Konsonanten können bei einem maximalen Onset in derersten Position stehen, welche in der zweiten, welche in der dritten?d. Welche Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede gibt es zum Onsetdes Deutschen?e. Befolgen die Onsets des Italienischen die Sonoritätshierarchie?

2. Wenden wir uns nun dem Nukleus zu:

(126) [a].ra.bo[au].lap[ie].no

a. Welche Segmente können im Italienischen die Nukleuspositionbesetzen?b. Welche Unterschiede zum Deutschen lassen sich hier feststellen?

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3. Und nun zur Coda:(127) pa[r].te fa[t].to

a[l].to le[g].goba[n].da ma[s].saba[m].bi.no a[v].vi.so

pa[s].ta oder pa.[s]ta?

a. Wieviele Konsonanten können im Italienischen maximal in derCoda stehen?b. Welche Art von Konsonanten kann in der Coda stehen?c. Welche Unterschiede gibt es zwischen der italienischen und derdeutschen Silbencoda?

Wenn ihr diese Übung in allen ihren Teilen ausgearbeitet habt,dann solltet ihr folgendes beobachtet haben. Der italienische Onsetgleicht in großen Zügen dem deutschen Onset. Auch imItalienischen haben wir maximal zwei Konsonanten, die die Onset-Position besetzen können, plus einen dritten Konsonanten, deraber dann ein /s/ oder /z/ sein muss. Diese Sibilanten könnengenauso wie im Deutschen als extrasilbisch gewertet werden. Daserste Element des maximalen Onset ist also immer ein /s/ oder /z/.Das zweite Element kann ein beliebiger Konsonant sein. Das dritteElement – und hier unterscheidet sich das Italienische wieder vomDeutschen – ist immer ein Liquid, also ein /r/ oder ein /l/. Es gibtnoch einen Unterschied zum Deutschen. Während wir imDeutschen vor vokalinitiale Silben meistens einen glottalen Plosivsetzen, tun wir das im Italienischen nicht. Im Italienischen gibt esalso häufiger Silben ohne Onset als im Deutschen.Schließlich können wir noch beobachten, dass es im ItalienischenOnsets gibt, die es im Deutschen nicht gibt, wie z.B. den Onset [tl]im Wort a.tle.ta.

Der Nukleus des Italienischen ist dem des Deutschenziemlich ähnlich. In beiden Sprachen kann er aus einem einfachenVokal oder auch aus einem Diphthong bestehen. Im Unterschied

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zum Deutschen können allerdings im Nukleus einer italienischenSilbe keine silbischen Konsonanten stehen.

In der Coda der beiden Sprachen finden wir wahrscheinlichdie größten Unterschiede. Im Italienischen kommt in der Codaimmer nur höchstens ein Konsonant vor. Dieser Konsonant kannaußerdem nur ein Sonorant (also ein Nasal oder ein Liquid), dieerste Hälfte einer Geminate oder ein [s] sein. Im Deutschenhingegen kann die Coda aus mehreren Konsonanten bestehen.

Was das [s] betrifft, so müssen wir seine Silbenposition inwortinternen Konsonantensequenzen noch etwas ausführlicherbesprechen. Betrachet die folgenden Hypothesen zurSilbifizierung:

(128) As.co.li oder A.sco.li?pas.ta oder pa.sta?a.spro oder as.pro?

Es ist in diesen Fällen nicht ganz klar, ob das [s] zur Coda dervorhergenden Silbe oder zum Onset der nächsten Silbe gezähltwerden soll. In der Schule lernt man, dass man diese Wörter alsA.sco.li bzw. pa.sta, a.spro trennen soll. Aber es gibt gutephonologische Argumente dafür, dass die richtige Silbentrennungeigentlich As.co.li bzw. pas.ta, as.pro ist (s. Nespor 1993: 176).Wir können nämlich beobachten, dass der Vokal vor dem [s]immer kurz ist. Wenn die Trennung jedoch A.sco.li, pa.sta, a.sprowäre, dann müsste der Vokal gelängt werden, denn Vokale inoffenen,26 betonten Silben werden im Italienischen (vor allem inder vorletzten Silbe) immer gelängt. Wir können das in folgendenBeispielen sehen, in denen die betonten Vokale alle in offenenSilben stehen und deshalb gelängt werden:

26 Offene Silben sind Silben, die auf einen Vokal enden (also nicht durcheinen Konsonanten "geschlossen" werden).

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(129) cá.saá.ra.boprá.to

Diese Beispiele zeigen uns außerdem, dass Vokallänge imItalienischen vom Akzent abhängt. Sie ist somit vorhersagbar undkann also nicht distinktiv sein. Hier unterscheidet sich dasItalienische vom Deutschen, in dem die Vokallänge, inVerbindung mit dem Merkmal [±gespannt], Minimalpaare wieMiete und Mitte unterscheiden kann.

Wir können nun die Struktur der italienischen maximalenSilbe zusammenfassend folgendermaßen darstellen:

(130) Die maximale italienische Silbe:

σf hOnset Reimf h f hg g Nukleus Codag g f h g

extrasilb. C C V V C([s] oder [z]) (Liquid) (Sonorant, Geminate, [s])

Wir wenden uns hier zum Abschluss noch einem interessantenProblem zu, das die Länge der Wörter des Italienischen und desDeutschen betrifft. Wer die beiden Sprachen auch nuroberflächlich kennt, bemerkt bald, dass das Italienische viele zwei-und dreisilbige Wörter hat, während deutsche Wörter meistens auseiner einzigen Silbe bestehen. Wir sprechen hier nur vonmorphologisch einfachen Wörtern, denn im Deutschen kann mannatürlich sehr lange morphologisch komplexe Wörter bilden,wenn man z.B. an Komposita wie Donaudampfschifffahrt denkt.Doch es ist gar nicht so einfach, mehrsilbige deutsche Wörter zufinden, die keine Komposita sind und keine Suffixe oder Präfixeenthalten. Im Bereich der Fremdwörter gibt es natürlich auch

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mehrsilbige Wörter, wie z.B. Universität, individuell u.s.w., aberdie mehrsilbigen Wörter, die nicht eindeutige Fremdwörter sind,sind eher selten. Beispiele für native Wörter mit mehr als einerSilbe sind Arbeit und Ameise, oder auch Wörter, die auf –er und–el enden, wie Engel und Muster. Die meisten typisch deutschenWörter bestehen jedoch aus nicht mehr als einer Silbe. ImItalienischen ist es umgekehrt: das typische italienische Wortbesteht aus mehr als einer Silbe. Wie kann man sich denUnterschied zwischen diesen beiden Sprachen erklären?

Ein Grund für die Kürze der deutschen Wörter könnte inder Silbenstruktur liegen. Nehmen wir einmal an, dass es, umeinen Begriff in einem Wort auszudrücken, im Durchschnitt siebenSegmente braucht. Im Deutschen können diese sieben Segmenteohne weiteres in eine einzige Silbe gezwängt werden, wenn wir z.B.eine Silbe nehmen, die ein oder mehrere extrasilbische Segmentehat. Im Italienischen brauchen wir für die gleichen siebenSegmente hingegen mindestens zwei Silben, da in eineritalienischen Silbe maximal fünf Segmente Platz haben.

Ein weiterer Grund für die "Mehrsilbigkeit" desItalienischen liegt sicherlich darin, dass italienische (lexikalische)Wörter immer mit einem Vokal enden müssen. Ein einsilbigesWort kann diese Beschränkung nur erfüllen, wenn die Silbe eine(C)CV-Struktur hat. In einer Struktur dieser Art kann man abersehr wenige Segmente unterbringen (höchstens vier, wenn man dieextrasilbischen Elemente dazuzählt). Es handelt sich hier also umeine nicht sehr "informative" Silbe.

5.1.5.Verletzbare universelle Beschränkungen - eine Mini-Einführung in die Optimalitätstheorie

Wir haben nun gesehen, wie die deutsche und die italienische Silbeaussehen. In diesem Kapitel wollen wir uns fragen, wie sich dieSilben dieser Sprachen in Bezug auf die universellen Onset- und

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Coda-Beschränkungen verhalten, die wir in Kap. 4.1.3 besprochenhaben.

Auf den ersten Blick scheint die Antwort auf diese Fragebanal zu sein: beide Sprachen scheinen diese Beschränkungennicht zu befolgen.

Im Deutschen haben wir Beispiele wie das folgende:

(131) [ze:.n] <sehen>

In diesem Beispiel hat die zweite Silbe keinen Onset, sie verstößtalso gegen die Onset-Beschränkung (1. Teil) und sie hat zugleicheine Coda, verstößt also gegen die Coda-Beschränkung (1. Teil).

Im Italienischen haben wir Beispiele wie:

(132) am.ba.scia.ta

wo die erste Silbe keinen Onset, wohl aber eine Coda hat.

Doch auch wenn die beiden universellen Beschränkungen invielen Wörtern verletzt werden, so können wir doch sehen, dass sieauch in diesen beiden Sprachen eine gewisse Rolle spielen.

Wir werden sehen, dass beide Sprachen, wann immermöglich, die beiden Beschränkungen befolgen, und dass sie dazubestimmte Strategien benützen.

Beginnen wir mit dem Deutschen. Wenn im Deutschen eineSilbe ohne Onset am Wortanfang steht, dann wird vor den Vokalein glottaler Plosiv eingesetzt. Das Wort E s e l wird alsofolgendermaßen realisiert:

(133) /e:zl/ → [e:zl]

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Der glottale Plosiv sorgt dafür, dass die erste Silbe einen Onsetbekommt. Wortintern kann der glottale Plosiv nur vor einen Vokalgesetzt werden, wenn dieser betont ist. Im Beispiel [ze:.n] kannalso kein glottaler Plosiv vor das schwa gesetzt werden, da diesesnicht betont ist.

Prinzipiell könnte man sich für das Wort /e:zl/ verschiedeneStrategien der Realisierung vorstellen:(134) /e:zl/ → a. [e:zl]

b. *[zl]c. *[e:zl]

/dan e:sl/ → d. *[da.n e:.zl] <dein Esel>

Wir können, wie in a., einen Konsonanten für die vokalinitialeerste Silbe einfügen. Dies ist die Strategie, die schließlichangewandt wird. Wir können uns aber auch vorstellen, dass manvielleicht den ersten Vokal streicht, wie in b. Durch dieseStreichung erreichen wir, dass nur eine Silbe mit Onsetübrigbleibt. Wir könnten auch die zugrundeliegende Form solassen, wie sie ist, und damit die Onset-Beschränkung verletzen, wiein c. Schließlich könnten wir, wenn dem Wort Esel noch einanderes Wort vorangeht, den Weg der Resilbifizierung wählen, wiein d. Das bedeutet, dass wir den Konsonanten des ersten Wortesnehmen und ihn als Onset für die erste Silbe des zweiten Wortesverwenden. Doch auch diese Strategie wird im Deutschen nichtgewählt.27

Jede dieser Strategien hat bestimmte Vorteile und bestimmteNachteile. Die erste Strategie verletzt eine Beschränkung (aufengl.: constraint), die wir Füge nichts hinzu! nennen könnten. Siewird dadurch verletzt, dass wir den glottalen Plosiv - ein Segment,das in der zugrundeliegenden Form nicht da war - hinzufügen. 27 Die Strategie der Resilbifizierung können wir – unter bestimmten Umständen –auch im Deutschen finden, z.B. wenn das vorangehende Wort ein Funktionswortist, die erste Silbe des lexikalischen Wortes unbetont ist und das Sprechtemporelativ schnell ist. So können wir z.B. die Sequenz in Amerika ohne glottalenVerschluss und mit Resilbifizierung realisieren: i.n A.me.ri.ka

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Die zweite Strategie verletzt die Beschränkung Streiche nichts!, diedafür sorgt, dass alle Segmente, die in der zugrundeliegendenForm da sind, auch in der phonetischen Form realisiert werden.Die dritte Strategie befolgt diese beiden letzten Beschränkungen,aber sie verletzt die Onset-Beschränkung. Die letzte Strategieverletzt eine Beschränkung, die wir Keine Resilbifizierung! nennenkönnten:

(135) a. [e:zl] verletzt Füge nichts hinzu!b. *[zl] verletzt Streiche nichts!c. *[e:zl] verletzt Onset-Beschränkungd. *[da.n e:.zl] verletzt Keine Resilbifizierung!

Alle diese Beschränkungen sind von Phonologen schon in Bezugauf andere phonologische Prozesse in anderen Sprachenbeobachtet worden. Wir werden im Folgenden die Namen fürdiese Beschränkungen verwenden, die wir auch in derlinguistischen Literatur finden könnnen, und zwar:

(136) a. Füge nichts hinzu! = DEPb. Streiche nichts! = MAXc. Onset-Beschränkung = ONSETd. Keine Resilbifizierung! = ALIGN (WORT/WURZEL, SILBE,

L)

Der Name für die Beschränkung DEP steht für engl. dependency,da die Beschränkung besagt, dass jedes Element des output (derphonetischen Oberflächenform) ein ihm entsprechendes Elementim input (der phonematischen, zugrundeliegenden Form) habensoll:

(137) DEP: jedem Element im output entspricht ein Element iminput28

28 Für die Definition dieses und der folgenden constraints s. Prince&Smolensky(1993/2004), McCarthy&Prince (1993) und McCarthy&Prince (1995).

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Diese Beschränkung ist in [e:zl] verletzt, da dem ersten Elementim output, dem glottalen Verschluss, kein input-Elemententspricht:(138) / e:1 z2 3 l4 / input

| | | | |[ 1 e:2 z3 4 l5 ] output

Die Beschränkung MAX (für engl.: maximality) besagt, dass es fürjedes input-Element ein entsprechendes output-Element gebenmuss:

(139) MAX: jedem Element im input entspricht ein Element imoutput

Wenn wir ein input-Element tilgen, dann wird dieser constraintverletzt:

(140) / e:1 z2 3 l4 / input| | | |

[ z1 2 l3 ] output

DEP und MAX sind sogenannte Treuebeschränkungen (engl.:faithfulness constraints). Sie sorgen dafür, dass der input (diezugrundeliegende Form) gleich aussieht wie der output (diephonetische Realisierung). Auch bei diesen Beschränkungenhandelt es sich um universelle Beschränkungen, die man in allenSprachen der Welt finden kann, die aber manchmal verletztwerden können.

Unsere Onset-Beschränkung (1. Teil) können wir auch alsconstraint definieren:

(141) ONSET: jede Silbe hat einen Onset

Diese Beschränkung ist natürlich durch die erste Silbe in [e:zl]verletzt. ONSET ist eine Markiertheitsbeschränkung, die universellunmarkierte Strukturen begünstigt. Ein Großteil der phonolo-

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gischen Prozesse lässt sich als Kampf zwischen Treuebeschrän-kungen und Markiertheitsbeschränkungen darstellen. WennTreuebeschränkungen dominant sind, dann bleibt die zugrunde-liegende Form so wie sie ist, wenn Markiertheitsbeschränkungenwichtiger sind, finden phonologische Prozesse statt.

Der constraint ALIGN (WURZEL/WORT, SILBE, L) gehört zurFamilie der alignment constraints, die möchten, dass die Ränderbestimmter morphologischer und prosodischer Kategorien über-einstimmen. Den hier relevanten alignment constraint können wirfolgendermaßen definieren:

(142) ALIGN (WURZEL/WORT, SILBE, L): der linke Rand einesWortes oder einer Wurzel stimmt mit dem linken Randeiner Silbe überein

In der Silbifizierung

(143) [da.n] [e:.zl]

beginnt die zweite Silbe vor dem Laut [n] und endet nach dem[e:]. Der Wort- bzw. Wurzelgrenze zwischen [n] und [e:] entsprichtalso keine Silbengrenze. Der constraint ALIGN ist verletzt.

Für das Deutsche können wir sagen, dass eine dieserBeschränkungen auf Kosten der anderen Beschränkungen verletztwerden kann. In einem gewissen Sinne ist sie "schwächer" als dieanderen Beschränkungen. Es handelt sich dabei um dieBeschränkung DEP. Indem wir im output einen glottalen Plosivhinzufügen, verletzen wir diese Beschränkung. Dadurch, dass wirdiese Beschränkung verletzen, können wir jedoch die anderenBeschränkungen erfüllen. Wir fügen ein Segment – den glottalenVerschluss – ein und können dadurch die Onset-Beschränkungerfüllen, ohne MAX und ALIGN zu verletzen.

Wir können diese vier Beschränkungen nach ihrerWichtigkeit in einer Hierarchie anordnen:

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(144) ONSET, MAX, ALIGN|

DEP

DEP wird von den drei anderen Beschränkungen dominiert. Dasführt dazu, dass diese Beschränkung verletzt wird, um die dreianderen Beschränkungen zu erfüllen.

Wir können die Interaktion zwischen den verschiedenenBeschränkungen auch in einem sogenannten constraint tableauveranschaulichen:

Tableau 1: Bewertung des input / dan e:zl/ (<dein Esel>):/ dan e:zl/ ONSET MAX ALIGN DEPa. dan. e:zl *! 2. Silbe ohne Onsetb. dan. zl *! Tilgungc. da.n e:.zl *! Resilbifizierungd. dan. e:.zl * Epenthese

In der ersten Zelle der ersten Spalte dieser Tabelle steht der inputdes Wortes, das die Beschränkungen bewerten, /dan ezl/. Darunterfolgen die Kandidaten, d.h., alle möglichen Reali-sierungen, dieman sich für den input vorstellen kann. Kandidat a. ist eineRealisierung, bei der sich in Bezug auf den input nichts veränderthat. In Kandidat b. wurde der Vokal [e:] getilgt. Kandidat c. istder Resilbifizierungskandidat, er unterscheidet sich von Kandidata. dadurch, dass hier die Silbengrenze gleich hinter dem erstenVokal liegt. Dadurch bekommt die zweite Silbe den Onset [n].Kandidat c. zeichnet sich dadurch aus, dass ein Konsonant, derglottale Plosiv [] eingefügt wird. Diesen Prozess des Einfügensvon Lauten nennt man in der Phonologie auch Epenthese. Dieserletzte Kandidat wird am Ende als optimaler Kandidat ausgewählt.Er ist der Gewinner, denn er wird das Rennen gegen die anderenKandidaten gewinnen. Deshalb kennzeichnen wir ihn mit derkleinen Hand . Die erste Hürde, die die Kandidaten überwindenmüssen, ist der constraint ONSET. Hier bleibt Kandidat a. auf der

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Strecke, denn er verletzt diese Beschränkung, weil die zweite Silbekeinen Onset hat. Verletzungen geben wir mit einem Stern * an.Das Ausrufezeichen nach dem Stern bedeutet, dass die Verletzungin diesem Fall fatal war und der Kandidat aus dem Rennenausscheidet, da alle anderen Kandidaten besser waren, was denconstraint ONSET betrifft. Es bleiben also nun Kandidat b, c. undd. übrig, die sich dem zweiten constraint, MAX, stellen. An diesemPunkt scheidet Kandidat b. aus, denn dieser Kandidat verletztM AX, weil der input-Vokal [e:] getilgt wurde. Es bleiben nunKandidat c. und d. übrig. Kandidat c. verlässt uns nach derBegegnung mit der Beschränkung ALIGN. Dieser Kandidat verletztALIGN, da der linke Rand des Wortes Esel nicht mit dem linkenRand einer Silbe übereinstimmt. Nach dieser Runde bleibt nurKandidat d. übrig. Dieser Kandidat verletzt den constraint DEP,doch da DEP am tiefsten in der Hierarchie der Beschränkungensteht, fällt diese Verletzung nicht mehr ins Gewicht. Alle Zellender Tabelle, deren Inhalt für die Bewertung unwichtig ist, sindgrau schattiert. Das gilt auch für die Zelle, in der die DEP-Verletzung von Kandidat d. steht: es ist egal, was in dieser Zellesteht, ob Kandidat d. eine DEP-Verletzung, zwei DEP-Verletzungenoder gar keine DEP-Verletzung aufweist, er gewinnt auf jeden Fall.

Die Trennungslinien zwischen den Spalten der ONSET-,MAX- und ALIGN-Beschränkung sind gestrichelt, denn es ist nichtrelevant, welche dieser Beschränkungen die jeweils anderedominiert. Wir können eigentlich gar nicht sagen, ob ONSET, MAXund ALIGN in einer Dominanzrelation zueinander stehen. Wichtigist nur, dass alle drei Beschränkungen den constraint DEPdominieren.

Wie sieht es nun im Italienischen aus? Versucht, die Analysedes Italienischen selbst in der folgenden Übung zu erarbeiten:

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Übung 22

1. Wir verwenden in dieser Übung die Beispiele amore und conamore. Erstellt nun mit diesen Beispielen eine Liste von möglichenoutputs, wie wir sie im letzten Beispiel (Esel) für das Deutschegesehen haben. Wie könnten amore und con amore prinzipiellrealisiert werden? Ihr solltet alle vier Möglichkeiten anführen:Einfügen eines Segmentes, Streichen eines Segmentes, keineÄnderung und Resilbifizierung.

amore con amorea. _______________ _______________b. _______________ _______________c. _______________ _______________d. _______________ _______________Welche dieser Realisierungen gibt es nun im Italienischen wirklich,welche sind nicht möglich?

2. Gebt nun an, welche Beschränkungen in diesen vierRealisierungen verletzt werden:

a. _______________b. _______________c. _______________d. _______________

Welche Beschränkungen können also im Italienischen verletztwerden, welche nicht?

3. Versucht nun, die Hierarchie der Beschränkungen für dasItalienische zu bauen. In dieser Hierarchie werden dieBeschränkungen, die verletzt werden können, von denBeschränkungen, die nicht verletzt werden können, dominiert.Stellt diese Hierarchie auf die gleiche Art und Weise wie imDeutschen dar.

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4. Die Hierarchie des Italienischen ist allerdings etwaskomplizierter als die im Deutschen. Schaut euch noch mal diebeiden Strategien an, die im Italienischen möglich sind, und dieBeschränkungen, die durch sie verletzt werden. Lässt sich zwischendiesen beiden Beschränkungen noch eine Subhierarchiefeststellen? Welche Strategie wird in con amore bevorzugt? Welchevon den beiden relevanten Beschränkungen wird also eherverletzt?

5. Zeichnet zwei constraint tableaux, eines für den input conamore, eines für den input amore. Beschreibt die Auswahl desGewinners in diesen tableaux.

Wenn ihr diese Übung in all ihren Schritten gelöst habt, dannsolltet ihr zu dem Schluss gelangt sein, dass im Italienischen diebeiden Beschränkungen MAX und DEP am höchsten stehen. ONSETund ALIGN hingegen müssen von diesen beiden Beschränkungendominiert werden, denn sie werden in den outputs amore und co.na.mo.re verletzt. Wenn wir versuchen, eine Hierarchie zwischenONSET und ALIGN herzustellen, dann müssen wir uns den outputco.n a.mo.re anschauen. In diesem output wird die BeschränkungALIGN verletzt, während ONSET befolgt wird. ONSET muss alsoA LIGN dominieren. Wir erhalten also für das Italienische diefolgende Hierarchie:

(145) MAX, DEP|

ONSET|

ALIGN

Die beiden Beschränkungen M AX und D EP stehen amhöchsten in der Hierarchie, denn sie werden immer befolgt. ONSET

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und ALIGN stehen tiefer, denn sie werden in einigen Fällen verletzt.Wenn man aber die Wahl zwischen diesen beiden Beschränkungenhat, wie im Fall von con amore. dann entscheiden wir uns dafür,die Onset-Beschränkung auf Kosten von ALIGN zu befolgen. Wirresilbifizieren also die beiden Wörter als co.n a.mo.re, anstatt daszweite Wort ohne Onset zu lassen (wie in con amore).

Wir können nun die Auswahl des gewinnenden Kandidatendurch die Beschränkungen wieder in einem constraint tableaudarstellen. Erstellen wir zuerst das tableau für den input conamore:

Tableau 2: Bewertung des input /con amore/:29

/con amore/ MAX DEP ONSET ALIGN

a. con. a.mo.re *! 2. Silbe ohne Onsetb. con. mo.re *! Tilgungc. co.n a.mo.re * Resilbifizierungd. con. a.mo.re *! Epenthese

Wir sehen in der ersten Spalte dieselben Kandidaten, die wir schonim Deutschen hatten. Die Hierarchie der Beschränkungen ist aberim Italienischen eine andere als im Deutschen, deshalb wird auchein anderer Gewinner unter den Kandidaten ausgewählt. Bei derBewertung durch MAX scheidet Kandidat b. aus, da ihm der input-Vokal [a] fehlt. Bei der Bewertung durch DEP verlieren wirKandidat d., da er durch die Epenthese eines glottalenVerschlusslautes diesen constraint verletzt. Kandidat d. kann also,im Gegensatz zum Deutschen, hier nicht gewinnen. Kandidat a.scheidet aus, weil er im Vergleich zu Kandidat c. schlechter ist: erverletzt nämlich den höheren constraint ONSET, währen Kandidatc. nur den tieferen constraint ALIGN verletzt. Es gewinnt bei dieserBewertung also Kandidat c., der Kandidat mit Resilbifizierung.

29 Um die Diskussion nicht unnötig zu verkomplizieren verzichte ich hier auf diephonetische Transkription der italienischen Beispiele.

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Schauen wir uns jetzt noch die Bewertung des input /amore/an:

Tableau 3: Bewertung des input /amore/:/amore/ MAX DEP ONSET ALIGN

a. a.mo.re * 1. Silbe ohne Onsetb. mo.re *! Tilgungc. a.mo.re *! Epenthese

Wir haben hier wieder dieselbe Hierarchie von Beschränkungen,die für das Italienische gilt. Allerdings fehlt in der 1. Spalte einKandidat, der Kandidat mit Resilbifizierung. Ihn gibt es nicht, dader input nur aus einem Wort besteht, es steht kein Wort davor, vondem sich amore einen Konsonanten "ausleihen" könnte. Waspassiert in diesem Fall? Nun, der Tilgungskandidat b. und derEpenthesekandidat c. scheiden wieder aus, da sie MAX bzw. DEPverletzen. Doch Kandidat a., der Kandidat ohne Onset, kommtjetzt zum Zug, da er von den möglichen Kandidaten der einzigeist, der die höher stehenden Beschränkungen nicht verletzt. DieTatsache, dass er ONSET verletzt, ist also nicht so wichtig, da eskeinen Kandidaten gibt, der besser wäre.

Was haben wir nun eigentlich in diesem Kapitel in Bezugauf die Struktur der Silbe erfahren? Wir haben gesehen, dass esSilbenstrukturbeschränkungen wie die Onset-Beschränkung oderdie Coda-Beschränkung gibt, die als universell angesehen werdenkönnen. Was bedeutet universell? Es bedeutet, dass wir ihrenEinfluss in allen Sprachen der Welt finden sollten. Es bedeutetaber nicht, dass diese Beschränkungen immer und überall gelten.Sie können auch verletzt werden, aber nur, wenn es dadurchmöglich ist, wichtigere Beschränkungen zu erfüllen.

Die Beschränkungen, die die Silbenstruktur bestimmen, sinduniversell, aber die Hierarchie ihrer Wichtigkeit ist sprachspe-zifisch. So ist z.B. die Onset-Beschränkung sowohl im Deutschenals auch im Italienischen ein wichtiges Prinzip. Aber im Deutschensteht sie höher in der Hierarchie als im Italienischen, sie wird im

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Deutschen also eher befolgt werden, als im Italienischen. DieOptimalitätstheorie (Prince&Smolensky 1993/2004) hat dieseIdeen in den letzten 10 Jahren ausgearbeitet:

• die Idee, dass die Wohlgeformtheit von sprachlichenStrukturen durch universelle Beschränkungen (con-straints) bestimmt wird;

• dass diese universellen Beschränkungen verletzbar sind;• dass diese Beschränkungen in jeder Sprache in einer

sprachspezifischen Hierarchie angeordnet sind.

Übung 23

Kennt ihr die Romane von Andrea Camilleri, in denen dercommissario Montalbano die Hauptrolle spielt? Im commissariatovon Montalbano gibt es den Polizisten Catarella, der manchmaleine etwas eigenartige Sprache spricht. So sagt er z.B. "Dottore! Èarrivato un facchisi!" Er meint damit, dass ein Fax angekommenist.

1. Transkribiert die Wörter Fax und facchisi2. Was hat Catarella mit dem Wort Fax gemacht? Wie sieht dieSilbenstruktur des Wortes Fax aus, wie sieht die Silbenstruktur vonfacchisi aus?3. Welche Silbenstrukturbeschränkungen verletzen die Wörter Faxund facchisi, welche befolgen sie?4. Wie sieht also die Grammatik Catarellas aus, welcheBeschränkungen stehen hoch in der Hierarchie, welche stehen tief?5. Ist Catarellas Grammatik mit der des Standarditalienischenidentisch?

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5.2 Metrische Phonologie - Der Akzent

5.2.1 Füße - die Einheiten der Akzentzuweisung

Im letzten Kapitel haben wir über die Silbe als prosodische Einheitgesprochen. Aber auch Silben sind noch längst nicht die größtenprosodischen Einheiten. Wir wollen uns in diesem Kapitel nochmit der prosodischen Einheit des Fußes auseinandersetzen, der ineiner Hierarchie der prosodischen Kategorien die nächstgrößereKategorie nach der Silbe ist.

Wie in vielen Sprachen der Welt, so besitzen auch die Wörterdes Deutschen eine alternierende rhythmische Struktur. Wirkönnen zunächst feststellen, dass alle Wörter des Deutschen eineSilbe besitzen, die stärker als alle anderen Silben betont wird.Diese Silbe trägt den sogenannten Hauptakzent. So trägt z.B. imfolgenden Wort die letzte Silbe den Hauptakzent:

(146) En.zy.klo.pä.díe

Wenn man nun genau hinhört, dann hört man auch noch, dass dieerste Silbe dieses Wortes stärker betont ist als die zweite und diedritte wiederum stärker als die vierte. Das sind die sogenanntenNebenakzente:

(147) Èn.zy.klò.pä.díe

Der Hauptakzent wird in der Phonologie mit einem Akut (= ´ )transkribiert, der Nebenakzent mit einem Gravis (= `). In manchenTranskriptionen findet ihr aber auch vor der betonten Silbe einenhochgesetzten Strich für den Hauptakzent und einen tiefergesetzten Strich für den Nebenakzent:

(148) En.zy.klo.pä.die

Die Verteilung von Haupt- und Nebenakzenten folgt imDeutschen, wie auch in vielen anderen Sprachen, einem mehr oder

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5. Prosodische Phonologie: Einheiten und Regeln 148

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weniger alternierenden Muster: eine Silbe betont – eine Silbeauslassen – eine Silbe betont – usw. Diese rhythmischen Musterkönnen jedoch von Sprache zu Sprache sehr verschieden sein. Sokann z.B. der Hauptakzent auf die erste oder aber auf die letzteSilbe fallen, der erste Nebenakzent kann auf die erste oder auf diezweite Silbe fallen u.s.w.

Sehen wir uns zum Vergleich das Akzentmuster desFinnischen an,30 das auch alternierend ist, sich aber ziemlich vondem des Deutschen unterscheidet. Im Finnischen fällt derHauptakzent auf die erste Silbe, Nebenakzente fallen meistens aufalle ungeraden Silben danach:

(149) ó. pet. tè. le. mà. na.ni 'as somethinghm ta hm ta hm ta ta I have been learning'1 2 3 4 5 6 7

Wenn sich im Wort allerdings eine schwere Silbe mit einemkomplexen Reim (d.h. mit einem langen Vokal, einem Diphthongoder einem Vokal und einem darauffolgenden Konsonanten)befindet, dann zieht diese den Nebenakzent an und der strengalternierende Rhythmus wird unterbrochen:

(150) vá. lis. tu. màt. to. mi. àn. ne 'your unedu-| | | cated, part.pl.'schwer schwer schwer

hm ta ta hm ta ta hm ta1 2 3 4 5 6 7 8

In diesem Beispiel fallen die Akzente nicht mehr nur auf alleungeraden Silben, sondern auch auf Silben in gerader Position(z.B. die 4. Silbe), wenn diese schwer sind. Man könnte dasfinnnische Akzentmuster so beschreiben: die erste Silbe trägtimmer den Hauptakzent; danach folgen die Nebenakzente miteinem alternierenden Muster, außer wenn eine schwere Silbe

30 Die finnischen Beispiele stammen aus Carlson (1978).

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5. Prosodische Phonologie: Einheiten und Regeln 149

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auftaucht, die dann den Akzent anzieht; der Akzent kann nie aufzwei Silben nacheinander fallen (deshalb ist die zweite Silbe nichtbetont, obwohl sie schwer ist).

Die meisten Phonologen sind sich heutzutage ziemlicheinig, dass man Akzentmuster am besten beschreibt, indem maneine oder mehrere Silben zu einer Einheit zusammenschließt undin einen Fuß packt:

(151) Fuß Fuß Fuß2 2 1σ σ σ σ σÈn zy klò pä díe

In einer metrischen Struktur wie dieser enthält jeder Fuß höchstenszwei Silben, von denen die erste betont ist. Einen Fuß, in dem dieerste Silbe betont wird, nennt man einen Trochäus, einen Fuß, indem die zweite Silbe betont ist, nennt man einen Jambus. VomDeutschen und vom Italienischen nimmt man normalerweise an,dass beide Sprachen trochäische Füße bilden, da in einer längerenSequenz von Silben vor dem Hauptakzent normalerweise die erste,dritte, fünfte u.s.w. Silbe betont wird (außer, wenn auf diebetreffende Silbe die Silbe mit Hauptakzent folgt). Diese Sequen-zen lassen sich also ohne Probleme mithilfe von trochäischen nichtaber mit jambischen Füßen analysieren:

(152) (ò. no). (mà. to). po. é. tisch1 2 3 4 5

(ò. no). (mà. to). po. é. ti. co1 2 3 4 5

In den Wörtern onomatopoetisch und onomatopoetico stehenjeweils fünf Silben vor der Silbe, die den Hauptakzent trägt. Indieser fünfsilbigen Sequenz sind die erste und die dritte Silbebetont. Die fünfte trägt keine Betonung, da sie genau vor derhauptbetonten Silbe steht und auch im Deutschen und

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Italienischen, ähnlich wie im Finnischen, zwei Silben, die adjazentsind, nicht beide betont werden können. Die Betonung derungeraden Silben ergibt einen trochäischen Rhythmus (hm ta, hmta, hm ta), keinen jambischen Rhythmus (ta hm, ta hm, ta hm).

Welche Form metrische Füße genau annehmen können, isteine schwierige Frage, die wir hier leider nicht ausführlichdiskutieren können.31 Bilden immer zwei Silben einen Fuß odermanchmal nur eine? Ist eine Silbe, die alleine einen Fuß bildet (wiez.B. die letzte Silbe in Beispiel (151) immer auch eine schwereSilbe? Spielt die Silbenschwere auch im Deutschen und imItalienischen eine Rolle, so wie im Finnischen?

Segmente verbinden sich zu Silben, Silben verbinden sichzu Füßen und Füße verbinden sich am Ende zu einemprosodischen Wort, das ungefähr dem grammatikalischen Wortgleichkommt. Wir haben also am Ende für ein Wort die folgendeprosodische Struktur:

(153) Prosodisches Wort † ƒ ¥

Fuß Fuß Fuß2 2 1σ σ σ σ σ

V C CCV CCV CV CV:[ n tsy klo p di:]

5.2.3 Kurzer Kommentar zum deutschen Akzent

Wir wollen uns in diesem Kapitel zuerst mit der Akzentstruktur innativen Wörtern des Deutschen und dann mit der Akzentstrukturin Fremdwörtern beschäftigen. Denn native und entlehnte Wörterim Deutschen haben eine unterschiedlich Struktur, die dasAkzentmuster in beiden Fällen als verschieden erscheinen lässt, 31 Einen Überblick über die Ideen zur Struktur des metrischen Fußes findet ihr imLexikoneintrag Foot, den ich für die Encyclopedia of Language and Linguisticsgeschrieben habe (Alber 2005).

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5. Prosodische Phonologie: Einheiten und Regeln 151

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auch wenn eine einheitliche Beschreibung der beiden Bereichevielleicht möglich ist.

Wenden wir uns zunächst dem nativen Wortschatz zu. Beiden nativen Wörtern des Deutschen muss man wiederum zwischenmorphologisch einfachen und morphologisch komplexenWörtern unterscheiden. Native Wörter, die morphologisch einfachsind, die also nur aus einem Morphem (einer Wurzel) bestehen,sind im Deutschen sehr kurz. Meistens besteht die Wurzel einesWortes nur aus einer einzigen Silbe. Folglich fällt der Akzent aufeben diese Silbe. In den wenigen nativen Wörtern, die aus mehr alseiner Silbe bestehen, fällt der Hauptakzent auf die erste dieserSilben:

(154) Árbeit nicht: *ArbéitÁntwort nicht: *AntwórtÚrlaub nicht: *UrláubÁmeise nicht: *Améise

Bei den morphologisch komplexen Wörtern müssen wirverschiedene Untergruppen unterscheiden.

In den Komposita, die aus zwei Teilen bestehen, fällt derstärkere Akzent – im Gegensatz zum Italienischen –auf das ersteElement des Kompositums (das Bestimmungswort):

(155) Komposita: Akzent fällt auf den ersten TeilLéhrstùhlHóchschùleKíndergàrtenréchtfèrtigenfr´ühst`ücken

Das zweite Element des Kompositums (der Kopf) trägt auch einenAkzent, der aber schwächer als der des ersten Elementes ist.

Verben mit trennbaren Präfixen haben eine Akzentstruktur,die sehr derjenigen der Komposita ähnelt, d.h. ein stärkerer

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5. Prosodische Phonologie: Einheiten und Regeln 152

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Akzent fällt auf das Präfix und eine schwächerer Nebenakzent fälltauf die Verbwurzel:

(156) trennbare Präfixe:áuf-hàltenúm-dènken´über-sètzen 'traghettare'

Bei untrennbaren Präfixen fällt hingegen der stärkste Akzent aufdie Verbwurzel. Das Präfix selbst ist oft unbetont, besonders wennes eine Silbe enthält, die als leicht gewertet werden kann:

(157) untrennbare Präfixe:be-tréibenzer-bréchener-láuben`über-sétzen 'tradurre'

Es gibt dann noch einige Beispiele von Wörtern, die wieKomposita aussehen und also eigentlich eine Kompositabetonunghaben sollten, die aber dennoch auf dem zweiten Element betontwerden:

(158) Komposita ohne Kompositaakzent:frohlóckenvollbríngen

Es könnte sein, dass es sich hier um exozentrische Kompositahandelt, deren morphologische Struktur nicht mehr transparent ist.

Zum nativen Wortschatz ist noch zu sagen, dass das schwa[] und das vokalisierte [] nie einen Akzent tragen. Ein Wort wiedas folgende kann also nur auf der ersten Silbe betont werden,auch wenn sich dadurch keine alternierende rhythmische Strukturergibt:

(159) die trockeneren = die tróck[]n[]r[]n

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Sehen wir uns nun den Akzent in den Fremdwörtern an.Fremdwörter sind, im Unterschied zu nativen Wörtern, oftmehrsilbig. Bei ihnen können wir also leichter eine alternierenderhythmische Struktur beobachten als in nativen Wörtern.

Bei den Fremdwörtern, die in die deutsche Spracheintegriert wurden, finden wir den Hauptakzent auf einer der letztendrei Silben.

(160) a. Hauptakzent auf der letzten Silbe (Ultima):Ù.ni.vèr.si.t´ätÈn.zy.klò.pä.díe

b. Hauptakzent auf der vorletzten Silbe (Pänultima):P`ä.da.gó.gikMos.kí.to

c. Hauptakzent auf vorvorletzter Silbe (Antepänultima):Pe.tró.le.umMó.ni.tor

Es ist schwer vorherzusagen, auf welche der letzten drei Silben derHauptakzent jeweils fällt. So gibt es Wörter, die eine sehr ähnliche,oder sogar eine identische Struktur haben, in denen derHauptakzent jedoch nicht auf dieselbe Silbe fällt:

(161) Té.nor 'contenuto, significato'Te.nór 'tenore (cantante)'

Bei Té.nor und Te.nór handelt es sich um zwei verschiedenenWörter, mit unterschiedlicher Bedeutung, die aber dieselbelautliche Struktur haben. Dennoch fällt der Akzent im ersten Fallauf die Pänultima, im zweiten auf die Ultima.

Es gibt auch Wörter, die zwei verschiedene Betonungsmög-lichkeiten haben, wie z.B.:

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(162) Kí.mo.noKi.mó.no

Dieses Wort kann im Deutschen sowohl auf der Pänultima als auchauf der Antepänultima betont werden.

Schließlich gibt es auch regionale Variation, was dieBetonung bestimmter Wörter betrifft. So wird das WortMathematik im norddeutschen Raum eher auf der Ultima betont,im süddeutschen Raum eher auf der Pänultima:

(163) Mà.the.ma.tík (norddeutsche Varietäten)Mà.the.má.tik (süddeutsche Varietäten)

Alle diese Variationen zeigen uns, dass der deutscheFremdwortakzent nicht absolut vorhersagbar ist. Wir könnenjedoch zwei Regelmäßigkeiten festhalten:

- der Akzent fällt immer auf eine der letzten drei Silben- wenn der Akzent auf die Antepänultima fällt, so scheint diePänultima in den allermeisten Fällen eine leichte Silbe zu sein.

Wir können diesen zweiten Punkt an den Beispielenverifizieren, die wir bisher genannt haben. In keinem der Beispielemit Antepänultimabetonung ist die Pänultima schwer, enthält alsoeinen langen Vokal, einen Diphthong oder wird durch einenKonsonanten geschlossen.

Die Fremdwörter des Deutschen kommen zu einem großenTeil aus dem Griechischen und dem Lateinischen. Es wird uns alsonicht verwundern, dass die Akzentstruktur, die wir geradebeschrieben haben, der Akzentstruktur des Italienischen sehrähnlich ist. Auch im Italienischen fällt der Hauptakzent immer aufeine der letzten drei Silben, oft auf genau dieselbe Silbe, auf dersie auch im entsprechenden deutschen Fremdwort liegt:

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5. Prosodische Phonologie: Einheiten und Regeln 155

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(164) sy.ste.má.tisch si.ste.má.ti.coEn.zy.klo.pä.díe en.ci.clo.pe.dí.au.ni.ver.sál u.ni.ver.sá.le

Es wäre sehr interessant festzustellen, ob auch im Italienischen dieAntepänultima nur betont sein kann, wenn die Pänultima leicht(also im Italienischen: eine Silbe ohne Coda) ist. Dieses Phänomenist für das Italienische meines Wissens nach noch nichterschöpfend untersucht worden.

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6. Laut und Schrift

In diesem Kapitel folgen noch ein paar Bemerkungen zumVerhältnis von Laut und Schrift.

Im Deutschen entspricht, wie in vielen anderen Sprachen,meistens ein Phonem einem Graphem. Allerdings gibt es einigeFälle, in denen dieses phonologische Prinzip, auf dem dasSchriftsystem zum größten Teil beruht, nicht befolgt wird. So gibtes z.B. Sequenzen von Graphemen (Zeichen der Schrift), denennur ein Phonem entspricht:

(165) <sch> // 'schlafen' 3 Grapheme, ein Phonem<ch> [x] oder [] 'ich, ach' 2 Grapheme, ein Phonem, 2 Allophone

Ein weiterer Fall ähnlicher Art sind die Grapheme <f> und <v>: siedrücken im Deutschen oft denselben Laut [f] aus:

(166) <für> [fy:] 2 Grapheme, ein Phonem<viel> [fi:l]

Umgekehrt gibt es Fälle, in denen wir zwei Laute haben, aberdieser Unterschied wird in der Orthographie nicht ausgedrückt. Sogibt es z.B. kein orthographisches Zeichen für das stimmhaft [z].Wir schreiben sowohl für [z] als auch für [s] ein <s>. Das "scharfe"<ß> (auch ess-zett genannt) entspricht allerdings immer einemstimmlosen [s].

(167) <See> [ze:] 2 Phoneme, ein Graphem<das> [das]<Fuß> [fu:s]

Auch die Grapheme <z> und <x> druecken in Wahrheit zweiLaute aus:

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6. Laut und Schrift 158

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(168) <zahm> ['tsa:m] zwei Laute, ein Graphem<Hexe> ['hks]

Ein weiteres Beispiel für die Nicht-Entsprechung zwischenPhonemen und Graphemen sind die Doppelkonsonanten. ImDeutschen gibt es keine Geminaten, d.h., es gibt keine Konso-nanten, die phonetisch gesehen lang sind. In der Schrift gibt esaber sehr viele Doppelkonsonanten. Diese orthographischen Dop-pelkonsonanten drücken nicht die Länge der Konsonanten aus,sondern die Kürze des vorhergehenden Vokals:

(169) <Mitte> ['mt]<Mappe> ['map]<Ecke> ['k]<Spitze> [pts]32

Auch bei den Diphthongen ist die Orthographie etwas eigenartig.So schreibt man <eu>, wie z.B. in <euch>, aber dieser Diphthongsetzt sich nicht aus den Lauten [e] und [u] zusammen, sondern aus[] und [].

Übung 24Wie wird in der deutschen Orthographie die Vokallängewiedergegeben? Untersucht dazu folgende Daten:dirvielihrSee

Die Beispiele in dieser Übung zeigen uns, dass es im Deutschenverschiedene Möglichkeiten gibt, um die Vokallänge zu 32 Komischerweise gibt es in der deutschen Orthographie keineDoppelkonsonanten <kk> und <zz>. Stattdessen wird <ck> und <tz> geschrieben.

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6. Laut und Schrift 159

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kennzeichnen. Manchmal, wie im Wort dir, das ein langes [i:]enthält, wird die Vokallänge gar nicht angegeben. In anderenWörtern, wie z.B. in viel, sehen wir, dass ein langes [i:] durch dieBuchstabensequenz <ie> gekennzeichnet wird. In anderen Wör-tern wiederum, wie in ihr, steht ein sogennantes Dehnungs-h nachdem Vokal und zeigt uns, dass dieser lang ist. Und schließlich gibtes noch Beispiele, in denen für einen langen Vokal einfach zweiVokalgrapheme geschrieben werden, wie in See.

Einen Unterschied zwischen Deutsch und Italienisch gibt esin der Realisierung der Graphemsequenz <qu>. Im Italienischenwird sie als [kw] ausgsprochen, wobei es sich bei [w] um einensogenannten labialen glide (oder Halbvokal) handelt, wie man ihnauch am Anfang des Wortes uomo findet. Im Standarddeutschenwird für <qu> hingegen [kv] gesprochen:

(170) <Quelle> [kvl]<quale> [kwale]

Das deutsche Schriftsystem wurde von Mönchen im Mittelalterentwickelt, auf der Basis der lateinischen Schrift. Ende des 19.Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts gab es dann dieersten Versuche, eine orthographische Norm festzulegen. Einigeorthographische Eigenheiten wurden eliminiert, aber andere (sieheoben) sind geblieben. Die Orthographie ist eben auch das Resultateiner historischen Entwicklung. Wir können sie nicht zu einerperfekten Übereinstimmung mit den Phonemen bringen, ohne dieSprachgemeinschaft zu verstören. Stellt euch nur vor, wie das wäre,wenn es plötzlich ein Gesetz gäbe, das befiehlt, dass man alle Textein phonologischer Transkription schreiben muss.

Allerdings sind die deutsche und die italienischeRechtschreibung doch noch relativ nahe an der Lautstruktur derWörter, im Vergleich z.B. zu der englischen Orthographie.Im Jahre 1998 hat es eine neue Orthographiereform gegeben, dieauch heute noch heftig umstritten ist, obwohl sie einigeIdiosynkrasien des deutschen Schriftsystems eliminiert hat.

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Appendix

Kommentar zur phonetischen Transkription des Deutschen:

Die beste Grundlage für gutes Transkribieren ist gutesHinhören. Wenn aber eine Stelle kommt, an der man deneigenen Ohren nicht recht traut, dann können vielleicht dieseHinweise weiterhelfen:

- phonetische Transkription kommt immer zwischen eckigeKlammern ( [ ... ] )! Phoneme kommen zwischen Schrägstriche (/ .... / ) und orthographische Zeichen kommen zwischen spitzeKlammern ( < ... > ). Der Hauptakzent wird mit einem Apostrophvor der betonten Silbe gekennzeichnet (z.B. ['fi:l]), oder miteinem akuten Akzent "´" (z.B. [fí:l]).

- Achtung! Passt auf die Klein- und Großschreibung auf! GroßeBuchstaben bedeuten im phonetischen Alphabet etwas anderes alsKleinbuchstaben! z.B. [R] = uvularer Vibrant

[r] = apikaler Vibrant

- Vokalqualität und Vokalquantität: Manchen Studenten fällt esschwer, die Vollvokale korrekt zu transkribieren. Vielleicht hilfteuch dabei folgende Generalisierung:Außer in Fremdwörtern besteht im Deutschen die Korrelation, dassgespannte Vokale lang, ungespannte Vokale kurz sind. Wenn ichalso ein Wort wie <Düne> vor mir habe, und ich weiß nicht, wie ichden Wurzelvokal transkribieren soll, dann versuche ich zuersteinmal festzustellen, ob dieser Vokal kurz oder lang ist. Er isteindeutig lang (sonst hätte ich ja das Wort <dünne>). Deshalbtranskribiere ich [y:] (und in <dünne> transkribiere ich <ü> als[]). Und vergesst nicht den Doppelpunkt für die Vokallänge! Esgibt eine einzige Ausnahme zu der oben genanntenGeneralisierung: das ungespannte [] kann manchmal auch langsein (also [:]), wie z.B. in "Ähre")

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Appendix 162

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- das schwa (=[ ]) in den Flexionsendungen: in den typischendeutschen Flexionsendungen wird immer ein schwa gesprochen,nicht ein [] oder gar ein [e]. (Oder aber es wird überhaupt keinVokal, sondern ein silbisches [n ], [m ] oder [l ] gesprochen). Einschwa taucht auch auf bei Nomina, die auf <e> enden, auch wennes sich hier nicht um ein Flexionsmorphem handelt. Also <Mühe>= [my:], nicht [my:e] oder [my:]

- ein typischer Fehler: Verwechseln von Orthographie undphonetischen Zeichen. Im Deutschen schreiben wir <v>, aberdieser Buchstabe entspricht meist der Aussprache [f], wird also mitdem phonetischen Zeichen [f] transkribiert. z.B.

<ver-> in <veranlassen> = [f]

Wer sich hier nicht sicher fühlt, sollte das IPA noch einmaldurchgehen und die Zeichen heraussuchen, die nicht denorthographischen Zeichen des Deutschen entsprechen.

- vergesst die glottalen Plosive ( = []) nicht! glottale Plosivewerden mindestens in folgenden Kontexten gesetzt:

- vor Vokalen am Wortanfang- vor Vokalen am Anfang einer Wurzel

(z.B. []er[]arbeiten)Die meisten Leute machen außerdem noch einen im Wortinnern,wenn die darauffolgende Silbe den Hauptakzent trägt:

z.B. The[]áter

Einige wenige machen auch einen glottalen Plosiv, wenn diedarauffolgende Silbe einen Nebenakzent trägt:

z.B. []Òze[]ànographíe

N.B.:glottale Plosive werden im Aussprache-Duden nichttranskribiert. Da das aber eine wichtige Charakteristik des

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Appendix 163

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Deutschen ist, sollten sie in einer guten Transkription angeführtwerden.

- r-Laute am Silbenanfang:

- [r] (= apikaler Vibrant = "Zungenspitzen-r"): gibt es imDeutschen so gut wie gar nicht, außer in einigen Dialekten und inder Bühnenaussprache der dreißiger Jahre (s. Hitler).

- [R] (= uvularer Vibrant): kommt vor allem am Wortanfang vor,in freier Variation mit []

- [] (= uvularer Frikativ): ist wahrscheinlich das gebräuchlichste"r" im Deutschen (bitte das [] mit Bauch nach rechts!)

am Silbenende: am Silbenende hat das Phonem /r/ ein vokalisiertesAllophon [], d.h., am Silbenende wird jedes /r/ zu []. <wer> wirdalso als [v e:] transkribiert, nicht als [ve:], [ve:R], oder gar [ve:r]!Der einzige Fall, in denen manche Sprecher am Silbenende das /r/nicht vokalisieren, ist, wenn es sich nach einem kurzen Vokalbefindet. Dort dürft ihr auch ein konsonantisches []transkribieren, wie z.B. in <wird>, transkribiert als [v t(h)].

N.B.: der Aussprache-Duden ist ziemlich schlampig bei derTranskription der <r's>, in diesem Fall kann man sich nicht auf ihnverlassen.

- das "stumme h" heißt deshalb so, weil es nicht ausgesprochenwird. Die typische Situation für jemanden, der Deutsch lernen will,sieht so aus: er weiß nicht, ob man die <h's>, die da immerzwischen Vokalen geschrieben stehen, ausspricht, oder nicht. Alsofragt er einen Muttersprachler. Der sagt ihm das Wort schönlangsam vor, und macht dabei ein ganz deutlich zu hörendes [h].Also macht das der Deutschlernende auch, und fällt deshalb durchseine lächerliche Aussprache auf. Wenn man Deutsch lernt, sollteman wissen:

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Appendix 164

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- beim ganz langsamen Sprechen (z.B. Diktieren) wird in Wörternwie <Mühe> oft ein [h] gesprochen- bei der normalen Aussprache fällt das [h] vollkommen weg.Also:

<Mühe> = [my:] nicht [my:h]

- wie transkribiert man Diphthonge? Das Deutsche hat dreiDiphthonge, die als <ei> (auch <ai>), <au> und <eu> geschriebenwerden. Aber wie werden sie ausgesprochen? Da scheiden sich dieGeister. Die Qualität des ersten Vokals ist ziemlich klar: [a] für dieersten beiden Diphthonge, und [] (nicht [o]!) für den dritten. Denzweiten Teil des Diphthongs transkribiert jeder anders. Ich führehier ein paar Möglichkeiten an:<ei>, <ai> (z.B. <ein>): [a], [ai], [aj]<au> (z.B. <Haus>): [a], [au]<eu> (z.B. <euch>): [], [i], [j]

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Appendix 165

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Transkriptionsbeispiele:

<Tat> ['tha:t(h)]<sieht> ['zi: t(h)]<wo> ['v o:]<müsst> ['mst(h)]<Helm> ['hlm]<könnt> ['khœnt(h)]<Zimmer> ['tsm]<Sonne> ['zn]<böse> ['b ø:z]<Höhe> ['hø:]<welcher> ['vl]<Honig> ['ho:n], ['ho:nk] (süddt.)<Tochter> ['thxt]<Töchter> ['thœt]<Paar> ['pha:]<Bar> ['b a:]<mehrere> ['me:RR], ['me:]<mehr> ['me:]<Dächer> ['d ]<sterben> ['tbn], ['tbm ]<König> ['khø:n], ['khø:nk], (süddt.)<Sänger> ['z]<Tier> ['thi:]<Söhne> ['zø:n]<sinken> ['zkn], ['zk]<Hase> ['ha:z]<Wasser> ['vas]<Strich> ['tR], ['t]<Wiese> ['vi:z]<Wissen> ['vsn], ['vsn]<Ding> ['d ]<verehren> ['fe:Rn], ['fe:n]<erste> ['st]<Wind> ['v nt(h)]<Häuser> ['hz]

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Appendix 166

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<Häuschen> ['hsn]<Arbeit> ['abat(h)]<Tuch> ['thu:x]<sehr> ['ze:]<brav> ['b a:f], ['b R a:f]<weitere> ['vat], ['vatR]<süchtig> ['zt]<Möhre> ['mø:], ['mø:R]<doch> ['d x]<Hunger> ['h]<zum> ['tsm]

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Ausgewählte Bibliographie:

Einführungen in die Phonetik und Phonologie

De Lacy, Paul (2007) (Hg.). The Handbook of Phonology. Cam-bridge University Press, Cambridge.

Fromkin, Victoria (2000) (Hg.), Linguistics. An Introduction toLinguistic Theory. Blackwell, Oxford.

Goldsmith, John A. (1995) (Hrsg.). The Handbook of Phonologi-cal Theory. Blackwell, Oxford.

Gussenhoven, Carlos & Haike Jacobs (1998). Understanding Pho-nology. Arnold, London.

Kenstowicz, Michael (1994). Phonology in Generative Grammar.Blackwell, Oxford.

Ladefoged, Peter (1993). A Course In Phonetics. Harcourt BraceCollege Publishers, Fort Worth et al.

Ladefoged, Peter (2005). Vowels and Consonants. Blackwell,Ladefoged, Peter & Ian Maddieson (1996). The Sounds of the

World's Languages. Blackwell, Oxford.Leoni, Albano Federico & Pietro Maturi (2009). Manuale di

fonetica (nuova edizione). Carocci, Roma.Pétursson, Magnús & Joachim M.H. Neppert (2002).

Elementarbuch der Phonetik (3. Auflage). Buske Verlag,Hamburg.

Pinker, Steven (1994). The Language Instinct. William Morrowand Company, New York. [Dt. Übersetzung (1996): DerSprachinstinkt. Kindler, München.]

Pompino-Marshall, Bernd (2009). Einführung in die Phonetik (3.Auflage). de Gruyter, Berlin.

Spencer, Andrew (1996). Phonology. Blackwell, Oxford.

Einführungen in die Phonetik und Phonologie des Deutschen

Costa, Marcella & Sandra Bosco (2006) (Hg.), Italiano e tedesco:un confronto, Edizioni dell’Orso, Alessandria (edizioneriveduta e ampliata).

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Ausgewählte Bibliographie 168

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Di Meola, Claudio (2003). La linguistica tedesca. Un' introdu-zione con esercizi e bibliografia ragionata. Roma, Bulzoni.

Féry, Caroline (2000). Phonologie des Deutschen. Eine optimali-tätstheoretische Einführung. Universitätsbibliothek, Pots-dam.

Koesters Gensini Sabine (2005). Fonetica e fonologia del tedesco,Edizioni B.A. Graphis, Bari.

Hall, Tracy Alan (2000). Phonologie. Eine Einführung. Berlin/New York, de Gruyter.

Kohler, K.J. (1977). Einführung in die Phonetik des Deutschen.Schmidt, Berlin.

Kohler, K.J. (1999). 'German', in: Handbook of the InternationalPhonetic Association: A Guide to the Use of theInternational Phonetic Alphabet . Cambridge UniversityPress, Cambridge, 86-89.

Meibauer, Jörg et al. (2007). Einführung in die germanistischeLinguistik. (2. Auflage), Metzler Verlag, Stuttgart.

Ponti, Donatella, Buzzo Margari, Renata & Marcella Costa (1999).Elementi di linguistica tedesca. Edizioni dell' Orso,Alessandria.

Ramers, Karl-Heinz & Heinz Vater (1995). Einführung in diePhonologie. (Klage 16), Gabel-Verlag, Hürth.

Ramers, Karl-Heinz (1998). Einführung in die Phonologie. W.Fink Verlag, München.

Vater, Heinz (1996). Einführung in die Sprachwissenschaft. 2.Auflage, UTB, Fink-Verlag, München.

Wiese, Richard (1996). The Phonology of German . OxfordUniversity Press, Oxford.

Wurzel, W.-U. (1981). "Phonologie: Segmentale Struktur", In:Heidolph, K.E. et al. (eds.). Grundzüge einer deutschenGrammatik. Akademie Verlag, Berlin. 898-990.

Einführungen in die Phonetik/Phonologie des Italienischen

Canepari, Luciano (1979). Introduzione alla fonetica. Einaudi,Torino.

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Graffi, Giorgio & Sergio Scalise (2002). Le lingue e il linguaggio.Introduzione alla linguistica. Bologna, Il Mulino.

Krämer, Martin (2009). The Phonology of Italian. OxfordUniversity Press, Oxford.

Nespor, Marina (1999). Fonologia. Bologna, Il Mulino.

Einführung in die Phonetik/Phonologie des EnglischenGagliardi, Cesare (1991). Fonologia inglese per italofoni: from

practice to competence, Libreria dell' Università Editrice,Pescara.

Giegerich, Heinz (1992), English Phonology. An Introduction.Cambridge University Press, Cambridge.

Nachschlagewerke

DUDEN, Aussprachewörterbuch: Wörterbuch der deutschenStandardaussprache. 2005. (Der Duden 6). 6. Auflage.Dudenverlag, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich.

Eisenberg, Peter (1998). Grundriß der deutschen Grammatik.Band 1: Das Wort. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart, Weimar.

Großes Wörterbuch der deutschen Aussprache (1982).Herausgegeben von dem Kollektiv Eva-Maria Krech,Eduard Kurka, Helmut Stelzig, Eberhard Stock, UrsulaStötzer und Rudi Teske. VEB Bibliographisches Institut,Leipzig.

Trask, R. L. (1996). A Dictionary of Phonetics and Phonology.Routledge, London and New York.

Weitere, im Text zitierte Literatur

Alber Birgit (2001). "Regional Variation and Edges: Glottal StopEpenthesis and Dissimilation in Standard and SouthernVarieties of German". Zeitschrift für SprachwissenschaftVol. 20.1, S. 3-41.

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Ausgewählte Bibliographie 170

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Alber, Birgit (2005). Eintrag Foot in: Keith Brown (Hg.).Encyclopedia of Language and Linguistics, Second Edition,Amsterdam, Elsevier, 539-546.

Carlson, Lauri (1978). "Word stress in Finnish." ms, MIT,Cambridge, Mass.

Hall, Tracy Alan (1992). Syllable structure and syllable-relatedprocesses in German (= Linguistische Arbeiten 276). MaxNiemeyer, Tübingen.

Jakobson, Roman (1962). Selected writings I: phonologicalstudies. Mouton, The Hague.

Jakobson, Roman & Morris Halle (1956). Fundamentals ofLanguage. Mouton, The Hague, Paris.

McCarthy, John & Alan Prince (1993). 'Generalized alignment' InBooij, G. & van Marle, J. (eds.) Yearbook of morphology1993. Dordrecht: Kluwer. 79-153.

McCarthy, John & Alan Prince (1995). "Faithfulness andreduplicative identity." University of MassachusettsOccasional Papers in Linguistics 18: Papers in OptimalityTheory, edited by J.Beckman & S. Urbanczyk & L. Walsh,249-384. Graduate Linguistic Student Association, Amherst.

Prince, Alan & Paul Smolensky (1993/2004). Optimality Theory:Constraint Interaction in Generative Grammar. Ms. RutgersUniversity, New Brunswick, and University of Colorado,Boulder. Veröffentlicht (2004) als Optimality Theory.Constraint Interaction in Generative Grammar, Blackwell,Oxford.