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Medizinische Chemie
Bioverf�gbarkeit oral applizierter Wirkstoffe:zeitabh�ngig revidiertTim Larsen und Andreas Link*
Stichw�rter:Lipophilie · Medizinische Chemie · Metabolismus ·Struktur-Aktivit�ts-Beziehungen · Wasserstoffbr cken
Die schnelle, effiziente biopharmazeu-tische Klassifizierung von neuen Sub-stanzen ist eine Kernaufgabe in derArzneistoff-Forschung.[1] Ursachen f rMisserfolge w#hrend und nach der Ent-deckungs- und Entwicklungsphase sogenannter NCEs („novel chemical enti-ties“) sind multifaktoriell. W#hrendmangelnde Wirksamkeit aufgrund un-zureichender Validierung biologischerAngriffspunkte oder auch von Verschie-bungen des Indikations- oder Produkt-portfolios nicht direkt mit einem Arz-neistoffkandidaten zusammenh#ngen,sind viele Gr nde f r ein Scheiternunmittelbar in der Struktur des Wirk-stoffmolek ls zu suchen. Zum Beispielsind Pharmakokinetik, Toxizit#t imTiermodell und die Beobachtung vonunerw nschten Arzneimittelwirkungenuntrennbar mit der chemischen Strukturdes Wirkstoffs verkn pft. Somit ist dieAuswahl der richtigen Verbindung f rdie klinische Entwicklung eine berauskritische Entscheidung. Durch routine-m#ßige Implementierung von Untersu-chungen zur Resorption, Verteilung,Metabolisierung, Ausscheidung und inzunehmendem Maße auch zu Sicher-heitsaspekten haben Medizinalchemi-ker auf die restriktiver werdenden An-forderungen reagiert.
In diesemKontext stieß die 1997 vonLipinski und Mitarbeitern bei Pfizererarbeitete retrospektive Analyse von
Arzneistoffeigenschaften, die eine per-orale Applikation unwahrscheinlich ma-chen, auf großes Interesse.[2] Schnellwurde die abgeleitete Faustformel(„Rule of Five“) zu einer festen Gr=ßebei der wichtigen fr hzeitigen Ausmus-terung ungeeigneter Substanzen.
Trotz des praktischen Werts dieserRegel f r die einfache Vorhersage pro-blematischer peroraler Verf gbarkeitauf der Grundlage von fassbaren Sub-stanzeigenschaften sind die Nachfragenach neuen Verfahren f r die Voraussa-ge von ADMET-Eigenschaften (adsorp-tion, distribution, metabolism, excre-tion, toxicology) und deren M=glichkei-ten ungebrochen oder gr=ßer denn je.[1]
Sieben Jahre Erfahrung mit Lipinskis„Rule of Five“ haben neben klarenVerbesserungen des Status quo auchUnzul#nglichkeiten aufgezeigt. Die ri-gorose Auswahl der Testsubstanzen un-ter Ber cksichtigung dieser Anforde-rungen erinnert an die ber chtigtenTaten des Damastes. Der auch als Proc-rustes bekannte attische R#uber derAntike, der in der Gegend von EleusisReisende berfiel, fesselte seine Opferan ein zu großes oder zu kleines Bett.Entsprechend ihrer Gr=ße streckte oderverk rzte er sie dann mittels einerStreckbank oder durch Abhacken vonGliedmaßen auf das vorgegebene Maß.Einhalt wurde dem grausamen Zeitver-treib durch den Helden Theseus gebo-ten, der Procrustes schließlich t=tete(Abbildung 1).[3] Auf nicht ganz so he-roische Art haben viele Forschergrup-pen versucht, der h#ufig zu restriktivenAnwendung der „Rule of Five“ entge-genzuwirken. Eine Reihe von n tzli-chen Verfeinerungen wurde vorgeschla-gen, darunter das Heranziehen neuerParameter wie des Anteils an polarer
Oberfl#che (percent polar surface area,PSA), des Konzepts der Zyklizit#t (cy-clicity) und der Zahl der drehbarenBindungen.[4–6]
Durch Untersuchung physikochemi-scher Eigenschaften von 1100 Arznei-stoffkandidaten eines SmithKline-Bee-cham-Datensatzes best#tigten Veberet al. die von Lipinski et al. getroffeneAussage, dass ein Cutoff-Wert des Mo-lekulargewichts von Mr= 500 als allei-niges Kriterium f r gute oder schlechteperorale Bioverf gbarkeit ungeeignetist.[6] ImWiderspruch zu Lipinskis „Ruleof Five“ ergaben die Vergleiche aber,dass bei diesem speziellen Substanzsatzlediglich zwei statt der sonst blichenvier Kriterien zur Absch#tzung einerhohen Wahrscheinlichkeit guter gastro-intestinaler Resorption herangezogenwerden m ssen. Zum einen solltenh=chstens zehn frei drehbare Bindungenzu verzeichnen sein, zum anderen sollteder Anteil an polarer Oberfl#che maxi-mal 140 I2 betragen (Alternative: zw=lfoder weniger Wasserstoffbr ckendono-ren oder -acceptoren).
Dieser hilfreiche Vorschlag zur Ein-grenzung der Parameterzahl wurde al-lerdings h#ufiger als Ermunterung ver-standen, die neuen Parameter als zu-s#tzliche Ausschlusskriterien zu verwen-den. Die Erweiterung einer Faustregelverw#ssert im Allgemeinen das Grund-konzept und f hrt zu einem Verlust anPraxisrelevanz. Entsprechend wurde an-gef hrt, dass eine steigende Zahl anOperatoren w#hrend eines Projekts beider Identifizierung hochkar#tiger Kan-didaten hilfreich sein kann, aber gleich-zeitig den Grad der Komplexit#t erh=ht,den Fortgang m=glicherweise verz=gert,wertvolle Patentlaufzeit verbraucht,Kosten erh=ht und die Wettbewerbsf#-
[*] T. Larsen, Prof. Dr. A. LinkLehrstuhl f r Pharmazeutische/Medizinische ChemieErnst-Moritz-Arndt-Universit�t GreifswaldFriedrich-Ludwig-Jahn-Straße 1717487 Greifswald (Deutschland)Fax: (+49)3834-86-4895E-mail: [email protected]
Highlights
4506 � 2005 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim DOI: 10.1002/ange.200462888 Angew. Chem. 2005, 117, 4506 –4508
higkeit in einem außerordentlich um-k#mpften Feld mindert.[1]
Leeson und Davis schlugen deshalbanstelle weiterer Erg#nzungen der be-w#hrten „Rule of Five“ eine retrospek-tive Kberpr fung der vier individuellenBeitr#ge der Parameter clogP (berech-neter Logarithmus des Verteilungskoef-fizienten in 1-Octanol/Wasser als Maßf r die Lipophilie), Molek lgr=ße (aus-gedr ckt als Mr), Zahl der Wasserstoff-br ckendonoren und der -acceptoren inAbh#ngigkeit vom Bearbeitungszeit-raum der Substanzen vor.[7] Die formu-lierte Frage lautet: Treten zeitbezogeneUnterschiede in physikalischen Eigen-schaften peroral verf gbarer Arznei-stoffe auf? Vieth et al. hatten bisherkeine aussagekr#ftige Korrelation zwi-schen dem Jahr des Vermarktungsbe-ginns in den USA (zwischen 1982 und2002), der Indikation, demMr-Wert undder Lipophilie f r gastrointenstinal re-sorbierte Wirkstoffe gefunden.[8]
Die Studie von Leeson und Davisergab in der Tat, dass Arzneistoffe, dievor 1983 entwickelt und vermarktetwurden, im Schnitt signifikant andereEigenschaften haben als neuere NCEs.In einer Vorl#uferstudie durch Wenlocket al. war dargelegt worden, dass das
durchschnittlicheMolekulargewicht vonArzneistoffkandidaten in sp#teren Pha-sen der klinischen Entwicklung und bishin zur Markteinf hrung signifikant ab-nimmt. Ohnliche Tendenzen wurden f rWasserstoffbr ckenacceptorwerte unddie Zahl drehbarer Bindungen beobach-tet. Dar ber hinaus konnte der Trendaufgezeigt werden, dass die Entwick-lung lipophiler Verbindungen vor Ein-tritt in die Phase III h#ufiger abgebro-chen wurde. Das bekannte Ph#nomen,dass w#hrend einer Leitstrukturoptimie-rung Molek le gr=ßer, komplexer, lipo-philer etc. werden, f hrt zum Ausschlussvon Verbindungen, die bereits zu Be-ginn eines Optimierungsprozesses Arz-neistoff-typische, also „wirkstoffartige“anstelle von „leitstrukturartigen“ Ei-genschaften aufweisen. Auf diese Ge-fahr wurde bereits durch das originelleKonzept der „leitstrukturartigen“ Leit-strukturen durch Teague et al. hinge-wiesen.[9] Schließlich konnten Wenlocket al. zeigen, dass die erkannten resorp-tionslimitierenden Faktoren keine his-torischen Artefakte, sondern physiolo-gisch kontrolliert sind.[10]
Neu ist nun, dass Leeson und Davisherausarbeiten konnten, welche physi-kochemischen Eigenschaften von im
Markt befindlichen Arzneistoffen eineVer#nderung seit 1983 erfahren haben.Dazu wurden zwei Datens#tze herange-zogen: Zum einen eine Gruppe von 864NCEs, die vor 1983 in den Markt einge-f hrt worden waren, und zum zweiteneine Sammlung von 329 Arzneistoffen,die zwischen 1983 und 2002 deb tierten.Die Durchschnittswerte f r Lipophilie,Anteil an polarer Oberfl#che und Zahlder Wasserstoffbr ckendonoren ver#n-derten sich ber die Jahre nicht. Dem-nach sind diese Parameter wahrschein-lich die wichtigsten Deskriptoren f r dieAbleitung peroraler Verf gbarkeit undspiegeln die herausragende Bedeutungvon effektiver Membranpermeabilit#twider.
Wasserstoffbr ckendonoreigenschaf-ten scheinen also wahrscheinlich mehrGewicht zu haben als -acceptoreigen-schaften. Diese Interpretation verdientkritische W rdigung bei neuen Modell-betrachtungen zur Membranpermeabi-lit#t von Arzneistoffen, der Weiterent-wicklung genetischer Algorithmen undvon Fuzzy-Logic-Ans#tzen sowie Wirk-stoffeigenschafts-Datenbanken realenoder virtuellen Ursprungs.
Auf der einen Seite ist es notwendi-ge Voraussetzung f r Membranpermea-tion, dass die H-Br cken zu assoziiertenWassermolek len gel=st werden, auf deranderen Seite muss eine ausreichendeLipid-L=slichkeit des Wirkstoffs beste-hen. Zellpenetration und Resorptionsind also in hohem Maße abh#ngig vonder Bef#higung, H-Br cken zu bildenund zu l=sen, sowie auch von der Mo-lek lgr=ße und der Lipophilie. Intuitiverfassen Medizinalchemiker die Bedeu-tung und Unver#nderlichkeit einer Ba-lance polarer und unpolarer Molek l-areale und -eigenschaften als Bedingungf r gastrointestinale Resorption.[7]
Abraham et al. meldeten fr h Zweifelan, ob 1-Octanol als moderat hydrophi-les L=sungsmittel ein geeignetes Modellf r den hydrophoben Kern der Phos-pholipiddoppelschichten von Membra-nen ist.[11] Die Beobachtung der an 1-Octanol/Wasser-Grenzfl#chen gebilde-ten Schicht mit Alkan-Eigenschaftengelang erst k rzlich, die sich ergebenenImplikationen dieser „Fettwand“-Bil-dung f r die Verteilung von Arzneistof-fen m ssen noch besser herausgearbei-tet werden.[12] Halten sich lipophile Sub-stanzen in dieser Grenzschicht auf, imi-
Abbildung 1. Procrustes (Damastes), der Reisende an ein Bett fesselt und sie entsprechend ihrerGr?ße streckt oder verk rzt, wird von Theseus get?tet (oben rechts). Im Mittelbild steht The-seus im Kampf gegen den Minotaurus, weitere Heldentaten ringsum: Sinis, Phaia, Kerkyon,(Procrustes), Skiron, Marathonischer Stier (siehe Titelbild Angew. Chem. 2002, 114, Heft 15).Trinkschale um 440–430 v.Chr., E 84, Copyright British Museum, London.
AngewandteChemie
4507Angew. Chem. 2005, 117, 4506 –4508 www.angewandte.de � 2005 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim
tiert dies vielleicht eine Anreicherung inZellmembranen. Die Absch#tzung derBalance anhand der etablierten Vertei-lungskoeffizienten in 1-Octanol/Wasser(und der abgeleiteten logP-Werte) istwegen der an der Phasengrenzfl#chelokal drastisch ver#nderten Eigenschaf-ten des Systems aber schwieriger alsbisher angenommen. Die Tatsache, dasslogP-Werte trotzdem einen erheblichenBeitrag zur Vorhersagesch#rfe liefernkonnten, liegt in der nicht unerhebli-chen Redundanz der herangezogenenKriterien begr ndet.
Zurzeit muss das rechnergest tzteADMET-Modeling als interessanter,aber auch problematischer Ansatz ein-gestuft werden.[13] Seine praktische Aus-f hrung ist sehr schwierig, aber daf rhochaktuell und lohnenswert, weshalbdie „Rule of Five“ ihren Wert als einfa-che, aber sehr praktische Faustregel
vorerst behalten wird. Eine Mitber ck-sichtigung der Ergebnisse von Leesonund Davis sollte die Vorhersage derEigenschaften von Wirkstoffkandidatennoch weiter verbessern.
Online ver=ffentlicht am 28. Juni 2005
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Highlights
4508 � 2005 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.angewandte.de Angew. Chem. 2005, 117, 4506 –4508