Berlin, Berlin – Ausgabe 14/2014 des strassenfeger

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  • Straenzeitung fr Berlin & Brandenburg

    1,50 EURdavon 90 CT fr

    den_die Verkufer_in

    No. 14, Juli 2014

    KRASSBerliner Schnauze (Seite 4)

    EXKLUSIVSpreetour mit Swasser-Kapitn (Seite 6)

    INNOVATIVVeikkos smarter Reise-fhrer (Seite 8)

    BERLIN,BERLIN

  • strassenfeger | Nr. 14 | Juli 20142 | INHALT

    strassen|feger Die soziale Straenzeitung strassenfeger wird vom Verein mob obdach-lose machen mobil e.V. herausgegeben. Das Grundprinzip des strassenfeger ist: Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe!

    Der strassenfeger wird produziert von einem Team ehrenamtlicher Autoren, die aus allen sozialen Schichten kommen. Der Verkauf des stras-senfeger bietet obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen die Mglichkeit zur selbstbestimmten Arbeit. Sie knnen selbst entschei-den, wo und wann sie den strassenfeger anbieten. Die Verkufer erhalten einen Verkuferausweis, der auf Verlangen vorzuzeigen ist.

    Der Verein mob e.V. nanziert durch den Verkauf des strassenfeger soziale Projekte wie die Notbernachtung und den sozialen Treff punkt Kaff ee Bankrott in der Storkower Str. 139d.Der Verein erhlt keine staatliche Untersttzung.

    Liebe Leser_innen,ich liebe diese Stadt! Auch wenn dieses Berlin manchmal unend-lich stresst, laut ist und ziemlich dreckig. Aber diese Metropolis bietet auch so viele Mglichkeiten, so viele Freiheiten, so viele Spielrume. Nicht umsonst strmen seit Jahren junge Menschen aus der gesamten Welt hier her, um in Berlin zu leben, zu arbei-ten, zu lieben. Es gibt auch viele schne Lieder ber unsere Stadt: Zu Berlins 750-Jahr-Feier erschien 1987 unter dem Namen John F. und die Gropiuslerchen der Titel Berlin, Berlin (... dein Herz kennt keine Mauern). Der Rapsong war mit Originaltnen von John F. Kennedy, Willy Brandt, Walter Ulbricht und Ernst Reuter bestckt und ist mittlerweile ein Ohrwurm. Dieses Lied war sozusagen Namensgeber fr diese Ausgabe. Was erwartet Sie, liebe Leser_innen? Wir starten mit einer Liebeserklrung einer unserer Autorinnen (Seite 3), setzten fort mit einem ver-gnglichen Bericht ber den Berliner Dialekt (Seite 4), erzhlen Ihnen, was so alles ganz wunderbar funktioniert in dieser Stadt (Seite 5).Wenn man einen Freund hat, der Kapitn ist, dann kann man auch wunderbar auf der Spree herumschippern. Dabei ent-deckt man schne Dinge und Orte den Mrchenpark, den neuen Kater Blau etc. , aber auch einiges, das einem ber-haupt nicht gefllt, die vielen obdachlosen Menschen unter den Brcken (Seite 6) beispielsweise. Eine ganz spannende Sache: Veikko Jungbluth (veikkos.com und www.veikkos-archiv.com) prsentiert seinen historischen Atlas als Online-Reisefhrer fr Berlin und andere Orte in Deutschland (Seite 8)!

    In der Rubrik art strassenfeger berichtet Urszula Usakowska-Wolff ber die dreiteilige Ausstellung Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz der sterreichischen KZ-berlebenden Ceija Stojka in Berlin und Ravensbrck (Seite 16). Im Brennpunkt er-zhlt unser Schlerpraktikant Maximilian Norrmann, was er und andere Praktikant_innen in der Bahnhofsmission am Zoo erlebt haben. Jan Markowksky informiert darber, dass der Arbeits-kreis Wohnungsnot ein funktionierendes, geschtztes Markt-segment fordert und dass die Senatssozialverwaltung an den Wohnungslosenleitlinien arbeitet (Seite 20). Der Sport kommt im Heft auch nicht zu kurz: Ein Bericht ber das Roadrunners Paradise Race 61 in Finowfurt (Seite 26). Und leider haben es die Basketballer von ALBA Berlin nicht ganz zum Meistertitel geschafft. Wie das letzte Spiel lief und wie es weitergeht, erfahren wir auf Seite 28.

    Ich wnsche Ihnen, liebe Leser_innen, wieder viel Spa beim Lesen!Andreas Dllick

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    BERLIN, BERLINLiebeserklrung an eine Stadt

    Berliner Dialekt ist einfach duft e!

    Wo, wenn nicht in Berlin?

    Spreetour mit Swasser-Kapitn

    Veikkos smarter Reisefhrer

    Warschauer Brcke bis Mauerpark

    Das ist Wahnsinn Feiern in Berlin

    120 Jahre Bahnhofsmission

    Bringt Blumen!

    Wasserstadt Berlin

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    TAUFRISCH & ANGESAGTa r t s t r a s s e n fe g e rAusstellung: Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz der sterreichischen KZ-berlebenden Ceija Stojka

    S o z i a lPraktikanten bei der Bahnhofsmission

    B re n n p u n k tAK Wohnungsnot fordert geschtztes Marktsegment

    k a f fe e b a n k ro t t20 Jahre Toy Run Biker helfen Kindern

    K u l t u r t i p p sskurril, famos und preiswert!

    A k t u e l lOliver Wachlins Krimi Mordspech

    S p o r tRoadrunners Paradise & Race 61 Festival

    ALBA BERLIN wird Vizemeister

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    AUS DER REDAKTIONH a r t z I V - R a t g e b e rWichtige Urteile des Bundessozialgerichts (4)

    K o l u m n eAus meiner Schnupft abakdose

    Vo r l e t z t e S e i t eLeserbriefe, Vorschau, Impressum

  • strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2014 BERLIN, BERLIN | 3

    Berlin, Berlin...Liebeserklrung an eine StadtT E X T : M i s c h a N .

    Diese Stadt war anfangs ein Gedicht, das ich inbrnstig im Jargon auf der Zunge trug. Unter der Mtze ei-nes Gassenjungen bewohnte ich die Kleinstadtbhne wie einen Hinterhof im, noch uerlich realittsfernen, mir aber durch-aus gewissen Heimatgefhl. Meine ungelenke Verbeugung galt einzig ihr dieser Stadt Berlin und nicht dem ansssigen Publikum, wie man glaubte, nicht diesem Ort schicksalhafter pro-vinzieller Verbannung, dem ich mich bereits im Applaus insgeheim entzog.

    Nach meinen Zukunftsplnen befragt, gab ich einzig ihren Namen an: Berlin! Dieses Gestnd-nis fand ich umfangreich, geradezu verrterisch, aber gleichsam blieb es das, was ich sehnsch-tig mit Berlin verband diskret, anonym. Ich trumte davon, mich auf dem Grostadtteppich zu suhlen, ohne auch nur eine Spur oder irgend-ein markantes Gerusch zu hinterlassen, fr das ich mich rechtfertigen wrde mssen.

    Berlin verbarg mich schon vor meiner Ankunft, nahm mich wohlwollend auf und keinerlei No-tiz von mir. Diese Stadt empfing mich wortlos - laut, schmutzig und stolz. Sie drngte sich mir nicht auf, sie bot sich nicht an... sie war sich ihrer sicher.

    Und ich fand in ihrer Offenheit, was es sonst nur heimlich oder gar nicht gab: kackende Hunde, verbotene Veranstaltungen, Bruchbu-den ohne Gardinen, Nachtlokale in denen Mnner miteinander tanzten, Stehpltze im Theater, Punks, breite Kirchendcher, Tage-lhner, eine Abendzeitung... und einen steti-gen, mir nicht berschaubaren Wandel ihres Gesichtes, dessen irritierend aschgrauer Teint nur noch in meiner Erinnerung oder museal zu finden ist.

    Ich liebe diese Stadt, die sich mir nicht erklrt. Wenn ich aus meinen nchtlichen Albtrumen, in denen sie mir unerreichbar bleibt, erwache und ngstlich aus dem Bett zum Fenster springe, liegt sie mir wie zum Trost und unverndert zu Fen. Ich muss sie nicht erobern, sie nicht ent-zcken, ich muss sie nicht einmal bemht ken-nen lernen, um ihr anzugehren.

    Es bleibt ihr gleichgltig, in welchen Schuhen ich durch ihre wuchtigen Straen laufe und ob ich in ihrem Glanz, ihrem Schatten, in ihrer Mitte oder an ihrem Rande hause. Sie schreibt mir nicht vor,

    wie ich zu leben habe und in ihren Kaffeehusern sitze ich im Aufbruch und im Abgesang, wissend, dass diese Stadt grozgig und vergesslich ist. Sie hat meine Erfolge und mein Scheitern immer kommentarlos geschluckt und wenn ich mich im Rckzug von ihr abwandte, geduldig auf meine Wiedergeburt gewartet.

    Berlin ist eine Geliebte, die mich auch noch im Alltag zu reizen und zu verstricken vermag, sich niemals endgltig offenbart und mir im bu-erlichen Kleid wie im verruchten Lumpen den Atem nehmen kann.

    In den Zeiten, in denen ich sie wochen- oder monatelang in der Fremde glaube betrgen zu knnen, straft sie mich eher oder spter mit Heimweh, einem Gefhl, das mir vor ihrer Be-kanntschaft gnzlich fremd gewesen ist. Und wenn ich sie in meiner reumtigen Rckkehr, fr einen Augenblick und im Vergleich, mitunter dann doch hsslich finde, entdecke ich gerade

    darin ihren, mich einnehmenden Charme.

    Ich habe mich nie vergessend an sie gewhnt, sie selten selbstverstndlich betrachtet und immer wieder bestaunt, als sei ich gerade erst ange-kommen und in ihren Mglichkeiten noch ver-unsichert. Diese Stadt lsst mich in Ruhe und sie treibt mich gleichsam zwischen ihren Tischen umher. Sie nimmt mir meine kindliche Schch-ternheit, die sie mir verursacht, nicht bel sie verspottet mich nicht.

    Anfangs habe ich sie in groschnuzig vorge-tragenen Reimen hofiert, sie unter der Mtze eines Gassenjungen bewohnt und mich darin nach ihr verzehrt. Mit diesem schmalen Ge-pck kam ich, habe ich die Bretter des Klein-stadttheaters verlassen drfen und in Berlin keine groe Rolle mehr gespielt.

    Und gerade deshalb blieb sie - diese Stadt - bis heute, was sie mir immer war: ein Gedicht!

    Solche Berliner Momente verzaubern! (Foto: Andreas Dllick VG Bild-Kunst)

  • strassenfeger | Nr. 14 | Juli 20144 | BERLIN, BERLIN

    Dit fetzt ein!Der Berliner Dialekt ist einfach duft!B E T R A C H T U N G : J e a n n e t t e G i e r s c h n e r

    Kennen Sie den krzesten Berliner Satz? Hier kommt er: Wam wa? Ok, es ist eine Frage, aber wir wollen mal nicht zum Korinthenkacker werden. Berlinerisch ist direkt und zumeist auch ordinr. Fr mich ist es aber auch ein ehrlicher Dialekt, bei dem nichts geschnt wird. Der Berliner re-det, wie ihm de Schnauze jewachsen is, ohne Schnickschnack und Tamtam.

    Das Ehrliche im Berlinerischen liegt vor allem in der Denkweise und im Ton, wie der deutsch-j-dische Schriftsteller Georg Hermann feststellte. Die Melodie des Berliner Satzes lsst sofort er-kennen, woher der Sprecher kommt. Die un-terstellte Unfreundlichkeit eines Berliners lsst wiederum erkennen, woher der Angesprochene kommt. Tausende Internetseiten sind voll von Berlin-Touristen, die die Berliner Mundart in den falschen Hals bekommen haben. Freundlichkeit muss von Herzen kommen und wenn Berliner ei-nen leiden knnen, dann merkt man das auch. Ick find dir dufte, ejal, watt de so machst. Der Berli-ner Dialekt entwickelte sich aus dem Nieder- und Mitteldeutschen und ist eigentlich ein Metrolekt, der sich aus vielen verschiedenen nationalen und internationalen Mundarten zusammensetzt.

    Bis in das 18. Jahrhundert sprach man in Ber-lin und im Umland einen mrkischen Dialekt, daher findet man auch im Land Brandenburg starke hnlichkeiten in der Sprache. Schon frh

    war Berlin als wichtiger Knotenpunkt in der Wirtschaft angehalten, Hochdeutsch und damit fr alle verstndlich zu sprechen. Die umgangs-sprachlichen Zusammenziehungen von Worten und Anpassungen von vor allem franzsischen Aussprchen fand sich vorrangig im sogenann-ten Proletariat. Daher auch die noch heute verbreitete Verbindung von Berlinerisch und einfachen Arbeitern, die einfach dit Maul nich uffkriegen. Die feinen Leute sprechen Hoch-deutsch, die einfachen dagegen berlinern. Bei anderen Dialekten klingt dieses Vorurteil nicht so an und das Pflegen des Dialekts wird oftmals als Tradition empfunden. Manchen CSU-Politi-ker versteht man auch beim strengst konzent-rierten Zuhren nicht.

    Die Teilung von Berlin in Ost und West hat sich ebenfalls auf das Berlinern ausgewirkt. Im Wes-ten wurde verstrkt darauf geachtet, dass von klein auf Hochdeutsch gesprochen wird. Kin-dern wurde eingeblut, dass aus ihnen nichts wird, wenn sie berlinern. Wie schon im 19. Jahr-hundert galten berlinernde Menschen als einfach und nicht ganz helle. In Ostberlin und Branden-burg dagegen traf man viele Berliner Schnau-zen, die Spa an ihrem Sprech hatten. Berlinern zeigte die Zugehrigkeit zur Arbeiterklasse, im Gegensatz zum Westteil Berlins wurde dies als positiv gesehen. Die Kinder der DEFA haben entweder rotzfrech berlinert oder lustig gesch-selt. Unvergessen die beiden Jungs von Spuk im

    Hochhaus, denen Heinz Rennhack beibringen will, ihre Mutter zu untersttzen - Wenn wa nich uffpassen, kiekt noch eener ausm Klo und quatscht uns voll!.

    Heute gibt es nur noch wenige waschechte Ber-liner, die ihr Herz auf der Zunge tragen. Ver-wssert von der Sprachvielfalt sind noch icke, dit und jut geblieben. So vielfltig wie Berlin ist, so vielfltig spricht man auch berlinerisch. Schlimm ist das nicht, solange Unfreundlichkeit an sich, was immer personen- und nicht her-kunftsbezogen ist, nicht mit dem Berliner Di-alekt in Verbindung gebracht wird. Unfreund-liche Menschen trifft man berall, ehrliche Sprche aber vor allem in Berlin.

    Zum Abschluss noch was zum Schmunzeln, die Berliner Klopsgeschichte:

    Ick sitz an Tisch und esse Klops,uff eenmal klopts.Ick kieke, staune, wundre mir,Uff eenmal jeht se uff, de Tr!Nanu, denk ick, ick denk nanu,Jetz is se uff, erst war se zu.Ick jehe raus und kiekeUnd wer steht drauen? - Icke.

    (Entnommen aus: Ewald Harndt, Franzsisch im Berliner Jargon, Verlag Das Neue Berlin, 1990)

    Heinrich Zille: Strandbad Wannsee, um 1912, Aquarell, schwarze Kreide, Privatsammlung, Berlin (Quelle: Heinrich Zille/Wikipedia)

  • strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2014 BERLIN, BERLIN | 5

    Verrckt, multikulti, grn, experimentell, uneingeschrnkt!Wo, wenn nicht in Berlin?A U F L I S T U N G : J o s e p h i n e V a l e s k e

    Das BER-Desaster ist in aller Munde, der CSD zerstritten und Krakau die neue Partyhauptstadt ist es nun hchste Zeit, aus Berlin wegzuzie-hen? Nein! Denn trotz aller Krisen und Peinlich-keiten gibt es noch Einiges, das in dieser Stadt so gut funktioniert, dass wir es oft als selbstver-stndlich nehmen.

    Ve r r c k t h e i t :Inzwischen ist offiziell erwiesen, dass ein nor-mal gar nicht existiert und wir alle nur zu ei-nem bestimmten Grad Verrckte sind. Trotzdem fhlt es sich oft so an, als zge Berlin selbst unter den Durchgeknallten noch die Auenseiter an. Dienstagmorgen, S-Bahn im Berufsverkehr. Mir gegenber platziert sich ein Mann in steifer Hal-tung, Aktentasche und Krawatte sitzen. Aber er hat kein Gesicht stattdessen ist er von Kopf bis Fu in einen Morphsuit mit bunten Punk-ten gehllt. Das bringt selbst jene Beamten zum Schmunzeln, die seit gefhlten 753 Jahren jeden Morgen mit gelangweiltem Gesichtsausdruck diese Strecke zur Arbeit fahren. Mission erfllt!

    R e i n l i c h ke i t : Der frhlich-bunte Straenumzug ist keine halbe Stunde vorbei, da rcken schon die ersten freundlich-orangen Kehrmaschinen der BSR an und befreien die Straen von Konfetti, zerschla-genen Bierflaschen und achtlos hingeworfenen Flyern. Man mchte sich nicht vorstellen, wie Berlin ausshe, wrde die BSR nur eine Woche lang streiken. Vielleicht wie Neapel, wo die Ein-wohner im Sommer wegen des Gestanks der ewi-gen Mllberge ihre Fenster nicht ffnen knnen. Kein Wunder also, dass die BSR so beliebt ist. Und das nicht nur bei den Brgern, sondern auch bei den eigenen Mitarbeitern: Sie wurde krzlich von Focus, Xing und Kununu zu einem der bes-ten Arbeitgeber Deutschlands gewhlt.

    M u l t i k u l t i : Gemeckert wird immer, und gerade die Proteste gegen das Flchtlingsheim in Marzahn-Hellers-dorf machten deutlich, dass sich noch immer nicht alle Brger damit abgefunden haben, in einer internationalen Stadt zu leben. Aber ein paar Stunden auf dem Markt am Maybachufer oder beim Karneval der Kulturen reichen, um die Nase mit fremden Dften, die Ohren mit unbekannten Sprachen und den Bauch mit guter Laune zu fllen. Der Gedanke liegt nahe, dass Berliner eigentlich nicht in den Urlaub fahren mssen nur nach Kreuzberg.

    G r n :Als die Entscheidung gefallen war, das Tempel-hofer Feld in seinem kahl-grnen Zustand zu be-lassen, rauften sich die Bewohner manch anderer Grostdte verwirrt die Haare: Noch eine grne Freiflche? Berlin hat insgesamt mehr Bume, Wiesen und Parks als jede andere europische Stadt. Aber die Einwohner freuen sich und nut-zen den Platz zum Joggen, Grillen, Hundeaus-fhren bzw. ber-ausgefhrte-Hunde-meckern, Schneeballschlachten und In-der-Sonne-Liegen.

    S p e r r s t u n d e : London, Wochenende, ein Uhr nachts. Zwei Mdchen stehen vor dem vergitterten Eingang

    einer U-Bahn-Station wie vor einem Gefngnis, werden von einigen Einheimischen mitleidig be-trachtet und sind ziemlich verdattert. Sie kom-men aus Berlin und htten sich nicht trumen lassen, dass sie in der viel greren Metropole London Probleme haben wrden, nachts nach Hause zu gelangen. Tatschlich gilt nicht nur in London, sondern auch in Paris und Rom am Wochenende der gleiche Nachtfahrplan wie un-ter der Woche: nmlich gar keiner. Die beiden Mdchen machten sich per Bus und pedes auf den mhsamen, stundenlangen Heimweg und wnschten sich nach Berlin zurck, wo S- und U-Bahn am Wochenende zwar nie pnktlich fah-ren, aber das die ganze Nacht lang.

    Fa h r r d e r :Ob Hassobjekt der Autofahrer, Nutztier der Wochenendeinkufer, Stilsymbol der Modebe-wussten, Hightech-Gert der Rennfahrer oder Transportmittel fr politische Aufkleber sowie Werbeplakate: Das Fahrrad ist neben den Jute-beuteln wahrscheinlich die Berliner Population mit der grten Zuwachsrate. Auerdem glck-licherweise stark im Kommen, wenn auch noch nicht berall dominierend (was die Nutzer nicht weiter strt): der Radweg.

    B i e r : Das Feierabendbier gehrt ab fnf Uhr nach-mittags so sehr zu U- und S-Bahn, dass man sich manchmal wundert, wenn es im Wagon mal nicht danach riecht. Fr bestimmte Teen-agergruppen ist es so hip, in der rechten Hand lssig eine Bierflasche zu schwenken, dass sie sich das Getrnk selbst dann kaufen, wenn es ihnen gar nicht schmeckt. Neben den genannten 15jhrigen gibt es aber eine weitere Spezies, die

    sich mit ihrer Bierflasche so stolz fotografieren lassen, als htten sie Knut persnlich die Pfote geschttelt: amerikanische Touristen. In den Vereinigten Staaten ist es verpnt, teilweise so-gar verboten, Alkohol durch die Stadt zu tragen, und mit weniger als 21 Jahren muss man schon Chuck Norris sein, um berhaupt an ein Bier zu kommen. Liebe Berliner Kinder: Ihr wisst gar nicht, was ihr fr ein Glck habt!

    Ze i t u n g e n :Da steht man morgens am Kiosk und findet genau zwei Zeitungen: Die lokale Ausgabe der Bild sowie die Kreisausgabe einer Zeitung des WAZ-Konzerns. Dazu noch die Bild der Frau, die Auto-Bild und den Playboy. Realitt in deut-schen Drfern und Kleinstdten. Die Berliner Leser profitieren in dieser Hinsicht nicht nur von der Gre und politischen wie sprachli-chen Vielfalt der Stadt, sondern auch von ihrer ehemaligen Teilung. So haben sich mit Tages-spiegel und Berliner Zeitung zwei groe seri-se Tageszeitungen erhalten, dazu kommt noch die taz, die druckt, was den Groen alltglich entgeht. Die thematische Bandbreite der Stadt-magazine ist so hoch, dass diese wohl den Fern-sehturm berragen wrden, wrde man sie alle bereinander stapeln.

    E x p e r i m e n t e :Wo, wenn nicht hier? Ob man sich fr Lach-Yoga interessiert, auf mittelalterliches Essen ohne Be-steck abfhrt, die sdjapanische Kampfkunst des spten 18. Jahrhunderts erlernen will, beim Sex am liebsten auf dem Kopf steht oder tglich zwei Stunden lang mit Badeenten meditiert in Berlin gibt es Kurse und Gleichgesinnte fr jede Idee. Es lebe die Verrcktheit!

    Der Mrchenpark wird erffnet (Foto: Andreas Dllick VG Bild-Kunst)

  • 01 Der Kapitn kennt die besten Motive

    02 Luxusbebauung versus Geschichte

    03 Dimensionen

    04 Spreeufer fr alle? Wohl kaum!

    05 Hier entsteht der neue Kater Blau

    06 Wunderschn das Badeschiff an der ARENA

    07 Widerstand regt sich

    08 Unter fast jeder Spreebrcke hausen obdachlose Menschen!

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    strassenfeger | Nr. 14 | Juli 20146 | BERLIN, BERLIN

    Der schnste Ort an der Spree ist fr mich auf meinem Boot.Spreetour mit Swasser-KapitnA U F G E S C H R I E B E N & F O T O G R A F I E R T : A n d r e a s D l l i c k V G B i l d - K u n s t

    Ich habe einen guten Freund, er ist ein Swasserkapitn und muss immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel haben. Seit einiger Zeit schippert er mit seinem Kahn erlebnishungrige Touristen oder gute Freunde ber die Spree. Bei den Touristen ist er sehr whlerisch. Sehr

    verstndlich, finde ich, Krawalltouristen sind nicht so sein Ding. Der Kapitn kennt die Spree mittlerweile wie seine Westentasche, kein noch so geheimnisvolles Pltzchen bleibt ihm verborgen. Genau deshalb habe ich neulich gefragt, ob er mit mir mal ein paar Stunden hm, muss das sein? Na gut, hat er in seiner unnachahmlichen, sprden Art in Tele-fon gerufen, fr zwei Stunden wird das wohl schon passen! Na ja und dann sind wir dann an einem warmen Sommertag im Juli hin und her geschippert. Der Kapitn hat mir viele wunderbare Sachen gezeigt, die man sonst nicht sieht. Aber auch Dinge, die nicht so wunderbar sind zum Beispiel die vielen obdachlosen Menschen. Hier ein paar Statements von ihm zu einigen bekannten und weniger bekannten rtlichkei-ten an der Spree:

    Das Schnste an der Spree ist fr mich der freie Platz um mich herum, mitten in Berlin.Der schnste Ort an der Spree ist fr mich auf meinem Boot.Hausboote: Gut fr Reiche!

    Spree-Brcken: Gibt es zu wenige!Obdachlose: Die Zunahme von Armut in Berlin ist auch vom Wasser zu beobachten, unter JEDER Spreebrcke hau-sen Obdachlose!Baden in der Spree: Ich gehe baden in der Spree und mit mir viele meiner Freunde.Uferbebauung: Fast alles wird bebaut werden. Nur schn fr die, die es sich leisten knnen, sich einzumieten oder gar etwas zu kaufen!

    Osthafen: Ist nur noch Ortsname, Mediaspree hat lngst Einzug gehalten!

    Freischwimmer: Essen am Wasser, wie viele andere auch, viel interessanter ist aber der unmittelbare Nachbar Club der Visionre, Pionier in Sachen elektronischer Musik!East Side Gallery: Disneyland fr Touristen, schafft ver-flschtes Geschichtsbild, trotzdem erhaltenswert!Zapf-Umzge: Genialer Chef, hat sein Grundstck zum Tausch angeboten, obwohl er dann nicht mehr so komforta-bel angeln kann. YAAM: Ist umgezogen zum wiederholten Mal!Klub Kiki Blofeld: Da befindet sich jetzt das Spreefeld, das Kiki Blofeld versucht sich jetzt in Schneweide, mit Verlaub, das war mir immer zu farblos!Kater Holzig: Der wird gerade abgerissen, einfallslose Wohndinger entstehen dort, wo einst auch das Planet war!Kater Blau: Der ist wieder auf der sonnigen Seite der einsti-gen Bar 25. Erwachsener geworden!Mrchenpark: Das ist der grne Teil des Holzmarktes.

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    www.veikkos-archiv.com

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    Berlin auf dem HandyVeikkos historischer Atlas als mobiler Reisefhrer fr BerlinI N T E R V I E W : C h r i s t o p h M e w s

    Berlin ist eine Weltstadt und wird von Millionen Touristen jhrlich besucht. Wer etwas mehr ber die Historie der deutschen Hauptstadt erfahren mchte, fr den bietet sich - neben dem klassischen Rei-sefhrer oder der Stadtfhrung - eine der vielen speziell fr Berlin zugeschnittenen Reise-Apps an. Wie zum Beispiel den historischen Atlas von veikkos-archiv.com. In dem mobilen Stadt- und Reisefhrer findet man zu rund 2 500 Punk-ten in Berlin sprich Sehenswrdigkeiten und Baudenkmlern Informationen. Christoph Mews sprach fr den strassenfeger mit dem In-haber von veikkos.com, Veikko Jungbluth, ber die Anfnge von Veikkos.com, dem historischen Atlas und spezielle Lieblingsorte in Berlin.

    strassenfeger: Was steckt hinter veikkos-archiv.com und wer ist dafr verantwortlich?

    Veikko Jungbluth: Vor zwlf Jahren habe ich mein Antiquariat, damals noch mit der Speziali-sierung auf alte Kinderbcher, im Internet erff-net. Durch einen Sammlungsankauf bin ich dann auf Siegel- und Reklamemarken gestoen. Die meisten dieser Marken wurden vor 100 Jahren in Deutschland ausgegeben und waren damals ein beliebtes Sammelgebiet. Im Jahr 1913 gab es im Kaufhaus KADEWE sogar eine Ausstellung zu diesem Thema. Einen Katalog, wie bei Briefmar-ken, gibt es jedoch nicht. Damit die Geschich-ten hinter den Marken auch noch der Nachwelt erhalten bleiben, habe ich die Bilder der gehan-delten Marken unter www.veikkos-archiv.com gesammelt. Spter kamen dann noch Bilder von alten Ansichtskarten und Fotosammlungen

    hinzu. So befinden sich heute ber 400 000 Bil-der in unserem Archiv. Wie kam es zur Idee, einen historischen Atlas als Online-Reisefhrer fr Berlin und andere Orte in Deutschland zu erstellen?

    Die klassischen Reisefhrer beschftigen sich mit dem Massenmarkt und erstellen die Stadtfhrer von Grostdten mit den wich-tigsten Sehenswrdigkeiten. Die vielen kleinen Kiezgeschichten oder auch die Vielzahl an al-ten Bildern von Berlin kann man nicht in einem Buch verlegen. Die Idee von einem zentralen Verzeichnis der Alltagsgeschichte, von der An-sichtskarte, ber die Reklamemarke bis hin zur Geschichte einzelner Huser hatte ich schon lange. Vor zwei Jahren war dann auch die Tech-nik so weit, dass man die Idee auch umsetzen konnte. Nun war es mglich die Geschichten nicht nur im Internet zu erzhlen, sondern auch vor Ort erlebbar zu machen.

    Was war dir besonders wichtig?Wenn man Geschichten erzhlt, sollte man

    nicht nur die bekannten Themen im Blick haben. Eine unbedeutende Nebenstrae von Berlin oder kleine Gemeinden wie Sperenberg, haben meist ungeahnte interessante Episoden zu erzhlen, welche in mhsamer Arbeit von den Heimatverei-nen und Historikern recherchiert wurden. Diese Geschichten will ich in unserem Archiv einfgen und damit diese Arbeit der Vereine und Historiker wrdigen und auch fr die Nachwelt erhalten.

    hnlich wie bei Wikipedia kann man mit sei-

  • 01 Comicfigur von veikkos.com

    02 Katalog Reklamemarken Berlin

    03 Veikko Jungbluth

    04 Historische Werbemarken

    05 Historische Postkarte aus den 1930er Jahren

    (Quellen:veikkos.com)

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    nem Wissen das Archiv und den historischen Atlas ergnzen. Welche historische Informati-onen sucht ihr genau?

    Anders als bei Wikipedia gibt es bei uns keine Relevanzkriterien. Es knnen also auch die kleinen Kiezgeschichten in das Archiv auf-genommen werden. An historischen Informatio-nen suchen wir alte Fotosammlungen, Ansichts-karten, Tagebcher, Chroniken von Betrieben, Amateurvideos und vieles mehr, was zur Alltags-geschichte gehrt.

    Wie ist bis jetzt das Feedback?Bei den Heimatvereinen bin ich mit offenen

    Armen empfangen worden und nach den ersten Verffentlichungen in der Presse folgten auch Einladungen. So waren wir letzten Sommer in Reitwein im Oderbruch. Der Historiker fhrte uns in vier Stunden durch den Ort und erzhlte die Geschichten seiner Gegend. Heute hat das kleine Dorf eine eigene Veikkos-App mit 31 Punkten. Mehr als die benachbarte Grostadt Frankfurt/Oder.

    Zu wie viel Stdten und Orten gibt es bist jetzt Informationen im historischen Atlas?

    ber 8 000 historische Punkte aus 500 Or-ten in Deutschland befinden sich in unserem historischen Atlas.

    Sind fr die Zukunft noch weitere geplant? Ja, bis Ende des Jahres werden wir die 20

    bei Touristen beliebtesten Stdte Deutschlands mit den ersten Informationen einfgen. Ansons-ten wird das Archiv wohl niemals fertig, bei den

    Millionen von historischen Fotos und Geschich-ten, welche man dort einarbeiten kann. Hast du einen Lieblingsort in Berlin und wa-rum?

    Orte wo man die Geschichte in Berlin er-leben kann gibt es fr mich sehr viele. Ob das Nationaldenkmal auf dem Kreuzberg, der Zu-ckerbckerstil der Karl-Marx-Allee oder die vie-len historischen Grber auf den alten Friedh-fen. berraschen lasse ich mich gerne von alten Fotos, wenn man diese am Computer verortet und spter dann mit seinem Hosentaschenge-schichtsfhrer, also einem modernen Mobiltele-fon, an dem Ort steht

    Abschlieend das Wichtigste wie lade ich mir die App fr den historischen Atlas aufs Handy und was kostet sie?

    Den historischen Stadtfhrer kann man sich mit der kostenlosen Browser App von Wikitude im App Store runter laden. Nach der erfolgreichen Installation bitte im Suchmen veikkos-archiv eingeben oder in der Kategorie Geschichte veikkos-archiv als Favorit spei-chern. Die Technik erkennt anhand der GPS-Daten wo man sich befindet und zeigt dann bis zu 50 historische Informationen aus veikkos-archiv an, die in der Umgebung zu erkunden sind. Egal ob man sich in Berlin, Hamburg oder Mnchen befindet. Dabei hat man die Auswahl der Ansicht als Karte, Kurzbersicht oder mit dem Kameramodul als erweiterte Realitt (augmented reality). Kosten fr die App wer-den von uns nicht berechnet.

  • strassenfeger | Nr. 14 | Juli 201410 | BERLIN, BERLIN

    Von der Warschauer Brcke bis zum Mauerpark Unterwegs auf Berlins heiester PartymeileR E P O R T A G E : D e t l e f F l i s t e r | F O T O S : T h o m a s G r a b k a

    Es ist ein wunderbar warmer Sommerabend. Ich habe beschlossen, mir mal Berlins heieste Party-meile anzuschauen. Gegen 19.40 Uhr komme ich mit der U-Bahn an der Warschauer Brcke an. Hier ist der Startpunkt fr meine nchtliche Ex-

    kursion. Ich verspre erst einmal einen tierischen Durst und hole mir an einen der Imbissstnde eine Cola, um diesen zu bekmpfen. Irgendwie bin ich noch nicht so gut gelaunt. Mir ist extrem hei, mein T-Shirt ist nass, und der Schwei luft berall wie verrckt. Das sind ja nicht gerade die bes-ten Voraussetzungen, um sich hier auch nur ansatzweise zu amsieren, denke ich. Schlielich fasse ich Mut und mache mich auf den Weg.

    Fr i s e u r S t i l b r u c h , P u b l i c V i e w i n g u n d B r i t t a , d i e S n g e r i n

    Zuerst entdecke ich einen coolen Friseursalon, der Stil-bruch heit. Dahinter verbirgt sich ein 180qm groer Glas-palast mit Damen-Loungetischen, designet aus 150 Jahre alten Holzbalken mit Edelstahl und Spiegeln Im Herrenbe-reich gibts Barbersthle, riesige Spiegel an Rostwnden mit Ablagen aus Altholz an Stahlseilen. Dazu gibt es eine acht Meter lange Bar, die mit echtem Leder bezogen ist. Vier Me-ter breite Glastren bieten Zugang zu einer 600 qm groen Event & Party-Location. Fr einen Friseurladen eine einzigar-tige Atmosphre. Angeboten wird eine Beratung in Arabisch, Deutsch, Englisch, Franzsisch, Kroatisch, Portugiesisch und Spanisch. Nicht schlecht! Ich spreche mit einem jungen dunkelhaarigen, schlanken Mann, der irgendwie muffig auf mich wirkt. Am liebsten wrde ich gleich wieder gehen. Doch hier wird Public Viewing zur Fuball-WM angeboten. Ich sehe einige lustig lachende Leute an einem der Tische und entschliee mich schlielich, doch eine Weile hier zu bleiben. Vielleicht komme ich hier mit jemanden ins Gesprch. Das Viertelfinalspiel Deutschland gegen Frankreich liegt bereits in den letzten Zgen.

    Ein schwarzhaariger, kleiner, etwas dicklicher Mann erzhlt mir, dass Deutschland 1:0 durch ein Tor von Hum-mels fhrt. Deutschland, Deutschland, schreit er mir ins Ohr Ab, nach vorne! Er schwingt seine alte, etwas kaputte Fahne, trgt ein relativ neues Deutschlandtrikot und ein

    schwarz-rot-goldenes Kppi. Ich habs gewusst, dass die gewinnen, lacht er mich an und grinst wie ein Honigkuchenpferd. Er ist ziemlich an-getrunken, wirkt aber trotzdem sympathisch auf mich. Abpfiff! Er springt auf und jubelt. Er heit Girome, wie er mir spter erzhlt. Dann gibt er mir noch einen Kaffee aus, und wir unterhalten uns noch ein bisschen. Er berichtet mir, dass er aus Rom kommt und extra wegen der WM hier ist. Er wollte schon immer eine WM erleben, hat aber keine Karten bekommen. Da htte er sich eben ausgedacht, dieses Turnier in Berlin mitzuerleben. Daneben sitzt eine kleine, blonde, mollige Frau, die sich mir als Britta vorstellt, ge-brtige Berlinerin ist und hier einfach mal ein bissel abfeiern will. Ich bin gerne hier an der Warschauer Brcke, verkndet sie freudestrah-lend. Ist einfach angesagt. Hier kann man Party feiern und Spa haben! Ich merke, dass meine schlechte Laune langsam verschwindet. Wir re-den und reden, ber uns, ber Gott und die Welt. Es ist wirklich schn hier.

    Nach einer Weile schlielich berichtet mir Girome, wie dufte Britta doch singen knne. Sie schmettert auch prompt los und gibt Whit-ney Houstons I Will Always Love You zum Besten. Es klingt schrecklich, und schiefe Tne dringen in mein Ohr. Lachend klatsche ich. War wohl nichts! Aber trotzdem: Britta ist sympa-thisch und kommunikativ, und ich habe meine helle Freude an der Unterhaltung mit den beiden. Nach einer Stunde verabschiede ich mich.

    E h e m a l i g e s R AW - G e l n d e = Pa r t y t i m e

    Ich gehe auf die andere Straenseite zurck und lande auf dem ehemaligen Gelnde des Reichs-bahn Ausbesserung Werk (RAW). Hier sind zig Kneipen und ein Biergarten. Ich latsche ein biss-chen rum und schaue hier und da, lande eben in diesem Biergarten. Vorne am Eingang ist AS-TRA Kulturhaus und Biergarten zu lesen. Ein

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    01 & 02 An der Warschauer Brcke trifft man sich zum Feiern

    strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2014 BERLIN, BERLIN | 11

    Typ, so ne Art Rausschmeier am Eingang, will mich erst nicht reinlassen. Er erzhlt was von geschlossener Gesellschaft und so. Ich erklre ihm, dass ich einen immensen Durst habe und was trinken wolle. Nach einer kurzen Diskussion darf ich schlielich doch und bestelle mir eine groe Cola. Neben mir sitzt ein junger Mann mit Schnurrbart. Er stellt sich mir als Dieter vor und wirkt ein klein wenig schmuddelig. Aber er ist freundlich und lacht mich an.

    Er berichtet mir spter, dass er aus Ham-burg kommt und hier in Berlin eine Woche Ur-laub macht. Berlin sei eine interessante Stadt, wo die Luft brennt. Das wollte er einfach mal kennenlernen. Man knne hier viel machen, kulturell habe die Stadt irre viel zu bieten, und es gbe Spitzenrestaurants, wo man echt gut essen knne. Die Sehenswrdigkeiten seien natrlich auch sehr interessant, beeilt er sich hinzuzufgen. Hier an der Warschauer Strae wre es auch toll und er habe schon ne Menge interessante Leute kennengelernt. Wir quat-schen noch ungefhr eine halbe Stunde. Er erzhlt mir, dass er eigentlich mit seiner Freun-din Carola hier sei. Aber sie htten sich in der S-Bahn gestritten, und da sei Carola einfach ausgestiegen und verschwunden. Die war richtig sauer, erzhlt er achselzuckend. Aber er wrde sich spter schon wieder mit ihr ver-tragen. Dann gibt er mir die Hand und verab-schiedet sich. Es ist kurz vor 22 Uhr. Ich spre, dass ich langsam mde werde.

    Zu m M a u e r p a r k m i t S c h w i e r i g ke i t e n u n d u n e r w a r t e t e H i l fe

    Ich beschliee, aber trotzdem noch Richtung Mauerpark zu gehen. Ich latsche und latsche und latsche und beginne zu berlegen. Ich frage eine ltere Frau nach der Uhrzeit: 22.14 Uhr, sagt sie. Kommt mir alles irgendwie komisch vor. Alles viel zu ruhig hier. Ein Paar kommt mir ent-

    gegen. Ich frage nach dem Mauerpark und wo der denn sei. Sie dreht sich und deutet zurck. Der sei irgendwo dahinten. Ich merke, dass ich die ganze Zeit in die falsche Richtung gelaufen bin und rgere mich etwas. Wir wollen ja auch dahin, sagte die groe blonde Frau mit langen Haaren, komm doch einfach mit! Ich nicke und freue mich, bin richtig erleichtert. Auf dem Weg unterhalten wir uns die ganze Zeit.

    Die beiden stellen sich als Doris, eine ar-beitslose Schauspielerin, und Hans, der Gas- und Wasserinstallateur ist, vor. Sie kommen aus Bremen und wollten sich einfach einmal ein Wo-chenende lang das aufregende Berlin anschauen. Am Nachmittag seien sie angekommen. Dann haben sie sich ein Quartier gesucht und sind schlielich hierher gefahren. Da vorne ist es, ruft Doris pltzlich und zeigt auf den Eingang zum Mauerpark. Es ist 22.47 Uhr. Wir laufen

    eine Dreiviertelstunde lang gemeinsam durch den Park. Es sind noch erstaunliche viele Leute hier. Mir tnen mehrere Sprachen entgegen: Englisch, Franzsisch und ein bisschen Italie-nisch kann ich raushren. berall ist Musik zu hren, es wird gelacht, gescherzt, getrunken, eben gefeiert. Alles passt, die Sommernacht ist lau und alles scheint erlaubt. Beim Laufen unter-halten wir drei uns ununterbrochen.

    Die Zeit vergeht schnell. Irgendwann, Mit-ternacht ist lngst vorber, sind wir zurck an der Warschauer Strae. Doris und Hans neh-men mich mit ihrem Auto mit, setzen mich am U-Bahnhof Alexanderplatz ab. Ein aufregender und interessanter Abend ist fr mich vorbei. Fr unzhlige Menschen aus aller Welt geht es noch lange weiter entlang der Berliner Partymeile von der Warschauer Strae bis zum Mauerpark. Das ist mein Berlin, die Weltstadt mit Herz!

  • strassenfeger | Nr. 14 | Juli 201412 | BERLIN, BERLIN

    Das ist WahnsinnWenn sich das Wochenende mit Berlin trifftB E R I C H T : E n d e r

    Wer schon einmal in Berlin gewe-sen ist, wei bestimmt schon, was Wahnsinn in dem Berliner Wr-terbuch bedeutet: Unendliches und grenzenloses Feiern. Weggehen machen viele Menschen gerne, um mal den Stress der Woche rauszulassen, mal mit Freunden Spa zu haben und mal jemanden kennenzulernen. Kei-ner mchte, dass diese Momente so schnell ver-gehen, was in der Realitt unglcklicherweise nicht immer mglich ist. Die gehen doch zu schnell vorbei, sogar noch schneller als die Ar-beitsstunden. Wenn man aber in Berlin lebt, lsst man dieses Problem auer Acht und beschftigt sich mit der Frage: Wie schaffe ich es denn zur Arbeit, wenn ich doch das ganze Wochenende gefeiert haben werde?

    Berlin hat bereits seit dem Mauerfall eine Vielfalt von groen und verlassenen Industriegebude sowie Fabriken zur Verfgung. Heute sind sie ein wichtiger Teil des Nachtlebens geworden. Seit dem Mauerfall hat sich die Clubkultur in Berlin stndig entwickelt und entwickelt immer noch weiter. Der bekannte deutsche DJ Tanith be-hauptet, dass der Mauerfall und der Anfang der Techno-Szene prima zusammengefallen wren. Auch Tobias Rapp, der Autor des Buches Lost and Sound Berlin, Techno und der Easyjet, stimmt dieser Aussage zu und fgt hinzu, dass diese Entwicklung der Clubkultur nicht mglich gewesen wre, wenn es keinen Osten gegeben htte. Diese Szene kann man auch auf den Stra-en des Ostens sehen die sind vielleicht dreckig oder chaotisch aber doch attraktiv. Jedenfalls ist Berlin so, wie es ist: Arm aber sexy.

    Die Berliner Nachtclubs ziehen nicht nur die Aufmerksamkeit der Berliner auf sich, sondern aller Menschen aus der ganzen Welt. Tglich lan-den fast hundert Clubgnger mit Billigfliegern in Berlin, nur um das legendre und groartige Partyleben auszuprobieren und zu genieen. Da-bei spielt es natrlich eine Rolle, dass viele Clubs

    in Berlin schon auf den World-Best-Clubs-Listen verffentlicht wurden. Das beste Beispiel dafr ist das Berghain, einer der besten weltbekann-ten Techno-Clubs, der im Jahr 2009 auf der Top-100-Liste des britischen Magazins DJ MAG den ersten Platz schaffte. Mittlerweile befindet er sich in diesem Jahr auf dem 14. Platz, jedoch hat dies keinen negativen Einfluss auf seine Besu-cher_innen. Die Popsngerin Lady Gaga bezeich-net das Berghain auch als ihren Lieblingsclub und fgt hinzu, dass ihr Lied Scheie in ihrem Album Born This Way vom Berghain inspi-riert wurde. Dabei hat sie doch Recht. Scheie wre wahrscheinlich der perfekt passende Aus-druck fr einen Abend bzw. mehrere Tagen, den/die man im Berghain verbracht hat.

    Wie hat denn das Berghain diesen Platz vor vie-len anderen konkurrierenden Clubs gewonnen? Das kann offensichtlich nicht nur darin liegen, dass viele weltbekannte DJs da auflegen, sondern auch in der Anlage des perfekten Soundsystems, dem bunten Publikum, das aus vielen unter-schiedlichen Menschentypen besteht, der sexuel-

    len Freiheit und natrlich den nonstop Tage lang dauernden Partys. Man beginnt sozusagen eine Reise in ein ganz anderes Universum, in einen Technotempel, wo man keine Verbindung mehr zur Auenwelt hat. So fngt die sndige, gren-zenlose, lange und wahnsinnige Feierei an. Ge-nau das macht alles im Berghain wahrschein-lich noch attraktiver: Der Mensch mchte Spa haben. Er mchte gleichzeitig frei und ungestrt sein. Er mchte die Auenwelt drauen lassen, gar nicht mehr nachdenken und einfach den Mo-ment bis zum Ende seiner Grenzen genieen.

    Man knnte abschlieend ohne zu zgern sagen, dass Berlin schon die Trume vieler Partygnger_innen verwirklicht. Ohne Befriedigung geht keiner zurck nach Hause. Das Wichtigste, das man da-bei leider nie vergessen darf, ist, dass trotz der bes-ten Partyangebote der Stadt und der grenzenlosen Feier man die Grenzen doch nicht berschreiten sollte. Ansonsten vergisst man alle alltglichen Verantwortungen und deswegen versucht z. B. sei-nen Artikel am Tag der Abgabe an die Redaktion mit einem wahnsinnigen Kater zu schreiben.

    Das Berghain ist ein magischer Ort! (Quelle: Berghain)

    Karik

    atur

    : OL

  • strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2014 BERLIN, BERLIN | 13

    120 Jahre BahnhofsmissionArbeit fr die Menschen in Deutschlands ltester BahnhofsmissionB E R I C H T : J a n M a r k o w s k y

    Ein Blick zurck: 1894, vor 120 Jahren, wurde laut Website der Bahnhofsmission Karlsruhe durch den evangelischen Pfarrer Johannes Burckhardt im Schlesischen Bahnhof Deutschlands erste Bahn-hofsmission gegrndet. Der Ostbahnhof wurde

    als Kopfbahnhof der Frankfurter Bahn gebaut, nach 1870 fr die Stadtbahn zum Durchgangsbahnhof umgebaut und in Schlesischer Bahnhof umbenannt, 1950 in Ostbahnhof. 1894 kamen die meisten Menschen am Schlesischen Bahnhof aus dem katholischen Schlesien ins protestantische Berlin. Arbeit fr Menschen kannte auch damals keine konfessionellen Hr-den. Das Beispiel von Johannes Burckhardt machte Schule, 1895 in Hamburg. Weitere Bahnhofsmissionen folgten. 1897 bildeten sich nach Angaben der Bahnhofsmission Hamburg jdische Komitees, die jungen jdischen Frauen half. Der J-dische Frauenbund half den jdischen Frauen aus dem Osten. Um die Jahrhundertwende haben sich der Jdische Frauen-bund und das katholische Raphaelswerk der Bahnhofsmission angeschlossen. Um die Jahrhundertwende gab es in Deutsch-land ein Netz von Bahnhofsmissionen und ihr Zeichen wurde das gezackte rote Kreuz.

    Wa r u m B a h n h o f s m i s s i o n ? B e r l i n a l s B e i s p i e lIm 19. Jahrhundert sind viele Stdte rasant gewachsen. Die Industrie entwickelte sich und hatte einen immensen Bedarf an Arbeitskrften. Auch Berlin wurde Industriestadt. Die Be-vlkerung nahm deshalb dramatisch zu.1880 wurde Berlin Millionenstadt. Die Neuberliner suchten Arbeit. Sie kamen oft vom Land, waren in der Regel jung. Gute Voraussetzun-gen, Menschenfnger in die Hnde zu fallen. Vor allem die jungen Frauen waren gefhrdet. Viele junge Frauen sind in ihrer Unwissenheit Zuhltern in die Hnde gefallen. Enga-gierte Frauen beider christlichen Konfessionen aus der Mit-telschicht konnten und wollten nicht tatenlos zusehen und halfen den jungen Frauen. 1877 wurde die internationale Be-wegung Freundinnen junger Mdchen gegrndet, die den neu ankommenden jungen Frauen half. Parallelen zu den Schicksalen junger Frauen und Mdchen aus Ost- und Sd-osteuropa, die nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems in der Zwangsprostitution landeten, sind kein Zufall.

    D a s J u b i l u mDas Jubilum wurde am 17. Juni mit einem Fest gefeiert. Na-trlich mit einem Gottesdienst und auch selbstverstndlich mit einem kumenischen Gottesdienst. Nach der Begr-ung durch die Vorsitzende des Katholischen Verbandes fr Mdchen- und Frauensozialarbeit IN VIA in Berlin Dr. Gabriele Poller und der Wrdigung der Arbeit der Bahn-hofsmission durch die Geschftsfhrerin von IN VIA Berlin Anne Dietrich-Tillmann hielt Prof. Bruno Nikles einen in-formativen Vortrag zur Geschichte von der Bahnhofsmis-sion. Der Senator fr Gesundheit und Soziales Mario Czaja war Gast der Feier wie auch die des Caritasverbandes fr das Erzbistum Berlin Prof. Dr. Ulrike Costka und der Berli-ner Bahn-Chef Ingulf Leuschel. Bei so einem Fest durfte die Kultur nicht fehlen. Ehrenamtliche Mitarbeiter und Gste sorgten fr die Musik. Und auch Essen und Trinken gehrt zu so einem Fest. Das Essen war echt lecker. Und viele

    Gesprche in kleinen Kreisen. Auch das gehrt dazu. Alle Gste hatten sich fr das gelungene Fest bei der Leiterin der Bahnhofsmission Ostbahnhof Ursula Czaika bedankt.

    B a h n h o f s m i s s i o n i n B e r l i n h e u t eBerlin hat drei Bahnhofsmissionen: Ostbahnhof, Hautbahn-hof und Zoologischer Garten. Trger sind fr die Berliner Stadtmission Bahnhofsmissionen Zoologischer Garten und Hauptbahnhof und IN VIA fr die Bahnhofsmission Ost-bahnhof. In allen drei Missionen wird im Wesentlichen die gleiche Arbeit gemacht. Beratung und Ruhe fr Reisende, Hilfe bei Ein- oder Ausstieg, Begleitung allein reisender Kinder und Untersttzung bedrftiger Menschen. In Berlin werden in den drei Bahnhofsmissionen Wohnungslose un-tersttzt. Am Hauptbahnhof knnen sie Getrnke wie Tee und Wasser und Kleingebck erhalten und sich ausruhen. Die Mitarbeiter knnen die Menschen gezielt ber Hilfen fr Wohnungslose in Berlin informieren. Wer mehr braucht ist bei der nahen BM am Zoologischen Garten besser aufge-hoben. Der Bahnhof Zoologische Garten war in Westberlin der Treff der Obdachlosen. Die Bahnhofsmission dort ver-sorgt jeden Tag hunderte bedrftige Menschen mit Essen und Getrnken. Jeden Tag werden zig Wohnungslose mit Kleidung versorgt. Die Verhltnisse am Ostbahnhof sind fr einen solchen Ansturm nicht geeignet. Zwei Tische mit je vier Pltzen fr die bedrftigen Menschen sind beschei-den. Wenn sich aber die Tr um 8.30 Uhr ffnet warten oft weit mehr als zehn hungrige wohnungslose Menschen auf Einlass. Und alle werden versorgt. Und wie schon vor 120 Jahren geht es nicht ohne ehrenamtliche Mitarbeiter. Zurzeit werden am Ostbahnhof ganz dringend Mitarbeiter mit Fremdsprachenkenntnissen gesucht.

    Mitarbeiter der Bahnhofsmission sind immer im Einsatz fr die Armen, Schwachen, Gestrandeten (Quelle: Bahnhofsmission)

  • strassenfeger | Nr. 14 | Juli 201414 | BERLIN, BERLIN

    I N FO

    Richard Reynolds, GUERILLA GARDENING Ein botanisches Ma-nifest, (Mit groem Handbuchteil zu Taktik, Ausrstung und Wahl der botanischen Waffen.), orange-press GmbH Freiburg 2009

    www.guerrillagardening.org

    Originelles Guerilla Gardening findet man in ganz Berlin

    Bringt Blumen!Guerilla Gardening verwandelt verwahrloste, graue Flchen in kleine BlumenidyllenB E R I C H T : M a n u e l a P e t e r s | F O T O S : T h o m a s G r a b k a

    Blumen erfreuen das Gemt. Wer hat es in Berlin nicht schon ein-mal erlebt, als er seines Weges ging und auf einmal zwischen verwahr-losten, grauen Flchen ein kleines Blume-nidyll entdeckte. Ein Lcheln geht ber das Gesicht. Oft ist dies das Ergebnis von Guerilla Gardening. Die Guerilla-Grtner, die ganz heimlich in einer Nacht-und-Ne-bel-Aktion triste Ecken bepflanzen und so mit neuem Leben versehen oder die kleine Samenbomben ganz unauffllig auf ihrem Weg fallen lassen oder vom Fahrrad aus in die Umgebung werfen, in der Hoffnung, dass nach kurzer Zeit die Blumen sprieen. Guerilla Gardening hat sich zum urbanen Grtnern in Form der Begrnung von Bra-chen und Baumscheiben oder den Anbau von Nutzpflanzen in innerstdtischen Ge-meinschaftsgrten weiterentwickelt. In Ber-lin hat sich in den letzten Jahren eine recht starke Szene gebildet. Zahlreiche Vereine und Initiativen wurden gegrndet. Eine kleine Zusammenstellung ist auf der Web-seite der Stadt Berlin interessanterweise unter Kultur und Ausgehen / Stadtleben Tipps zu finden.

  • strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2014 BERLIN, BERLIN | 15

    I N FO

    Richard Reynolds, GUERILLA GARDENING Ein botanisches Ma-nifest, (Mit groem Handbuchteil zu Taktik, Ausrstung und Wahl der botanischen Waffen.), orange-press GmbH Freiburg 2009

    www.guerrillagardening.org

    Auf einer Fahrt ber die Spree sieht man deutlich, wie sich Berlin verndert

    Wasserstadt BerlinStadtentwicklung, die von der Spree aus gehtB E T R A C H T U N G & F O T O : A n d r e a s P e t e r s

    Um mit meinem Berlin-Besuch dem Fuballfieber dieser Tage etwas zu entfliehen, schlug ich einen Abstecher ins neue YAAM an der Schillingbr-cke vor. Doch als wir dort am Abend ankamen, drehte sich alles, vor multikultureller Kulisse, um das Fuballgeschehen im fernen Brasilien. Das hatte fr uns allerdings den Vorteil, dass die Sitz-pltze in Ufernhe alle verwaist waren und wir die wunderschne Abendstimmung mit einem khlen Nass und Blick auf die Spree genieen konnten. Wir lieen die Schiffsrundfahrten mit ihren gefllten Decks an den Ufern vorbeifahren, lauschten der Musik von Gegenber und ber-lieen uns zufrieden dieser entspannten Stim-mung am Wasser. Da mein Gast beruflich mit Stadtplanung in Bremen und Hamburg befasst ist, kamen wir unweigerlich auf den ffentlichen Zugang zum Wasser hier in Berlin zu sprechen.

    Berlin als Stadt am Wasser mit den beiden alten Hansestdten zu vergleichen ist sicher etwas weit hergeholt. Doch es gibt durchaus interessante Parallelen. Sowohl Hamburg als auch Bremen erlebten in den letzten 25 Jahren tiefgreifende stdtebauliche nderungen. Werften und Ha-fenanlagen verloren zunehmend an Bedeutung und wurden teilweise dem Erdboden gleich ge-macht. Das schaffte neue Flchen, forderte aber auch neue Perspektiven in der Stadtplanung. Die entscheidende Ressource dabei war das Wasser, das durch die Stadt fliet. Entlang dem Wasser sind dort ber die Jahre regelrecht neue Stadteile entstanden, wie die Speicherstadt in Hamburg, oder in Bremen die berseestadt.

    In Berlin ffnete sich mit dem Fall der Mauer die Spree ihrer Stadt. Sie teilt Berlin dennoch in einen nrdlichen und sdlichen Teil. Hinsicht-lich des Zugangs zum Wasser in einen Ost- und Westteil. Ein Beispiel: Wer am Schloss Charlot-tenburg seinen Spaziergang am Wasser startet, fr den ist nach gemtlichen zwei Stunden am Bahnhof Friedrichstrae Schluss. Aus Investo-rensicht befinden wir uns sptestens jetzt in ei-nem hochspekulativen Bereich des Stdtebaus. Eine Fortsetzung des Uferwegs ist zwar in Pla-nung. Beabsichtigt ist die Erschlieung fr Spa-ziergnger bis Jannowitz-Brcke. Dann wird es allerdings schon fast unmglich an das Wasser zu gelangen. Wo jetzt noch Strandbars, alternative Clubs und Bars, wie zum Beispiel das YAAM an-sssig sind, werden perspektivisch Projekte zur Wohnbebauung umgesetzt. Besonders begehrt sind natrlich Wohnungen mit Sd-West-Balkon und Blick aufs Wasser. Das ist in Bremen und

    Hamburg nicht anders. Was das fr Berlin konkret heit, ist bereits an der East-Side-Galerie zu beobachten.

    Zum Glck gibt es noch das Westufer. Zwischen Schilling-Brcke und Zeughofstrae ist dies vom Wasser aus gese-hen allerdings wenig ansehnlich. Die Ufer sind zudem nur eingeschrnkt zugnglich. Vom YAAM aus blickt man auf viele Lagerhallen, alte und zerfallene Fabrikgebude. Dort, wo ehemals die Mauer die Spree ausgrenzte, wollten sich damals nur wenige ansiedeln. So entstand hier diese typische Kreuzberger Mischung von Wohnen und Arbeiten. Deren Wert fr die Lebensqualitt und Vielfalt eines Bezirkes und deren Menschen ist unbestritten. Und so werden aktuell Ideen laut, die an denen von Hamburg und Bremen erin-nern. Unter dem Leitmotiv Kreuzberg an die Spree Stadt an die Spreestellt die Senatsverwaltung fr Stadtentwick-lung auf ihrer Homepage die wesentlichen nderungen in einem 8-Punkte-Programm vor. Die dazu verffentlichten Konzepte klingen jedenfalls vielversprechend. Zum Beispiel die Verlagerung wenn mglich der Industrieanlagen mit hohem Flchenverbrauch in andere Bezirke, Integration von kleineren Betrieben in vorhandene und neu entstehende Bau-projekte. Das zuknftige Leben an der Spree wird in Kreuz-berg jedenfalls neu definiert. Und zwar im besten Sinne konservativ. In dem man vorhandene Strukturen, bzw. diese Kreuzberger Mischung, dieses Miteinander verschiedener Kulturen aufgreift und etabliert. Das heit letztlich allen den Zugang zum Wasser zu ermglichen.

    Ich jedenfalls sehe mich schon in zehn Jahren erneut im YAAM sitzen und zwar nach deren Umzug ans andere Ufer. Der Blick auf das gegenber entstandene Inter-City-Hotel in 1A-Lage wird mich vielleicht erst mal irritieren, aber das ist halt Berlin.

  • strassenfeger | Nr. 14 | Juli 201416 | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n fe g e r

    Schaut heute bitte nicht weg Die dreiteilige Ausstellung Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz der sterreichischen KZ-berleben-den Ceija Stojka in Berlin und Ravensbrck R E Z E N S I O N : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

    Nach fast einem halben Jahrhundert des Schwei-gens wollte Ceija Stojka, die als Kind Schreck-liches erlebt hatte, mit jemandem reden. Es war aber niemand da, der mir zugehrt htte, und Papier ist geduldig. Es hat mit dem Sch-

    reiben halt recht gehapert, aber wie ich einmal begonnen hab, sind die Erinnerungen nur so herausgeschossen. Eine halbe Stunde hab ich meistens geschrieben, dann musste ich ja schon wieder kochen. Whrend ich aber gekocht oder das Essen serviert oder Geschirr abgewaschen hab, hat sich das in mir wieder gespeichert, in meinen Gedanken war ich schon wieder auf dem Papier. Dann hab ich mir diese Zettel schn geordnet, hab einen genommen und bin zu meinem Bruder gegangen. Karli, hab ich zu ihm gesagt, du ttst mir einen Gefallen, wenn du das Blattl lesen wrdest. Geh, das Gekritzel, schmei weg. Ja? Und ich hab mich geniert fr mein Gekritzel und bin gegangen. Trotzdem hab ich al-les genommen und in der Kche, wo niemand hinkommt, aufgehoben. Dieses Gekritzel zeigte sie ihrer Freundin, der Wiener Autorin und Filmregisseurin Karin Berger, die es 1988 verffentlichte. Das Buch Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin sorgte fr groes Auf-sehen, denn es war einer der ersten persnlichen Berichte ber den Vlkermord an den europischen Roma, also ber ein Kapitel aus der Geschichte des Nationalsozialismus, das lange Zeit von den Historikern und der ffentlichkeit igno-riert oder vernachlssigt wurde.

    U n v o r s t e l l b a re s L e i d Die Rom-Zigeunerin Ceija Stojka war Angehrige der Lo-vara, einer Volksgruppe, die in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts aus Ungarn und der Slowakei ins heutige s-terreich auswanderte. Fast alle Lovara-Roma, so auch Ceijas Familie, waren nomadische Pferdehndler. Die am 23. Mai 1933 in Kraubath an der Mur in der Steiermark geborene Ceija war das fnfte Kind von Karl Wackar Horvath und Maria Sidi Rigo Stojka. Als nach dem Anschluss sterreichs das Herumzigeunern verboten wurde, zogen die Stojkas nach Wien, wo sie sich in einem Hinterhof im 16. Bezirk eine kleine Holzhtte bauten. 1941 wurde Ceijas Vater von

    der Gestapo verhaftet und in die Konzentrationslager Da-chau, Neuengamme und Sachsenhausen verschleppt. Ein Jahr spter wurde er in der Euthanasie-Anstalt Hartheim in Obersterreich ermordet. 1943 begann auch fr Ceija das unvorstellbare Leid: Sie wurde mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und im so genannten Zigeunerfamilienlager un-tergebracht. Ihr jngster Bruder, der achtjhrige Ossi, wurde bei medizinischen Experimenten mit Typhus infiziert und starb dort. 1944 wurde ein Teil der Familie Stojka, darunter die Mutter Sidi, Ceija und ihre Schwester Kathi ins Frauen-konzentrationslager Ravensbrck, von dort Anfang 1945 ins KZ Bergen-Belsen transportiert, wo sie im April britische Soldaten befreiten. Sidi und Ceija fuhren nach Wien, wo sie Kathi und die Brder Hansi und Karli wiedertrafen, die aus den Konzentrationslagern Buchenwald und Flossenbrg zu-rckkamen. Sie waren die einzigen KZ-berlebenden der 200 Personen zhlenden Grofamilie Stojka.

    H e l l e u n d d u n k l e B i l d e r Weil sie alles, was sie erlebt hatte, mit Worten nicht ausdr-cken konnte, begann Ceija Stojka, die nach dem Krieg in Wien wohnte, zu malen. Es entstanden helle Bilder ihrer bis 1938 unbeschwerten Kindheit: Landschaften, Szenen aus dem Alltag ihrer Familie, Blumen. Doch die Frau mit der am linken Unterarm ttowierten Nummer z 6399 konnte und wollte nicht vergessen, was ihr und ihren Verwandten im Zigeunerlager in Auschwitz und in den anderen Konzen-trationslagern zuteil wurde: Demtigungen, Hass, Hunger, Durst, Auspeitschungen, Hundebisse, die stndige Angst vor dem Tod, die Opfer, die sich ausziehen mussten, bevor sie von den Nazis mit schlimmen Gesichtern in die Gaskam-mern getrieben werden, das unertrgliche Gebrll der Wach-mnner und Aufseherinnen. Das sind die Sujets von Ceija Stojkas dunklen Bildern, ihre Erinnerungen aus der Hlle. Leider werden diese Bilder, solange ich leben werde, wieder und wieder vor meinen Augen schweben. Ich habe es niemals geschafft, diese Bilder zu vergessen. Der Tod, die Verwesung, die Leichenberge, die so zugrunde gerichteten Menschen. Wegschauen, es zulassen, ist ganz falsch, schrieb die Knst-

    01

  • strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2014 TAUFRISCH & ANGESAGT | 17 a r t s t r a s s e n fe g e r

    01 Ceija Stojka in ihrer Wohnung in der Kaiserstrae im 7. Bezirk, Wien 1999. (Foto: Navigatorfilm)

    02 Entlausung 1944 Auschwitz. Die nackte Wahrheit. Im Kbel das tzende Pulver, 06.03.2005, Tusche auf Karton, 24 x 32 cm

    03 Ohne Titel,14.06.1999, Acryl auf Karton, 65 x 50 cm, Rckseite: Burgundersuppe, Robai jengi sumi

    04 Ceija Stojka, N.10, N.9, 12.05.2005, Acryl auf Leinwand, 60 x 80 cm

    Fotos und Quellen: Nachlass Ceija Stojka:

    Hojda Willibald Stojka, Wien VG Bild-

    Kunst, Bonn 2014

    lerin am 16. Juli 2009 auf der Rckseite ihrer Zeichnung Die sind schon alle hin. Bergen-Belsen, 15. April 1945. Auf die Vorderseite zeichnete sie einen Stacheldrahtzaun, hinter dem Wachmnner, die schwarze Stiefel tragen, stehen. Vor ihren Fen liegen nackte Leichen. Ein Rabe, fr Ceija Stojka Symbol der Hoffnung und Freiheit, hngt tot auf dem mit elektrischem Strom geladenen Stacheldrahtzaun. Dem ande-ren Raben gelingt es wegzufliegen.

    S c h o n u n g s l o s u n d m a h n e n d Die dunklen Bilder sind das Werk einer Frau, die sie im letzten Jahrzehnt ihres Lebens aus der Perspektive eines Kindes malte. Es sind scho-nungslose, unmittelbare, authentische und so erschtternde Bilder des Grauens, dass eine di-stanzierte Betrachtung kaum mglich ist. Weg-schauen kann man jetzt auch nicht in Berlin, wo die grandiose und sich tief ins Gedchtnis einpr-gende Ausstellung Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz von Ceija Stojka gezeigt wird. Es ist die bisher umfangreichste Schau ihrer Arbeiten: In der Galerie Nord im Tiergarten werden 180 Zeichnungen und Gouachen prsentiert, in der

    Schwartzschen Villa in Steglitz sind Dutzende Gemlde versammelt, an beiden Orten unter-teilt in Kapitel Wien, Auschwitz-Birkenau, Ravensbrck, Bergen-Belsen und Nach der Befreiung. Parallel dazu sind Stojkas Arbeiten in der Mahn- und Gedenksttte Ravensbrck in Brandenburg zu sehen. Diese dreiteilige Ausstel-lung ist eine kuratorische Glanzleistung von Lith Bahlmann und Matthias Reichelt, ihre 472-seitige Publikation auf Deutsch, Englisch und Romanes ist in der Tat ein Mahnmalband und ein wahres Wissenskompendium ber Leben und Werk der Knstlerin. Das fast drei Kilo schwere Buch ist zugleich ein opulenter Nachruf auf Ceija Stojka, die am 28. Januar 2013 in Wien verstarb. Gewr-digt wird darin eine starke und unbeugsame Per-snlichkeit, deren Kunst zwar autodidaktisch, doch durchaus eigenstndig und mehr als ber-zeugend wirkt. Hochaktuell sind auch die mah-nenden Worte, die auf der Rckseite einer ihrer Zeichnungen stehen: Sie waren Menschen. Sie mussten leiden. Ausgezehrte Lebewesen. Arbei-ten bis zur vlligen Erschpfung. Schaut heute bitte nicht weg. Sage nicht ja zum Bsen. Denn es lebt in den Menschen auch heute.

    I N FO

    Ceija Stojka (1933 2013) Sogar der Tod hat Angst vor Ausch-witz, Eine Ausstellung in drei Teilen www.ceija-stojka-berlin2014.de

    Noch bis zum 26. Juli im Kunstverein Tier-garten | Galerie Nord, Berlin Turmstrae 75, 10551 Berlin

    ffnungszeiten: Di Sa, 13 19 Uhr, Eintritt frei

    www.kunstverein-tiergarten.de

    Noch bis zum 31. August in der Galerie Schwartzsche Villa, Kulturamt Steglitz-Zehlendorf Grunewaldstrae 55 12165 Berlin

    ffnungszeiten: Di So, 10 18 Uhr Eintritt frei

    www.kultur-steglitz-zehlendorf.de

    Noch bis zum 12. September in der Mahn- und Gedenksttte Ravensbrck Strae der Nationen, 16798 Frstenberg/Havel

    ffnungszeiten: Di So, 9 18 Uhr (Gelnde: bis 20 Uhr) Eintritt frei

    www.ravensbrueck.de

    Publikation Verlag fr Moderne Kunst Nrnberg, 2005

    Preis: 39,80 Euro

    Begleitprogramm 31. August, 17 Uhr: Filmvorfhrung Ceija Stojka Portrait einer Romni / Unter Brettern Hell-grnes Gras mit Dr. Karin Berger

    Galerie Schwartzsche Villa, Eintritt frei

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  • strassenfeger | Nr. 14 | Juli 201418 | TAUFRISCH & ANGESAGT S o z i a l

    Praktikanten bei der BahnhofsmissionWir haben tglich schon genug Leid, da mssen wir mit und untereinander wenigstens Spa habenB E R I C H T & F O T O S : M a x i m i l i a n N o r r m a n n

    Dieter Pohl, Chef der Bahnhofsmission am Zoo, ist ein cleverer Mann. Als ich im Rahmen meines Schlerprakti-kums bei strassenfeger mit dem Chef-redakteur Andreas Dllick den Vertriebswagen der sozialen Straenzeitung und die benachbarte Bahnhofsmission besuchte, hat er mich ziemlich berrumpelt. Dieter schlug mir mal eben so vor, einen Tag lang als Praktikant bei der Bahnhofs-mission am Zoo zu verbringen. Mein Klassenleh-rer hatte uns beim Schreiben der Bewerbungen fr unsere Praktika vor der psychischen Anstren-gung der dortigen Arbeit gewarnt. Fr mich per-snlich tauchten in diesem Moment zwei Fragen auf: Inwiefern sollte er Recht behalten mit seinen Vorbehalten? Wie geht man als Schlerprakti-kant mit den Gsten der Stadtmission um?

    Pnktlich um zehn Uhr stehe ich am ver-einbarten Tag vor der Tr der Bahnhofsmission. Wenig spter warte ich im Essensraum etwas unbeholfen und schaue mich zurckhaltend um. Eine Mitarbeiterin kommt auf mich zu geeilt: Du musst Max sein! Bevor ich darauf antwor-ten kann, wird mir eine blaue Weste mit dem Logo der Bahnhofsmission in die Hand gedrckt. Meine Aufgabe ist es, die ersten Kleiderspenden des Tages zu sortieren. Martin, ein evangelische Pastor aus der Schweiz und fortan ein Ansprech-partner fr mich, weist mich schnell in die Arbeit ein. Eine anstrengende und von vielen ungeliebte Arbeit wie ich feststellen muss. Die Berge von riesigen Tten an Kleidern nehmen kein Ende. Groer Bedarf besteht vor allem bei Hosen und Unterwsche, aber auch Regenjacken und Pul-lover werden in einem wechselhaften Sommer dringend bentigt.

    Gegen 11 Uhr fange ich mit den sieben an-deren Praktikanten an, das Essen fr den heuti-gen Tag vorzubereiten. An jedem Tag wird mit dem, was die Lebensmittelspenden aus dem Lager hergeben, gekocht. Nicht nur die Berliner Tafel bringt einmal am Tag Lebensmittel vorbei, sondern auch einige kleinere Unternehmen und

    Privatpersonen. Ohne diese Spenden wrden tagtglich Hun-derte Menschen in Berlin hungern.

    K e i n B o c k a u f K i n d e rg a r t e n

    In der Mittagespause, bevor die erste Essensaugabe beginnt, setze ich mich mit den anderen Praktikanten zusammen. Un-tereinander herrscht, trotz der stressigen Arbeit, eine klasse freundschaftliche Stimmung. Mich interessieren ihre Beweg-grnde, mehrere Wochen oder Monate in der Bahnhofsmis-sion zu verbringen. Fr Margareta (16) und Mika (15) war es von Anfang an klar, die drei Wochen ihres Sozialpraktikums nicht, wie die Mehrheit ihrer Mitschler, in den Kindergarten oder die Grundschule zu gehen. Sie wollten gezielt an ihre Grenzen gehen und so wichtige Erfahrungen sammeln.

    Charmaine (17) und Katharina (17) sind durch eine An-zeige aus der Zeitung auf die Bahnhofsmission aufmerksam ge-worden. Fr einen mglichen spteren Beruf im Bereich Sozi-alpdagogik ist es vorgegeben, ein dreimonatiges Praktikum in einer sozialen Einrichtung zu absolvieren. Wo htte man besser in den Kontakt mit Menschen kommen knnen, die am uers-ten Rande der Gesellschaft leben und denen die alltglichsten Dinge, wie ein warmes Essen oder Kleidung fehlen, berichten sie mir in einem Gesprch. Wenn man als Praktikant zum ers-ten Mal seinen Fu in die Bahnhofsmission setze, sei wohl jeder wahnsinnig nervs. Doch nach kurzer Zeit sei man in das Team der ehrenamtlichen Helfer integriert und die Furcht im Um-gang mit den hilfsbedrftigen Menschen sinke von Minute zu Minute, erzhlen die beiden Freundinnen. Laurien (17), meint, man bekomme bei der ersten Begegnung sofort Respekt ge-genber den Gsten der Hilfseinrichtung. Auch bruchte man bei dem fantastischen Umgang, wie er in der Bahnhofsmission miteinander gefhrt wird, berhaupt keine Scheu gegenber Fremden zu haben, erklrt mir Charmaine weiter. Fr Mika (15) ndert sich vor allem das Verhalten gegenber obdachlo-sen Menschen auf der Strae. Man werde nicht nur aufmerksa-mer, sondern bekomme auch ein besseres Verstndnis fr die zahllosen Obdachlosen in Berlin.

    G e b e n u n d n e h m e n

    Die Stimmung unter den ehrenamtlichen Mitarbeitern, die zwischen 16 und 75 Jahre alt sind, ist wirklich klasse. Auch 02

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  • strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2014 TAUFRISCH & ANGESAGT | 19 S o z i a l

    01 & 02 In der Bahnhofsmission am Zoo gibts auch fr Praktikanten immer viel zu tun

    03 Freude am ehrenamtlichen Engagement

    04 Hier werden die Spenden entgegengenommen

    05-07 Erfahrungen sammeln frs Leben am hrtesten sozialen Brennpunkt der Stadt

    wenn die Arbeit anstrengend ist, und die Prak-tikanten mit zuvor unbekanntem Leid konfron-tiert werden, fhlen sie sich bei der Arbeit sehr wohl. Fr Mika ist das stundenlange Schmieren von hunderten Broten eine der unliebsamen Auf-gaben. Anders als in der Schule mssen sie als Praktikanten fast die ganze Zeit in der Kche stehen oder zwischen Kleiderkammer und Klei-derausgabe hin und her rennen.

    Doch es lohnt sich. Nirgendwo sonst bekom-men wir so viel Dank und ein Lcheln entgegen als von den unzhligen Gsten, finde ich. Dies bestrkt die Praktikanten, bei der Arbeit nicht mde zu werden. Gerade, wenn man sieht, wie man die vielen hilfebedrftigen Menschen mit kleinen Dingen oder Gesten untersttzen kann. Fr eine Vielzahl der Menschen, die tglich zur Bahnhofsmission kommen, sind das Essen und die Kleider dabei eher nebenschlich. Viel wich-tiger ist ihnen, mit Menschen in Kontakt zu kom-men, die ihnen nicht aus dem Weg gehen. Viele der Obdachlosen nutzen die Gelegenheit, um mit anderen ins Gesprch zu kommen und ihre Er-lebnisse von der Strae zu teilen.

    Katharina (17) beschftigte von Anfang an die Frage, inwieweit ihre angebotene Unterstt-zung den Menschen wirklich hilft. Das Grund-problem der Obdachlosigkeit knnen vor allem

    sie als Praktikanten natrlich nicht lsen. Durch alkoholisierte oder kranke Gste ausgelste Zwi-schenflle belasteten schon bei der Arbeit, er-klrt mir Margareta (17). Man wisse, dass diese Personen mehr als einmal in dieser Verfassung sein werden. Deshalb knne man ihnen nur eine Hilfestellung geben, von der Strae zu kommen.

    ber die Probleme mit Gsten, die auch mein Klassenlehrer angesprochen hatte, machte ich mir die Tage zuvor am strksten Gedanken. Doch durch die Vielzahl der ehrenamtlichen Helfer, die mit uns Praktikanten arbeiteten, ist man nie auf sich allein gestellt. Auch habe ich gemerkt, wie wichtig fr uns junge Menschen das Gesprch miteinander ber die Arbeit ist. Dazu passt, dass bei der Bahnhofsmission die Ereignisse der vergangenen Tage regelmig in greren und kleineren Gruppen besprochen werden. Dadurch tauscht man Erfahrungen und Eindrcke aus und sttzt sich gegenseitig. Die Praktikanten, die ich getroffen habe, sind sich einig: Es war die richtige Entscheidung, in der Bahnhofsmission am Zoo ein Praktikum zu ma-chen. Alle haben vor, auch in Zukunft fter dort auszuhelfen.

    Ach so: Lieber Dieter, Danke dafr, dass Du mich berrumpelt hast! Es war klasse!

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  • strassenfeger | Nr. 14 | Juli 201420 | TAUFRISCH & ANGESAGT B re n n p u n k t

    Zwiespltige Signale aus der SenatssozialverwaltungAK Wohnungsnot fordert funktionierendes geschtztes Marktsegment und die Senatssozialverwaltung arbeitet an den WohnungslosenleitlinienB E R I C H T : J a n M a r k o w s k y

    Wohnungslosenleitplan endlich ein neuer Start: Im Mai habe ich erfahren, dass die Senatssozialverwaltung mit der LIGA der Spitzenverbnde der Wohlfahrt in einer Arbeitsgruppe an den Leitlinien und Ma-

    nahmen- bzw. Handlungsplan der Wohnungslosenhilfe und -politik in Berlin arbeitet. Der letzte ist in den 90er Jahren und ist veraltet. Es gab nach 2000 einen neuen Anlauf. Ich habe mir sagen lassen, dass nur der AK Wohnungsnot und die AG Le-ben mit Obdachlosen gut vorbereitet in das Gesprch gingen. Es ist bei der einen Runde geblieben. Dann kam Peter Hartz dazwischen. Jetzt endlich ein neuer Anlauf. Es ist fraglich, ob AG Leben mit Obdachlosen und AK Wohnungsnot an den Gesprchsrunden beteiligt werden. Fraglich ist auch, ob der neue Rahmenplan annhernd den Vorgaben der Nationalen Strategie gegen Wohnungsnot und Armut in Deutschland der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe gengt. Wir werden darber im strassenfeger berichten.

    G e s c h t z e s M a r k t s e g m e n t s o l l w o h n u n g s l o s e u n d v o n Wo h n u n g s l o s i g ke i t b e d ro h t e M e n s c h e n v o r Wo h n u n g s v e r l u s t s c h t z e n1993 wurde von staatlicher Seite ein Vertrag zur Wohnungs-versorgung geschlossen, um Personen, die von Wohnungs-losigkeit bedroht bzw. betroffen sind, zu helfen und ihnen de Eingliederung in ein geregeltes Leben zu ermglichen. Der Vertrag wurde am 1. November 2003 neu gefasst. Mit der Neufassung haben sich die kommunalen Wohnungsbauge-sellschaften und einzelne private Vermieter verpflichtet, 1 350 Wohnungen Menschen zur Verfgung zu stellen, die auf dem Wohnungsmarkt keine Chance haben. Beim Wohnberech-tigungsschein sind die Kriterien so weit gefasst, dass woh-nungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen keine Chancen haben. Deshalb sollten die Kriterien beim Ge-schtzten Marktsegment so gewhlt sein, dass hier eine faire und reelle Chance auf eine neue Wohnung besteht.

    S c h u t z w i r k t n i c h t z u v e r l s s i gDas Geschtzte Marktsegment bietet schon im Vertrag keinen vollstndigen Schutz vor Wohnungsverlust. Es ist kein Housing First. Im Kooperationsvertrag vom November 2013 heit es unter Pkt. 3: Die Wohnungsvergabe erfolgt nur an Personen und Haushalte, die zu einer eigenstndigen und eigenverant-wortlichen Lebens- und Haushaltsfhrung in einem Wohnhaus fhig sind und die im Einzelfall eine entsprechende begleitende persnliche Hilfe erhalten und fr die eine positive sozialpda-gogische Prognose erstellt und aktenkundig gemacht wurde.

    Im Pressegesprch vom 3. Juli wurden von den Vertretern des AK Wohnungsnot das angesichts des Wohnungsmangels und der drohenden Wohnungsnot unzureichenden Kapazitt des Segments, die mangelnde Kontrolle der Umsetzung und die uneinheitliche Praxis in den Bezirken gergt. In einigen Bezirken werden die Menschen mit dem M-Schein allein ge-lassen, in anderen mssen 20 abgewiesene Bewerbungen nach-gewiesen werden, ehe die soziale Wohnhilfe den Antrag auf den Schein erstellen. Kritisiert wurde auch der Umgang bei den

    Wohnungsbaugesellschaften mit den anfragenden Menschen gergt. Wenn ein Vermieter einen Bewerber wegen Mietschul-den oder Eintrag bei der Schufa ablehnt, schliet er die Men-schen aus, fr die das Instrument geschaffen wurde. Schwer vermietbare oder gar unzureichend ausgestattete Wohnungen sollten auch einem Menschen in Wohnungsnot nicht zugemutet werden. Die Umsetzung muss strker kontrolliert werden.

    Natrlich kamen Betroffene zu Wort. Andrea Rhl be-richtete, dass sie zurzeit in einem betreuten Wohnprojekt in Charlottenburg-Wilmersdorf untergekommen ist, der Aufent-halt dort zeitlich begrenzt ist. Sie fragt immer wieder bei den Wohnungsbaugesellschaften nach, bislang ohne Erfolg. Die Zeit drngt und Andrea wird inzwischen unruhig. Sie wei nicht einmal, wie lange sie warten muss.

    U n t e r s c h r i f t e n s a m m l u n g u n d - b e rg a b e F r e i n f u n k t i o n i e re n d e s u n d g e re c h t e s G e s c h t z t e s M a r k t s e g m e n t d e s A K Wo h n u n g s n o tDer AK Wohnungsnot hat eine Unterschriftenliste mit Forde-rungen verteilt. Etwa 500 betroffene Menschen haben unter-schrieben. Keine groe Zahl. Wer mit wohnungslosen Men-schen arbeitet, der wei die Zahl zu schtzen. Die Unterschriften sollten dem Senator Mario Czaja bergeben werden. Dem AK Wohnungsnot ist im Vorfeld nicht gelungen, einen Termin fr die bergabe zu erhalten. Eine kleine Delegation hat sich am 3. Juli auf dem Weg gemacht. Wegen des Plenums des Abge-ordnetenhauses waren weder der Senator noch der zustndige Staatssekretr Dirk Gerstle im Haus. Andrea Rhl musste die Unterschriften einem untergeordneten Mitarbeiter bergeben. Der versprach, die dem Senator zu bergeben. Doch fotografie-ren lassen wollte der sich nicht. Ich bin aber Zeuge.

    Angesichts dieses Verfahrens habe ich Zweifel, dass die Belange wohnungsloser Menschen bei Mario Czaja gut auf-gehoben sind.

    Die Obdachlosen von der Michael-Brcke (Foto: Andreas Dllick VG Bild-Kunst)

  • strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2014 TAUFRISCH & ANGESAGT | 21 k a f fe e | b a n k ro t t

    20 Jahre Toy RunHarte Biker mit einem groen Herz fr bedrftige KinderI N T E R V I E W : G u i d o F a h r e n d h o l z

    Eine sehr bedenkliche Konstante in der Region Berlin-Brandenburg ist, dass auch auf absehbare Zeit keine Besserung der angespannten Finanzlage zu erwar-ten ist. Damit wird privates soziales Engagement auch zuknftig notwendig bleiben, um den Er-halt vieler kleiner Sozialprojekte und Einrichtun-gen in den unterschiedlichsten Bereichen unserer Gesellschaft zu garantieren. Auf auergewhnli-che Art erfolgreich und ausdauernd praktizieren dies seit nunmehr zwanzig Jahren die Mnner und Frauen des KIDS CLUB Fuchsstein e.V.. Eine ihrer Aufsehen erregendsten Aktionen ist der alljhrlich im Sommer stattfindende Toy Run. Ein Motorradkorso hunderter Biker, quer durch Berlins Mitte, zugunsten von Kinder- und Jugendeinrichtungen in Berlin und Brandenburg. Guido Fahrendholz sprach darber mit Frank Kleemann, dem Vereinsvorsitzender von KIDS CLUB und Organisator des Toy Run.

    Guido Fahrendholz: Toy Run wofr steht das genau?

    Frank Kleemann: bersetzt heit das sinn-gem Spielzeuglauf. Es geht uns darum, an einem Wochenende im Jahr ffentlichkeits-wirksam Spielsachen und Geld fr Kinder und Jugendliche zu sammeln. Diese Sachwerte und bentigten Geldmittel leiten wir dann weiter an Kitas, an Heime, an Kinder in Pflegefamilien usw., wo Versorgungslcken entstanden sind. So

    helfen wir dann dort ganz gezielt.

    Wie luft ein solches Wochenende ab?Die Biker sammeln sich Samstagvormittag

    an einem Platz in Berlin. Dort wird sich mit einem kleinen Konzert erst einmal aufgewrmt. Zwi-schen 13 und 14 Uhr gibt es dann das Startsignal, und der gesamte Korso setzt sich als angemeldete Demonstration unter dem Motto Gegen den Sparzwang in Bildung und Erziehungshilfe in Bewegung und fhrt quer durch die Stadt. Viele der Bikes sind bunt geschmckt mit Plschtie-ren und anderem Spielzeug. Die Polizei begleitet den Korso, sperrt Kreuzungen und sichert eine Hchstgeschwindigkeit von max. 30 Stundenki-lometer. Gegen 15 Uhr trifft der Korso auf dem Gelnde des MC Hermsdorf ein, und danach startet das erste Kinderfest des Wochenendes mit Hpfburg, Piratenschiff, Rutsche, usw. Tombola, Live-Musik und Kino. Am Sonntag gibt es dann das zweite groe Kinderfest. Bereits gegen 11 Uhr und bis 18 Uhr kann auf Ponys geritten wer-den, nach Bchsen geworfen, auf eine Feuerwehr geklettert werden und vieles andere mehr.

    Was sonst unmglich scheint, gelingt Euch. Der Harley-Biker fhrt neben dem auf dem Race-hobel, der Cruiser neben dem Crossfahrer, das Mofa neben dem Trike

    Ja, das ist ein kunterbunt gemischter Haufen. Vor zwanzig Jahren beim ersten Toy Run waren

    es genau 80 Bikes im strmenden Regen auf dem Leopoldplatz in Berlin-Wedding, die nach dem Run klitschnass in Waidmannslust ankamen. Da-mals waren es fast noch nur Harley-Fahrer. Inzwi-schen fhrt die Mehrheit der bis zu achthundert Biker auf den unterschiedlichsten Gefhrten har-monisch nebeneinander, geeint in der Sache.

    Kann man Euch untersttzen und wie erreicht man Euch?

    Ich beginnen mal mit dem zweiten Teil der Frage. Alle Kontaktdaten, den Streckenverlauf des Korsos, die Adresse des Festplatzes, das Programm der zwei Tage, die Spendenkonten, aber auch und das ist uns ganz wichtig, die Listen mit den Einrichtungen, fr die die Spen-den vorgesehen sind, findet man unter www.toyrun-berlin.de oder ber www.facebook.com/toyrunberlin. Sozialeinrichtungen, bei denen der finanzielle Schuh drckt, aber auch Spender oder Sponsoren fr das Fest knnen sich an uns wenden unter www.kidsclub-fuchsstein.de.

    Dass man auf unterschiedlichste Art helfen kann beweist in diesem Jahr, als musikalisches Urgestein Berlins, die Band Wedding. Peter Behne und seine Mnner lernten Frank Kleemann bei einer TV-Aufzeichnung unserer TV-Show kaffee bankrott kennen und vereinbarten aus dem Stand heraus einen Auftritt beim diesjhrigen Toy Run. 20 Jahre Toy Run am 6. und 7. September Danke Jungs!!!

    Biker fr Kinder ganz smarte Aktion! (Quelle: Guido Fahrendholz)

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    strassenfeger | Nr. 14 | Juli 201422 | TAUFRISCH & ANGESAGT K u l t u r t i p p s

    skurril, famos und preiswert!Kulturtipps aus unserer RedaktionZ U S A M M E N S T E L L U N G : L a u r a

    02 KINDER

    FEZittyFEZitty ist die Hauptstadt der Kinder. Arbeiten, studieren, eigenes Geld, die Wuhlis, verdienen, als Brgermeister oder Brgermeisterin regieren und das Stadtleben mitbestimmen, das alles knnen Ferienkinder von sechs bis 14 Jahren tun. Ob Bankmitarbeiterin, Bauarbeiterin, Materialverwalter, Modedesignerin, Naturschtzer, Schauspieler oder Model, das Jobcenter vermittelt tglich bis zu 1.000 Jobs in 150 Berufen. Stadtkinder verdienen fnf Wuhlis pro Stunde, abzglich 20 Prozent Steuern. Arbeit und Studium werden gleich bezahlt. Nach vier Stunden Arbeit plus vier Stunden Studium erhalten die Kids den Status des Stadtbrgers und haben das Recht zu whlen, zu heiraten und ein eigenes Unternehmen zu grnden.

    Noch bis zum 22.8., montags bis freitags, von 10 Uhr bis 17 Uhr Eintritt: pro Tag drei Euro/Wochenausweis: acht Euro/Dauerausweise: 25 Euro/ Ermigungen sind mglich

    FEZ-BerlinStrae zum FEZ 212459 Berlin

    Info: www.fez-berlin.de

    03 PERFORMANCE

    Am LimitAm Limit: Das sind fnf Knstler_innen, die mit Einsatz der ganzen Person arbeiten und dabei an physische oder psychische Grenzen treten. Mit Performances und knstleri-schen Aktionen, die vor und whrend des Festivals 48 Stunden Neuklln stattfinden oder als eigenstndige Arbeit dokumentiert sind, erzeugen sie Bilder, die aus extremen krperlichen Handlungen und Erfahrungen resultieren. Mit ihren Werken kommentieren sie politische, soziale, kulturelle, religise oder persnliche Situationen und Verhltnisse. Ein Beispiel: Die Knstlerin Nezaket Ekici begibt sich in ihrer Performance Blind mit Kopf und Krper in einen dickwandigen Gipsmantel lediglich die Arme bleiben frei. Mit Hammer und Meiel und schlgt sich sie sich aus dem selbst auferlegten Marty-rium. Die Finissage der Ausstellung findet am 27.7. um 19.30 Uhr statt.

    Noch bis zum 27.7., um 17 Uhr, Eintritt frei! Von Mittwoch bis Sonntag von 15 Uhr bis 19 UhrKunstverein Neuklln e.V.Thomasstr. 2712053 Berlin

    Info: www.kunstverein-neukoelln.de Bild: Annie Luck

    01 LANGE NACHT

    Die Nchte des RamadanIn diesem Jahr feiert Berlin zum fnften Mal den Fastenmonat Ramadan als ein groes Kulturfest. Die Nchte des Rama-dan laden ein, mit Konzerten, Filmen, Performances und Diskussionen Einblicke in Vergangenheit und Gegenwart muslimisch geprgter Kulturen zu gewinnen. Unter dem Motto, das der Koran mit der Sure zwei, Vers 187 vorgibt: ...esst und trinkt, bis ihr in der Morgendmmerung einen weien von einem schwarzen Faden unterscheiden knnt! Hierauf haltet das Fasten durch bis zur Nacht! wird das Wochenende vom Ramadanfest auf der Karl-Marx-Strae gekrnt.

    Ab dem 25.7. bis zum 19.8., zu unterschiedlichen Zeiten, Eintritt frei!Genaue Veranstaltungsort und zeiten auf der Internetseite

    Info: www.piranhakultur.de Bild: Defne Sahin Emir Uzun

    04 MUSIK

    Liederfestival ThomsdorfAn zwei Veranstaltungstagen werden Liedermacher und Liedermacherinnen die vielfltigen Facetten des Genres zum Besten geben. Die Bhne, direkt am Wasser aufgebaut, vermittelt den Zuhrern neben kostbaren Klngen der Knstler auch einen herrlichen Blick ber den glasklaren Carwitzer See. Mit Uta Kbernick und Dota Kehr, der Kleingeld-prinzessin stehen gleich zwei Gewinnerinnen des Deutschen Kleinkunstpreises gemeinsam auf der Bhne. Mit dabei ist unter anderem das Quartett Zargenbruch, das direkt am Freitag auftritt.

    Vom 25.7. bis zum 26.7., am 25.7. ab 20, UhrEintritt fr das gesamte Festival: 25 EuroPro Tag: 15 Euro/ermigt: zehn Euro, fr Leute unter 16 Jahren: Eintritt frei!

    Thomsdorf am See, 17268 Thomsdorf, BrandenburgInfo: www.kostbar-thomsdorf.de

  • VORSCHLAGENSie haben da einen Tipp? Dann

    senden Sie ihn uns an:[email protected]

    Je skurriler, famoser und preiswerter, desto besser!

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    strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2014 TAUFRISCH & ANGESAGT | 23 K u l t u r t i p p s

    08 FESTIVAL

    Rock im GrnenAuch in diesem Jahr gibt es wieder Rock im Grnen, ein Musik-Festival und Newco-mer Open-Air-Festival, auf der Biesdorfer Parkbhne. Am Freitag schallen ab 16 Uhr Urban Soundz durch den Park. Dann gibt es lateinamerikanische Musik von Vello Pblico. Gleich im Anschluss folgen die Jungs von DANKE!, die mit deutscher Popmusik die Bhne erobern wollen. Als Special Guest kndigt der Rock im Grnen e.V. 8BCC an. Am Samstag steht dann Blackout Problems auf der Bhne, neben finalstair, Down to Date, VersionC und vielen weiteren Bands.

    18.7. - 19.7., 18.7. ab 16 UhrEintritt frei! Nordpromenade 5, 12683 Berlin

    Info: www.rockimgruenen.de Bild: by Rdiger Arndt

    05 AUSSTELLUNG

    Wie ein TotentanzAlfred Hrdlicka war ein Fanatiker der Wahrheit, dessen Kunst weder Kompromisse noch Tabus kannte. In Wie ein Totentanz Die Ereignisse des 20. Juli 1944 befasste er sich mit dem Wesen und den Folgen der Gewalt. Er spannt ber zwei Jahrhunderte deutscher Geschichte einen Bogen, der in den Ereignissen um das Hitler-Attentat 1944 gipfelt. Hrdlicka verfolgt den Militarismus, der ihm wesentlich fr das Zustande-kommen des Nationalsozialismus erscheint, bis zu seinen Anfngen bei Friedrich dem Groen zurck. Mit seinen Grafiken schildert er den Hergang und das tragische Ende der Revolte, die Hinrichtungen der gescheiterten Attentter und die Grauen des fortgesetzten Kriegs. Schlielich fhrt er die Handlung bis an die damalige Gegenwart heran.

    Noch bis zum 29.8., Dienstag bis Sonntag, von 12 Uhr bis 18 UhrEintritt frei! Aber das Vorzeigen eines Ausweises ist notwendig.

    Freundeskreis Willy-Brandt-Haus e.V.Stresemannstrae 2810963 Berlin

    Info: www.freundeskreis-wbh.de Bild: Alfred Hrdlicka, 8 Zigaretten pro Hinrichtung, 1973

    06 FEIERN

    TRANSIT-FESTIVALEin Ferienlager im blhenden Burggarten: Nassgetanzte Menschen trocknen sich in den Kanus auf der Tollense. Zeit fr wenig Kommerz, eine mittelalterliche Burg, regionales freundliches Essen, Lagerfeuer, Theater, Baden im Fluss und eine fantastische Auswahl an Bands: Ratatska (Ska), Vgel die Erde essen (Rock), Riders Connection (Beatbox-Soul), Looney Roots (Roots-Reggae), Magda Piskorczyk (Blues-Jazz), Die Reise (Trip-Rock), Bob Beeman (Singer-Songwriter), Metada (Rock), E.Muzol + Rodeo (Electro), DJ Ausbruch (Crossover), DJ Urtica (Balkanbeat-World). Die Feier geht nachts berdacht tanzend und drauen am Feuer weiter. Inklusive Schlechtwettervariante, Kaminzimmer, Familienspa mit der Klausthaler Puppenbhne (Tintibus) und Frhstcksmusik. Drei Tage und Nchte auf der Burg Klempenow. Tanzen und ins Wasser springen!

    Das Transit-Festival an der Tollense: 11. - 13.7.14, zwischen Berlin und der Ostsee. Tickets knnen bei tixforgigs.de, koka36.de, per Email oder Telefon bestellt oder an der Abendendkasse gekauft werden. Das Wochenendticket kostet 24 (inkl. Camping), Freitag: 10, Samstag: 17

    E-Mail: [email protected]: www.transit-festival.de & www.burg-klempenow.de

    07 SHOW

    CabaretEs ist der Silvesterabend des Jahres 1929, in den Sally Bowles, die naive und vergngungsschtige Nacht-club-Sngerin, ihr Life is a Cabaret schmettert. Ihre Welt ist der verzauberte Nollendorfplatz, das billige Zimmer in Frulein Schneiders Pension und der verruchte Kit Kat Club. Vor allem gehrt ihre Welt aber dem Wunsch, berhmt und geliebt zu werden. Fr aufmarschierende Nazis und Untergangsstimmung ist da kein Platz. Das Tipi am Kanzleramt prsentiert die gefeierte Cabaret-Inszenierung des Madonna-Choreografen Vincent Paterson. In diesem Jahr wird das Cabaret zehn Jahre alt im Tipi.

    15.7. - 19.7., 20 Uhr, 20.7. um 19 UhrEintritt: zwischen 20 und 59,90 Tickets: 030 - 39066550Tipi am Kanzleramt, Groe Querallee, 10557 Berlin

    Info: www.tipi-am-kanzleramt.de Bild: Jan Wirdeier

  • strassenfeger | Nr. 14 | Juli 201424 | TAUFRISCH & ANGESAGT A k t u e l l

    Mordspech in SchnebergOliver Wachlins und sein Hauptkommissar Dieter Knoop I N T E R V I E W & F O T O : L a u r a P a s t e r n a k

    Oliver Wachlins Krimis um den Hauptkommissar Dieter Knoop rekonstruieren Berlin in der Nach-wendezeit. Sie basieren auf einem tiefgehenden Hintergrundwissen.

    Wie die Recherche fr einen solchen Krimi aus-sieht, und welchen konspirativen Hintergrund sein neuester Krimi Mordspech hat, das er-zhlte Oliver Wachlin Laura Pasternak im Inter-view.

    strassenfeger: Wenn Sie ein Buch schreiben, werden Sie dann grundstzlich journalistisch ttig?

    Oliver Wachlins: Nein, ich war mal Journa-list und habe eine journalistische Ausbildung. Ich habe in Hamburg Filmjournalismus studiert und Filmkritiken geschrieben. Das hat mir nicht gefallen, denn ich wollte selber Filme machen und habe Drehbcher geschrieben, die nie ver-filmt wurden. Irgendwann bin ich in den Filmbe-trieb gekommen. Damals gab es Auf Leben und Tod mit Hans Meiser. Das war eines der ersten Reality-TV-Formate auf RTL. Da gab es immer so kurze Polizeiberichte, die musste man auf ein zwlf-Minuten-Film hoch jazzen, mglichst blu-tig, dramatisch, spektakulr halt RTL. Das war cool, da habe ich viele Folgen gemacht.

    Trotzdem hat man das Gefhl, dass Sie wie ein Journalist bei Ihren Bchern vorgehen, und das viel Recherchearbeit dahinter steckt.

    Ich schreibe jetzt ein Buch, das in Rostock spielt und das ist natrlich Recherchearbeit. Du musst erst mal recherchieren, bevor du weit, worber du schreiben willst. Obwohl bei mir diese zeitgenssischen Sachen immer im Hinter-grund sind. Das ist die Kulisse fr die Story, aber da muss natrlich immer recherchiert werden. Wenn du einen Fehler drin hast, dann strt dieser Fehler total. Du kannst noch so gut schreiben,

    wenn es nicht hinhaut, dann regen sich die Leute darber auf. Deshalb muss man da grndlich sein. Obwohl mir auch immer wieder blde Feh-ler passiert sind. Zum Beispiel habe ich einen Ro-man geschrieben, da zieht jemand einen Zwei-hundertmarkschein. Bis mir mal jemand gesagt hat, es gab nie einen Zweihundertmarkschein. Aber es gibt Zweihunderteuroscheine und da-durch hat sich der Fehler eingeschlichen.

    Morde, explodierende Autobomben und die Mafiaorganisation Ndrangheta. Wenn man Ihr neuestes Buch Mordspech liest, hat man das Gefhl nicht sicher in Schneberg zu sein.

    Wir haben eine gute Struktur in Schneberg. Es gibt zwischen der Polizei und den groen kri-minellen Clans ein Stillhalteabkommen: Ihr sorgt fr Ruhe im Bezirk, dafr lassen wir euch in Ruhe. Das wird ganz offen von der Polizei ge-sagt: Es ist Aufgabe der Polizei, dafr zu sorgen, dass der Brger in Schneberg sicher leben kann. Wenn die Polizei in die festgefgten kriminellen Strukturen eingreift, sodass es zwischen den un-terschiedlichen Banden knallt, dann kommt die Polizei gar nicht mehr hinter den Problemen her und dann ist der Brger gefhrdet.

    Die Hintergrundgeschichte von Mordspech ist selbst wie ein Krimi: Sie haben recherchiert und sind deshalb sogar unterschwellig bedroht worden. Knnen Sie diese Situation noch ein-mal darstellen?

    Es war 1997 diese groe Oderberschwem-mung. Da hatte ich in einer Tageszeitung ir-gendwo auf der Seite drei gelesen, dass viele Leute sich gegen eine Evakuierung wehren, weil ihre Huser gar nicht bedroht sind. Ihre Orte l-gen auf Hgeln und die wren noch nicht ber-flutet worden. Die Leute hatten Angst um ihre Huser. Da sagte dann einer, das wre wegen dieses Bunkers. Ich habe mich gefragt: Was ist

    Cover

  • strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2014 TAUFRISCH & ANGESAGT | 25 A k t u e l l

    I N FO

    www.emons-verlag.de

    Oliver G. Wachlin Mordspech, Kln 2014, 304 Seiten, 10,90Euro

    das fr ein Bunker? Da habe ich ange