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„Überall, wo ich bin, hat alles, was sich da befi ndet, den Riß.“ Kontamination, Komposita
und Parataxe bei Herta Müller
Hiroshi YAMAMOTO
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Wie in der Forschung oftmals festgehalten wurde, wird im Werk Herta Müllers
die Landschaft zumeist als „stillgestellt“ beschrieben, was „die mentale, politische
und soziale Enge“ sowohl in der rumänischen Diktatur als auch im banatschwä-
bischen „Kaff“ widerspiegele.1) Die industriell zerstörte Landschaft steht wohl
auch als Zeichen für die politökonomisch-ökologische Katastrophe, für die die
Diktatur Rumäniens seit langem gesorgt hatte. Allerdings wird dabei das Augen-
merk nicht darauf gelenkt, dass sie vor allem mit kleinen Partikeln wie Körnern,
Staub und Rost befl eckt und mit Schlamm und Schleim verschmiert oder durch
unsichtbare Chemikalien verseucht, kurz mit Fremdstoffen kontaminiert ist.
In der verkommenen Vorstadt zur Zeit der späten Ära des Diktators Nicolae
Ceaușescu, die im ersten Roman Der Fuchs war damals schon der Jäger dargestellt
wird, „rostet, zerbricht und zerfällt“ (F 56)2) alles, was früher Fortschritt und
sozialen Wohlstand versprochen hatte. Die Luft ist von den Staubwolken auf
der Straße und vom Rauch aus den Schornsteinen verschmutzt, der Erdboden
durch Chemieindustrie tödlich verseucht, was im Übrigen später im Gulag-Roman
Atemschaukel wieder aufgegriffen wird. Die Arbeiter in der veralteten Fabrik
tragen an ihrer Kleidung nicht mehr entfernbare „Rostfl ecke“ (F 100).
Das Phänomen der Kontamination verschont auch nicht das deutsche Bauern-
dorf im Banat, das ansonsten in der rumäniendeutschen Heimatliteratur als
gemütliche Idylle verherrlicht wird, jedoch im früheren Werk Müllers aus der
Perspektive eines kleinen Mädchens als „die Hölle auf Erden“,3) als „Mikrokos-
————————
Für die fi nanzielle Unterstützung bedanke ich mich bei der JSPS.
1) Anja Johannsen: Chronotopologische Ordnungen (Raum und Zeit). In: Norbert Otto
Eke (Hrsg.): Herta Müller-Handbuch. Stuttgart: Metzler 2017, S. 167–176, hier S. 168.
2) Herta Müller: Der Fuchs war damals schon der Jäger. Frankfurt a. M.: Fischer Taschen-
buch Verlag 2009. Hier und im Folgenden wird der Text unter der Sigle F zitiert.
3) Friedrich Christian Delius: Jeden Monat einen neuen Besen. In: Der Spiegel, 30. 7.
1984. S. 119–123, hier S. 119.
136 Hiroshi YAMAMOTO
mos der Reglementierung und Unterdrückung“4) bezeichnet wird. Die rückstän-
dige autoritäre Struktur sowohl der erzkatholischen Dorfgemeinschaft als auch
der patriarchalen Familie drückt sich vor allem in allgegenwärtigen Gewalttätig-
keiten gegenüber Frauen, Fremden und Tieren aus. In diesem Kontext taucht
immer wieder Kontamination als sprachliches Mittel auf, wenn sich „die Beschrei-
bungen von spritzendem Blut, Fäkalien und Erbrochenem, Schleim und Dreck“
zu „einem Bild des Niedergangs“ verbinden.5)
Die Kontamination kommt in den Texten Herta Müllers nicht nur auf der the-
matischen, sondern auch insofern auf der sprachlichen und stilistischen Ebene
immer wieder zum Einsatz, als ein Wort oft mit einem anderen vermengt und
ein Satz mit einem anderen direkt gekoppelt wird. Im Folgenden soll gezeigt
werden, welche ästhetischen und sozialkritischen Bedeutungen diesem sprachli-
chen Mittel zugeschrieben werden können.
2
Zunächst soll kurz auf die verschlammte, mist- und blutverschmierte Landschaft
im „Kaff“ etwas näher eingegangen werden, die überall anzutreffen ist und im
scharfen Kontrast zur Ordnungs- und Sauberkeitsliebe der Rumäniendeutschen
steht. Diese vermeintlich deutschen Tugenden, auf die sich die Sprachminderheit
innerhalb der Deutschtums-Ideologie stolz zu berufen pfl egt, beinhalten insofern
eine Schattenseite, als mit Hilfe der Obsession für Sauberkeit alles aus dem
eigenen Territorium ausgeschlossen wird, was als fremd, schmutzig und gefähr-
lich erscheint. Letztlich bedeutet dies nämlich nichts anderes als den Versuch,
die Einwohner gleichzuschalten. Denn wer „am hellen Tag Bücher [liest]“ und
bei wem „der ganze Haushalt“ „Purzelbaum [schlägt]“, der wird in der Dorfge-
sellschaft sofort als wertlos gebrandmarkt (N 75).6)
Zudem erweisen sich die Erwartungen als unerfüllbar: Wenn etwa die Mutter-
Figur im Prosastück Niederungen unter dem kollektiven Druck auch noch so
besessen im Haushalt schuftet, so kann sie das Haus dennoch nie „sauber“ (N
80) halten. Gerade ihr „tägliche[s] Aufwaschen“ macht die Bretter der Fußböden
————————
4) Norbert Otto Eke: „SEIN LEBEN MACHEN / IST NICHT, / SEIN GLÜCK
MACHEN / MEIN HERR“. Zum Verhältnis von Ästhetik und Politik in Herta Müllers
Nachrichten aus Rumänien. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41, 1997, S. 481–
509, hier S. 492.
5) Norbert Otto Eke: „Überall, wo man den Tod gesehen hat“. Zeitlichkeit und Tod in
der Prosa Herta Müllers. Anmerkungen zu einem Motivzusammenhang, in: ders. (Hrsg.): Die
erfundene Wahrnehmung. Annäherung an Herta Müller. Paderborn: Igel 1991, S. 74–94, hier
S. 78.
6) Herta Müller: Niederungen [1982/84]. München: Hanser 2010. Hier und im Folgen-
den wird der Text unter der Sigle N zitiert.
137„Überall, wo ich bin, hat alles, was sich da befi ndet, den Riß.“
„faul“, so dass der Holzwurm ständig im Haus „mehlige Rillen“ nagen kann
und sie jeden Monat „mit einem neuen Besen“ kehren muss (N 75). Je eindring-
licher versucht wird, das eigene Haus schmutzfrei zu halten, desto bitterer rächt
sich der Sauberkeitswahn. Diese groteske Episode macht paradigmatisch deutlich,
wie die Ordnungs- und Sauberkeitsliebe in einen desaströsen Wahn umschlägt.
In diesem Sinn ist die verschmutzte Landschaft bei Herta Müller auch als Zeichen
für den moralischen Bankrott des Reinheitsanspruchs zu verstehen, der im
Übrigen nicht nur dem dörfl ichen Deutschtum, sondern insofern auch der
staatlichen Diktatur zugrunde lag, als diese einerseits mit einer aggressiven
Rumänisierungspolitik die Minderheitenrechte der Deutschen und Ungarn
beschnitten und andererseits mit der Überwachung durch den Geheimdienst
(Securitate) die Bevölkerung streng unter Kontrolle gehalten hat.
Und gerade im Kontext der politischen Verfolgung rückt wieder das Thema der
Kontamination ins Blickfeld, allerdings diesmal im engeren Sinn, nämlich als
eine Verunreinigung der Lebensmittel mit Fremdstoffen: Selbst zu Hause haben
die politisch Verfolgten Angst vor einem geheimdienstlichen Anschlag mit Gift-
pulver: „In der Küche steht [ . . . ] alles, was ich essen muß, der Zucker, das
Mehl. [ . . . ] [D]ie [=Geheimdienstler] können mich jeden Tag vergiften“ (F
165). Mit dieser Angst haben die zahlreich vorhandenen grotesken Bilder in der
Roman-Trilogie über die Ceauşescu-Diktatur zu tun, die sich auf Nahrungsmit-
tel beziehen: z.B. „mit Haaren verklebt(e)“ „Bonbons“ (F 19), ein Wurm im
Apfel (F 21), ein Haar im Brot („Manchmal, sagte sie, wird euch beim Essen
ein Haar in den Zähnen hängen, eines, das nicht dem Bäcker in den Teig gefal-
len ist“, F 261), eine Maus im Gurkenglas (HWL 163)7) und Ameisen in der
Suppe (HWL 169). Wenn man allerdings alle diese ekelerregenden Bilder nur
im Kontext der zeitgenössischen politischen Verfolgung verstehen will, dann
greift dies zu kurz, denn es gibt auch in der frühen Prosa Szenen, in denen der
Vater, ein Kriegsheimkehrer, immer wieder „Splitter in der Suppe“8) (DT 48)
fi ndet. Auch in Der Fuchs war damals schon der Jäger erinnert sich ein Veteran an
Erlebnisse kurz nach dem Krieg, in denen aufgrund seiner Traumatisierung durch
den Krieg alle gewohnten Lebensmittel nicht richtig, sondern nur in verstörter
Weise wahrgenommen wurden:
Als ich von der Front nach Hause kam, war alles, was die hier zu Hause
aßen, ein Friedhof für mich. Wurst, Käse, Brot, sogar Milch und Gurken
waren hinter der Küchenschranktür, unter Deckeln, ein Grab. Jetzt, nach
————————
7) Herta Müller: Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
1997. Hier und im Folgenden wird der Text unter der Sigle HWL zitiert.
8) Herta Müller: Drückender Tango. Bukarest: Kriterion 1984. Hier und im Folgenden
wird der Text unter der Sigle DT zitiert.
138 Hiroshi YAMAMOTO
Jahr und Tag, weiß ich nicht, sagt er. (F 38)
Im Rückblick auf die verstörte und verrückte Wahrnehmung ist das kontaminierte
Essen keineswegs einfach auf eine negative Bedeutung beschränkt zu verstehen.
Vielmehr ist der enge Zusammenhang mit dem „Riß“ zu berücksichtigen, den
Herta Müller 1989 im Text, der den Hinweis bereits im Titel trägt, „Überall, wo
ich bin, hat alles, was sich da befi ndet, den Riß” als ein viel wichtigeres Moment
für das Verständnis immer wieder gegenüber der „Chronologie“ und „Kontinu-
ität des Geschehens“ hervorhebt: Ihr wird der „Abbruch des Geschehens zum
einzigen, was dieses Geschehen zusammenhält“, denn „[w]o der Riß im Gesche-
hen auftaucht, stellen die Gegenstände sich hinein. Sie werden übergroß. Ihre
einzelnen Teile werden größer als das Ganze, weil sie für sich selber dastehn“.9)
In diesem Sinne sind die zahlreichen Kontaminationsbilder auch in Bezug auf
ein poetisches Verfahren zu verstehen. Durch das überraschende Einbeziehen
der Fremdkörper und das „Nebeneinander des Disparaten“10) wird die sukzessive
Lektüre gestört und so der politischen und sprachlichen Gleichschaltung und
Entgrenzung Widerstand geleistet.
In der sprachwissenschaftlichen Terminologie bezeichnet der Begriff der „Kon-
tamination“ bzw. „Wortkreuzung“ im Übrigen eine Art Komposita, die zwei
Ausdrücke zu einem Wort zusammenfügt. Streng genommen handelt es sich
zwar um keine einfache Wortvermengung, sondern um eine Verschmelzung
zweier bedeutungs- und klangverwandter Wörter oder Wortteile zu einem neuen
Wort, wie der Neologismus „Eurasien“ etwa aus den Wörtern „Europa“ und
„Asien“ oder „Literatour“ aus „Literatur“ und „Tour“ zusammengesetzt wurde.11)
Wenn auch bei Herta Müller die sprachliche Kontamination im strengen Sinn
nur selten anzutreffen ist, so fi nden doch neugebildete Komposita wie „Hun-
gerengel“ und „Atemschaukel“ eine exponierte Verwendung, die unmittelbar,
also ohne Bindewort oder Flexions-S, disparate Komponenten zusammenfügt.
In einem engen Zusammenhang mit dem Stilmittel der Wortkomposita stehen
die anderen wichtigen Schreibverfahren Herta Müllers, nämlich die Aufzählung
der Dinge und der Namen12) sowie die Aneinanderreihung kurzer prägnanter
————————
9) Herta Müller: Überall, wo ich bin, hat alles, was sich da befi ndet, den Riß. Text
anlässlich der Marburger Theaterwerkstatt zur Inszenierung einer Montage aus ihren Texten
1989. Zitiert nach: Herta Müller. Der kalte Schmuck des Lebens. H. 2/2010. München: Lite-
raturhaus München 2010, S. 34 f.
10) Norbert Otto Eke: Wort/Spiele: Drama – Film – Literatur. Berlin: Erich Schmidt
Verlag 2007, S. 278.
11) Duden: Die Grammatik. Hrsg. v. Angelika Wöllstein und der Dudenredaktion. Berlin:
Duden 92016, S. 681.
12) Vgl. Hartmut Steinecke: Herta Müller: Atemschaukel. Ein Roman vom „Nullpunkt
der Existenz“. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 10. Tübingen 2011,
139„Überall, wo ich bin, hat alles, was sich da befi ndet, den Riß.“
Hauptsätze.13) Wie die Wortkomposita unmittelbar zwei Komponenten koppeln,
so werden Personen- und Sachnamen, Ding- und Tätigkeitsnamen aufgelistet.
Dem gleichen Prinzip folgt schließlich auch der parataktische Satzbau mit selb-
ständigen Sätzen, die Müller durch sparsame Verwendung der Konjunktionen
ebenfalls direkt aneinanderreiht.14)
In der Forschung wird die parataktische Erzählstrategie zum einen als narrative
Nachmodellierung der stillgestellten Gesellschaft in der Diktatur verstanden, die
„der eigenen Auslöschung entgegen[geht], indem sie sich jeder Außeneinwirkung
verschließt, sich der völligen Stagnation überlässt und den inneren Zusammen-
halt allein durch ein Klima der gegenseitigen Überwachung sichert“.15) Zum
anderen wird sie als die Tendenz „zum Fragmentarischen, zum Bruchstück, zum
Kleinteiligen“16) im Kontext des „ästhetischen Widerstands“ ausgelegt, „[die]
dem totalitären Ganzen in programmatischer Weise das Fragmentarische entge-
genhält“.17) Im Anschluss an diese Interpretationsansätze soll veranschaulicht
werden, dass der parataktische Satzbau als Versuch zu verstehen ist, gerade das
Prinzip der Kontamination zu erweitern, indem es auch auf der syntaktischen
Ebene angewandt wird. Dabei soll gezeigt werden, wie sich bei Herta Müller
das Motiv der Kontamination auf der inhaltlichen Ebene mit dem formalen
Prinzip der Sprachkontamination überschneidet.
3
Sehr oft kommen im Werk Müllers mutierte Wesen vor. In der frühen Prosa
haben ängstliche Hunde im Dorf so „wässerige ausdruckslose Vogelaugen“ (N
24), dass sie als monströs wirkende, mythologische Tiere, halb Hund, halb Vogel,
erscheinen. Wenn in Herztier ein „Schweineohr“ am Betttuch „angenäht wie ein
Knopf“ (H 91)18) wird, könnte unabhängig von der schikanösen Absicht der
Täter ebenso ein hybrides Wesen geboren werden. Durch rhetorische Stilmittel
wie Metapher, Metonymie, Synekdoche und Personifi kation wird Dingen wie
————————
S. 14–32, hier S. 25; ders.: „Atemschaukel“. In: Herta Müller-Handbuch (wie Anm. 1), S. 59–67,
hier S. 62.
13) Vgl. Norbert Otto Eke: Augen/Blicke oder: Die Wahrnehmung der Welt in den
Bildern. Annäherung an Herta Müller (Einleitung). In: Die erfundene Wahrnehmung, (wie
Anm. 5) S. 7–21, hier S. 17.
14) Antja Johannsen: Chronotopologische Ordnungen (Raum und Zeit) (wie Anm. 1),
S. 169.
15) Ebd.
16) Norbert Otto Eke: „SEIN LEBEN MACHEN / IST NICHT, / SEIN GLÜCK
MACHEN / MEIN HERR“ (wie Anm. 4), S. 482.
17) Ebd., S. 496.
18) Herta Müller: Herztier. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994. Hier und im Folgenden
wird der Text unter der Sigle H zitiert.
140 Hiroshi YAMAMOTO
Kleidern, Möbeln und Geräten Leben eingehaucht und verselbständigen sich
Tiere sowie Pfl anzen aber auch menschliche Körperteile. Kühe tragen „große
unförmige Schuhe aus Schlamm“ (N 24). Wände haben nicht einfach Risse,
sondern immer wieder „Kalkadern“ (F 53). Die Brücke „zittert“, die Bäume
„drängen sich“ (F 208) und die Äste „stellen sich tot“ (F 233). In der Finsternis
infolge chronischen Strommangels gehen keine Menschen mehr auf der Straße,
sondern lauter „Mäntel“ (F 224) und „(l)eere Kleider“ (F 180). Den Motor für
diese alptraumhafte Metamorphose der Welt stellt die überwältigende Angst der
Verfolgten vor der Überwachung des Staatssicherheitsdiensts dar.
In der entgleisten Welt, in der sowohl Tiere und Dinge als auch Erscheinungen
wie Wind, Schnee und Schatten als böse Handlanger in ein komplexes Gefüge
von Machtstrukturen verwickelt sind,19) erscheinen die Menschen sehr oft ent-
würdigt und verfremdet als Tiere, Puppen oder gar leblose Dinge. In den
Augenhöhlen der Mutter sitzt „die schwarze Krähe“ (DT 46). Durch die Meta-
pher „Reißverschluß“ auf der einen Wange (F 15), die ursprünglich den Kontrast
zwischen der Schatten- und Sonnenseite verbildlicht und die auf die Risse auf
der Oberfl äche aufmerksam macht, könnte der Mensch nun wie in Horrorfi lmen
die eigene Haut so leicht ausziehen, als wäre sie ein bloßes Kostüm. Dürre
Männer tragen im Traum „Glaskugeln“ (F 217) statt Augen — wie Puppen. Der
Jäger ähnelt mit seinem roten Haar, dem roten Bart und den roten Wangen
seinem Opfer, dem Fuchs (F 167). Der Frisör, dessen Katze von einem Kunden
gelähmt wurde, wird märchenhaft selber in eine rachsüchtige Katze metamor-
phosiert und mit einem entsetzlich großen Maul versehen: „Aus seinem Mund-
winkel lief eine Falte, sie schnitt ihm in die Wange“ (F 19). In diesem Kontext
müssen selbst die gar nicht besonders kühnen rhetorischen Figuren wie die
Metapher „Lamm“ (F 249) für eine schüchterne Braut auf dem Land und die
Metonymie „Stirnlocke“ für den Diktator auf dem Plakat so wörtlich genommen
werden, dass sie mitwirken, die Figuren und auch die Leser in eine zauberhafte
Märchenwelt zu entführen, wo sie mit Tieren, Pfl anzen, Körperteilen und leben-
dig gewordenen Dingen sprechen.
Um solche hybride Wesen in den Rissen des Geschehens wahrnehmbar zu
machen, fi nden als Stilmittel gerade Komposita sehr oft Verwendung. Der
Neologismus „Flaschenmund“ (F 219), der offenbar in Analogie zum gebräuch-
lichen Ausdruck „Flaschenhals“ gebildet wird, verleiht einer einfachen Flasche
einen Mund zum Küssen. Auch die Komposita „Türauge“ (F 241) und „Brief-
————————
19) Vgl. Hiroshi Yamamoto: Schneewüste und Schneeverrat. Zu den Landschaften des
Sterbens bei Ilse Aichinger und Herta Müller, in: Martin Kubaczek / Sugi Shindo (Hg.):
Stimmen im Sprachraum: Sterbensarten in der österreichischen Literatur. Tübingen: Stauffen-
burg 2015, S. 105–120, hier S. 115 f.
141„Überall, wo ich bin, hat alles, was sich da befi ndet, den Riß.“
kastenauge“ (F 111), die zwar auf den ersten Blick nicht besonders kühn wirken
mögen, machen im Vergleich mit der üblichen Bezeichnung „Guckloch“ die
Umgebung um die Verfolgten viel unheimlicher und zu Komplizen des Geheim-
dienstes. Unter der dichterischen Hand Müllers können selbst schon völlig
konventionalisierte Alltagswendungen einen Verfremdungseffekt erzielen.
Unscheinbare Ausdrücke wie „Ohrmuschel“ (F 30), „Klomuschel“ (F 231),
„Augäpfel“ (F 227), „Glühbirne“ (F 243), „Fingerhut“ (F 245), „Schädeldecke“
(F 113) oder „Suppenaugen“ (F 260) geraten unter Verdacht, ob sie wirklich
keine weitere Bedeutung tragen. Jedes Kompositum im Text stört die Leser bei
der Lektüre, die eine chronologische Reihenfolge der Geschichte voraussetzt,
denn in ihr ist ein semantischer Schnitt oder Riss unübersehbar vorhanden.
Allerdings ist anzumerken, dass man ohne eine aufmerksame Lektüre wohl die
metaphorischen und metonymischen Ausdrücke im Text übersehen würde. Wenn
z.B. der „Wasserhahn quietscht“ (F 201), dann handelt es sich in gewöhnlicher
Lesart wohl um eine defekte Armatur, die beim Zufl uss einen schrillen Ton von
sich gibt. Unter Berücksichtigung der oben genannte Reihe von hybriden Kom-
posita und ferner von Müllers „Poetik des eigensinnigem Blicks“20) ist jedoch
ebenfalls eine andere absurde Lesart denkbar: Es könnte tatsächlich ein leben-
diger Hahn diesen Platz besetzen, so dass eine groteske Figur mit einem Vogel-
kopf und mit einem Rohr als Unterleib die Küche in Beschlag nimmt und laut
kräht, wie ähnliche gekreuzte Figuren oft in Müllers eigenen Wort- und Foto-
Collagen Verwendung fi nden.21) Wenn auch die Szene blitzschnell im nächsten
Augenblick schon wieder verschwindet, da der Kontext sie nicht so stark unter-
stützt wie in den Geistergeschichten, bleibt dem Leser, darin liegt wohl die Pointe
dieses literarischen Verfahrens, ein subtil unheimlicher Eindruck zurück.
Im ersten Roman Der Fuchs war damals schon der Jäger bleibt die Möglichkeit, aus
einem Kompositum phantastische Vorstellungen zu entwickeln, noch versperrt:
Obwohl der Erstlingsroman um eine Hautfi gur aufgebaut ist, die im Zustand
übermächtiger Angst die Dinge anders wahrnehmen sollte als es der nüchterne
Stil des Berichts zum Ausdruck bringt, wird nicht konsequent aus ihrer Pers-
————————
20) Friedmar Apel: Schreiben, Trennen. Zur Poetik des eigensinnigen Blicks bei Herta
Müller. In: Die erfundene Wahrnehmung (wie Anm. 5), S. 22–31, hier S. 22. Als eigensinnig
beschreibt Apel die unkonventionelle Art des Schauens bei Müller, die in der tiefen Existenz-
angst des jeweiligen Erzählers begründet liegt, und alles aus dem Zusammenhang reißt, zerlegt
und seziert. Vgl. auch Friedmar Apel: Wahrheit und Eigensinn. Herta Müllers Poetik der einen
Welt. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.) Text und Kritik. H. 155: Herta Müller. München 2002,
S. 39–48.
21) In den Bild-Collagen Müllers fi nden sich oft Chimären. So wird zum Beispiel einem
Huhn ein Kamm quasi in den Leib implantiert. Vgl. Herta Müller: Die blassen Herren mit
den Mokatassen. München: Hanser 2005, o. S. [S. 83].
142 Hiroshi YAMAMOTO
pektive, sondern in der auktorialen Er-Form erzählt, was auch mitunter kritisiert
wurde.22) Im Vergleich dazu ist der Ich-Erzähler im Roman Atemschaukel imstande,
am Beispiel des anatomischen Fachbegriffs „Gaumensegel“, der den segelför-
migen weichen Teil im hinteren Gaumen bezeichnet, demonstrativ den Schnitt
zwischen den beiden Komponenten eines Kompositums hervorzuheben. Der
erste Teil bezieht sich auf das Essen und das Sprechen. Durch die Demontage
bringt das Kompositum in der Fluchtphantasie des Lagerhäftlings jeden Schluck-
und Sprechakt mit dem Segelschiff in Beziehung, mit dem er auf dem Meer, das
seinerseits mit dem blauen Himmel gleichgesetzt wird, nach Hause fährt. Das
versteckte „Segel“ im Gaumen ist wiederum durch die Ähnlichkeit in der Gestalt
und im Wortklang deutlich mit dem „Engel“ mit aufgespannten Flügeln ver-
bunden. Auch im Roman Der Fuchs war damals schon der Jäger lässt sich diese Art
spielerischen Umgangs mit Silben beobachten, wenn sie auch im Vergleich zum
späteren Roman nur selten eingesetzt wird: „An der Windschutzscheibe schau-
kelt ein Kinderschuh. Der Scheinwerfer biegt sein Licht auf den Boden“ (F 242).
Die fünfmalige Wiederholung der gleichen Silbe „sch-“ und die lautliche Paral-
lele zwischen „Wind-“ und „Kind-“, zwischen „-scheibe“ und „Schein-“, zwischen
„-schutz-“ und „-schuh“ stellen jenseits der Bedeutungsebene Querverbindungen
her, in denen sich jede Silbe vom Wort befreit und damit Risse im Wort sicht-
bar macht.
Im Übrigen erschöpft sich die Kontamination keineswegs im ästhetischem
Wortspiel, sondern ihr steht insofern ein sozialkritisches Potenzial zur Verfügung,
als sie im Stande ist, dem diktatorischen und rassistischen Reinheitswahn Wider-
stand zu leisten. Das zeigt sich mitunter bei der folgenden Parabel aus der
Erzählung Dorfchronik: Im Dorf kreuzen sich „seit Jahrzehnten“ Hunde und
Katzen so oft, dass man sie nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Die
„naturwidrige“ Kreuzung unter den Haustieren lässt sich wohl als eine Karikatur
darauf verstehen, dass sich seit langem die „Inzucht“ unter den wenigen Fami-
lien in der kleinen isolierten volksdeutschen Dorfgesellschaft fortsetzt. Und
gerade der öffentliche Diskurs des Dorfs, der die „Inzucht“ mit der Bezeichnung
„paaren“ zu verharmlosen versucht, tabuisiert gänzlich die Ehe mit den als
Barbaren bezeichneten Rumänen als „die reinste Schande“ (N 16). Wenn sich
die Katzen, so die Parabel, nicht wie üblich mit den Hunden, sondern mit den
„Hasen“ kreuzen (N 127), dann beschreibt dies bildhaft einen Verstoß gegen
das gesellschaftliche Gesetz der „Blutreinheit“ und Sauberkeit, gegen den kate-
gorischen Unterschied zwischen den nicht für den Verzehr gehaltenen Haustie-
ren und dem essbaren Vieh. Deswegen entscheidet sich der Dorfälteste, also der
————————
22) von Matt, Peter: Diktatur und Dichtung. Herta Müllers Gedanken über Fuchs und
Jäger. FAZ 29. 02. 1992.
143„Überall, wo ich bin, hat alles, was sich da befi ndet, den Riß.“
höchste in der dörfl ichen Hierarchie, seine unzüchtige Häsin einfach zu töten,
„da er das Fleisch nicht essen wollte, weil sie seit Jahren nur noch Katzen im
Bauch gehabt hatte“ (N 128).
Damit wird die politische Dimension des Stilprinzips Kontamination angedeutet,
das einerseits durch das literarische Verfahren des „eigensinnigen Blicks“23) die
Todesangst der Menschen in der totalitären Dorfgemeinschaft und im Diktatur-
staat zum Ausdruck bringt. Andererseits wird der Reinlichkeits- und Reinheits-
wahn durch die Verwischung der Grenze zwischen den Menschen, den Tieren
und den Dingen, durch die Amalgamierung des Disparaten unterlaufen.
4
Schon in den Buchtiteln Herta Müllers, die im Grunde durch die Verbindung
von gänzlich Disparatem gekennzeichnet sind, wird das ästhetische Prinzip der
Kontamination sehr deutlich ausgedrückt. Oft werden die Menschen verkleinert
und mit Tieren und Dingen gleichgesetzt, wie in Der Vater telefoniert mit den Fliegen, Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt, Mein Vater war ein Apfelkern und
Der Fuchs war damals schon der Jäger. Bei den letzteren fällt auch auf, dass die
Autorin für den Titel sehr gern Sätze mit einer Kopula verwendet. Während im
Titel des Interviewbandes Mein Vater war ein Apfelkern ein inhaltlich ungewohn-
ter, aber formal gewöhnlicher Defi nitionssatz zum Einsatz kommt, wirken die
Kopula-Sätze in den Titeln Der Fuchs war damals schon der Jäger sowie Eine warme Kartoffel ist ein warmes Bett etwas anders. Indem die Satzkomponenten vor und
hinter der Kopula mit dem gleichen Artikel („der“ / „ein“) versehen sind,
genießen sie den gleichen Stellenwert, so dass sie theoretisch miteinander aus-
tauschbar sind, wie in der mathematischen Gleichung aus dem Roman Atem-
schaukel „1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot” (A 263) die beiden Komponenten
vor und nach dem Gleichheitszeichen vollständig gleichgesetzt werden. Wenn
die obengenannten Buchtitel in Satzform entweder Kontrahenten (Täter / Opfer)
oder disparate Begriffe zusammenfügen, die zu verschiedenen Kategorien (Nah-
rungsmittel / Möbel) gehören, so klingen sie um so enigmatischer.
Die verfremdende Gleichsetzung von Heterogenem treibt die Autorin dann in
prägnanten Einworttiteln auf die Spitze: Die Neologismen Herztier und Atem-schaukel stellen beide Wortkomponenten ohne Bindewort und ohne Zeitangabe
unmittelbar nebeneinander, so dass sie sich verschiedenen Interpretationsmög-
lichkeiten öffnen. Es handelt sich sogar beim Titelwort „Herztier“ um ein
echtes Kofferwort, was allerdings für die Leser ohne rumänische Sprachkenntnisse
nicht deutlich wird, denn das Wort stellt eigentlich eine Anlehnung an das
rumänische Wortspiel „inimal“ dar, die genuine Kontaminationsform, in der „die
————————
23) Friedmar Apel: Schreiben, Trennen (wie Anm. 20), S. 22.
144 Hiroshi YAMAMOTO
beiden rumänischen Substantive animal (Tier) und inima (Herz) ineinander
schmelzen“.24) Das Wort „inimal“ kann, wie bei der Doppelbelichtung eines
Fotos, je nach Blickwinkel ständig eine andere Gestalt annehmen. Dieser Kipp-
charakter bleibt an der deutschen Komposition „Herztier“ gleichsam erhalten,
denn das „Herztier“, das im Kontext des Romans in der Schwebe zwischen dem
fremden Tier und dem Herzen verharrt und so niemals eindeutig paraphrasiert
werden kann, entgleitet im doppelten Sinn dem Eingriff der menschlichen Ver-
nunft.
Insbesondere im Roman Atemschaukel gelangen zahlreiche Neologismen zum
Einsatz. Zwar können die Komposita mit einem Genitivattribut wie „Schnee-
verrat“ (A 18)25) und mit einem Präpositionalattribut wie „Viehwaggonblues“ (A
19), um nur zwei Beispiele zu nennen, ohne große Mühe umformuliert werden,
etwa als „Verrat des Schnees“ oder „Blues im bzw. über den Viehwaggon“. Aber
wenn der Protagonist des Romans, Leo Auberg, seine Lieblingsschaufel im Lager
nach ihrem herzförmigen Blatt „Herzschaufel“ (A 82) nennt, weist dieser Neo-
logismus viele Facetten auf. Die erste Komponente, „Herz“, muss wie im Wort
„Herzbruder“ ebenfalls im Sinn einer großen Anhänglichkeit und Vertrautheit
verstanden werden, insofern Leo die Schaufel personifi ziert, die „wie zwei Köpfe
nebeneinander“ „einen langen Hals“ (A 82) hat. Die Schwerstarbeit des Kohlen-
abladens gerät mit der „Herzschaufel“ zu einem zugleich fast erotisch-intimen
und subtil-künstlerischen Tanz, insbesondere, wenn man die Homosexualität
Leos mitberücksichtigt:
Kohleabladen mit der Herzschaufel ist nämlich anders als Brennziegelauf-
laden. Beim Ziegelaufl aden hat man nur seine Hände, es geht um die
Logistik. Aber beim Kohleabladen macht das Werkzeug, die Herzschaufel,
die Logistik zur Artistik. Kohleabladen das ist vornehmster Sport, wie kaum
das Reiten, kaum das Kunstspringen, kaum das elegante Tennis. Wie Eis-
kunstlauf. Ich und die Schaufel sind ein Paarlauf, könnte man sagen. Wer
einmal seine Herzschaufel gehabt hat, der wird von ihr mitgerissen. (A 82
f.)
Ferner wird die „Herzschaufel“ durch die Parallelität in der körperlichen Hin-
und-Her-Bewegung und durch die akustische Ähnlichkeit mit dem Titel „Atem-
schaukel“ eng in Beziehung gebracht, so dass die beiden sich einander schließ-
lich angleichen. Die „Herzschaufel“ verwandelt sich auf diese Weise wörtlich in
————————
24) Grazziella Predoiu: Faszination und Provokation bei Herta Müller. Frankfurt a. M.:
Peter Lang 2001, S. 184.
25) Herta Müller: Atemschaukel. München: Hanser 2009. Hier und im Folgenden wird
der Text unter der Sigle A zitiert.
145„Überall, wo ich bin, hat alles, was sich da befi ndet, den Riß.“
eine „Herzschaukel“: „Ich halte die Balance, die Herzschaufel wird zur Schaukel
in meiner Hand, wie die Atemschaukel in der Brust“ (A 82). Wegen der so
vielfaltigen Bezugnahmen ist das Kompositum „Herzschaufel“ viel schwieriger
zuzuordnen als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Allerdings kann man erst bei den Komposita „Atemschaukel“ und „Hungeren-
gel“, den beiden zentralen Stichworten des Romans, von einer prinzipiellen
Unmöglichkeit sprechen diese umzuformulieren, weil es sich hier um Kopula-
tivbildungen handelt, deren Komponenten laut Duden, wenn ihre Reihenfolge
nur theoretisch vertauschbar ist, „gleich geordnet“ sind. Beispiele dazu fi nden
sich im Deutschen allerdings sehr „eingeschränkt“, etwa bei „Gottkönig“,
„Strumpfhose“ und „Ofenkamin“.26) Darüber hinaus erfährt in unserem Fall jede
Komponente durch die Kopplung der Disparaten eine Metamorphose, insofern
die beiden Bestandteile der Zusammensetzung, anders als üblich, nicht „der
gleichen Bezeichnungsklasse angehören“.27) Ähnlich wie in der christlichen
Theologie der Transsubstantiation, nach der Brot und Wein keine bloßen Meta-
phern, sondern Körper und Blut Christi selbst sind, hat der Hunger hier die
imaginierte Gestalt des Engels angenommen. Der Atem ist auch bei der Zwangs-
arbeit im Lager nicht mehr von der Bewegung des Schaukelns zu trennen. Wie
auf der Kippfi gur je nach Blickwinkel mal eine Ente mal ein Hase erscheint,
zeigen die kopulativen Komposita im Roman jedes Mal ein anderes Gesicht.
Die Funktion dieser Komposita liegt wohl im Widerstand gegenüber der Beschlag-
nahme der Sprache durch die Lagerverwaltung, um wenigstens im Geist einen
Freiraum zu schaffen. Der Erzähler Leo fühlt sich etwa von den merkwürdigen
Homophonen gestört, die ihm gerade das Gegenteil bedeuten, und versucht, der
essbaren und angesichts des großen Mangels an Nahrungsmitteln kostbaren
Pfl anze „Melde“ von der verhassten morgendlichen und abendlichen „Meldung“
im Lagerhof abzugrenzen und die Heilkraft der ersteren niemals zu schädigen,
indem er den Neologismus „Appellkraut“ aus dem lexikalischen Wort „Melde-
kraut“ herleitet, um dessen tröstende und ermutigende Kraft zu bewahren:
Frühjahr im Lager, das hieß Meldekrautkochen für uns Meldegänger über
die Schutthalden. Der Name MELDEKRAUT ist ein starkes Stück und
besagt überhaupt nichts. MELDE war für uns ein Wort ohne Beiklang, ein
Wort, das uns in Ruhe ließ. Es hieß ja nicht MELDE DICH, es war kein
Appellkraut, sondern ein Wegrandwort. Auf jeden Fall war es ein Nach-
abendappellwort — ein Nachappellkraut, keinesfalls ein Appellkraut. Oft
wartete man ungeduldig mit dem Meldekrautkochen, weil der Zählappell ————————
26) Duden: Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neubearb. u. erw.
Aufl age. Hrsg. u. bearbeitet v. Günther Drosdowski. Mannheim u.a. 1984, S. 481.
27) Ebd.
146 Hiroshi YAMAMOTO
noch bevorstand und endlos dauerte, weil nichts stimmte. (A 26).
Es ist dabei nicht auszuschließen, dass hier Leo, wohl im Bewusstsein, dass die
dialektale Bezeichnung „Appel“ im mitteldeutschen Sprachraum für Apfel steht,
mithilfe von Sprachspielen versucht, wenigstens in der Imagination das eigentlich
bittere „Meldekraut“ in ein süßes „Apfelkraut“ zu verwandeln. Auch die schwach-
sinnige Kathi, die dank der Narrenfreiheit fast aller Pfl ichten entledigt ist, und
so nicht nur außerhalb der Lagerordnung steht, sondern auch die gültigen Ver-
fahrens- und Sprachregeln unbewusst verrücken kann, vernimmt durch das
Verhören im Wort „Appell“ nur noch dessen Gegenwort „Apfel“, das an das
Essen im menschenwürdigen Leben außerhalb des Lagers erinnert:
Zum Appell sagte sie APFEL. Wenn ein Glöckchen an den Koksbatterien
bimmelte, meinte sie, in der Kirche fängt die Messe an. Sie musste sich die
Täuschung gar nicht ausdenken, weil ihr Kopf gar nicht hier war. (A 104)
Nachdem Leo selber auch vergeblich versucht hatte, sich das Lager, in dem die
deportierten Rumäniendeutschen aus verschieden Gegenden unter Zwang zusam-
menleben mussten, als Hotel vorzustellen, um sich „gegen Überdruss“ (A 48)
zu verwehren, musste er schließlich zur pessimistischen Erkenntnis kommen:
[I]ch kam aus der Tag- oder Nachtschicht und spielte im Kopf Hotel.
Manche Tage musste ich in mich hineinlachen. Manche Tage brach das
HOTEL krass in sich, also in mir, zusammen, und mir kamen die Tränen.
Ich wollte mich aufrichten, aber ich kannte mich nicht mehr. / Das ver-
fl uchte Wort HOTEL. Wir wohnten alle fünf Jahre ganz dicht daneben
— im APPELL (A 48).
Dabei liegt die Pointe darin, dass die beiden Wörter, die auf der semantischen
Ebene nicht zu vereinigen sind, in der Art des lyrischen Reims miteinander
verknüpft werden — wie beim Falschverstehen durch die geistig beeinträchtigte
Kathi. Wenn man berücksichtigt, dass in den oben genannten beiden Passagen
das Wort Appell mal mit Apfel, mal mit Hotel verwechselt wird, so wird im
Romantext anscheinend das verhasste Wort „Appell“ als eine genuine Konta-
mination aus den erwünschten Wörtern „Apfel“ und „Hotel“ präsentiert. Die
imaginierte Wortbildung und -kreuzung kann selbst den Appell, das zentrale
Instrument der Lagerverwaltung zur Kontrolle der Gefangenen, zersetzen und
entstellen, ja jeden damit verbundenen Erinnerungsträger völlig aufl ösen, wenn
auch dieses Verfahren unter den gegebenen Umständen nur eine sehr kurzfris-
tige Entlastung darstellt.
Im Roman gibt es auch eine humoristische Art und Weise, die Diskurse der
Macht zu unterlaufen: Als ein russischer Offi zier auf dem Appellplatz eine Rede
147„Überall, wo ich bin, hat alles, was sich da befi ndet, den Riß.“
auf Deutsch hält, passiert ihm eine Fehlübertragung aus dem Russischen, weil
er das „y“ aus dem Wort „physisch“ nach den kyrillischen Aussprachregeln wie
„u“ ausspricht. Das so entstandene Adjektiv „fusisch“, das gleichsam eine Kon-
taminationsform aus dem Adjektiv „physisch“ und dem Substantiv „Fuß“ darstellt,
macht sich über die militärisch-ideologische Ansprache lustig: „Durch die fusische
Kultur erblüht die Sowjetunion in der Kraft der kommunistischen Partei und
im Glück des Volkes und des Friedens“ (A 54). Die Verschiebung eines Pho-
nems, selbst die tippfehlerartige Verwechslung einer einzigen Silbe, macht es
wohl möglich, kleine Risse in der sonst nicht differenzierbaren glatten Oberfl ä-
che der Diskurse der Machthaber vernehmbar zu machen und zu vergrößern,
um die Ordnung im Lager aus den Fugen zu bringen, auf dass sie vielleicht eines
Tages gänzlich zusammensinke.
Wenn Müller im Roman Atemschaukel mehr Komposita als bisher in Gebrauch
genommen hat, so spielt wohl der Einfl uss des ehemals selbst deportierten
Dichters Oskar Pastior eine entscheidende Rolle: Mit ihm hatte die Autorin
beabsichtigt, „das Buch gemeinsam zu schreiben“ (A 299), wozu es letztlich
nicht mehr kam, da Pastior 2006 verstarb. Als die Autorin im Essay „Gelber
Mais und keine Zeit“ die Umstände beschrieben hat, unter denen der Roman
entstanden war, hat sie zugegeben, dass ihm die Urheberschaft einiger „geraffter“
Ausdrücke im Roman wie „Nullpunkt der Existenz“ und „1 Schaufelhub = 1
Gramm Brot” zukommt, dass sie zusammen mit ihm nicht nur Komposita wie
„HUNGERENGEL“, „ERDHUNDE“ und „HERZSCHAUKEL“ erfunden
hat, sondern dass er auch immer wieder den Fachbegriffen, etwa den Pfl anzna-
men „Seidelbast“ oder „Lavendel“, einen wortspielerischen Beiklang gegeben
hat.28) Durch das anagrammatische Verfahren wird aus dem Wort „Seidelbast“
aus dem im Roman zitierten Gedicht Hesses „der seidene Sebastian“.29) Auch
der Pfl anzenname „Lavendel“ wird wie das Wort „Appell“ im Roman gerade
als eine Kontamination verstanden, die in sich „Lover“ und „Wendel“ vereinigt.30)
Wenn Pastior in seinem Buch Mein Chlebnikov (2003), so Felix Phillip Ingold im
Nachwort, nicht einfach den russischen Futuristen korrekt zu „übersetzen“,
sondern ihn in der deutschen Sprache fortzuschreiben versucht, so berücksich-
tigt er einerseits „die lautliche, morphologische und syntaktische Eigengesetz-
lichkeit der Herkunftssprache“, andererseits Chlebnikovs „Methode einer trans-
mentalen Wortkunst“31) und „Verfahren der Wortneubildung durch ————————
28) Vgl. Herta Müller: Gelber Mais und keine Zeit, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text
+ Kritik. H. 186: Oskar Pastior. München 2010, S. 15–26, hier S. 18.
29) Ebd., S. 19.
30) Ebd., S. 20.
31) Felix Philipp Ingold: Paßt ins Ohr. Ein Wort zu Pastiors Chlevnikov, in: Oskar Pas-
tior: Mein Chlebnikov. Basel: Edition Urs Engler 2003, S. 106–108, hier S. 106.
148 Hiroshi YAMAMOTO
Kontamination oder Verschiebung sprachlicher Elementarteile“32). Es ist gerade
diese Form, in der Pastior mit Müller auf vielfältige Weise im Rahmen des
Romanprojekts neue Wörter gebildet und alte Wörter wiederbelebt hat. Herta
Müller versucht ebenfalls mit ihrer „Riß“-Poetik gerade an diese avantgardistische
Literaturtradition anzuschließen, deren Wortkombinationsmanier auf einen
gemeinsamen Nenner zu bringen ist: „die Neukonstellation von bereits media-
lisiertem Material (Text, Tonband, Fotos usw.) unter Mitwirkung des Zufalls“.33)
Ihr ist gleichwohl ebenso wie Pastior dieses „Aleatorische, Zufällige“ „vom
Grundsatz her fremd“34), das sowohl in der historischen Avantgarde, die Gedichte
„nach dem Prinzip einer Lotterie“ herzustellen versuchte und eine „poetische
Random-strategie [sic]“35) anwendete, als auch im Pop-Verfahren Cut-Up eines
William S. Burroughs, das darin besteht, „Textseiten in 4 Teile zu zerschneiden
und die Teile neu zu arrangieren“,36) eine entscheidende Rolle gespielt hat und
spielt. Selbst die Wort-Bild-Collagen Müllers, die den grammatischen und syn-
taktischen Regeln im Grunde nicht zuwider laufen, grenzen sich strikt von der
dadaistischen Unsinnspoesie und von jeder bloßen Spielerei ab, die durch Zufalls-
schnitte generiert wird. Wenn der genuine Lyriker Pastior die Zufälligkeit und
Willkürlichkeit durch den „Formzwang“37) der „regelgeleiteten Kunst der [ . . . ]
OULIPO“38) vermeidet, so hat Herta Müller, deren Werk überwiegend im Bereich
der Prosa angesiedelt ist, keineswegs vor, die erzählerische Chronologie zu zer-
stören oder zu zersetzen, sondern sie vielmehr für ihre dichterische Arbeit
vorauszusetzen, um allerdings nur die Risse und Schnitte in der sukzessiv-line-
aren Erzählanordnung spürbar und vernehmbar zu machen. Dabei verwendet
sie ein Verfahren der syntaktischen Kontamination, wie es Pastior bereits in
seiner früheren Schrift Berliner Kontamination (1978)39) probiert hatte, indem er
darin Kleists Baxer-Anekdote mit dem Gedicht Gottfried Benns Am Brückenwehr nicht nur auf der Ebene der Wörter, sondern auch auf der syntaktischen Ebene
verschmelzen ließ, so dass er den Horizont des Kontaminationsverfahrens
————————
32) Ebd., S. 108.
33) Johannes Ullmaier: Cut Up. Über ein Gegenrinnsal unterhalb des Popstroms, in: Heinz
Ludwig Arnold und Jörgen Schäfer (Hrsg.): Text + Kritik. Sonderband: Pop-Literatur. München
2003, S. 139–148, hier S. 137.
34) Norbert Otto Eke: Oskar Pastior, in: Herta Müller Handbuch (wie Anm. 1), S. 145–
151, hier S. 146.
35) Carl Weissner: Das Anti-Environment der cut-up Autoren, in: ders. (Hrsg.): Cut UP.
Der sezierte Bildschirm der Worte. Darmstadt: Joseph Melzer Verlag 1969, S. 7–16, hier S. 7.
36) Ebd., S. 9.
37) Norbert Otto Eke: Oskar Pastior (wie Anm. 34) S. 145.
38) Ebd., S. 146.
39) Oskar Pastior: Berliner Kontamination, in: ders: Ein Tangopoem und andere Texte.
Berlin: Literarisches Colloquium Berlin / Berliner Künstlerprogramm des DAAD 1978, S. 23–26.
149„Überall, wo ich bin, hat alles, was sich da befi ndet, den Riß.“
erweiterte. Sein Verfahren erinnert an die fast mathematische Methode der
Oulipo-Gruppe, „in die lautliche, grammatikalische, syntaktische oder semantische
Substanz eines Textes“ einzugreifen, „um durch Permutationen seine Potenziale
zu erforschen“.40)
5Das lyrische Verfahren der Verkoppelung von Wörtern hat die Prosaistin Mül-
ler eher auf der syntaktischen Ebene angewandt.41) Der parataktische Satzbau,
der „auf die Über- und Unterordnung von Satzgliedern verzichtet“,42) fi ndet eine
sehr intensive Verwendung insbesondere in den hermetischen frühen Prosawer-
ken Niederungen (1982/84), Drückender Tango (1984) und Barfüßiger Februar (1987). Die dreiseitige Kurzprosa Die Stromuhr stellt hierfür wohl einen Extremfall dar:
Unter den frühen Prosastücken, in denen die Autorin mannigfaltige Schreibver-
fahren ausprobiert, gehört dieser Text mit den anderen wie Kalte Bügeleisen, In einem tiefen Sommer und Das schwäbische Bad zur Textgruppe, die durch äußerste
Lakonie, Verzicht auf den „Entwurf irgendeines Handlungszusammenhangs“43)
und „Wiederholungen in allen möglichen textlichen Erscheinungsformen“44)
gekennzeichnet ist. In der folgenden Passage fehlt es nicht nur gänzlich an
Neben- und Relativsätzen, sondern auch an Konjunktionen, die zwischen den
Sätzen irgendeine logische Verbindung herstellen würden.
Die Stromuhr ist hoch über meinem Kopf. Sie ist schwarz. Sie hat eine
weiße Zunge, die dreht sich und singt. / Vor der Stromuhr steht ein Mann
auf einem Stuhl. Er schaut der Stromuhr in den Mund. Der Mann reißt
eine weiße Schleife aus einem Bündel Papier. / Die Mutter geht barfuß
übers heiße Pfl aster. Die Mutter kommt. Ich höre ihre Haut. Die Steine
glänzen wie Wasser in der Sonne. Die Buchten der Weinreben sind Schat-
ten auf dem Wasser, sind dunkles Wasser, sind Wirbel. / Die Mutter sagt
mir was ins Ohr. Ich lauf ins Zimmer. / Mein Sparschwein ist kalt und
rasselt. Mein Sparschwein hat ein vierblättriges Kleeblatt im Mund. / Mut-
ters Finger ist krumm. Ihr Gelenk ist grau. Ihre Haut ist fl eißig wie meine
Zunge. Der Spalt ist eng. In meinem Sparschwein schimmern die Münzen,
————————
40) Heiner Boehncke: Oulipo, in: Hubert van den Berg / Walter Fähnders (Hrsg.): Metz-
ler Lexikon Avantgarde. Stuttgart / Weimar: Metzler 2009, S. 247–248, hier S. 247.
41) Ralph Köhnen: Der autofi ktionale Impuls, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text +
Kritik. H. 155: Herta Müller. S. 18–29, hier S. 27.
42) Ebd., S. 25.
43) Julia Müller: Frühe Prosa, in: Herta Müller Handbuch (wie Anm. 1), S. 14–24, hier
S. 22.
44) Ebd., S. 23.
150 Hiroshi YAMAMOTO
wie Vaters Schleim im Spucknapf schimmert. / Die Mutter sagt mir was
ins Ohr. (DT 25)
Die Passage besteht ausschließlich aus schlichten Hauptsätzen, die meistens mit
einem kopulativen Verb versehen sind und monoton klingen. Die Substantive,
die sich häufi g einfach wiederholen, statt durch Pronomen ersetzt zu werden,
und die zu oft wiederholten Interpunktionen isolieren die einzelnen Sätze von-
einander. Auf diese Weise wird es erschwert, die isolierten Sätze in eine logische
Ordnung zu bringen, so dass neben diesem auch andere ähnliche Texte als zu
hermetisch kritisiert wurden. Der Vorteil der Parataxe liegt aber darin, dass sich
verschiedene Fremdstoffe viel müheloser als mit der Hypotaxe in den Erzähl-
strom einfügen lassen, um in die narrative Vorwärtsbewegung der Handlung
Risse und Zäsuren einzubauen. Wie die „Öllachen“ auf dem Fabrikboden in der
Phantasie der Autorin „einen senkrecht in die Erde rutschen lässt“ (CR 18),45)
so können die Leser ebenfalls mit den unerwartet eingeschobenen befremdenden
Wortmaterialien im Erzählstrom, wenn nicht Schiffbruch, so doch einigen
Schwindel erleiden, sei es durch die wörtliche Übersetzung der rumänischen
Redewendungen, die „im Deutschen ungewöhnlich klingen“46), sei es durch
Wortfetzten im Lagerrussisch oder durch die variierten und verfremdeten All-
tagsphrasen. In unserem Beispiel hat Müller mit der Redensart „einen Schritt
hören“ einen kühnen neuen Satz gebildet: „Ich höre ihre Haut“. Dies ist zwar
kontextabhängig und insofern noch zu verstehen, als die Mutter im vorangegan-
genen Satz „barfuß“ kommt. Wenn der Text ihre „Haut“ jedoch zum zweiten
Mal erwähnt und sie als „fl eißig“ bezeichnet, fällt es nur schwer, diese Kombi-
nation aus Disparatem zu paraphrasieren.
Der Umstand, dass der Text aus einem eingeengten Wortschatz schlichter
Hauptsätze besteht, erweckt den Eindruck, als ob sich der Text zum großen
Teil aus Wiederholungen und Abwandlungen einiger begrenzter Sätze und Satz-
teile bzw. Wörter zusammensetzen würde. Durch dieses Verfahren, das teilweise
an die Permutation der Wiener Gruppe erinnert, erscheinen die Wörter und
Satzfetzen in der Anfangsszene, in der die „Weinreben“ „ihre Blätter bis zu den
Adern“ „buchten“ und „das nackte Huhn“ „gespreizte blaue Schenkel“ und
„einen krummen Hals“ hat, im Lauf der Geschichte durch Wort-Vertauschung
immer in einer neuen Kombination: „meine Finger“ sind nun „gespreizte blaue
————————
45) Herta Müller: Christina und ihre Attrappe oder Was (nicht) in den Akten der Securi-
tate steht. Göttingen: Wallstein 2009. Hier und im Folgenden wird der Text unter der Sigle
CR zitiert.
46) Angela Ellinger: Zur Bedeutung des rumänischen Hintergrunds in Herta Müllers
Roman Herztier, in: Temeswarer Beiträge zur Germanistik Bd. 11 (2014), S. 201–220, hier
S.206.
151„Überall, wo ich bin, hat alles, was sich da befi ndet, den Riß.“
Schenkel“, „Mutters Finger“ sind nun nicht nur „krumm“, sondern auch „aus-
gebuchtet bis zu den Adern“. Zum Schluss haben weder „das nackte Huhn“
noch „Mutters Finger“, sondern „kleine graue Vögel“ „gespreizte blaue Schen-
kel“ und „einen krummen Hals“ (DT 26). Wenn Pastior in Berliner Kontamination versuchte, „die syntaktischen Kraftlinien bei Kleist, die Kraftlinien aufgeladener
Worte bei Benn [ . . . ] experimentell zu kreuzen, also etwas in der Retorte
nachzubilden, das in unseren Köpfen immerfort stattfi ndet, ohne dass wir es
festhalten könnten“,47) so kommt es in der Prosa Müllers darauf an, die Alltags-
phrasen absichtlich mit lexikalischen Störfaktoren fehlzubesetzen und die gel-
tenden Sprachregeln zu unterlaufen. Dies geschieht etwa in der Kurzprosa Kalte Bügeleisen, in der bei viermaliger Variation einer kinderliedartigen Formel einmal
eine semantisch falsche Wortkombination vorkommt: „Der kleine graue Mann
führt einen faulen Rock, einen leeren Hund und zwei Flaschen Milch spazieren“
(BF 99)48). Hier ist auch auf die absurd wirkenden lexikalischen Inkongruenzen
zu verweisen, von denen es im Text Arbeitstag wimmelt:
Ich stehe auf, ziehe mein Kleid aus, lege es aufs Kissen, ziehe meinen
Pyjama an, gehe in die Küche, steige in die Badewanne, nehme das Hand-
tuch, wasche damit mein Gesicht, nehme den Kamm, trockne mich damit
ab, nehme die Zahnbürste, kämme mich damit, nehme den Badeschwamm,
putze mir damit die Zähne. Dann gehe ich ins Badezimmer, esse eine
Scheibe Tee und trinke eine Tasse Brot (N 173).
Schließlich wird in ihren Collage-Gedichten noch einmal gezeigt, dass selbst ganz
normale Wörter als kontaminierte Ausdrücke zur Schau gestellt werden können.
In ihren neuen Collagen werden durch Farbverwendung verschiedene Risse
mitten im Wort sichtbar gemacht. Aber bereits in den schwarzweißen Texten
aus Im Haarknoten wohnt eine Dame im Jahr 2000 fi ndet sich ein Paradebeispiel
dazu:
————————
47) Caroline Neubauer: Oskar Pastior zum 70. Geburtstag, in: Heinz Ludwig Arnold
(Hrsg.) Text + Kritik. H. 186: Oskar Pastior, (wie Anm, 28) S. 54–58, hier S. 57.
48) Herta Müller: Barfüßiger Februar. Berlin: Rotbuch 1987. Hier und im Folgenden wird
der Text unter der Sigle BF zitiert.
152 Hiroshi YAMAMOTO
immer gehen wir zu Tisch
Tageslicht riecht durch-s Gesicht
zwischen Lippen und B-este-ckbleibt ein blutig Himbeer-fl eck
hat der N-acht den H-of ge-macht
kriecht der Dreh-wu-rm durch die Uhr
beiß-t das Z-iff-erb-latt halb le-er
auße-r ihm iß-t niemand mehr49)
Die Worttrennung folgt hier nicht den orthografi schen Regeln. Zwar fallen die
lyrischen Techniken wie Binnenreime wie „-icht“, „-iecht“, „-icht“ in der zwei-
ten Zeile sowie „-acht“ in der fünften, oder der Endreim „-eck“ am Zeilenende
der vierten und fünften Zeile auf. Auch die letzten drei Zeilenenden erwecken
den Eindruck einer akustischen Ähnlichkeit. Der Stabreim „bl-“ in der vierten
und der „li-“ in der zweiten und dritten Zeile verbindet semantisch unabhängige
Wörter sehr eng miteinander. Neben diesem eher genregerechten Verfahren
erzielt dieses Gedicht einen visuellen Verfremdungseffekt. Denn gerade wegen
der linkshändigen Zusammensetzung der geschnittenen Buchstaben entstehen
nicht nur viele Lücken mitten im Wort, durch den Einsatz der auffälligen Druck-
type wird veranschaulicht, dass selbst das normale Wort „Besteck“ so etwas wie
eine Kontamination aus den Wörtern „Beste“ und „Ecke“ sein kann, während
das Wort „Nacht“ aus „Na“ oder „Nach“ und „Acht“ besteht.
Die Kontamination verwebt, wie erläutert, in vielfacher Art fremdartige und
fremdsprachige Elemente im Text, um eine konventionelle Kommunikation zu
stören. Mit diesem stilistischen Verfahren gelingt es Herta Müller, auf der inhalt-
lichen Ebene gegen den Reinheitswahn der Deutschnationalen in der rumäni-
endeutschen Gesellschaft und gegen den gleichgeschalteten Totalitarismus im
rumänischen Staat kritisch Stellung zu beziehen. Ihr künstlerischer Verdienst
liegt aber schließlich darin, gerade auf der ästhetischen Ebene jener totalitären
Sprachpraxis zu entkommen, die alle Risse zu verkitten und alles Fremde gleich-
zuschalten versucht, indem sie den Gegenentwurf einer Entgrenzung und Mehr-
deutigkeit vorlegt.
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49) Herta Müller: Im Haarknoten wohnt eine Dame. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
1994, o. S. [S. 14].