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»Der erste unserer Sprach menschen«
Neue Einsichten zum Werk von Martin Walser
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G.)„Wenn du nicht gewesen wärst, Sprache,
hätte es mich nicht gegeben.“ MARTIN WALSER
Schreiben ist für Martin Walser, den Formulie-rungskünstler und Jahrhundertschriftsteller vom Bodensee, Lebensart. Das Schönste, was es für ihn gibt.
Fünf Walserversteher, Walsererklärer, Walserbewunderer widmen sich wortgewaltig und profund dem Leben und Schaffen dieses „ersten unserer Sprachmenschen“. Und Walser-freund Arnold Stadler, ausdruckssüchtig wie Walser selbst, feiert seinen Wahlverwandten mit einer poetischen Liebeserklärung.
Eine einzigartige Sammlung eindrucksvoller Texte, die Martin Walser, den unvergleich-lichen Sprachvirtuosen, geistreich wie berüh-rend ehren.
Martin Walser in der Dreifaltigkeitskirche Konstanz, März 2017.
»Der erste unserer Sprach menschen«
Neue Einsichten zum Werk von Martin Walser
WOL F G A N G H E R L E S / S I E G M U N D KOPI T Z K I ( HG . )
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Inhalt
Wolfgang Herles und Siegmund KopitzkiVorwort
7
Bilderbogen
Kolloquium am 18. März 2017
in der Städtischen Galerie, Überlingen,
und im historischen Rathaussaal, Überlingen
23
Anton Philipp Knittel„Heimat ist immer das Verlorene.“
Skizzen einer produktiven Beziehung im Werk
Martin Walsers
34
Peter BlickleSiebzig Jahre einer schwierigen Liebe:
Martin Walser und Amerika
56
Andreas Meier„Zuflucht Sprache“.
Martin Walser zwischen Dichtung und Diskurs
78
Stefan Neuhaus„Wer kennt sich schon“.
Martin Walsers Aphorismen und Gedichte
100
Jörg Magenau„Nichts mehr wissen, nur noch sein.“
Über Kritik und Zustimmung bei Martin Walser
132
Arnold Stadler„Das Leben ist schön“.
Martin Walsers 90. Sonnenumrundung
156
Anhang 169
Anmerkungen 170
Die Herausgeber 186
Die Beiträger 187
Dank 190
7
Vorwort
Martin Walser ist nicht da. Der Patron fehlt und ist doch
anwesend. Geradezu magisch präsent. Walsergesättigter
kann die Atmosphäre nicht sein. Walser einatmen, Walser
ausatmen. Jeder Atemzug gilt einzig ihm. Jeder Satz, der
fällt, ist seinen Sätzen angefügt. Alle Worte kreisen allein
um seine Wortmächtigkeit. Alle Silben haben nur den ei-
nen Sinn, ihn zu umwehen, umweben, umwähnen. Sein
Schreiben zu fassen, wo es doch unfassbar scheint.
Martin Walser ist nicht da. Doch er hat das Nötige sei-
nem Vertreter überlassen. Der hat uns gleich empfangen
und durch die Festtage begleitet. Er ist ja mehr als bloß
sein Vertreter. Schon eher sein Alter Ego: der See. Aufge-
kratzt wirkt er. Gleich nach Ankunft ein Wetterumschwung,
dem man zusehen kann. Fortwährend wechselt der See die
Farbe. Von Flaschengrün bis Fliedergrau. Kein Zustand,
der länger als eine Sekunde dauern mag.
Wenn Jörg Magenau Recht hat, der beobachtet hat, dass
Walser dem Bodensee immer ähnlicher werde, je länger er
an seinen Ufern saß, dann muss auch die Umkehrung des
Satzes gelten. Der See wurde ihm immer ähnlicher, je län-
ger er, der See, in unserer Vorstellung Walsersee ist. Beide
ändern sich unentwegt und bleiben doch immer Walser
und/oder der See. Ein Gewässer, das fortwährend die Farbe,
die Struktur der Wellen wechselt und dabei unergründlich
bleibt. Eine aufgeraute Fläche, die Walser zurückwirft, so
wie sich in Martin Walsers Werk immer der See spiegelt.
Wo sonst also sollte der Kongress der Walserversteher,
Walsererklärer, Walserflüsterer, Walserbewunderer, Walser-
98
geschöpfe sich zusammenrotten, wenn nicht am Überlin-
ger See. Wo Walsers Alter Ego ihnen in allen Gemütsschat-
tierungen zufunkelt. Wo Heimatkunde und Walserkunde
ineinander verschwimmen. Wo Walser und sein See, der
große Gedankenverflüssiger, sie, also uns, in einen Zu-
stand versetzt, der sich dem des Sees zunehmend anver-
wandelt.
Eine Prozession zum Seeuferbesitzer hätte dazu ge-
passt. Eine Wallfahrt „Zum Hecht“ im Überlinger Ortsteil
Nußdorf. Dort wohnt, dort lebt er. Stattdessen: „Zum
Faulen Pelz“! Die Städtische Galerie mit freiem Seeblick.
Und am Nachmittag, einige Kretzerfilets und Viertele
später, im historischen Rathaussaal. Spätgotik mit Schnit-
zereien von Jakob Russ. Schöner geht’s nicht. Man stelle
sich vor, der Patron wäre im „Faulen Pelz“ oder im Ratssaal
in der ersten Reihe gesessen oder in der siebenten. Am bes-
ten inkognito. Ein Inkognito-Walser wäre bei aller sesshaf-
ten und seehaften Chamäleonartigkeit eine Unmöglichkeit.
Ein Ton genügte, und jeder hört ihn, den Walserton
überhaupt, so wie man den Schubertton oder Bruckner-
ton sofort hört. Also, falls er da gesessen wäre, unüberseh-
bar – was hätte der unvermeidliche Originalton mit uns
gemacht? Selbst, wenn er tonlos geblieben wäre.
Es ist gut so. Der Patron schwebt als Phänomen unter
dem dunklen Balkengewölbe. Bewegt die Gedanken, statt
sie durch Leibhaftigkeit erstarren zu lassen. Der Meister
gibt uns die Ehre seiner Abwesenheit, die nichts anderes
ist als gesteigerte Anwesenheit. Wir alle spüren es. Er ist
der See. Mal mild, mal mit gekrauster Stirn.
Natürlich weiß der Meister Bescheid. Seine Tochter ist
da. Käthe, seine Frau, fehlt auch. Aber Johanna wird be-
richten. Und schließlich wird sein Grußwort verlesen.
Martin Walser war nicht da. Es war vielleicht naiv zu glau-
ben, dass sich der Schriftsteller den Seemenschen, die ihn
einige Tage vor seinem 90. Geburtstag am 24. März 2017
in Überlingen feierten, selbst zeigt. Auch die fröhlichen
Messen, die ihm zuliebe in diesen trüben Tagen des Mär-
zes in Meersburg, Friedrichshafen und in seinem Geburts-
ort Wasserburg gesungen wurden, ließ der Patron aus.
Aber eigentlich wussten es alle. Walser erträgt viel,
aber keine öffentliche Geburtstagsfeier, Goldenes Buch
und so … Und schon gar nicht vor seiner Haustür. Er braucht’s
nicht mehr. Es gibt Zahlen, wie wir wissen, die ihm nicht
mehr über die Lippen kommen. Das Alter, sein Alter ge-
hört dazu.
Was nicht heißt, dass ihn das Thema kalt lässt. Auch er
ist nur ein Mensch. Je älter er werde, so klagt er, desto öfter
werde er nach seinem Verhältnis zum Alter gefragt. Die
Antworten fallen unterschiedlich aus. In den zentralen
Aussagen aber gleichen sie sich: Verdrängen hilft, Arbeit
hilft, die Schreibarbeit. Was sonst! „Als ich 30 Jahre alt
war, habe ich gesagt: ‚Was du mit 50 nicht geschrieben
hast, das muss nicht mehr geschrieben werden.‘ So bor-
niert war ich damals. Jetzt sage ich: Ich schreibe etwas,
was ich damals nicht hätte schreiben können …“
Das sagte er mit 85. Andere Schriftsteller werfen hin.
Können in diesem Alter, sofern sie es überhaupt erreicht
haben, kaum noch den eigenen Namen buchstabieren. Er
schreibt und publiziert. Auch mit 90 plus. Während dieses
Vorwort entsteht, erscheint sein Gesprächsbuch mit Jakob
Augstein. Das Leben wortwörtlich darf als nachgetragener
Liebesbeweis gelten; in dem Dialog mit seinem Sohn aus
der Beziehung mit der Übersetzerin Maria Carlsson er-
zählt Walser sein Leben neu oder besser: anders. Und aus
1110
einem einfachen Grund: Weil er nie eine Autobiografie
schreiben würde, weil „das zwingt zu einer mir unange-
nehmen Art der Lüge. Die Lüge im Roman ist wunderbar.
Sie ist eine Variation der Wahrheit.“
Schreiben ist für den Meister vom Bodensee Lebensart.
Das Schönste, was es für ihn gibt. Dabei spielt Alter keine
Rolle. Auch der Tod nicht. Fürchtet Euch nicht! Geistige
Vorbereitung nützt da im Übrigen wenig. Also drauflosle-
ben? Aber auch der Katholik Walser, der keine Altersfröm-
migkeit kennt, eher ein wachsendes Interesse an
Glaubensfragen, kann ohne Jenseitsvorstellung nicht sein.
Er fasst diese unser aller Hoffnung in den knienden Satz:
„Wir glauben mehr, als wir wissen …“ Gott sei Dank.
Auch sonst beschäftigen ihn die Themen „Alter“, „Glau-
ben“ und „Tod“. In den „Meßmer“-Bänden, in seiner Trilo-
gie der Selbst- und Welterkundung, in den Tagebüchern,
die er seit ewigen Zeiten führt, zuletzt wohl weniger obses-
siv und sowieso in den großen Romanen. Die letzten Veröf-
fentlichungen führen das endliche Thema mehr oder
weniger im Titel. So der von Iris Radisch in der Zeit als „wun-
derbar verwildert“ gepriesene Altersroman Ein sterbender Mann (2017), in dem Walser die tolldreistesten Männerfan-
tasien zelebriert; oder Statt etwas oder der letzte Rank (2017),
eine Autofiktion als Roman, der keiner mehr sein will, der
alles Handlungshafte hinter sich lässt und nur noch eines
ist: Sprache. Sprache, sein Terrain. Von Anfang an.
Walserianer wissen auch: kein Walser-Buch, in dem
nicht geliebt wird – selten allerdings, bis der Tod die lei-
denden Liebenden scheidet. Liebe ist ihm der Quell für
Poesie. Ein Abenteuer, das nie aufhört. Auch nicht mit
90 plus. Allerdings macht nun der Altersunterschied
zwischen Mann und Geliebter den kleinen Unterschied
aus. In dem schamlos offenen Roman Angstblüte (2006)
gerät ein alternder Investmentbanker in die Fänge jünge-
rer Frauen. Ein Traum? Ein Alptraum. „Angstblüte“ nennt
man das letzte, verzweifelte, oft prachtvolle Aufblühen
eines alten Baumes, bevor er stirbt. In Ein liebender Mann
(2010) wächst der Altersunterschied zwischen dem alten
Mann und dem Mädchen auf mehr als fünfzig Jahre an. In
dem Buch schlüpft Walser in die Haut des 74-jährigen Goe-
the, der – vergeblich, versteht sich – um den Teenager
Ulrike wirbt. Man liest das gerne. Aber mit gemischten
Gefühlen.
Im April 2018 soll ein neuer Roman folgen, Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte. Sein Inhalt, der spre-
chende Titel deutet es mehr als an, ein Gespräch über
Liebe: Tag und Nacht liegt er, Justus Mall, ein ehemaliger
Oberregierungsrat, im Streit mit den Umständen, zu de-
nen er es als Liebender hat kommen lassen: „Ist es viel-
leicht leichter, keine Frau zu haben als nur eine? Er
jedenfalls liebt zwei, und weil das nicht gehen kann, be-
ginnt er, einen Blog zu schreiben – auf der Suche nach
einem Menschen, der genau das ist, was ihm fehlt“, lesen
wir im Ankündigungstext seines Verlags Rowohlt. Er
bleibt sich treu. Kein Oder. Wenn Walsers Romane seine
Memoiren sind, wie so oft gesagt wird, dann geht die Wal-
ser-Saga weiter. Immer weiter. Wir dürfen Walser einat-
men. Walser ausatmen.
Doch damit nicht genug. Ebenfalls im April dieses Jah-
res kommen seine großen Interviews aus vierzig Jahren
auf den Buchmarkt. „Ich würde heute ungern sterben“, so
der listige Titel der Sammlung. Das ist – auch beim Wieder-
lesen – intellektuell brillant, weitsichtig und, wenig ver-
wunderlich, streitlustig.
1312
Walser, der sehr alte Walser, gratulierte Gerrit Bartels dem
90-Jährigen in einem hymnischen Wörterstrauß in der
Süddeutschen Zeitung, betreibe das Bücherschreiben zuneh-
mend als Privatprojekt, bei dem wir ihm zuschauen dür-
fen, aber bitte nicht mehr stören sollen … Da ist was dran.
Er darf Rücksicht verlangen, die ihm nicht immer gewährt
wurde. Das war mitunter selbstverschuldet. Lange Zeit
suchte er die Auseinandersetzung nicht nur in der Liebe,
sondern auch in der Politik – was ihn nicht zwangsläufig
zum politischen Schriftsteller macht. Ein Mensch allein
kann keinen Roman schreiben, die ganze Welt muss lie-
fern. Und sie liefert. Walser nimmt die Welt mit, wie er sie
sieht, wenn er schreibt. Er schreibt mit der Hand, weil er
den unmittelbaren stofflichen Kontakt braucht. Auch von
Anfang an.
Walsers Werk umspannt mehr als sechs Jahrzehnte.
Wer kann hierzulande mitbieten? Sein erster Roman Ehen in Philippsburg erschien 1957. Das kaum verschlüsselte Sit-
tenbild der Stuttgarter Society, das auch als dramatisierte
Fassung vorliegt, gilt dem Nachgeborenen Florian Illies als
„bestes Buch der jungen Bundesrepublik“. Gut so. Das Ro-
mandebüt darf als Auftakt verstanden werden für Walsers
„Kristlein“-Trilogie, bestehend aus den Bänden Halbzeit (1960), Das Einhorn (1966) und Der Sturz (1973). Die Trilogie,
benannt nach dem Helden der Romane, einem sympathi-
schen Ehe- und Berufsversager, brachte seinem Autor Kri-
tikerlob und Kritikertadel ein. Friedrich Sieburg, seinerzeit
Literarturchef der FAZ, vereinte beide Fronten: Er nannte
den Autor der Halbzeit einerseits „ein Genie der deutschen
Sprache“, andererseits mäkelte er: „Das Buch kommt nicht
recht vom Fleck, und warum das Buch überhaupt aufhört,
habe ich immer noch nicht begriffen.“
Es bringt nichts, über Sieburgs angebliche Begriffsstutzig-
keit zu spekulieren. Der junge Walser schreibt anders als
andere davor. Nach dem Kulturbruch „Drittes Reich“ ist
das nicht verwunderlich. Eher erwartbar. Er tritt als „Dif-
ferenzierungskünstler der Innenwelten“ auf und wird
über Nacht zum Sprecher des kollektiven Unbewussten,
notiert Magenau. Der junge Walser schreibt ungeschönt,
auch wenn er das Schöne aufs Schönste beschreibt. Dieser
Epiker des Alltags, den der Mangel interessiert, nicht die
falsche Pracht, schreibt nicht nur sprachkühn und „ohne
moralischen Zwischenfilter“; er schreibt auch Texte von
einer Virtuosität, die manchen Kritiker ratlos macht, be-
griffsstutzig.
Apropos Kritiker: Walsers Fehden mit Marcel Reich-
Ranicki sind legendär. Sie sorgten für Verwundungen –
auf beiden Seiten. Walsers Roman Tod eines Kritikers (2002),
in dessen Held André Ehrl-König viele Reich-Ranicki zu
erkennen glaubten, brachte ihm den Vorwurf des Antise-
mitismus ein. Absurd. Schon Walsers Sonntagsrede (1998)
bei der Verleihung des Friedenspreises hatten seine Kriti-
ker zum Anlass genommen, ihn in die braune Ecke zu stel-
len. Absurd noch mal. Es galt und gilt das 1979 geschriebene
Wort des Frankfurter Prozessbeobachters Walser: „Seit
Auschwitz ist noch kein Tag vergangen.“
Aber auch das gehört zu einem langen Schriftstellerle-
ben: Niederlagen und Verrisse einzustecken. Walser kaute
schwer daran. Volker Hage spricht im Spiegel von „Trauma“.
Nach dem Totalverriss seines Angestellten-Romans Jenseits der Liebe (1976) durch Reich-Ranicki fürchtete Walser um
seine materielle Existenz. Der Schriftsteller hatte Frau
und vier Töchter zu ernähren. Es ist die vielfach verfilmte
Novelle Ein fliehendes Pferd (1978), die Rettung bringt, die
1514
am Walser see angesiedelte Liebesgeschichte. Plötzlich war
der Seismograf der Bundesrepublik, das Sprachrohr der
Intellektuellen ein Bestseller-Autor. Mit den Einnahmen
konnte Walser sein Haus abzahlen.
Aber die Zeit – besser: das Alter – heilt Wunden. Im
Rank heißt es zum Tod von Reich-Ranicki versöhnlich: „Auf
einmal sehe ich, ich hätte mich nicht über ihn ärgern
müssen, weil seine temperamentsbedingte Art, auf mich
zu reagieren, immer genauso viel über ihn gesagt hat wie
über mich.“ Souverän. Ihm ist zum Umarmen keiner zu
schrecklich. Reich-Ranicki hätt’s gerne gelesen.
Aber das ist nicht alles, was auf den Meister einstürzte.
Walser war einst der Linksaußen unter den deutschen
Schriftstellern. Den Amerikanern verzieh er nicht den
Krieg in Vietnam. Diese Stürmerei kam nicht überall gut
an. Der Vietnam-Redner Walser wurde mitunter ausge-
sperrt. Als sich der nahezu am letzten Zipfel Deutschlands
lebende Provokateur mit der deutschen Teilung nicht ab-
finden wollte und das bekundete – „Wir dürfen, sage ich
vor Kühnheit zitternd, die BRD so wenig anerkennen wie
die DDR“ –, wurde er zum Nationalisten gestempelt. Jurek
Becker, der als Kind den Holocaust überlebt hatte, schrieb
eine flammende Entgegnung – „Gedächtnis verloren – Ver-
stand verloren“ –, mit der er allerdings unter sein Niveau
fiel. Der DDR-Dissident missbilligte hartnäckig – wie übri-
gens Günter Grass, sein gleichaltriger Ruhmesgenosse,
Walter Jens und andere Linksintellektuelle – die Forde-
rung nach Wiedervereinigung.
Becker & Co machten die Rechnung ohne den Wirt –
das Volk. Walser, der den empfundenen Trennungsschmerz
literarisch in der Novelle Dorle und Wolf (1987) verarbeitete,
sollte Recht erhalten. Aber darum ging’s ihm nicht. Ums
Rechthabenwollen. Ums Rechthabenmüssen. Walsers öf-
fentliche Wortmeldungen aus sechs Jahrzehnten liegen
gebündelt in dem Band Ewig aktuell. Aus gegebenem Anlass (2017) vor.
Martin Walser, um dieses Kapitel abzuschließen, ist ein
Jahrhundertschriftsteller. Kein anderer Schriftsteller hat
die jüngste deutsche Seelengeschichte so überzeugend in
Literatur verwandelt wie er. Der Erzähler Walser, „auf-
brausend und zweifelnd, verletzlich und tapfer“ (Volker
Hage), ist unser klassischer Autor schlechthin.
Ihn feiern – ein Muss. Das sagten sich die Menschen, die am
See leben. Ihn beim Friseur in der Stadt treffen, beim Gang
mit dem Hund (früher), nach einer Lesung, bei Isolde im
„Löwen“ in Frickingen-Altheim, beim Konzert im Münster
St. Nikolaus oder am Bahnhof in Friedrichs hafen. Walser
lebt mit ihnen, den Menschen an seinem See. Er spricht
ihre Sprache. Ihren alemannischen Dialekt, von dem der
Sprachmensch sagt, dass der Dialekt empfindlicher gegen
Unwahrhaftigkeit sei als die Schriftsprache.
Eine Woche vor Walsers 90. setzten die Walserspiele am
Vierländersee Bodensee ein, mit Buchvorstellungen, Film-
retrospektiven, szenischen und noch anderen Lesungen.
Ein großer Programmpunkt war die vielstimmige Hom-
mage im Überlinger Kursaal. Bruno Epple, Christof Hamann,
Gaby Hauptmann, Zsuzsanna Ghase, Peter Renz und Arnold
Stadler laudierten Walser bühnenreif. Der erkrankte
Hermann Kinder sandte eine Grußadresse …
Der andere, schon erwähnte Programmteil: Fünf Wal-
serversteher, Walsererklärer, Walserflüsterer, Walserbe-
wunderer und Walsergeschöpfe machten sich in einem
Kolloquium über das Werk des Patrons her.
1716
Den weitesten Weg hatte Peter Blickle zurückgelegt. Er
flog aus Amerika ein. Blickle ist Professor an der Michi gan-
University. Dennoch ist er ein Hiesiger geblieben. Der ge-
bürtige Oberschwabe ist vertraut mit Land und Leuten im
Allgemeinen und mit Walsers Kosmos im Besonderen, wie
ein anderer Kongressteilnehmer, Anton Philipp Knittel,
geboren in Meßkirch, aufgewachsen in Leibertingen. Der
zitierte Jörg Magenau, der erste, der eine ernstzuneh-
mende Walser-Biografie veröffentlichte, reiste aus Berlin
an. Das walserkundige Professorenpaar Stefan Neuhaus
aus Koblenz und Andreas Meier aus Wuppertal. Meier hat
seinem Walser schon an anderer Stelle gedient. Er ist wis-
senschaftlicher Herausgeber der 25-bändigen Gesamtaus-
gabe letzter Hand, die Heribert Tenschert, Büchernarr aus
Ramsen (Schweiz), seinem langjährigen Freund Walser
zum Geschenk machte. Welch eine Geste.
Eine Geste, Martin Walser nachgetragen, so will auch
diese Publikation verstanden werden. Sie enthält die Vor-
träge des Überlinger Kolloquiums. Ein Protokoll der Sitzun-
gen wurde nicht geführt. Das Buch ist allerdings mehr als
nur Ersatz. In den Band wurde zudem der luzide, an ande-
rer Stelle in gekürzter Fassung publizierte Geburtstagsgruß
von Arnold Stadler aufgenommen, dem sich der Titel dieser
Sammlung verdankt: „Der erste unserer Sprachmenschen“.
Dass der Patron neben den ganz großen auch den regiona-
len Dichtern beigestanden hat, ist bekannt. Die drei Dich-
terinnen Maria Beig, Maria Menz und Maria Müller-Gögler
werden meistens genannt. Aber auch Stadler steht auf die-
ser Liste. Gleich zweimal rühmte Walser den in Meßkirch
geborenen und in dem geliebten „Kuhdorf“ (A. Stadler) Rast
aufgewachsenen Empfindungspragmatiker im Spiegel. Über-
schrift: „Das ist ein Ton. Aufrufend, anrufend“.
Es sind Wahlverwandte. Stadler und Walser. Walser und
Stadler. Ausdruckssüchtige. Herzensmenschen im gegen-
seitigen Umgang. Dass nun der Sprachmensch Stadler
den Sprachmenschen Walser feiert, ist nur konsequent.
Beide Schriftsteller, deren Sätze bei ihren Lesern „Aha-
Detonationen“ auslösen, sind in eine Muttersprache hin-
eingeboren worden, die heute, wie Stadler notiert, „zum
Eingeborenenidiom geworden ist“. Und wenn der Patron
in Statt etwas oder Der letzte Rank schreibt: „Wenn du nicht
gewesen wärst, Sprache, hätte es mich nicht gegeben“, so
sehen wir in dieser Beschreibung auch Stadler inbegriffen.
Seine unverwechselbare Sprache, die Verknüpfung auto-
biografischer und historischer Perspektiven und der „Ernst“
seines Humors haben ihn zu einem der wichtigsten
deutschsprachigen Literaten werden lassen – so lautete
auch die Begründung für den Kleist-Preis.
Für Stadler, dem das Hochdeutsche die erste Fremd-
sprache war, wie er einmal lakonisch anmerkte, ist der
Formulierungskünstler Walser nicht nur der erste unserer
Sprachmenschen, sondern „unsere erste Sprachschmerz-
instanz“, die aus ihrer Erinnerung eine „schmerzreiche
Gegenwart“ macht. Für den an Heideggers Schriften ge-
schulten Stadler ist der „Schmerz der Grundriss des Seins“.
Und Antrieb seines Schreibens. Die „schmerzreiche Gegen-
wart“ findet er auch in Walsers Altersroman Statt etwas oder Der letzte Rank. „Rank: Das Wort aus der Muttersprache“,
so Stadler, „verweist ins Herz. Rank: eine Kurve ist nichts
dagegen.“
Wohl wahr. Bei einer Lesung des Patrons in der Dreifal-
tigkeitskirche in Konstanz, nur Tage vor seinem Geburts-
tag – das Foto auf dem Deckblatt dieses Buchs ist dort
entstanden – sieht er „Einen hinaufgehen, ganz allein, als
1918
der einsamste Mensch, den es in diesem Augenblick auf
der Welt gab und gibt …“. Dass einer, der auch als Diagnos-
tiker des Leidens und der Einsamkeit des modernen Indi-
viduums gilt, diese Phasen kennt, sie lebt, zumal im Alter,
wundert das? Dennoch liest Stadler in Walsers Werk „ein
großes Jasagen“. Der Romancier Stadler weiß: „Aus dem
Wort Nein entsteht kein Werk von diesem Format.“
Auch den Heimatkundler Walser hat Stadler, der seit
seiner Trilogie Ich war einmal (1989), Feuerland (1992) und
Mein Hund, meine Sau, mein Leben (1994) den schönen Ruf
eines Chronisten des oberschwäbischen „Fleckviehgaus“
weg hat, im fordernden Blick. Diesem weiten Feld wid-
mete sich Anton Philipp Knittel in seinem einfühlsamen
Vortrag. Er eröffnete damit den von Siegmund Kopitzki
initiierten und von Wolfgang Herles umsichtig geleiteten
Kongress im „Faulen Pelz“, der Städtischen Galerie von
Überlingen.
„‚Heimat ist immer das Verlorene.‘ Skizzen einer pro-
duktiven Beziehung im Werk Martin Walsers“ lautet der
Titel des vielfach ausgewiesenen Literaturwissenschaft-
lers. Knittel geht in seinem Beitrag drei Momenten nach,
die mit dem Themenkreis „Heimat“ im Werk des Nußdor-
fers verknüpft sind: Da ist zum Ersten Walsers bereits in
den 1960er-Jahren beginnende Auseinandersetzung mit
dem Themenkomplex „Heimat“ in den Essays und in eini-
gen Prosawerken. Da ist zum Zweiten Walsers engagierte
Patronage – nicht nur – aber besonders auch für hiesige
Autorinnen wie die drei genannten oberschwäbischen
Marien Beig, Menz und Müller- Gögler und Autoren wie
Arnold Stadler, Andreas Beck oder Bruno Epp l e. Und da ist
zum Dritten die bei Walser schon früh immer wieder mit-
schwingende und thematisierte metaphysische Dimen-
sion von Heimat – ein Zug, der manchem erst nach der
Novelle Mein Jenseits beziehungsweise dem Roman Muttersohn (wieder) deutlich geworden ist.
Ausgehend von Walsers erster Reise nach Amerika als
Einunddreißigjähriger im Jahr 1958, wo Literatur und
Liebe zusammenkamen, geht Peter Blickles Aufsatz Siebzig Jahre einer schwierigen Liebe: Martin Walser und Amerika vor-
wärts und rückwärts im Leben des Patrons. Er zeigt, wie
in jeder Lebensphase Walsers die Beziehung zu Amerika
eine zutiefst persönliche und zugleich zentrale Rolle
spielt. Eine Rolle im Übrigen, die immer auf die eine oder
andere Weise mit Liebe verbunden ist (an der Hand des
Großvaters, im Banne Karl Mays, in Friedrich Schillers
Philadelphia, in der Befreiung Adalbert Stifters im Gefan-
genenlager, in der Weltöffnung auf der Überfahrt, in den
Aufenthalten in den endlosen Wäldern, im Überwältigt-
werden vom Pazifik, im angesichts des Todes sehnsüchti-
gen Mann und im angesichts des Todes sinnenden Mann).
Blickles Aufsatz zeigt uns die sich über Jahrzehnte ent-
wickelnde und nicht immer einfache Beziehungsenge
zwischen Martin Walser und Amerika – offenkundig steht
es mit Übersetzungen nicht zum Besten; immerhin wurde
2016 Walsers Selbstporträt Ein springender Brunnen, zu-
gleich Zeit-, Heimat- und Liebesroman ins Amerikanische
übertragen. Er zeigt uns in zahlreichen Beispielen, wie
und weshalb Amerika nach dem Bodensee den wichtigs-
ten geografischen und metaphorischen Bezugspunkt im
Leben und Werk Walsers darstellt.
Den Nachmittag im historischen Ratssaal leitete
Andreas Meier ein. Wortgewaltig. Inhaltsschwer. Und
doch: verstehbar. So kann Wissenschaft auch sein. Versteh-
bar und mit Tiefgang. Unter der auf Martin Walsers Essay
2120
Ich vertraue. Querfeldein verweisenden Überschrift „Zuflucht
Sprache“ untersucht Meier, inwiefern für den Patron Spra-
che sowohl ein Individuationsmerkmal wie -mittel dar-
stellt. Als Resultat stellt sich die Erkenntnis ein, dass die
Poetizität literarischer Sprache zur Individualität persön-
licher Sprache korreliert und damit Kollisionen sowohl
einer individuellen Sprache wie der poetischen mit dem
öffentlichen Diskurs unvermeidbar sind, ja in der Kolli-
sion mit ihm gerade ihre höchste Charakteristik auf-
scheint. Sprache als das Medium, in welchem die Person
ihre eigene Geschichte erfährt, die erzählt, Erinnerungen
aufruft und verknüpft, trägt somit narrativ zur Identitäts-
findung bei und bedarf daher der literarischen Verteidi-
gung gegen die Zumutungen des alltäglichen Geschwätzes.
Stefan Neuhaus, der Meier folgte, stellte seinen Vortrag
unter die Fragestellung „Martin Walser als Lyriker, als
Aphoristiker“. Der Beitrag beleuchtet diese wenig be-
kannte Sparte seiner Produktion. In Walsers Lyrik und in
seinen Aphorismen werden die gleichen Themen verarbei-
tet, denen man auch in seinen Prosa- und Dramentexten
begegnet. Es sind die „Kleinbürger“, die ironisch und kri-
tisch, aber nicht ohne Verständnis gezeichnet werden,
denn Ironie ist ohne Selbstironie und Kritik oder Selbst-
kritik nicht denkbar, zumindest nicht in Walsers Werk.
Aphorismen ermöglichen eine sprachliche Verdichtung
und erzeugen eine besondere Prägnanz, wohl auch des-
halb hat Walser nicht nur selbst welche geschrieben, son-
dern auch solche aus der Literatur, die ihn besonders
beeindruckt haben, gesammelt und herausgegeben.
Für das schmale Gedichtwerk Walsers ist die seit Be-
ginn des Jahrhunderts weitgehend verbindliche Abwen-
dung vom Reim oder dessen spielerische, ironische Ver-
wendung kennzeichnend. „Statt Ideologien“ werden in der
Nachkriegs lyrik, auch bei Walser, „Bewusstseinsprozesse“
dargestellt (Heinz Piontek). Der gesteigerten „transzenden-
talen Obdachlosigkeit“ (Georg Lukács) durch existenzielle
Erfahrungen von Kontingenz begegnet Martin Walsers
aphoristisches und lyrisches Werk mit einer skrupulösen
Selbstbefragung und mit einem Spiel von möglichen Be-
deutungen, das großes intellektuelles Vergnügen bereitet.
Ein Missverständnis, so Jörg Magenau in seinem Refe-
rat „Nichts mehr wissen, nur noch sein.“ Über Kritik und Zustimmung bei Martin Walser, das Walser hartnäckig begleitet,
besteht darin, ihn für einen gesellschaftskritischen Autor
zu halten, für einen engagierten Intellektuellen gar, der
sich politisch einmischt und lautstark seine Meinung
sagt. Daran ist er selbst nicht ganz unschuldig, da er dem
Drang, sich öffentlich zu äußern, nur zu oft und freudig
nachgegeben hat – er selbst sieht sich in der Rolle des „pro-
vozierten Zeitgenossen“. Er möchte auch lieber nach sei-
nen Romanen beurteilt werden als nach seinen politi-
schen Auftritten.
Dabei ist ihm das Prinzip der Kritik von Anfang an frag-
würdig und die Pflicht zum Kritisch-sein-Müssen immer
verdächtig vorgekommen. Er misstraute der Kritik, weil er
in ihr eine Methode der Selbsterhöhung einerseits, ein
gesellschaftliches Ritual anderseits erkannte. Die „Kritik
der Kritik“ zieht sich als ein zentraler Strang durch das
ganze Werk hindurch und führt schließlich zur Feier der
Zustimmung oder von der Verneinung zur Bejahung als
Motor der Weltveränderung.
Sein Schreibansatz lautet seither: Die Dinge schöner
machen, als sie wirklich sind, sodass sie einen weißen
Schatten werfen. Die Literatur zwingt sie dazu, ihre je-
2322
Bilderbogen
Kolloquium am 18. März 2017 in der Städtischen Galerie, Überlingen, und im historischen Rathaussaal, Überlingen
Das Kolloquium fand statt im Rahmen der Gesamtveran-
staltung „Wer ein Jahr jünger ist, hat keine Ahnung“ – Hommage zum 90ten Geburtstag von Martin Walser
(16. bis 23. März 2017 in den Gemeinden Überlingen, Meers-
burg, Friedrichshafen und Wasserburg).
weils besten Möglichkeiten zu offenbaren. Das bedeutet,
den Dingen mit grundsätzlicher Zustimmung zu Leibe zu
rücken. Diesen Prozess zeichnet Magenau überzeugend
nach – vom Debütroman Ehen in Philippsburg bis zum
Alterswerk Statt etwas oder Der letzte Rank.
Zum Schluss: Unser Dank geht zuallererst an die fünf
Referenten Anton Philipp Knittel, Peter Blickle, Andreas
Meier, Stefan Neuhaus und Jörg Magenau, die den Wal-
ser-Kongress als Geschenk an Martin Walser verstanden
und mit Inhalt füllten. Zu Dank verpflichtet sind wir
Arnold Stadler, der für diese Publikation seinen Geburts-
tagsstrauß zur Verfügung stellte.
Bücher brauchen Leser, aber Sachbücher wie dieses
Sympathisanten. Die Herausgeber bedanken sich für ma-
terielle und ideelle Unterstützung bei Dr. Michael Brunner
(Kulturamt Überlingen), Oswald Burger (Forum Allmende),
Frank Hämmerle (Landratsamt Konstanz), Franz Hoben
(Stadt Friedrichshafen), Dr. Claus-Wilhelm Hoffmann (Lite-
raturstiftung Oberschwaben), Stiftung Ewald Marquardt
(Rietheim-Weilheim), Frank Schädler (Amt für Bildung
und Sport, Konstanz), Lothar Wölfle (Landratsamt Boden-
seekreis, aus Mitteln der OEW) sowie den Walserianern
Elke Gross (Gailingen) und Willy Berchtold (Überlingen).
Last but not least geht unser herzlicher Dank an Annette
Güthner vom Südverlag für ihr hervorragendes Lektorat,
aber auch für die Ermutigung, dieses Buch zu realisieren.
Wolfgang Herles und Siegmund KopitzkiBerlin / Konstanz / München, Januar 2018
Wolfgang Herles.
2524
Städtische Galerie, Überlingen
Anton Philipp Knittel (oben); mit Wolfgang Herles (unten). Peter Blickle und Wolfgang Herles.
2726
Städtische Galerie, Überlingen
Bildnachweis© Ariana Zustra: S. 23, 24, 25 (oben), 28, 29 (oben), 30, 31, 32 (oben), 33.© Siegmund Kopitzki: S. 25 (unten), 26, 27, 29 (unten), 32 (unten).
Aufmerksame Zuhörer bei der Vormittagsveranstaltung: u. a. Johanna Walser (links), Tochter des Patrons.
Mittagspause der Referenten.
2928
Historischer Rathaussaal („Ratssaal“), Überlingen
Stefan Neuhaus (oben); mit Wolfgang Herles (unten). Andreas Meier (oben); Jörg Magenau (unten).
3130Konzentrierte Atmosphäre bei der Nachmittagsveranstaltung in spätgotischem Ambiente:
Historischer Rathaussaal („Ratssaal“), Überlingen
u. a. Stefan Neuhaus, Peter Blickle, Jörg Magenau (v. li. n. re.) und Siegmund Kopitzki (Bildmitte).
3332 Jörg Magenau (oben); Wolfgang Herles (unten). Pausengespräche vor dem spätgotischen Ratssaal.
Historischer Rathaussaal („Ratssaal“), Überlingen
157
Arnold Stadler
„Das Leben ist schön“.Martin Walsers 90. Sonnenumrundung
Der Mensch ist kein Baum und hat auch keine Wurzeln,
sondern Vater und Mutter, die vor 90 Jahren einen Sohn
bekamen, den sie Johann Martin tauften. Das war in Was-
serburg. Vor 90 Jahren wurde noch der Namenstag, der
den Geburtstag mit der Taufe verbindet, gefeiert, ich weiß
es von ihm selbst. So war es überall in der katholischen
Welt vor der Happy-Birthday-Zeit. Heute feiern selbst
Päpste ihren „90.“, so im April Benedikt XVI. Heute singen
die Omas längst „Happy Birthday“. Wir leben in der Happy-
Birthday-Zeit. Die unverwechselbare Welt verschwindet so
langsam in der Globalisierungskelter.
Walser erblickte das Licht der Welt an einem See. So-
dass dieses Wasser, als wär’s ein Stück von ihm, Teil dieses
Lebens ist. Und als wäre es nicht genug, hieß der Ort auch
noch Wasserburg. Wasserburg gehörte schon spätestens
von 784 an zum Kloster Sankt Gallen. Erst 1826 wurde der
Weinzehnte eingestellt. War ja nun auch bayrisch. Wie
immer: Gefragt wurden die Menschen, die da lebten,
nicht. Napoleon hat auch am See derart in die Geschichte
eingegriffen wie seit den Karolingern keiner mehr.
Gebürtig von diesem See, und keinem anderen, seit
„Anbeginn“, seit Sankt Gallen und der Reichenau, ein Epi-
oder Herzzentrum der deutschen Sprache. Seuse oder
Arnold Stadler.Vor dem Geburtshaus Johann Peter Hebels. Am 250. Geburtstag des Dichters nach der Verleihung des Hebel-Preises.
© J
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Bro
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159158
Suso, wie Walsers zugewandter Kollege Bruno Epple, pictor et poeta, sagt, lebte an diesem Wasser im 14. Jahrhundert
als Kronzeuge der Sprache und bis dahin unerreichter
Sprach- wie Schmerzgipfel.
Unser Geburtstagskind wurde nicht in eine Sprach-
wüste hineingeboren, sondern in eine Muttersprache, die
heute fast schon zum Eingeborenenidiom geworden ist.
Doch der erste, der unserem Geburtstagskind die Sprache
als etwas Staunenswertes offenbarte, war jener Vater, der
Johann einen Wörterbaum errichtete. „Die Sprache ist ein
springender Brunnen“, heißt es da, und das ist der Grund,
warum wir heute diesem Geburtstagskind, und keinem
anderen, gratulieren dürfen.
Berühmt ist einer dann, wenn er gar nicht mehr alles
mitbekommt, was über ihn in der Zeitung steht. Oder in den
Radios und im TV gesendet wird. Und keine Zeit hat, das
alles zu sehen und zu lesen, was über ihn geschrieben wird.
Er wird jetzt gefeiert und zu Recht. Und das ist auch
etwas Schönes. Doch: Öffentlichkeit und „Licht der Welt“,
Rampenlicht und Heimat, das beißt sich irgendwie. Man-
ches Geburtstagskind überlegt sich, wohin es fliehen
könnte. Zu ihnen könnte auch Martin Walser gehören, der
heute in seiner Umlaufbahn zum 90. Mal die Sonne um-
rundet hat. „Wenn i bloß ge Amerika wär!“, vielleicht
dachte das Geburtstagskind im Zusammenhang mit die-
sen Feierlichkeiten an diesen Satz, den es neben seinem
Großvater hergehend hörte. Das ist ein Herzsatz aus Wal-
sers Leben. Später fuhr der, als wollte er für seinen Groß-
vater, dem das versagt war, nach Amerika. Martin Walser
war oftmals in Amerika, als hätte er stellvertretend für
seinen Großvater dessen Traum „Wenn i bloß ge Amerika
wär!“ realisieren wollen.
Martin Walser gehört zu jenen, von denen etwas mehr als
sonst gesagt werden darf, dass sie „das Licht der Welt“
erblickt haben. Das war 1927. Weimarer Republik, Krisen-
jahr. Ich sage aber lieber: Licht der Welt. Sonnenumrun-
dung. Frühjahr. Wasser, Licht und Leben. Als wäre es nicht
genug: Der Ort aber hieß Wasserburg. Paradox, auch für
mich: Am Wasser träume ich immer vom Bleiben, wohin-
gegen der harte Stein auf das Gehen verweist. Auch Walser
ist nicht als großer Wanderer zu Fuß bekannt, dem seine
Sätze im Gehen leicht bergauf kommen, wie etwa Hölder-
lin, Seume oder Handke, die er alle, darf ich sagen: liebt?
Es ist bei ihm eher wie bei den großen Schauenden, die
ihre Sätze auch aus dem Vorbeifließenden bilden können.
Nach außen hin Wohlfühlregion Nr. 1, der See, das
Land, die Nähe der Berge, für die meisten nun ein Tummel-
platz für Aktivitäten im Outdoorsegment. Walser ist selbst
Ski gefahren, hat Tennis gespielt und all das getan, was der
sogenannte „Bürger“, der es sich leisten kann, schwamm
und schwimmt in diesem See wie kein anderer. Und lebte
und atmete wie die anderen. Der Schmerz und die Sehn-
sucht kommen aber in den Wohlfühlstatistiken nicht vor.
Das erscheint dann in Walsers Büchern und Sätzen.
Aus dem See, vordem ein Zentrum, wurde eine Grenz-
region. Aber nicht in der Sprache. Martin Walser ist der
erste unserer Sprachmenschen. Für Sprachmenschen,
aber nur für die, ist es ein Schmerz, wenn der Sprache, die
gesprochen und gesungen wurde von den lebendigsten
Menschen unseres Lebens, das ist im Fall unseres Geburts-
tagskindes seine Mutter, Leides geschieht. Unsere Mutter-
sprache vielleicht schon untergegangen ist. Sodass es wohl
süßer Schall und Klang und Gesang ist, wenn wir unsere
ersten Menschen da erinnerungsweise sprechen hören.
161160
Walser ist unsere erste Sprachschmerzinstanz. Und macht
aus seiner Erinnerung eine schmerzhafte, nein: schmerz-
reiche Gegenwart.
Über den Verlust jener Sprache, der Sprache der Mut-
ter, der Muttersprache, hat Walser Bücher geschrieben. Sie
aufleben lassen. Und sie schreibend wiedergewonnen, be-
reichert und gefüllt. Darum geht es auch von Heimatkunde
an in manchem Essay. Und in seinem Springenden Brunnen
hat Walser ihr ein bleibendes Denkmal gesetzt. Seine Spra-
che liebe ich. Und auch in Walsers Welt kann ich mich
hineinversetzen. Noch in meiner Volksschule, wo auch
mir vier Jahre lang zusammen mit sämtlichen Schülern
in einem einzigen Raum von einem einzigen Lehrer etwas
Lesen und Schreiben, Dazuzählen und Abziehen beige-
bracht wurde, gab es, wie schon in Wasserburg: Heimat-
kunde. Als Walsers schönnamige Heimatkunde erschien,
gab es noch keine sogenannten „Umgehungsstraßen“. Da
war ich, vom Hochland über dem See hinter Stockach, auf
Ministrantenausflug und mit dem Kirchenchor (die Aus-
flüge wurden zusammengelegt, weil sonst der Bus nicht
voll wurde) den ganzen See entlang durch Nußdorf und
Wasserburg unterwegs bis nach Damüls. Und gleich hinter
dem Schwackenreuter Wäldchen staunten wir über die
Größe der Welt.
Hochdeutsch gab es da noch lange nicht. Unten am See
wurden wir für Waldmenschen gehalten. Als wir damals
mit dem Bus unterwegs nach Damüls waren, und noch
durch ganz Überlingen und dann Nußdorf fuhren, um de Ranke a S’Walsers Haus vebei, wusste ich noch nichts von
diesem Geburtstagskind, und schon gar nicht, dass Martin
und Käthe da gerade in ein Haus eingezogen waren, das
mir zu einem der liebsten wurde. Und dass in diesem nun
so berühmten Haus sie vielleicht gerade beim Morgenes-
sen waren oder auch noch schliefen, denn wir waren sehr
früh aufgebrochen.
In jener Zeit, da „das Heu noch nach der Liebe des Him-
mels zur Erde roch“, fuhren wir also an Martin Walsers
Lebenssee vorbei. Und auf der Fensterseite das Walserhaus,
und dann die Birnau. Es war vielleicht 1968, am 14. Mai.
Da lese ich im Tagebuch: „Besuch von Tina Sinatra und
Micha Pfleghar“. Als ich, gar nicht lange her, das Geburts-
tagskind nach den Vermissten seines Lebens fragte, nannte
es mir diesen Namen, Michael Pfleghar, aus der Morgen-
frühe von Walsers Leben als Pionier beim neugegründeten
SDR. Und Helmut Jedele nannte er mir da auch noch.
Weiß nicht, welcher berühmte Journalist der vergan-
genen fünfzig Jahre nicht in Nußdorf gewesen wäre. Frei-
lich auch Freunde darunter. Und solche, die zu dem
wurden, was man der Einfachheit halber „Freunde“ nennt.
Und dann zum ersten Mal die Berge, die wir auch von Rast
aus sahen. Zu guter Letzt Damüls, das Walserdorf, noch
unversehrt. Und ich dachte mir, wie schön etwas sein
könnte, das nicht vergeht.
Ganz bestimmt unter den Vermisstesten unseres Ge-
burtstagskindes ist Michael Felder, der schon als Kind Fe-
rien bei den Walsers gemacht hat. Dann Priester geworden.
In der schönsten Bibliothek der Welt, das ist für mich
Schussenried, hat er, der auch Musiker war, nach der Buch-
präsentation von Muttersohn noch auf dem Flügel gespielt,
und ich hörte es auch. Starb nach einer Bergmesse am Mat-
terhorn, im Pfarrhaus von Zermatt, kaum über vierzig
Jahre alt. Als Theologieprofessor hat Felder auch Martin
Walser einen Weg gezeigt, der bis nach Rom führte. Und in
die Mitte von Walsers Büchern, spätestens seit Mein Jenseits.
163162
Welt. Nicht Provinz. Walsers Schreiben ist ein großes Jasa-
gen. Jeder hat eine Wunde, aus der es weiterblutet, die bei
einem Dichter wie Walser zur Sprache geworden ist. Aus
dem Wort „Nein“ entsteht kein Werk von diesem Format.
Sagt Einer Nein, muss er nicht schreiben.
Bei Walsers Schreiben ist ein Wesentliches sein Rüh-
men. Auch Sportlern wie Boris Becker, Gestaltern der Po-
litik wie Erwin Teufel, den Martin Walser überaus schätzt,
und dem Vater des Euro, Theo Waigel, den wir einmal ge-
meinsam besucht haben, hat er ganze Seiten gewidmet.
Fasziniert vom tatsächlichen Glücken und dem Erfolg im
Leben von Tag zu Tag: Und selbst Angela Merkel gehört
zum Kreis der Bewunderten. Über andere schrieb er ganze
Seiten im Wirtschaftsteil der FAZ, so über den langjähri-
gen Chef von Aesculap, Michael Ungethüm aus Tuttlin-
gen, der Stadt des Heilens, und von Johann Peter Hebels
Kannitverstan.
In Walsers Romanen sind es aber oftmals jene, die „es“
nicht geschafft haben, sich im Leben zu behaupten. Es
glückt Walser aufs Schönste, das Scheitern und den
Schmerz zur Sprache zu bringen. Er würde es für Zeitver-
schwendung halten, sich zu etwas zu äußern, was ihn
nicht bewegt.
In Walsers Lebensroman des Andreas Beck las ich: „Kein
Buch, dessen Held nichts Schreckliches mitmacht, ist
schön. Kein Buch, bei dem das Schreckliche schließlich
triumphiert, ist schön.“ Die schönste Eigenschaft von Mar-
tin Walser als Leser ist wohl sein Rühmungsvermögen. Das
macht ihm so leicht keiner nach. Und schreibend zeigt er
ihnen und uns dann den Meister. Wie vielen Kollegen er
weitergeholfen hat? Es sind mehr, als ich wissen kann. Von
den drei Marien weiß ich aber. Und auch von Ambramo-
witsch bis Andreas Beck. Niemals zu vergessen: Bruno
Epple. Und ich denke nun daran, wie schön es ist, im Leben
einem solchen Martin begegnet zu sein, der als Virtuose
des Rühmens seinen Schreib-Mantel über uns gehalten
hat. Und gerade mich. So etwas vergisst man nicht. Sodass
es zum Vergelt’s Gott!-Sagen ist. Mögen die Anderen von ih-
rem Glück sprechen.
In Mein Jenseits wie auch im übergeordneten Roman
Muttersohn, in das Mein Jenseits eingegangen ist, nimmt
Walsers Erzählen die schönste Richtung: die Himmelsrich-
tung. Da geht es um einen Menschen und Psychiater na-
mens „Feinlein“, der das Heilige vor dem Zugriff einer
utilitaristischen Welt, deren Epizentrum die Anstaltswelt
von Scherblingen ist, retten möchte: die Heiligblutreli-
quie. Und dafür für verrückt erklärt wird zu Beginn des
3. Jahrtausends. Heiligblutreliquie und Schutzmantelma-
donna: Mit solchen Wörtern kann der funktionierende
Mensch nichts mehr anfangen. Das Weltbild der Stiftung
Warentest, der Mensch als Verbraucher. Vom Sehnsuchts-
schmerz zu Fit for Fun. Der Utilitarismus, selbst beim Hei-
len, bei den Heilungsversuchen der vom herrschenden
Mainstream sogenannten „psychisch Kranken“, scheint
die Signatur unserer Zeit zu sein: Das Heilige ist in die
Psychopathologie verwiesen. Aber Walsers Professor Fein-
lein ist ein wunderbarer Rettungsversuch ins Glück der
Literatur. Am Jenseits mag ein utilitaristischer Psychiater
scheitern, nicht aber dieser Held namens „Feinlein“. Und
schon gar nicht scheitert der Schriftsteller mit seinen Sät-
zen und seiner Sprache. Doch der Unglaube ist auch ein
Glaube. Wie Walser sagt, ist der Glaube aber schöner.
In Kreuzlingen und anderswo am See gibt es ja nun
sogenannte „psychiatrische“ und auch „Herzzentren“. Mir
165164
fällt aber beim Wort „Herzzentrum“ immer als Erstes die
Sprache Martin Walsers ein. Mich schmerzt dein Schmerz.
Das ist wohl der cantus firmus: die durchgehaltene Stimme
oder, darf ich das sagen: der Walserton.
„Ich gebe den Schmerz nicht her, weil ich sonst das
Göttliche hergeben müsste.“ Dieser Satz von Adalbert Stif-
ter, der jener war, mit dem Walser aus dem Zweiten Welt-
krieg zurückkehrte nach Wasserburg, passt wie ein
Gefährte zum Leben und Schreiben unseres Geburtstags-
kindes. Walser las Stifter im Eisstadion von Garmisch als
Kriegsgefangener. So kehrte er aus dem Krieg zurück. Wal-
sers Kronzeuge des Schmerzes im 20. Jahrhundert ist
Kafka. Und dann schrieb er selbst. Und Walser wurde zu
Walser. Von da ist es ein Weites, vom Lesen und Schreiben
ganz für sich allein im Stillen zu dieser Öffentlichkeit, die
ihn feiert.
„Oh, dass ich einsam ward, so früh am Tage schon.“ Da
hat Einer einen Leidensvorsprung. So ist es bei jenem Ge-
burtstagskind, das ich meine. Und am meisten wird das
schreibweise und satzweise konkret: eine Wunde, aus der
es weiterblutet. Keine Schmerzroutine, sondern Vergegen-
wärtigung. Das sang er dann so, wie der Stromableser Karl
Erb aus Ravensburg „Wer nie sein Brot mit Tränen aß“
sang, so steht es in Walsers Ein springender Brunnen.
Kann man sich vorstellen, dass er die Restauration
übernommen hätte? Walser hat es auf seine Weise aber
doch getan, so wie der Stromableser Karl Erb die Herzen
erwärmen konnte, hat auch der Kohlenausfahrer etwas
ins Haus gebracht. Ja, so etwas wie Lebensmittel. Kohle
und Strom und Bücher gehören nicht nur dazu, sie gehö-
ren ins Herzzentrum des Lebens. Und: „Wenn du es begrif-
fen hast, ist es nicht Gott.“
Gerade las ich zu Füßen des schönen, schönnamigen Kili-
mandscharo, dessen Menschen nach dem Welt-Glück-
Bericht 2017 am unglücklichsten sein sollen, in Statt etwas oder Der letzte Rank: „Die Welt will alles sein, aber nicht
sinnlos.“ Dann Konstanz, vor ein paar Tagen: In scharfer
Form wandte sich Walser gegen die Belletristik: „Das ist
da, wo man Tee trinkt, und dann kommt die Polizei“ und
nannte in diesem Zusammenhang seine Ehen in Philippsburg zur Verteidigung seiner Gegenwart. Und das wäre ja
auch gar nicht nötig gewesen in der Eintracht der Dreifal-
tigkeitskirche zu Konstanz. Dass es etwas Großes war, Der letzte Rank, vernahmen wir auch so. Ob Roman oder nicht.
Rank: Das Wort aus der Muttersprache verweist ins
Herz. Rank: Eine Kurve ist nichts dagegen. Auf dem Weg
zur Lesung von Statt etwas oder Der letzte Rank in der über-
füllten Dreifaltigkeitskirche zu Konstanz sah ich Einen
hinaufgehen, ganz allein, als der einsamste Mensch, den
es in diesem Augenblick auf der Welt gab und gibt. Aber
nicht wie ein Schauspieler. Sondern so, wie ich es auf der
Stele für Paracelsus in seinem Geburtsort Kloster Einsie-
deln las: „Allein, und fremd und anders“, Satz aus einem
Leben. Und wenn uns der Roman über etwas informieren
möchte, dann darüber, dass der „Schmerz der Grund-Riss
des Seins“ ist.
Nicht dass er die Leute nicht gewöhnt wäre, d’ Leit – von
der Restauration an. Aber das Fremdeln, wie es Kindern
zugesprochen wird, mag bei ihm der erste Eindruck vor
jedem öffentlichen Auftritt und Kontakt sein.
Wenn er hereinkommt, habe ich jedes Mal die Empfin-
dung, hier komme der einsamste Mensch auf der Welt. So
ist es ja vielleicht auch. Gewissermaßen der Stellvertreter
unserer Einsamkeit. Vom Einsamen ist es laut Robert
167166
Walser „ungewiss, ob er sitzt oder steht“. Aber gerade
dann ist es gerade der, auf den wir gewartet hatten, um
wie einst sagen zu können: „Jetzt sind wir vollzählig.“
Dann schaut er in die Welt, als wäre er ein anderer. Nicht
wie die anderen. Eher so, als wäre er in diesem Augenblick
der einzige Mensch auf der Welt und ist er ja auch, wie
jene Frau in Kafkas Galerie.
Bei allem Trubel und aller Präsenz: Da steht er dann
und schaut erst einmal in den Saal hinein, als wäre es ins
Nichts, aber ein solches Nichts, wo alles und nichts zusam-
menfallen. Immer mit einem Anflug von Schwermut. In
der überfüllten Kirche ganz allein. Und mit einem Gesicht
wie beim Hören von Bruckners Dritter in Walsers Meister-
werk Meßmers Gedanken. Aber dann!
So sehen wir ihn ein Leben lang hereinkommen. Aber
mit den eingenähten Wörtern seines Wamses und Lebens,
bei Pascal war es das Wort „Feuer“.
In seinen Büchern, die er, und kein anderer, geschrie-
ben hat, fand ich, einer der selbst schreibt und liest, Ei-
nen, dem es schreibend glückte, trotz allem Ja zu sagen.
Und das ist doch das Entscheidende und das Schönste, was
man als Lebender und Lesender und Schreibender sagen
kann.
Wie schön es sein kann zu danken, auch dafür, zeigt
die Ausgabe, die Heribert Tenschert uns zu Walsers Ge-
burtstag schenkt. Und gerade hier ist das Wort „atemrau-
bend“ das naheliegendste. Das ist ein Lieblingswort
Walsers, im Rank kommt es viermal vor. Einmal sagte ich
„atemberaubend“. Welche Enttäuschung: Jetzt sagst auch
du so. Es heißt aber „atemraubend“! Diesen Dank, mit
dem Heribert Tenschert, der ja als Leser zu Walser kam,
seinem Freund aufwartet, kann nicht jeder bringen. Der
gewöhnliche Walserfreund wird einem wie ihm vielleicht
am besten danken, indem man ihn liest.
Zum Schönsten beim Schreiben eines Buches gehört
doch, dorthin zu gelangen, wo einer noch nie gewesen ist
oder niemals hinkommen wird.
„Die Sprache, dachte Johann, ist ein springender Brun-
nen.“ Ich dachte dies auch. Walser schreibt wahrschein-
lich für solche, die den Schmerz, der sich einstellt im
Leben, niemals zur Routine werden lassen können, denen
alles wie am ersten Tag ist. Er ist tausendfach fotografiert,
zusammen mit dem Bodensee, als wären sie eins.
Dass das Leben schön ist, und schön sein könnte, auch
das weiß ich von Martin Walser. Trotz allem. Wo das eine
Glück mit dem einen Schmerz verschmolzen ist, den man
singen kann. Das ist die Sprache von Martin Walser. Wie
schön es sein kann, Ja zu sagen. Selbst noch zum Schmerz,
der hätte leicht zu einem Nein werden können. Wenn et-
was nichts als schön ist, dann fehlt ihm das Entschei-
dende: jener Hoffnungsschmerz, der aus uns ein Ganzes
macht.
Siegmund Kopitzki, dem wir auch das Walserfest von
Überlingen als Anreger und Organisator verdanken, hat
mich ja damals, vor über 25 Jahren nach Überlingen mit-
genommen, wo Walser aus der Verteidigung der Kindheit las,
als wäre es ein Präludium gewesen. Nachher nahm uns
Walser nach Nußdorf mit. Und seither ist die Welt eine
andere.
Martin Walser war ein Kind, das das Glück hatte, einen
solchen Vater zu haben, der ihm, statt etwas (anderem),
einen Wörterbaum errichtete, der bis zum heutigen Tag
seine Früchte trägt, und ich möchte aus Psalm 1 ergänzen:
UT PALMA FLOREBIT. Er wird wie ein Palmbaum blühen.
168
Eines der Bücher, die Walser noch schreiben wird, könnte
von da auch „Ein blühender Mann“ heißen.
Als Kinder haben wir unseren ersten Menschen einst
so gratuliert, wie ich es auch diesem Martin, und keinem
anderen, nun tun möchte. Also nicht „Happy Birthday“.
Sondern wie in jener Zeit, damals, einst, als ich auf Minis-
trantenausflug unterwegs und durch Nußdorf den Ranken
hinauf zur Birnau nahm: Liebe Mardtin! I gradelierder zum Gebordtsdag, dassde lang lebbeschd, gsund bliibschd und in Himml kunschd! Aber bis dahin noch viele schöne Sonnen-
umrundungen. Und von Sankt Gallen her, dem Wasser-
burg ja über die Jahrtausende und die Zeiten zugehörte,
kommt noch ein: MULTOS AD ANNOS FELICITER.
❖
Anhang
187186
Die Herausgeber
Der Schriftsteller und Journalist WOLFGANG HERLES wurde 1950 in Tittling bei Passau geboren und ist in Lindau am Boden-see aufgewachsen. Er studierte Literaturwissenschaften, Ge-schichte und Psychologie in München, absolvierte dort die Deut-sche Journalistenschule und wurde mit einer Arbeit über den „Beziehungswandel zwischen Mensch und Natur“ in der zeitge-nössischen Literatur promoviert. Vierzig Jahre lang, zunächst beim Bayerischen Rundfunk, dann beim ZDF, moderierte Herles Magazine, Talkshows und zuletzt die Literatursendung Das Blaue Sofa. Als Autor und Regisseur gestaltete er Dutzende Dokumen-tationen. Er porträtierte Persönlichkeiten wie Bill Gates und Jo-seph Ratzinger, in mehrteiligen politischen Reisereportagen auch den Atlantik und den Pazifik. Als Redaktionsleiter verant-wortete er u. a. zehn Jahre lang das Kulturmagazin aspekte und das Studio Bonn. Herles schrieb fünf gesellschaftskritische Ro-mane, zuletzt Susanna im Bade (S. Fischer 2014), sowie zahlreiche politische Sachbücher. Er lebt in München und Berlin.
SIEGMUND KOPITZKI wurde 1951 in Lauenburg/Polen geboren. Nach dem Studium der Germanistik, Geschichte und Politik ar-beitete er als Lehrer, danach als freier Journalist. Von 1985 bis Sommer 2017 war er als Redakteur beim Medienhaus Südkurier tätig. Verschiedene Beiträge in Büchern, Katalogen und Lexika. Eigene Buchveröffentlichungen, zuletzt gemeinsam mit Wal-traut Liebl Die Gans ist noch nicht gebraten. Ein Lesebuch zum Konstanzer Konzil (2014) und Rilke in Konstanz (2015). Kopitzki ist Mit-glied in der Jury des Alemannischen Literaturpreises sowie des Bodensee-Literaturpreises der Stadt Überlingen.
Die Beiträger
PET ER BLICK LE, geb. 1961 in Ravensburg, aufgewachsen im oberschwäbischen Wilhelmsdorf, Studium der Medizin, Altspra-chen und Germanistik, Professor für deutschsprachige Literatur und Gender and Women’s Studies an der Western Michigan University in Kalamazoo/USA. Mitherausgeber des fünfbändi-gen Gesamtwerkes von Maria Beig. Verfasser verschiedener Romane, zuletzt Die Grammatik der Männer (2014), und wissen-schaftlicher Monografien (u. a. Maria Beig und die Kunst der scheinbaren Kunstlosigkeit). Ausgezeichnet mit dem Michigan Gover-nor’s Award. Preisträger beim Irseer Pegasus. Mitglied im PEN International.
A N TON PHILIPP K NIT TEL , geb. 1961 in Meßkirch, aufgewach-sen in Leibertingen, Studium der Germanistik und Katholischen Theologie in Tübingen und in Wien. Nach Stationen als wissen-schaftlicher Mitarbeiter am Geistes- und Sozialwissenschaftli-chen Forschungszentrum der Universität Tübingen, als Assistent am Deutschen Seminar der Universität Tübingen und als Persön-licher Referent des Rektors der Universität Konstanz sowie als Wissenschaftlicher Angestellter am Kleist-Archiv Sembdner der Stadt Heilbronn derzeit Stellvertretender Pressesprecher der Stadt Heilbronn. Publikationen u. a.: Erzählte Bilder der Gewalt. Die Stellung der „Ästhetik des Widerstands“ im Prosawerk von Peter Weiss. Kons tanz 1996; Zwischen Idylle und Tabu. Die Autobiographien von Carl Gustav Carus, Wilhelm von Kügelgen und Ludwig Richter. Dresden 2003 (= Diss.). Mitherausgeber einer zweibändigen Edition der Briefe, Tagebücher und Reiseschriften Wilhelm von Kügelgens (1994, 1995; 2. Aufl. 1996) sowie mehrerer Publikationen zu Hein-rich von Kleist, zuletzt zusammen mit Inka Kording Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2003, 2. Aufl. 2009; Herausgeber des Bandes Unterhaltender Prediger und gelehrter Stofflieferant – Abraham a Sancta Clara (1644 –1709) – Beiträge eines Symposions anlässlich seines 300. Todestages, Eggingen 2012; zahlreiche Beiträge zur Literatur des 17. bis 21. Jahrhunderts.
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JÖRG M AGENAU, geb. 1961 in Ludwigsburg, studierte Philoso-phie und Germanistik an der FU Berlin. Als Literaturkritiker und freier Autor arbeitet er u. a. für den Deutschlandfunk Kultur und die Süddeutsche Zeitung. Er schrieb mehrere Biografien, darunter Martin Walser. Eine Biographie (Rowohlt, 2008). Zuletzt erschien von ihm Princeton 66. Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47 (Klett-Cotta, 2016). Im Februar 2018 erschien Bestseller. Bücher, die wir liebten und was sie über uns verraten (Hoffmann und Campe).
A NDR EAS MEIER promovierte 1988 über Faustlibretti – Geschichte des Fauststoffs auf der europäischen Musikbühne und veröffentlichte danach mehrere Editionen zur Geschichte des deutschen Liedes, u. a. in der Reihe Das Erbe deutscher Musik. Seine Habilitation wid-mete er 1997 dem Goethe-Schwager und Erfinder der deutschen Trivialliteratur Vulpius: Christian August Vulpius in seiner Korrespondenz mit Goethe und anderen Zeitgenossen. Seit 2004 als außeror-dentlicher Professor an der Bergischen Universität Wuppertal tätig, liegen seine Arbeitsschwerpunkte im Bereich der Kultur der Goethezeit, Literatur der Klassischen Moderne und der Ge-genwartsliteratur. Er ist Leiter der Else Lasker-Schüler-Arbeits-stelle sowie Herausgeber des Martin WalserWerkverzeichnisses (Berlin 2016) und der Martin WalserGesamtausgabe letzter Hand (Bibermühle 2017).
STEFA N NEUH AUS, geb. 1965. Studium der Germanistik in Bam-berg und Leeds. 1996 Promotion, 2001 Habilitation, 2005 Ehren-doktorwürde der Universität Göteborg. Professuren an den Uni-versitäten Oldenburg und Innsbruck. Seit 2012 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Koblenz-Landau, Standort Koblenz. Monografien in Auswahl: Freiheit, Ungleichheit, Selbstsucht? Fontane und Großbritannien (1996); Das verschwiegene Werk. Erich Kästners Mitarbeit an Theaterstücken unter Pseudonym (2000); Literatur und nationale Einheit in Deutschland (2002); Das Spiel mit dem Leser. Wilhelm Hauff: Werk und Wirkung (2002); Sexualität im Diskurs der Literatur (2002); Literaturkritik (2004); Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ und seine Vorgeschichte(n) (2004); Literaturvermittlung (2009); Märchen (2. Aufl. 2017); Grundriss der Litera
turwissenschaft (5. Aufl. 2017); Grundriss der Neueren deutschsprachigen Literaturgeschichte (2017). Zahlreiche (Mit-)Herausgeberschaften z. B. der Werke Ernst Tollers (seit 2015 im Wallstein-Verlag Göt-tingen) oder verschiedener Reihen, etwa Studien zu Literatur und Film der Gegenwart im Tectum-Verlag Marburg und, gemeinsam mit Oliver Jahraus, Film – Medium – Diskurs bei Königshausen & Neumann, Würzburg.
A R NOLD STA DLER, geb. 1954, ist ein Schriftstellerfreund von Martin Walser. Er studierte katholische Theologie in München, Rom und Freiburg, anschließend Literaturwissenschaft in Frei-burg, Bonn und Köln. Promotion. Seit 2000 lebt Arnold Stadler in Sallahn/Wendland und vom ersten Tag an in seinem Elternhaus, einem Bauernhof aus dem 18. Jahrhundert, in Rast über Meß-kirch. Er erhielt zahlreiche bedeutende Literaturpreise, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Johann-Peter-Hebel-Preis. Zu-letzt erschienen Komm, gehen wir, Salvatore, Einmal auf der Welt. Und dann so, New York machen wir das nächste Mal und Rauschzeit. Stadlers Geburtstagsstrauß „Das Leben ist schön“ ist am 24. 3. 2017 in einer stark gekürzten Fassung im SÜDKURIER (Konstanz) er-schienen.
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Dank
Der Südverlag dankt den Herausgebern, Herrn Dr. Wolfgang Herles und Herrn Siegmund Kopitzki, für ihr würdiges Vorwort. Ein besonderer Dank gilt Herrn Siegmund Kopitzki eigens für seinen unermüdlichen Einsatz für dieses Buchprojekt.
Herzlicher Dank geht an die geschätzten Beiträger für ihre pro-funden Texte – in alphabetischer Reihenfolge: Herrn Prof. Dr. Peter Blickle, Herrn Dr. Anton Philipp Knittel, Herrn Jörg Magenau, Herrn Prof. Dr. Andreas Meier, Herrn Prof. Dr. Stefan Neuhaus, Herrn Dr. Dr. h. c. Arnold Stadler.
Der Südverlag dankt den folgenden Damen und Herren sowie Institutionen herzlich für die finanzielle Unterstützung zur Drucklegung dieses Buchprojektes:Herrn Dr. Michael Brunner (Kulturamt Überlingen), Herrn Oswald Burger (Forum Allmende), Frau Elke Gross (Gailingen),Herrn Frank Hämmerle (Landratsamt Konstanz), Herrn Franz Hoben (Kulturbüro Friedrichshafen), Herrn Dr. Claus-Wilhelm Hoffmann (Literaturstiftung Ober-schwaben), Herrn Ewald Marquardt (Private Stiftung Ewald Marquardt, Rietheim-Weilheim), Herrn Frank Schädler (Amt für Bildung und Sport, Konstanz),Herrn Lothar Wölfle (Landratsamt Bodenseekreis, aus Mitteln der Oberschwäbischen Elektrizitätswerke OEW).
Herzlich bedankt seien Frau Dorothea Cremer-Schacht und Frau Ariana Zustra sowie Herr Jörg Brode und Herr Siegmund Kopitzki für die freundliche Überlassung der Fotografien.
Bibliografische Information der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 978-3-87800-114-0
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche-rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
© Südverlag GmbH, Konstanz 2018Umschlag, Layout, Satz und Seitengestaltung: Silke Nalbach, MannheimUmschlagabbildung: © Dorothea Cremer-Schacht, KonstanzDruck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
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»Der erste unserer Sprach menschen«
Neue Einsichten zum Werk von Martin Walser
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G.)„Wenn du nicht gewesen wärst, Sprache,
hätte es mich nicht gegeben.“ MARTIN WALSER
Schreiben ist für Martin Walser, den Formulie-rungskünstler und Jahrhundertschriftsteller vom Bodensee, Lebensart. Das Schönste, was es für ihn gibt.
Fünf Walserversteher, Walsererklärer, Walserbewunderer widmen sich wortgewaltig und profund dem Leben und Schaffen dieses „ersten unserer Sprachmenschen“. Und Walser-freund Arnold Stadler, ausdruckssüchtig wie Walser selbst, feiert seinen Wahlverwandten mit einer poetischen Liebeserklärung.
Eine einzigartige Sammlung eindrucksvoller Texte, die Martin Walser, den unvergleich-lichen Sprachvirtuosen, geistreich wie berüh-rend ehren.