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Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oderauszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlichder gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Umwelthinweis:Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.

Das GeheimlaborOhne es zu wissen, gelangt Cathy in den Besitz von brandheißemBeweismaterial: Der Biochemiker Dr. Victor Holland hat ver-sehentlich eine Filmrolle in ihrem Wagen liegen lassen, die illegaleVersuche in einem Labor zeigt. Zu spät erkennt Victor, dass er dieFrau, die er liebt, damit in Lebensgefahr gebracht hat: Die Hetzjagdauf sie ist bereits eröffnet ...

Tödliche SpritzenDas Leben der schönen Ärztin Kate Chesne wird zu einem Alb-traum, als sie unter Verdacht gerät, einen Kunstfehler begangen zuhaben. Doch ausgerechnet der Anwalt David Ransom, der gegen sieklagt, steht zu ihr. Er spürt ihre Angst und versteckt Kate schützendin seinem Haus ...

Tess Gerritsen

Akte Weiß

MIRA® TASCHENBUCHBand 25106

1. Auflage: Oktober 2004

MIRA® TASCHENBÜCHER erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,

Axel-Springer-Platz 1, 20350 HamburgDeutsche Taschenbucherstausgabe

Titel der nordamerikanischen Originalausgaben: Whistleblower/Under The Knife

Copyright © 1992 / 1990 by Terry Gerritsenerschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto

Published by arrangement withHarlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, KölnUmschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: by GettyImages, MünchenAutorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: D.I.E. Grafikpartner, KölnDruck und Bindearbeiten: Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyISBN 3-89941-142-0

www.mira-taschenbuch.de

Tess Gerritsen

Das GeheimlaborRoman

Aus dem Amerikanischen von

M.R. Heinze

PROLOG

Zweige schlugen Victor Holland ins Gesicht, und seinHerz hämmerte so hart, dass er glaubte, seine Brustwürde explodieren, doch er musste weiterlaufen. Schon

jetzt hörte er, wie der Mann näher kam, und er stellte sich vor, wiedie Kugel durch die Nacht fetzte und in seinen Rücken schlug.Vielleicht war das sogar bereits passiert. Vielleicht legte er eine breiteBlutspur. Er war zu betäubt vor Entsetzen, um im Moment irgend-etwas anderes zu fühlen als verzweifelten Lebenshunger.

Eisiger Regen klatschte in sein Gesicht, blendete ihn. Victortaumelte durch einen See von Dunkelheit und landete bäuchlings imSchlamm. Das Geräusch seines Sturzes war ohrenbetäubend laut.Sein Verfolger wurde durch das scharfe Knacken der Zweigeangelockt, veränderte seine Richtung und kam jetzt direkt auf Victorzu. Das Plopp eines Schalldämpfers und das Zischen einer Kugel anseiner Wange verrieten ihm, dass er entdeckt worden war.

Er zwang sich auf die Beine, schlug einen Haken nach rechts undwieder einen zurück Richtung Highway. Hier im Wald war er ein toterMann. Aber wenn er einen Wagen anhalten, wenn er jemandes Auf-merksamkeit erregen konnte, hatte er vielleicht noch eine Chance.

Krachen von Zweigen und ein scharfer Fluch sagten ihm, dasssein Verfolger gestrauchelt war. Victor gewann ein paar kostbare Se-kunden. Er rannte weiter, nur instinktiv von seinem Orientierungs-sinn geleitet. Es gab kein Licht, das ihn führte, nichts außer demdüsteren Schimmer der Wolken am nächtlichen Himmel. Die Straßemusste gleich da vorne sein. Jeden Moment musste er Asphalt unterseinen Füßen spüren.

Und was dann? Wenn es keinen Wagen gab, den er anhaltenkonnte? Wenn niemand da war, der ihm half?

Dann sah er durch die Bäume ein schwaches Flackern, zweiwässrige Lichtbahnen.

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Mit einem verzweifelten Sprint jagte er auf den Wagen zu. SeineLungen brannten, seine Augen waren von dem Peitschen vonZweigen und Regentropfen fast blind. Wieder pfiff eine Kugel anihm vorbei und schlug in einen Baumstamm, aber der Schütze hinterihm hatte plötzlich keine Bedeutung mehr. Nur noch diese Lichterzählten, führten ihn durch die Dunkelheit, lockten ihn mit dem Ver-sprechen der Rettung.

Als seine Füße plötzlich auf Asphalt trafen, war es wie einSchock. Die Lichter waren noch immer vor ihm und schwanktenirgendwo jenseits der Bäume auf und ab. Hatte er den Wagen ver-passt? Entfernte sich der Wagen bereits hinter einer Kurve? Nein, dawar das Licht wieder, jetzt sogar heller. Es kam hier entlang. Victorrannte dem Wagen entgegen, folgte der Biegung der Straße undwusste die ganze Zeit, dass er hier draußen ein leichtes Ziel war.

Das Klatschen seiner Schuhe auf der nassen Straße erfüllte seineOhren. Die Lichter schwenkten auf ihn zu. In diesem Moment hörteer den dritten Schuss. Die Wucht des Einschlags ließ ihn taumelndauf die Knie fallen. Vage fühlte er, wie die Kugel seine Schulterdurchschlug, wie sein eigenes Blut warm an seinem Arm herunter-floss, aber er empfand keinen Schmerz. Er konnte sich nur daraufkonzentrieren, am Leben zu bleiben. Er kämpfte sich wieder auf dieBeine hoch, tat stolpernd einen Schritt vorwärts ...

Und wurde von den auf ihn zukommenden Scheinwerfern ge-blendet. Zu spät, um sich zur Seite zu werfen, sogar zu spät, um inPanik zu geraten. Reifen kreischten auf dem Asphalt, spritztenWasserfontänen hoch.

Victor fühlte den Aufprall nicht. Er wusste lediglich, dass erplötzlich am Boden lag und der Regen in seinen Mund prasselte undihm sehr, sehr kalt war.

Und dass er etwas zu tun hatte, etwas Wichtiges.Fiebrig tastete er in die Tasche seiner Windjacke. Seine Finger

schlossen sich um den kleinen Plastikzylinder. Victor konnte sich

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nicht genau erinnern, wieso der Behälter so wichtig war, aber er warerleichtert, weil das Ding noch vorhanden war. Er umklammerte esfest mit seiner Hand.

Jemand rief ihn. Eine Frau. Er konnte ihr Gesicht nicht durchden Regen sehen, aber er konnte ihre Stimme hören, heiser vor Panikinmitten des Summens in seinem Kopf. Er versuchte zu sprechen,versuchte, sie zu warnen, dass sie beide verschwinden müssten, dassder Tod ringsum in den Wäldern lauerte. Aber er brachte nur einStöhnen hervor.

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1. KAPITEL

Drei Meilen außerhalb des Redwood Valley war einBaum quer über die Straße gestürzt, und bei denschweren Regenfällen und dem Stau brauchte Ca-

therine Weaver fast drei Stunden, um Willits zu passieren. Da war esbereits zehn Uhr, sodass sie Garberville nicht vor Mitternachterreichen konnte. Hoffentlich blieb Sarah auf und wartete auf sie.Aber wie sie Sarah kannte, wurde bestimmt ein Abendessen im Herdwarm gehalten, und im Kamin loderte ein Feuer. Catherine fragtesich, wie ihrer Freundin die Schwangerschaft bekam. Wunderbar,natürlich. Sarah hatte jahrelang von diesem Baby gesprochen, einenNamen dafür ausgesucht – Sam oder Emmy – und das schon lange,bevor sie schwanger geworden war. Die Tatsache, dass sie keinenEhemann mehr hatte, spielte eine untergeordnete Rolle. „Man kannnur eine begrenzte Zeit auf den richtigen Vater warten“, hatte Saraherklärt. „Dann muss man die Dinge selbst in die Hand nehmen.“

Und das hatte sie getan. Während ihre biologische Uhr ihreletzten Jahre verticken ließ, war Sarah zu Cathy nach San Franciscogefahren und hatte in aller Ruhe aus den Gelben Seiten eine Samen-bank ausgesucht. Natürlich eine liberal eingestellte. Eine, die Ver-ständnis für die verzweifelte Sehnsucht einer neununddreißig Jahrealten, allein stehenden Frau aufbrachte. Die Befruchtung selbst wareine kühl klinische Angelegenheit gewesen, wie sie später erzählte.Auf den Tisch hüpfen, die Füße in die Steigbügel stellen, und fünfMinuten später war man schwanger. Nun ja, fast. Aber es war eineeinfache Prozedur, die Spender waren nachweisbar gesund, und wasdas Beste von allem war, eine Frau konnte ihre Mutterinstinkteohne das ganze alberne Zeug rund um eine Ehe befriedigen.

Ja, das alte Ehespiel! Sie beide hatten es durchlitten. Und nachihren Scheidungen hatten sie beide ungeachtet der Narben aus derSchlacht weitergemacht.

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Tapfere Sarah, dachte Cathy. Wenigstens besitzt sie den Mut, dasalles ganz allein durchzustehen.

Der alte Ärger stieg in ihr hoch und war noch immer starkgenug, dass ihr Mund sich schmal zusammenpresste. Sie konnteihrem Exmann Jack eine Menge verzeihen. Seine Selbstsucht. SeineForderungen. Seine Untreue. Aber sie konnte ihm nie verzeihen,dass er ihr die Chance verweigert hatte, ein Kind zu bekommen. Oh,sie hätte selbstverständlich gegen seinen Wunsch ein Kind be-kommen können, aber sie hatte gewollt, dass er es sich genauso sehrwünschte. Also hatte sie auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Dochwährend ihrer zehnjährigen Ehe hatte er sich nie „bereit“ gefühlt,war es nie „der richtige Zeitpunkt“ gewesen.

Er hätte ihr natürlich die Wahrheit sagen können, nämlich, dasser zu egozentrisch war, um sich mit einem Baby abzugeben.

Ich bin siebenunddreißig Jahre alt, dachte sie. Ich habe keinenEhemann mehr. Ich habe nicht einmal einen ständigen Freund. Aberich wäre zufrieden, könnte ich nur mein Kind in den Armen halten.

Wenigstens würde Sarah bald so glücklich sein.In vier Monaten war das Baby fällig. Sarahs Baby. Cathy musste

bei dem Gedanken lächeln, obwohl der Regen jetzt gegen ihre Wind-schutzscheibe prasselte und sie trotz der auf höchster Geschwindig-keit laufenden Scheibenwischer kaum die Straße erkennen konnte.Sie sah auf ihre Uhr. Es war fast schon halb zwölf. Weit und breitwar kein anderer Wagen in Sicht. Falls sie hier draußen eine Pannehatte, würde sie die Nacht auf den Rücksitzen verbringen müssen,während sie auf Hilfe wartete.

Sie versuchte, die Mittellinie auszumachen, sah jedoch nichts alseine solide Regenwand. Sie hätte doch in diesem Motel in Willits ab-steigen sollen. Doch sie hasste die Vorstellung, nur noch fünfzigMeilen von ihrem Ziel entfernt zu sein, besonders nachdem sie soweit gefahren war.

Sie entdeckte vor sich ein Schild: Garberville, 10 Meilen. Also

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war sie doch weiter, als sie angenommen hatte. Noch fünfund-zwanzig Meilen, dann kam eine Abzweigung und eine Strecke vonfünf Meilen durch dichte Wälder zu Sarahs Zedernholzhaus. Dass sieso nahe war, steigerte ihre Ungeduld. Sie gab dem alten Ford etwasmehr Gas, eine Unvorsichtigkeit unter diesen Bedingungen, aber einwarmes Haus und heiße Schokolade waren einfach zu verlockend.

Die Straße beschrieb plötzlich eine Kurve. Erschrocken riss Ca-thy das Steuer nach rechts, und der Wagen rutschte wild über die re-gennasse Fahrbahn. Cathy hütete sich, auf die Bremse zu treten.Stattdessen umklammerte sie das Lenkrad und kämpfte darum, denWagen wieder unter Kontrolle zu bringen. Die Reifen rutschten einpaar Meter weit, bis sie schon dachte, die Bäume am Straßenrandmitzunehmen. Im letzten Moment griffen die Reifen wieder, undCathy schaffte den Rest der Kurve.

Dann traf es sie völlig überraschend. In dem einen Momentgratulierte sie sich, weil sie eine Katastrophe vermieden hatte, und imnächsten Moment starrte sie ungläubig nach vorne.

Der Mann war aus dem Nichts aufgetaucht. Er kauerte auf derStraße, wie ein Wild von ihren Scheinwerfern gefangen. Ihre Reflexesetzten ein. Sie rammte den Fuß auf die Bremse, doch es war schonzu spät. Dem Kreischen ihrer Reifen folgte der dumpfe Aufprall desKörpers auf ihrer Motorhaube.

Scheinbar eine Ewigkeit saß sie wie erstarrt da und konnte nichtsanderes machen, als das Lenkrad zu umklammern und auf die hin-und hergleitenden Scheibenwischer zu starren. Als sie endlich be-griff, was tatsächlich passiert war, stieß sie die Tür auf und rannte inden Regen hinaus.

Zuerst konnte sie durch den Wolkenbruch nichts sehen, nureinen glitzernden Streifen Asphalt, der von dem schwachen Scheinihrer Rücklichter beleuchtet wurde. Wo ist er, dachte sie hektisch.Während Wasser über ihr Gesicht strömte, ging sie zurück und ver-suchte, mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Dann hörte

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sie über dem Prasseln des Regens ein leises Stöhnen. Es kam irgend-wo von der Seite bei den Bäumen.

Sie tauchte in die Dunkelheit ein und versank knöcheltief inSchlamm und Tannennadeln. Wieder hörte sie das Stöhnen, jetztnäher, fast in Reichweite.

„Wo sind Sie?“ schrie sie. „Melden Sie sich!“„Hier ...“ Die Antwort war so schwach, dass Cathy sie kaum

hörte, aber es reichte aus. Sie drehte sich herum, tat ein paar Schritteund stolperte buchstäblich in der Finsternis über die zu-sammengesunkene Gestalt. Zuerst bestand er nur aus einem ver-wirrenden Haufen nasser Kleider, aber sie fand seine Hand undfühlte seinen Puls. Er schlug schnell, aber regelmäßig, wahr-scheinlich regelmäßiger als ihr eigener jagender Puls. Seine Fingerschlossen sich plötzlich in einem verzweifelten Griff um ihre Hand-gelenk. Er rollte sich gegen sie und versuchte sich aufzusetzen.

„Bitte, bewegen Sie sich nicht!“ flehte sie.„Kann ... kann nicht hier bleiben ...“„Wo sind Sie verletzt?“„Keine Zeit. Helfen Sie mir. Schnell ...“ „Erst, wenn Sie mir sagen, wo Sie verletzt sind!“Er packte ihre Schulter und schaffte es zu Cathys Erstaunen, sich

halb hochzuziehen. Einen Moment schwankten sie zusammen, dannließ seine Kraft nach, und sie glitten beide im Schlamm auf die Knie.Sein Atem ging rau und stoßweise. Wenn er innere Verletzungenhatte, könnte er innerhalb von Minuten sterben. Sie musste ihnsofort in ein Krankenhaus bringen, selbst wenn das bedeutete, dasssie ihn zum Wagen zerren musste.

„Los, versuchen wir es noch einmal“, rief sie, packte seinenlinken Arm und schlang ihn sich um den Nacken. Sein schmerzlichesZischen erschreckte sie. Sofort ließ sie ihn los. Sein Arm hinterließklebrige Wärme auf ihrem Hals.

Blut!

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„Meine andere Seite ist in Ordnung“, ächzte er. „Versuchen Siees noch einmal!“

Sie wechselte auf seine rechte Seite und zog seinen Arm überihren Nacken. Sie schwankten wie betrunken, aber endlich stand eraufrecht. Cathy fragte sich, ob er die Kraft hatte, einen Fuß vor denanderen zu setzen. Sie würde ihn ganz sicher nicht von der Stelle be-kommen. Auch wenn er schlank war, so war er doch wesentlichgrößer, als sie erwartet hatte, zu groß, um von ihren einsfünfund-sechzig gestützt zu werden.

Aber irgendetwas schien ihn anzutreiben, irgendeine verborgeneReserve. Selbst durch die nassen Kleider hindurch fühlte sie dieHitze seines Körpers. Ein Dutzend Fragen entstanden in ihremKopf, doch ihr fehlte der Atem, um sie auszusprechen. Sie musstesich vollständig darauf konzentrieren, ihn zu dem Wagen und dannin ein Krankenhaus zu schaffen.

Während sie ihn um die Taille festhielt, krallte sie ihre Fingerum seinen Gürtel. Schmerzhaft kämpften sie sich Schritt um Schrittzur Straße voran. Sein Arm spannte sich hart um ihren Hals. Allesan ihm wirkte angespannt. Verzweiflung schien ihn anzutreiben.Seine Panik übertrug sich auf Cathy, steckte sie mit seinem Drangzu fliehen an. Nach jedem Meter musste sie stehen bleiben und ihrtriefnasses Haar zurückstreichen, nur um zu erkennen, wohin siegingen. Und rings um sie herum versperrten Regen und Dunkelheitjegliche Sicht auf mögliche lauernde Gefahren.

Die Rücklichter ihres Wagens leuchteten vor ihnen wierubinrote Augen in der Nacht. Mit jedem Schritt wurde der Mannschwerer, und ihre Knie wurden so weich, dass sie fürchtete, siebeide würden der Länge nach hinschlagen. Wenn das passierte,würde sie nicht mehr die Kraft haben, den Mann aufzurichten.Schon jetzt sackte sein Kopf gegen ihre Wange, und Wasser sickertevon seinem regennassen Haar an ihrem Hals hinunter.

Als sie die Beifahrerseite erreichten, fühlte sich Cathys Arm an,

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als würde er abfallen. Sie konnte kaum die Tür aufziehen und hattekeine Kraft mehr, um sanft vorzugehen. Sie schob den Mann einfachauf den Sitz.

Er sackte auf den Beifahrersitz. Seine Beine hingen noch heraus.Cathy bückte sich, packte ihn an den Knöcheln und hob ein Beinnach dem anderen in den Wagen, wobei sie mit einem Gefühl desLosgelöstseins feststellte, dass ein Mann mit so großen Füßen aufkeinen Fall elegant sein konnte.

Als sie sich auf den Fahrersitz schob, versuchte er schwach, denKopf zu heben, ließ ihn jedoch wieder nach hinten sinken. „BeeilenSie sich“, flüsterte er.

Gleich beim ersten Drehen des Schlüssels stotterte der Motornach der Zündung kurz und starb ab. Gütiger Himmel, flehte sie,spring an! Spring an! Sie schaltete die Zündung aus, zählte langsambis drei und versuchte es noch einmal. Diesmal sprang der Motoran. Cathy schrie fast vor Erleichterung auf, rammte den Ganghinein und jagte mit kreischenden Reifen Richtung Garberville los.

Voll Panik sah sie im Schein der Armaturenbrettbeleuchtung,dass der Kopf des Mannes gegen die Rückenlehne gesunken war. Errührte sich nicht.

„Hey! Hören Sie mich?“ schrie sie.Die Antwort kam in einem Flüsterton. „Ich lebe noch.“„Gütiger Himmel! Einen Moment dachte ich ...“ Ihr Herz

hämmerte, während sie wieder auf die Straße blickte. „Hier mussdoch irgendwo ein Krankenhaus sein ...“

„Bei Garberville ... da ist eines ...“„Wissen Sie, wie ich dahin komme?“„Ich bin vorbeigefahren ... fünfzehn Meilen ...“Wo war sein Wagen? „Was ist passiert? Hatten Sie einen Unfall?“Er setzte zum Sprechen an, doch seine Antwort wurde von

einem plötzlichen Flackern von Licht unterbrochen. Er raffte sichhoch, drehte sich um und starrte auf die Scheinwerfer eines anderen

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Wagens weit hinter ihnen. Bei seinem geflüsterten Fluch sah Cathyihn alarmiert an.

„Was ist los?“„Dieser Wagen ...“Sie blickte in den Rückspiegel. „Was ist damit?“„Wie lange folgt er uns schon?“„Ich weiß nicht. Ein paar Meilen. Warum?“Die Anstrengung, seinen Kopf hochzuhalten, schien plötzlich zu

viel für ihn zu werden, und er ließ ihn mit einem Stöhnen wiedersinken. „Kann nicht denken“, wisperte er. „Kann nicht ...“

Er hat zu viel Blut verloren, dachte sie und trat in Panik das Gas-pedal durch. Der Wagen tat einen Satz durch den Regen, das Lenk-rad vibrierte wild, während Fontänen von den Rädern hoch-sprühten. Langsamer, sonst brachte sie noch sie beide um!

Sie nahm den Fuß wieder vom Gas. Der Mann kämpfte sicherneut in sitzende Haltung hoch.

„Bitte, behalten Sie den Kopf unten“, flehte sie.„Dieser Wagen ...“„Ist nicht mehr da.“ „Sind Sie sicher?“Sie blickte in den Rückspiegel. Durch den Regen sah sie nur ein

schwaches Funkeln von Licht, aber das waren nicht eindeutigScheinwerfer. „Ich bin sicher“, log sie und war erleichtert, dass ersich wieder zurücklehnte.

Sein Schweigen jagte ihr Angst ein. Sie musste seine Stimme hörenund sich vergewissern, dass er nicht bewusstlos geworden war.

„Sprechen Sie mit mir“, drängte sie. „Bitte!“„Ich bin müde ...“„Nicht aufhören! Weitersprechen! Wie ... wie heißen Sie?“Die Antwort bestand nur aus einem Flüstern. „Victor ...“„Victor. Das ist ein großartiger Name. Der gefällt mir. Was

machen Sie beruflich, Victor?“

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Sein Schweigen war Anzeichen dafür, dass er zu schwach war,um sich zu unterhalten. Aber sie konnte nicht zulassen, dass er dasBewusstsein verlor.

„Na schön.“ Sie zwang sich dazu, ihre Stimme leise und ruhig zuhalten. „Dann werde ich sprechen. Sie brauchen nichts zu sagen.Hören Sie nur einfach zu. Mein Name ist Catherine. Cathy Weaver.Ich lebe in San Francisco, im Richmond District. Kennen Sie dieStadt?“ Es kam keine Antwort, aber sie fühlte, dass er ihre Wortestumm zur Kenntnis nahm. „Na schön“, fuhr sie fort, um die Stilleirgendwie zu füllen. „Vielleicht kennen Sie die Stadt nicht. Das spieltkeine Rolle. Ich arbeite für eine unabhängige Filmgesellschaft.Genau genommen gehört sie Jack. Meinem Exmann. Wir machenHorrorfilme. Zweitklassige Filme, aber sie werfen Profit ab. Unserletzter war ,Reptilian‘. Ich habe das Make-up bei den Spezialeffektengemacht. Richtig grausiges Zeug. Jede Menge grüner Schuppen undSchleim ...“ Sie lachte ... es war ein seltsamer, panikartiger Klang.Unverkennbar schwang Hysterie mit.

Sie musste darum kämpfen, sich wieder unter Kontrolle zu be-kommen.

Ein Lichtblitz ließ sie scharf in den Rückspiegel blicken. EinScheinwerferpaar war durch den Regen kaum erkennbar. Sekun-denlang beobachtete sie das Licht und überlegte, ob sie etwas zuVictor sagen sollte. Dann schwand es wie ein Gespenst.

„Unser nächstes Projekt ist für Januar geplant. ,Ghouls‘. Wirwerden in Mexiko filmen, was ich hasse, weil die verdammte Hitzeimmer das Make-up zum Schmelzen bringt ...“

Sie warf einen Seitenblick auf Victor, sah jedoch nicht einmal denHauch einer Reaktion. Aus Angst, den Kontakt zu ihm verloren zuhaben, wollte sie nach seinem Puls tasten. Seine Hand war tief in dieTasche seiner Windjacke geschoben. Als Cathy versuchte, sie heraus-zuziehen, reagierte er sofort mit heftigem Widerstand, wurde ruck-artig wach, schlug blindlings nach ihr und wollte sie von sich stoßen.

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„Victor, es ist schon gut!“ schrie sie und versuchte, gleichzeitigden Wagen zu steuern und sich selbst zu schützen. „Es ist ja gut. Ichbin es, Cathy! Ich will Ihnen nur helfen!“

Beim Klang ihrer Stimme wich die Spannung aus seinem Körper,und sein Kopf sank langsam gegen ihre Schulter. „Cathy“, flüsterteer. Es klang erleichtert. „Cathy ...“

„Ja, ich bin es.“ Sachte schob sie seine nassen Haare zurück. Ergriff nach ihrer Hand. Sein Griff war erstaunlich fest und beruhigendund sagte: Ich lebe noch, ich atme noch. Er presste ihre Handflächean seine Lippen. Es war eine Zärtlichkeit zwischen Fremden, die Ca-thy aufgewühlt zittern ließ.

Sie lenkte ihre volle Aufmerksamkeit wieder auf die Straße.Der Mann schwieg, aber sie konnte weder das Gewicht seinesKopfes an ihrer Schulter noch seinen warmen Atem in ihrem Haarignorieren.

Der Wolkenbruch wurde zu einem leichten, aber stetigen Regen.Das Sunnyside Up Cafe flog vorbei. Ein trister Kasten unter einereinzelnen Straßenlampe, und Cathy erhaschte einen Blick auf VictorsGesicht im Profil: eine hohe Stirn, scharfe Nase, hervorspringendesKinn. Dann war das Licht verschwunden, und er war nur einSchatten, der neben ihr leise atmete. Aber sie hatte genug gesehen, umzu wissen, dass sie dieses Gesicht nie vergessen würde.

„Wir müssten schon in der Nähe sein“, sagte sie, mehr um sichselbst als ihn zu beruhigen. „Wo ein Cafe auftaucht, kommt baldauch eine Stadt.“ Keine Antwort. „Victor?“ Noch immer keine Ant-wort. Sie unterdrückte ihre Panik und gab Gas.

Obwohl das Sunnyside Up Cafe schon mindestens eine Meilehinter ihr lag, konnte sie noch immer die Straßenlampe in ihremRückspiegel blinken sehen. Sie brauchte ein paar Sekunden, um zubegreifen, dass es nicht nur ein Licht war, sondern zwei, und dassdiese Lichter sich bewegten ... Scheinwerfer auf dem Highway. Wares etwa derselbe Wagen, den sie schon früher gesehen hatte? Sie

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