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JAN ERIK HESSLER ERGEBNISSE DER ARBEIT AM KOMMENTAR ZU EPIKURS BRIEF AN MENOIKEUS: EP. MEN. 124* A) Vorbemerkung Epikurs Brief an Menoikeus, eine Epitome der Ethik des Kepos, enthält einen theologischen Passus, in dem sich der Philosoph zur richtigen Auffassung von den Göttern äußert und die Vorwürfe, er sei ungläubig, von sich weist. Die breite Masse spreche den Göttern Eigenschaften zu, die mit deren Unvergänglichkeit und Glückselig- keit nicht vereinbar seien. Als Grund hierfür führt er folgendes an: ο γρ προλψεις εσν, λλ’ πολψεις ψευδες α τν πολλν πρ θεν ποφσεις, νθεν α µγισται βλβαι κ θεν πγονται κα φλειαι. τας γρ δαις οκειοµενοι δι παντς ρετας τος µοους ποδχονται, πν τ µ τοιοτον ς λλτριον νοµζοντες. Die Aussage νθεν... νοµζοντες stellt eine der umstrittensten Pas- sagen im Textcorpus Epikurs dar. Dies ist vor allem der Textüberliefe- rung des Satzteils νθεν... φλειαι geschuldet 1 : die Codices bieten (mit Ausnahme des Constantinopolitanus) übereinstimmend βλβαι ατιαι τος κακος bzw. β. αται τ. κ. κ θεν. Diesen Wortlaut so zu übersetzen, daß er sich für eine Interpretation tragfähig zeigt, scheint nicht möglich 2 . Folglich suchte und fand die Forschung im Laufe der * Dieser Aufsatz entstand während der Arbeit an meiner Dissertation bei Mi- chael Erler an der Universität Würzburg (Edition, Übersetzung und Kommentar des Briefes an Menoikeus). Da sowohl die Interpretation als auch die textkritischen Aspekte dieser umstrittenen Stelle die Grenzen eines lesbaren Kommentars über- schreiten, erfolgt die Diskussion nicht in meiner Dissertation, sondern in diesem Rahmen. Danken möchte ich an dieser Stelle Michael Erler, der die Publikation dieser Studie beförderte; Tiziano Dorandi, Graziano Arrighetti und Holger Essler für das Lesen und kritische Bewerten meiner Zwischenergebnisse; Mauro Tulli und seinen Schüler/nnen für ihre Gastfreundschaft während meiner Forschungsaufent- halte in Pisa; den Mitarbeitern der Handschriftenabteilung der UB Göttingen; Sabi- ne Schlegelmilch für das Korrekturlesen dieser Abhandlung. 1 Cfr. USENER, Epicurea, XXI. 60; BARIGAZZI, Epicurea, 146; SCHMID, Götter, 105-106; ALFINITO, Passo, hier 266. 2 Man kann sich nur ALFINITO, Passo, 266 anschließen, der zu dieser Stelle äußert: «i codici infatti dopo βλβαι riportano parole prive di senso, ατιαι τος

A) Vorbemerkung - epikur-wuerzburg.de · ERLER,Epikur,48.52.79;ECKSTEIN,Gemeinde,133-134. 14 X en op h ,R subl ic aL d m r I3; D tO V 1, 14;Aristoteles,Degenerationeanimalium 765a28

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  • JAN ERIK HESSLER

    ERGEBNISSE DER ARBEIT AM KOMMENTAR ZU EPIKURSBRIEF AN MENOIKEUS: EP. MEN. 124*

    A) Vorbemerkung

    Epikurs Brief an Menoikeus, eine Epitome der Ethik des Kepos,enthält einen theologischen Passus, in dem sich der Philosoph zurrichtigen Auffassung von den Göttern äußert und die Vorwürfe, ersei ungläubig, von sich weist. Die breite Masse spreche den GötternEigenschaften zu, die mit deren Unvergänglichkeit und Glückselig-keit nicht vereinbar seien. Als Grund hierfür führt er folgendes an:

    οὐ γὰρ προλήψεις εἰσίν, ἀλλ’ ὑπολήψεις ψευδεῖς αἱ τῶν πολλῶν ὑπὲρθεῶν ἀποφάσεις, ἔνθεν αἱ µέγισται βλάβαι ἐκ θεῶν ἐπάγονται καὶὠφέλειαι. ταῖς γὰρ ἰδίαις οἰκειούµενοι διὰ παντὸς ἀρεταῖς τοὺς ὁµοίουςἀποδέχονται, πᾶν τὸ µὴ τοιοῦτον ὡς ἀλλότριον νοµίζοντες.

    Die Aussage ἔνθεν... νοµίζοντες stellt eine der umstrittensten Pas-sagen im Textcorpus Epikurs dar. Dies ist vor allem der Textüberliefe-rung des Satzteils ἔνθεν... ὠφέλειαι geschuldet1: die Codices bieten(mit Ausnahme des Constantinopolitanus) übereinstimmend βλάβαιαἴτιαι τοῖς κακοῖς bzw. β. αἰτίαι τ. κ. ἐκ θεῶν. Diesen Wortlaut so zuübersetzen, daß er sich für eine Interpretation tragfähig zeigt, scheintnicht möglich2. Folglich suchte und fand die Forschung im Laufe der

    * Dieser Aufsatz entstand während der Arbeit an meiner Dissertation bei Mi-chael Erler an der Universität Würzburg (Edition, Übersetzung und Kommentardes Briefes an Menoikeus). Da sowohl die Interpretation als auch die textkritischenAspekte dieser umstrittenen Stelle die Grenzen eines lesbaren Kommentars über-schreiten, erfolgt die Diskussion nicht in meiner Dissertation, sondern in diesemRahmen. Danken möchte ich an dieser Stelle Michael Erler, der die Publikationdieser Studie beförderte; Tiziano Dorandi, Graziano Arrighetti und Holger Esslerfür das Lesen und kritische Bewerten meiner Zwischenergebnisse; Mauro Tulli undseinen Schüler/nnen für ihre Gastfreundschaft während meiner Forschungsaufent-halte in Pisa; den Mitarbeitern der Handschriftenabteilung der UB Göttingen; Sabi-ne Schlegelmilch für das Korrekturlesen dieser Abhandlung.

    1 Cfr. USENER, Epicurea, XXI. 60; BARIGAZZI, Epicurea, 146; SCHMID, Götter,105-106; ALFINITO, Passo, hier 266.

    2 Man kann sich nur ALFINITO, Passo, 266 anschließen, der zu dieser Stelleäußert: «i codici infatti dopo βλάβαι riportano parole prive di senso, αἴτιαι τοῖς

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    κακοῖς, intraducibili nel contesto»; cfr. MANUWALD, Prolepsislehre, 55 n. 4; PHIL-IPPSON, Zu Epikur, 62: «Hier ist βλάβαι αἰτίαι sinnlos».

    3 Dieser Begriff wird aller Wahrscheinlichkeit nach von Epikur erstmals ver-wendet, cfr. Cicero, De natura deorum I 44: quae est enim gens aut quod genus ho-minum quod non habeat sine doctrina anticipationem quandam deorum, quamappellat πρόληψιν Epicurus id est anteceptam animo rei quandam informationem,sine qua nec intellegi quicquam nec quaeri nec disputari potest. Zur Form undFunktion der Prolepse bei Epikur cfr. ESSLER, Glückselig, 148-164.

    Jahre eine schier unüberschaubare Anzahl von Konjekturen. Diesewerden nicht im Rahmen des interpretatorischen Teils dieser Studiediskutiert, sondern innerhalb des zweiten, textkritischen Abschnitts C.

    Hier sei als Textbasis gegeben ἔνθεν αἱ µέγισται βλάβαι ἐκ θεῶνἐπάγονται καὶ ὠφέλειαι. Im Folgesatz ταῖς... νοµίζοντες besteht dasProblem darin, daß das Subjekt des Satzes unklar ist und die Aussa-ge ansonsten aus mehrdeutigen Vokabeln besteht. Was die inhaltli-che Bedeutung dieser Stelle betrifft, so lassen sich durch Ausschlußeiniger Interpretationen zumindest denkbare und weniger wahr-scheinliche Interpretationen herausarbeiten.

    B) Interpretation

    1.

    οὐ γὰρ προλήψεις εἰσίν, ἀλλ’ ὑπολήψεις ψευδεῖς αἱ τῶν πολλῶν ὑπὲρθεῶν ἀποφάσεις, ἔνθεν αἱ µέγισται βλάβαι ἐκ θεῶν ἐπάγονται καὶ ὠφέλειαι.

    1.1. οὐ... ἀποφάσειςZunächst zur ersten Hälfte des Satzes οὐ... ἀποφάσεις. Unmittel-

    bar vor diesem Satz wurde bereits die Begründung für die Distanzie-rung von denjenigen geäußert, die gottlos sind: sie hängen denGöttern die δόξαι der πολλοί an (ο®ους δ’ αὐτοὺς ‹οἱ› πολλοὶνοµίζουσιν, οὐκ εἰσίν· οὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς ο®ους νοµίζουσιν.ἀσεβὴς δ’ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν θεοὺς ἀναιρῶν, ἀλλ’ ὁ τὰς τῶνπολλῶν δόξας θεοῖς προσάπτων). Nun wird im Folgesatz begründet,warum dies wahre Asebie ausmacht. Die ἀποφάσεις der πολλοί überGötter sind nämlich nicht (wahre) προλήψεις, sondern falscheὑπολήψεις, die die allgemeine Gottesvorstellung nicht bewahren.

    Zum Begriff πρόληψις äußert Obbink (OBBINK, On Piety, 506):«a technical term for which Epicurus was notorious»3. πρόληψις isteines der drei epikureischen Wahrheitskriterien (cfr. Epistula adMenoeceum 123). Man erlangt sie als Ergebnis wiederholter Wahr-nehmung eines Objekts4, durch das wiederholte Einwirken ausströ-

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  • mender Bilder auf die Sinnesorgane – dies gilt auch für nichtsinnli-che Wahrnehmung, zu beobachten z.B. bei der Gottesvorstellung inder Seele, wie sie Lukrez beschreibt5.

    προλήψεις sind Vorstellungen allgemeiner Art, ‘Basisbegriffe’,an denen das jeweils Besondere gemessen wird, so auch nach derDefinition bei Diogenes Laertios6.

    Also handelt es sich um «eine Art von Wahrnehmung (οἱονεὶκατάληψις) oder richtige Ansicht (δόξα ὀρθή) oder Begriff(ἔννοια) oder allgemeines Konzept (καθολικὴ νόησις), im Geistgespeichert, eine Erinnerung an das, was oftmals erschienen ist(µνήµην τοῦ πολλάκις ἔξωθεν φανέντος)» (Paraphrase ESSLER,Glückselig, 150-151).

    Ein wichtiger Ursprung für Prolepsen ist die Sprache, da sich beiWorten Vorstellungen einstellen, denen unmittelbare Evidenz zu-kommt7. πρόληψις ist demnach eine mit der Wortbedeutung wesent-lich verbundene Vorstellung8, die aus wiederholter Erfahrunggewonnen wird9. Es wurde angenommen, dass die Prolepsen durchdas Medium der Sprache tradiert werden10, doch ist auch die Theo-rie zu erwägen, die jeder einzelnen Person eigene Prolepsen zu-spricht, welche diese dann auf die Sprache bezieht11. An unsererStelle wäre die πρόληψις von den Göttern also ein ‛Basisbegriff’von diesen, der sich anhand von Erfahrungswerten bildet, aus wie-derholter Wahrnehmung der Götter resultiert, und beim Hören desWortes ‘Gott’ mit Evidenz von alleine einstellt12.

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    4 Baileys Übersetzung zur Stelle (BAILEY, Epicurus, 85): «conceptions deri-ved from sensation»; cfr. ib., 330.

    5 Lukrez V 1169-1174; cfr. ESSLER, Glückselig, 174-187.6 Diogenes Laertios X 33-34; cfr. Epikur, Epistula ad Herodotum 72; Ratae

    sententiae 37-38. Cfr. auch Epikur, De natura fr. 31, 4 2Arr. 2; Philodem, De Pieta-te I col. 45, 1277-1305 Obbink (im folgenden O.). Zur Verwendung bei Philodemcfr. VOOIJS, VAN KREVELEN, Lexicon, 2, 72.

    7 LONG, Aisthesis, 119; ASMIS, Scientific, 24-34.8 ESSLER, Glückselig, 159-163, mit weiterer Literatur und Diskussion der Stel-

    len bei Philodem.9 Wenn die ‘Allgemeinvorstellungen’ bei Cicero als insitas... vel potius inna-

    tas bezeichnet werden (Cicero, De natura deorum I 44), muß dies nicht der sonsti-gen Lehre Epikurs widersprechen, sondern kann im Sinne einer Prädisposition fürdie Aufnahme solcher Begriffe verstanden werden, cfr. LONG, SEDLEY, Hellenistic,2, 148; ESSLER, Glückselig, 48; zur πρόληψις in De natura deorum zuletzt ESSLER,Glückselig, 33-56.

    10 MANUWALD, Prolepsislehre, 103-114.11 LONG, Aisthesis, 120-121.12 Cfr. Aristoteles, Analytica posteriora 72b 20-22; cfr. ASMIS, Scientific, 35.

    Wie sich genau die πρόληψις von den Göttern einstellt und was sie schließlich um-

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  • M.E. stellt sich neben dem Inhalt der Prolepse an dieser Stelle eine wei-tere Frage, welche bisher offenbar als unproblematisch erachtet wurde: war-um kommt das Wort πρόληψις hier überhaupt vor? In einer protreptischenSchrift13, für welche keine Vorkenntnisse erforderlich sein sollten, könnte esSchwierigkeiten bereiten, wenn Epikur hier in seiner Werbeschrift einen fürseine Lehre wichtigen Schlüsselbegriff einsetzen wollte. Ist dieser für einenAnfänger auf einfacher Ebene verständlich als ‛Vorbegriff’?

    Da das Nomen vor Epikur keine Verwendung fand, muß man Textstel-len suchen, die das Verb im Sinne von ‛antizipieren’ enthalten. Diese fin-den sich z.B. bei Xenophon, Demosthenes und Aristoteles, wo jeweils voneiner geistigen ‘Vorwegnahme’ die Rede ist14. Wenn nun Menoikeus oderein anderer noch nicht mit Epikurs Lehre Vertrauter den Begriff πρόληψιςliest, so denkt er wohl (wie bei der Analogie ὑπολαµβάνειν – ὑπόληψις) aneine Art ‘zuvor bestehendes Urteil’, was eine Annäherung an das epikurei-sche Konzept möglich macht. Vermutlich bleiben aber dennoch Fragen of-fen, die man im Schulgespräch lösen muß: eben, was genau hier gemeintist, um einen positiven Gegenbegriff zur Falschen ὑπόληψις zu bilden. Daßetwas Positives gemeint sein muß und nicht etwa ein ‘Vorurteil / vorschnel-les Urteil’ ergibt sich aus dem Kontext. Folglich sollte es auch für einenAdepten möglich sein, den Brief zu lesen, ohne in Aporie zurückzubleiben,da der Begriff πρόληψις für ein Basisverständnis erschließbar scheint.

    Ein weiteres Problem bzgl. des Begriffes πρόληψις ergibt sich aus derDatierung des Briefes. Dessen Abfassungszeit ist gebunden an die Persondes Menoikeus, von dem allerdings nur eine einzige biographische Infor-mation greifbar ist, die viele Probleme mit sich bringt: aus PhilodemsSchrift Ad contubernales geht hervor, daß Epikur wohl 285/4 zu den Söh-nen des Menoikeus Kontakt hatte. Das Verständnis dieser Nachricht iststark von der benutzten Textausgabe abhängig, und die Kenntnisse überMenoikeus und seine Söhne sind sehr begrenzt und der Interpretationausgesetzt.

    Lange Zeit wurde angenommen, daß Menoikeus einer der erstenSchüler Epikurs in Athen war, und der Brief an Menoikeus demnachwohl im Zeitraum 307/6-305/4 entstanden sein sollte. Begründet wurdedies mit einer Passage in Philodems erwähnter Schrift in Sbordones Re-

    faßt, ist wie der Begriff selbst äußerst umstritten – hier sei zur Vertiefung bes. hin-gewiesen auf LONG, Aisthesis; MANUWALD, Prolepsislehre; JUERSS, Erkenntnis-theorie; GLIDDEN, Peri Physeos; ID., Prolepsis; HAMMERSTAEDT, Prolepsis; FRANZ,Gorgias 265-278; zuletzt ESSLER, Glückselig, bes., 174-187. Eindeutig ist nur, daßdie ‘Basisbegriffe’ oder ‘Vorbegriffe’ von den Göttern etwas Positives darstellen,auf dem die ἀποφάσεις der πολλοί nicht gründen. Diese halten sich an dieὑπολήψεις ψευδεῖς.

    13 Zum Brief an Menoikeus als protreptischer Schrift cfr. SCHMID, Epikur, 692;ERLER, Epikur, 48. 52. 79; ECKSTEIN, Gemeinde, 133-134.

    14 Xenophon, Respublica Lacedaemoniorum XIII 3; Demosthenes, Oratio IV1, 14; Aristoteles, De generatione animalium 765a28.

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  • ERGEBNISSE DER ARBEIT AM KOMMENTAR ZU EPIKURS BRIEF AN MENOIKEUS 15

    15 Fr. l6 Sbordone = fr. 111 Arr.16 STECKEL, Epikuros, 622; ERLER, Epikur, 79.17 Philodem, Ad Contubernales fr. 114 Angeli = Test. 24 Dorandi bei ANGELI,

    Amici 168.18 ANGELI, Amici, 240.19 DORANDI, Arconti, 127.20 So Epikur in De natura XXVIII fr. 12, col. 3 Sedley; cfr. SEDLEY, On nature

    XXVIII, 60.21 Cfr. zu dieser Problematik v.a. SEDLEY, On nature XXVIII, 13-17; ID., Lucre-

    tius, 100. 128-131; ARRIGHETTI, Sulla Natura.

    konstruktion15: ἐπ’ Ἰσαίου [δὲ | τοὺ]ς Mενοικέως ὑιοs[ὺς | εἰσφ]έρεινoµίσαsντsα[ς | ὡς] µsαθηsτsὰς. Aus dieser Stelle wurde geschlossen, die Söhnedes Menoikeus seien 285/84 während des Archontats des Isaios in den Ke-pos aufgenommen wurden. Da der Eintritt wohl mit 18 oder 19 Jahren ge-schehen sei, sei die Geburt der jungen Männer auf etwa 304/3 anzusetzen,weshalb ihr Vater wohl einer der ersten Schüler Epikurs nach der Gründungdes Kepos 307/6 in Athen gewesen sei16. Allerdings wurden diese Annah-men von den modernen Interpreten nicht näher ausgeführt, es heißt ledig-lich, die Söhne seien 285/4 in die epikureische Schule aufgenommenworden, weshalb Menoikeus einer der frühesten Schüler gewesen sei.

    Bevor man dieser Theorie zustimmt, sollte man zunächst den von Sbor-done erstellten Text dem jüngeren von Angeli gegenüberstellen – die rele-vante Stelle ist in beiden Versionen bei Angeli abgedruckt17. Bei Angelibietet sich ein anderes Bild der Philodem-Passage: ἐπ’ Ἰσαΐου [δὲ | τοῖ]ςsMενοικέως ὑιοs[ῖς· | «συµφ]έρει νoµίσαντs[.... | ...] Ἀθην[ῶ]ν ΑΣΥ. Da Phi-lodems Schrift Ad contubernales zahlreiche Exzerpte von Briefen Epikursbietet, so scheint mir Angelis Variante stimmiger, welche die Söhne desMenoikeus aufgrund der Worte τοῖ]ςs Mενοικέως ὑιοs[ῖς· als Adressaten ei-nes nicht näher bekannten ‛Briefs an die Söhne’ aufweist. Die Herausgebe-rin ist der Meinung, daß selbst bei einem Akzeptieren von Sbordones τοὺ]ςMενοικέως ὑιοs[ὺς daran zu denken sei, diesen Akkusativ als zu einemBriefexzerpt zugehörig anzunehmen18, was mir plausibel erscheint unddennoch ermöglicht «che non solo Meneceo, ma anche i suoi figli furonodiscepoli di Epicuro»19. Eine Aussage über den Abfassungszeitpunkt desBriefes an Menoikeus ist dann allerdings gar nicht mehr möglich.

    Falls man nach Sbordone den Brief als Frühschrift nicht lange nach307/6 ansieht, ergibt sich ein Problem durch das Vorkommen der πρόληψις.Dieser Begriff wird von Epikur erst im Laufe seiner Lehrtätigkeit einge-führt und dürfte vor dem Jahr 296/95 v. Chr. gar nicht verwendet sein, ohnemodernen Interpreten Schwierigkeiten zu bereiten: In nat. XXVIII aus demJahr 296/95 v. Chr. äußert Epikur nämlich, er habe früher andere Begriffefür πρόληψις verwendet20. Die Frage, bis zu welchem Zeitpunkt, ist nichteindeutig zu beantworten – der Text nennt als Zeitpunkt lediglich τότε, folg-lich ist mit 296/95 nur der Endpunkt der Begriffsentwicklung gesichert. Je-de weitere Aussage ist nicht eindeutig beweisbar21.

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  • ὑπόληψις ist das Gegenteil zu πρόληψις und Äquivalent zu δόξα,eine ‘Meinung’ oder ‘Annahme’22. Doch ist später auch ohne Attributdie Verwendung als ‘falsche Meinung’ zu beobachten23. Die Aussa-gen der Mehrheit bzw. ihr Inhalt basieren also nicht auf Prolepsen(richtigen Basisbegriffen), sondern auf falschen Mutmaßungen.

    1.2. ἔνθεν ... ὠφέλειαιNun zur zweiten Satzhälfte ἔνθεν... ὠφέλειαι. Im vorausgehen-

    den Satzteil οὐ... ἀποφάσεις stellt Epikur den nach seiner Lehrerichtigen προλήψεις von den Göttern die falschen ὑπολήψεις derπολλοί gegenüber. Die Aussage über βλάβαι und ὠφέλειαι wird mitdem Wort ἔνθεν angeschlossen, was soviel heißt wie ‛von wo aus –daher – aufgrund welcher – aus diesem Umstand’. Folglich sind amehesten zwei Interpretationen vorstellbar24:

    1) ἔνθεν bezieht sich ausschließlich auf die ἀποφάσεις / ὑπολήψεις25und der Satz gibt deren Inhalt wieder: hier wäre also von der tra-ditionellen Sicht der Mehrheit – Strafe für die Schlechten(βλάβαι) und Belohnung für die Guten (ὠφέλειαι) – die Rede.

    2) ἔνθεν bezieht sich auf den ganzen vorausgehenden Satz26 und so-mit auf den Umstand, daß es richtige und falsche Auffassungenvon den Göttern gibt, und erläutert die Folgen beider27. Der Satzἔνθεν... ὠφέλειαι könnte somit den vorausgehenden Satz in derWeise erläutern, daß sowohl Schaden wie Nutzen von den Göt-tern kommen – in der Form, daß wahre προλήψεις von diesen

    22 Ebenso bei Aristoteles, cfr. BONITZ, Index, s.v.; ὑπόληψις περὶ θεῶν Aristo-teles, De Caelo 270b6; für Epikur cfr. Diogenes Laertios X 34.

    23 Verbal (negativ verwendet ohne ψευδῶς) Philodem, De dis III col. 8, 38Diels (DIELS, Philodemos. Im folgenden D.); De Pietate I col. 46, 1306-1321 O.;col. 61Α, 1741-1749 O.; in ähnlichem Zusammenhang wie Epistula ad Menoe-ceum 124: Philodem, De Pietate I col. 71, 2032-2058 O.; ὑπολήψεις ψευδεῖς in Dedis I col. 12, 2-7 D.; zur Verwendung bei Philodem cfr. VOOIJS, VAN KREVELEN, Le-xicon, 2, 122; Karneiskos, Philistas II p. 190,7 Capasso; ὑπόληψις περὶ θεῶν neu-tral in Porphyrios, Ad Marcellam 22.

    24 Zur Schwierigkeit bei der Interpretation cfr. v.a. OBBINK, On Piety, 459-460.25 Bailey (BAILEY, Epicurus, 330) bezieht ἔνθεν auf die ἀποφάσεις und über-

    setzt: «according to which the greatest misfortunes befall the wicked and thegreatest blessings ‘the good’ by the gift of the gods». SCHMID, Götter, 118: «dasVorliegen von ὑπολήψεις ψευδεῖς ist der Grund, weshalb...». Er setzt es mit «unde»gleich. Cfr. BOLLACK, Pensée, 100.

    26 BARIGAZZI, Epicurea, 150 und bes. 156.27 Als weitere Möglichkeit bezieht Bignone (BIGNONE, Epicuro, 45) ἔνθεν auf

    die Götter, so auch P.A. VANDER WAERDT, Hermarchus, 101 n. 50 – doch im Satzsteht ja noch ἐκ θεῶν, was diese Vermutung nicht sehr plausibel macht.

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  • ERGEBNISSE DER ARBEIT AM KOMMENTAR ZU EPIKURS BRIEF AN MENOIKEUS 17

    28 Cfr. Porphyrios, Ad Marcellam 24; Platon, Leges 716d; cfr. SCHMID, Götter,98.

    29 Zu diesen Folgen cfr. SCHMID, Götter, 97-100.30 So auch BARIGAZZI, Epicurea, 150 und bes. 156. Obbink (OBBINK, On Piety,

    459-460) gibt angesichts des korrupten Texts gar zu bedenken, ἔνθεν habe erstnachträglich Aufnahme in den Text gefunden.

    31 Ratae sententiae 1; Epistula ad Herodotum 77; fr. 361 Us.; Philodem, De disI col. 2,7-17 D.: ... δεικτέον ἀπ’ ἀνθρώ[πων τὴν προσεµ]φέsριαν συν[στά]σε[ι] τῶsνθs[εῶν, ὥστε] φῆσ[αι τ]ὸν θεὸν ζῶιον [ἀίδιον καὶ ἄφθαρ]τον καὶ συµπεπλη[ρῶσθαιεὐ]δsαιµ[ονίαι· κ]αθόσ[ο]ν ο[ὔ]τ[ε τ]οὺς [ἀνθρωπείους ἔχει πό]νsους [οὔτε τὰ περὶτὸν θά]να[τ]ον κακά, µή τ[ί γε τιµωρία]ς, οs[ὐ] δὲs δεκτικός γε πά[ν]τω[ν τῶνἀλγε]ινsῶsν ἔσται, δsεκ[τι]κὸ[ς δ’ ἀγαθῶν καὶ] συ[µπε]πληρω[µένος] ὡ[ραιότητι. Le-diglich Zimmermann (ZIMMERMANN, Vita, 91-93) spricht davon, der Gott Epikursstrafe die Schlechten und fördere die Guten.

    32 So auch OBBINK, On Piety, 464; VANDER WAERDT, Hermarchus, 101 n. 50.

    ὠφέλειαι und die falschen ὑπολήψεις βλάβαι mit sich brächten.Verantwortlich wären nicht die Götter, sondern die Menschenselbst28.

    ἔνθεν könnte somit also in ὠφέλειαι und βλάβαι die Folgen einerrichtigen bzw. falschen Auffassung zeigen29, nicht worin diese be-steht. Es mag nur auf die ὑπολήψεις bezogen sein, der Bezugπρολήψεις – ὠφέλειαι wäre implizit, also letztlich auf den ganzenvorherigen Satz bezogen30: «da es richtige und falsche Auffassun-gen von den Göttern gibt, kann Schaden (aufgrund von ὑπολήψεις)und Nutzen (aufgrund von προλήψεις) von den Göttern kommen».

    Also stellt sich die Frage, was hier mit βλάβαι und ὠφέλειαι ge-meint ist: ist der Satz eine von Epikur wiedergegebene Sichtweiseder Menge (1) oder eine eigene Aussage des Philosophen (2)? Ersteinmal widerspricht eine Annahme von Schaden und Nutzen durchdie Götter fundamentalen Dogmen Epikurs31, und somit wirkt es amplausibelsten, hier die Vorstellungen von Nicht-Epikureern zu er-warten. Es spricht also zunächst vieles für Variante 1, die auch ohneweitere Zeugnisse Epikurs verständlich ist32. ἔνθεν wäre dann aufdie falschen ὑπολήψεις bezogen und zeigte, daß sowohl ὠφέλειαιals auch βλάβαι deren Inhalt sind. Übersetzt würde es folglich mit‘aufgrund welcher’. Nutzen und Schaden sind also hier die Folgeder irrtümlichen traditionellen Auffassung von Göttern, die für posi-tive und negative Erlebnisse verantwortlich gemacht werden.

    Gibt es auch Hinweise darauf, daß in der Lehre Epikurs doch eineMöglichkeit besteht, daß von den Göttern Schaden und Nutzenkommen können (Variante 2)? Philodem spricht in De Pietatedurchaus davon, daß nach den Epikureern (ἡµεῖς) – im Gegensatz

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  • zu den Stoikern (αὐτοὺς) – die Götter ‛Ursache’ von Schaden undNutzen sind:

    µετὰ δὲ ταῦτ’ ἐπιδεικτέον αὐτοὺς ὅτι βλάβης καὶ κακῶν οὔ φασ s[ι]ναἰτίους εἶναι τοῖς ἀνθρώπsοις τοῦς θε[ο]ύ‹ς, ὃ› δοξάζοντας ἀπέsχεσθαι τῶνἀ[δι]κο[πρ]αγηµάτω[ν] ἔνιοί φασιν, [ἡ]µεῖς δὲ καὶ τsαῦτ’ ἐν[ί]οις ἐξ αὐτῶνλέγοµεν παρακολουθεῖν κα[ὶ] τῶν ἀγαθῶν τὰ µέγιστα33.

    In einer weiteren Passage desselben Werkes äußert sich der Autorähnlich zu den Ansichten der Epikureer:

    τὸ δὲ περ[αίνεσθαι ὠ]φελίας ἐκ [θεῶν τοῖς] ἀγαθοῖς καs[ὶ βλάβας] τοῖςκα[κοῖς κατα]λείπουσι[ν· καὶ τοῖς] µὲν φρον[ίµοις καὶ] δικαίοις τ[ὸτελει]οῦσθαι νοηs[τέον] καὶ τὰς ὠφ[ελίας καὶ] τὰς βλάβαs[ς οὐκατα]δεεστέραs[ς ἢ καὶ] µείζους ὧ[ν ἅνθρω]ποι συνάπ[τουσιν, ο]ὐ κατs’ἀσθέ[νειαν, οὐ]δὲ καθάπερ [ἡµεῖν ἐκ] τοῦ θ sεοῦ τι[νος δέ]ον κἀνἐπα[ναχω]ρήσει τῆς [ὀνήσεως] αὐτοῦ, καὶ τ[αῦτά φ]ασι σεµνό s[τατα]. ἔν τεγὰρ τ[ῶι Περὶ] θεῶν ποία [τίς ἐσ]τιν αἰτία ν[εµέσεως] καὶ σωτηρία[ςἀνθρώ]ποις διὰ τοῦ θε[οῦ κα]ταλειπτέον ὑπ[ογρά]φει διὰ πλεό[νων]34.

    Da dies nicht durch eine Intervention der Götter in menschlicherSphäre erfolgen kann35, wäre hier daran zu denken, daß die Vorstel-lungen von den Göttern βλάβαι und ὠφέλειαι verursachen, die Aus-wirkungen also letztlich psychisch sind36. Diese Interpretation wirdunterstützt durch eine Passage bei Lukrez (6, 68-78):

    quae nisi respuis ex animo longeque remittisdis indigna putare alienaque pacis eorum,delibata deum per te tibi numina sanctasaepe oberunt; non quo violari summa deum vis

    33 PHerc 1428 col. 12,13-25 Henrichs = Philodem, De Pietate II p. 86,13-18Gomperz = HENRICHS, PHerc. 1428, 22-23.

    34 Philodem, De Pietate I col. 36, 1023-1037, 1049 O. Obbink nimmt in seinerEdition (OBBINK, On Piety, 177 n. 2 und 8) nicht Epikureer allgemein, sondern dieκαθηγεµόνες des Kepos als Subjekt der Aussage an.

    35 Ratae sententiae 1; cfr. frr. 361. 364 Us.; fr. 115 2Arr. = fr. 99 Us.; POxy 215,col. 2, 12-19; Cicero, De natura deorum I 51; Epikur, Epistula ad Herodotum 77;Seneca, De beneficiis IV 4, 1; IV 19, 1-2.

    36 Cfr. BIGNONE, Epicuro, 44 n. 7; ID., Aristotele, 202; DIANO, Ethica, 105;SCHMID, Götter, 98-101, er spricht von ‘spiritueller’ βλάβη und ὠφέλεια (99); BA-RIGAZZI, Epicurea, 146; BARIGAZZI, Uomini, 51-52; HENRICHS, PHerc. 1428, 29-30: aus einem «kontemplativen Verhalten zu den Göttern» hergeleitet; OBBINK, AllGods, 214-220. Weitere Textpassagen: Philodem, De Pietate I col. 41, 1176-1142,1189 O.; col. 71, 2032-2033. O.; col. 71, 2043-2058. O.; Porphyrios, Ad Marcellam18; Plutarch, De Superstitione 2 = Moralia 165c; Eusebios, Praeparatio evangeli-ca XV 5, 9 = fr. 385 Us.

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  • ERGEBNISSE DER ARBEIT AM KOMMENTAR ZU EPIKURS BRIEF AN MENOIKEUS 19

    37 Demokrit fr. B 175 DK = Stobaios II 9, 4 Wachsmuth.38 Cfr. OBBINK, All Gods, 220.39 Z.B. argumentiert Bailey (BAILEY, Atomists, 469) gegen die Anwendung

    von Philodem-Texten auf Epikur und die frühen Epikureer – Philodem selbst äu-

    possit, ut ex ira poenas petere inbibat acris,sed quia tute tibi placida cum pace quietosconstitues magnos irarum volvere fluctus,nec delubra deum placido cum pectore adibis,nec de corpore quae sancto simulacra ferunturin mentes hominum divinae nuntia formae,suscipere haec animi tranquilla pace valebis.

    Dieser Ansatz mag in Auseinandersetzung mit der AuffassungDemokrits entstanden sein, der nach Stobaios äußerte:

    οἱ δὲ θεοὶ τοῖσι ἀνθρώποισι διδοῦσι τἀγαθὰ πάντα καὶ πάλαι καὶ νῦν.πλὴν ὁκόσα κακὰ καὶ βλαβερὰ καὶ ἀνωφελέα, τάδε δ’ οὔ‹τε› πάλαι οὔτενῦν θεοὶ ἀνθρώποισι δωροῦνται, ἀλλ’ αὐτοὶ τοῖσδεσιν ἐµπελάζουσι διὰνοῦ τυφλότητα καὶ ἀγνωµοσύνην37.

    Auch Epikur schriebe die κακὰ καὶ βλαβερὰ καὶ ἀνωφελέα derτυφλότης und ἀγνωµοσύνη der Menge zu, allerdings können nachseiner Lehre die ὠφέλειαι nicht direkt von den Göttern kommen, son-dern müssen der richtigen Einstellung des Einzelnen entstam-men.Warum sollte Epikur diese Möglichkeit einräumen? Erharmonisierte so seine Auffassung von der κοινὴ νόησις (Epistula adMenoeceum 123) und den traditionellen Volksglauben – ein Elementdessen war seit jeher der Gedanke, daß die Götter positiven und nega-tiven Einfluß auf die Menschen ausüben können. Wenn mit diesenAuswirkungen die psychischen Konsequenzen falscher bzw. richtigerVorstellungen von Göttern bezeichnet würden, so wäre in der Folgedie epikureische Auffassung vom Nichteingreifen der Götter bewahrtund trotzdem mit dem traditionellen Volksglauben vereinbar38.

    Dieses Verständnis der Formulierung ist allerdings mit Vorsichtzu genießen.a) Es handelt sich bei den angeführten Passagen nicht um Texte

    Epikurs, sondern um Aussagen und Testimonien von Epikureernbzw. Gegnern Epikurs. Daß ein Heranziehen letzterer problema-tisch ist, bedarf keiner näheren Erläuterung. Was die Aussagender Epikureer und vor allem Philodems betrifft, so sollte manauch hier Vorsicht walten lassen: der Wert solcher Texte für dieKonstruktion der Lehre – zumal der Theologie – Epikurs selbstist nach wie vor nicht unumstritten39. Kanonische Inhalte hin

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  • oder her, Modifikationen späterer Autoren sind durchaus legitim,und so besteht schnell die Gefahr eines Ringschlusses, wenn maneine schwer verständliche Epikurpassage anhand eines jüngerenEpikureertextes rekonstruiert bzw. interpretiert40.

    b) Es gibt v.a. den Kontext betrachten, in dem uns dieser theologischePassus begegnet: er steht im Brief Epikurs an Menoikeus – einerprotreptischen Schrift. Folglich sollte man erwarten, daß sich fürden Leser, der erstmals mit der epikureischen Lehre von den Göt-tern in Kontakt tritt, keine größeren Verständnisschwierigkeiten er-geben – zumal im ethisch-theologischen Bereich. Man kann nichtdavon ausgehen, daß Menoikeus vor dem Lesen des protreptischenBriefes zur Vorbereitung oder quasi als parallelen Kommentar et-wa Epikurs verlorene theologische Schriften Περὶ θεῶν oder Περὶὁσιότητος las41. Ohne Zusatzinformationen aber ist die Aussagefür einen mit der Lehre Epikurs nicht vertrauten Leser nicht mit ei-ner psychologischen Deutung von ὠφέλειαι und βλάβαι in Verbin-dung zu bringen42 – daß die Allgemeinheit Nutzen und Schadenden Göttern zuschreibt, ist wiederum hinreichend bekannt.

    c) Wenn Epikur in einer protreptischen Schrift den Bereich derTheologie behandelt, so ist wohl davon auszugehen, daß geradeder hierfür wichtigste Grundsatz explizit oder implizit angespro-chen wird: die Götter greifen nicht in die menschliche Sphäre

    ßerte, manche Epikureer sagten Dinge, die mit den orthodoxen Schriften nicht ver-einbar seien (Philodem, Ad Contubernales col. 10-13 Angeli). Zur ‛Orthodoxie’der Epikureer kritisch auch ANGELI, Amici, 82-102; SEDLEY, Allegiance; ERLER, Ci-cero; ID., Orthodoxie. Rist (RIST, Epicurus, 152) hingegen konstatiert eine engeOrientierung Philodems und auch des Sextus Empiricus an Epikur. Hier wäre daranzu denken, daß sich Philodem darum bemüht, am Epikureismus kritisierte Punkteso zu modifizieren, daß sie für andere akzeptabel scheinen. Weitere Beispiele fürein derartiges Vorgehen Philodems diskutiert Erler (in dieser n. zitiert).

    40 Die Aussage in Philodem, De Pietate I col. 36, 1023-1037, 1049 O. könntez.B. Philodems Tendenz entstammen, als Reaktion auf Konzepte anderer zu äu-ßern, diese seien bei den Epikureern ebenfalls vorhanden, nur in größerer Zahl oderbesserer Form (τὰς ὠφ[ελίας καὶ] τὰς βλάβαs[ς οὐ κατα]δεεστέραs[ς ἢ καὶ] µείζους);cfr. Philodem, De Pietate I col. 10, 26-30 Henrichs (HENRICHS, PHerc. 1428, 21):ἡµῶν οὐ µόνον ὅσους φασὶν οἱ Πανέλληνες ἀλλὰ καὶ πλείονας εἶs[ν]αι λεγόντων.

    41 Diese werden in einer Werkliste bei Diogenes Laertios (X 27) und bei Philo-dem genannt, cfr. ERLER, Epikur, 89-91.

    42 Freilich ist es nicht von der Textgattung abhängig, ob für den jeweiligen Au-tor eine falsche Götterauffassung psychische Auswirkungen hat: zwar ist auch Dererum natura an ein größeres Publikum gerichtet (ERLER, Epikur, 411-413), dochist die zitierte Stelle bei Lukrez aus sich heraus verständlich – im Brief an Menoi-keus ist dies nicht der Fall. Die abgedruckten Passagen Philodems wiederum stehenin einem Werk, das nähere Kenntnisse epikureischer Lehren voraussetzt.

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  • ERGEBNISSE DER ARBEIT AM KOMMENTAR ZU EPIKURS BRIEF AN MENOIKEUS 21

    43 ‹οἱ› ist eine Ergänzung Gassendis (GASSENDI, Animadversiones, 1250), dieallgemein übernommen wird. Anders hingegen BIGNONE, Aristotele, 2, 46.

    ein. Wenn hier die Meinung, daß ὠφέλειαι und βλάβαι von denGöttern kommen, als falsch zurückgewiesen wird, formuliertdies einen grundsätzlichen Standpunkt.Es ist also wahrscheinlicher, daß Interpretation (1) zutrifft und

    der Gedankengang so lautet: die Aussagen der Menge basierennicht auf richtigen Auffassungen, sondern auf falschen Vermutun-gen, aufgrund derer man Nutzen und Schaden den Göttern zu-schreibt. Dies entspricht der traditionell griechischen Sichtweise.Folglich werde ich auf der Basis dieser Deutung an den Folgesatzταῖς... νοµίζοντες herangehen (cfr. § 2, S. 24-48).

    Diese Deutung ist m.E. allerdings nur die erste mehrerer Verständ-nisebenen: sie ermöglicht ein allgemeines Verständnis für den Leserohne Erfahrung mit der Schule Epikurs. Für den Rezipienten, der mitTexten des Kepos vertraut ist, kann sich nun als zweite Stufe die an-gesprochene psychologische Deutung ergeben. Das Phänomen, daßhinter einer allgemein verständlichen Aussage weitere Informatio-nen verborgen sind, welche sich Lesern mit Hintergrundwissen er-schließt, ist (selbstverständlich nicht nur) in der griechischenLiteraturgeschichte weit verbreitet und läßt sich auch an weiterenStellen dieses Briefes feststellen (auf diesen Punkt kann ich an dieserStelle nicht näher eingehen, werde ihn aber in meinem Gesamtkom-mentar behandeln).

    Neben den beiden eben genannten Verständnisebenen ist sogareine weitere denkbar, d.h. eine Anspielung auf Epikurs philosophi-sche Gegner. Es ist nämlich nicht unplausibel, daß ein zeitgenössi-scher Leser, der mit den Lehren der Philosophenschulen vertrautwar, in dieser Passage die Vertreter von Akademie und Peripatos alseine besondere Gruppe der πολλοὶ angesprochen sah. Folglich wärehier an eine Kritik an der akademischen und peripatetischen Gottes-auffassung zu denken. Hierfür lassen sich einige einschlägige Text-passagen anführen.

    In Abschnitt 123 unseres Briefes, kurz vor dem hier besproche-nen Satz, äußert Epikur:

    πρῶτον µὲν τὸν θεὸν ζῷον ἄφθαρτον καὶ µακάριον νοµίζων, ὡς ἡ κοινὴτοῦ θεοῦ νόησις ὑπεγράφη, µηθὲν µήτε τῆς ἀφθαρσίας ἀλλότριον µήτε τῆςµακαριότητος ἀνοίκειον αὐτῷ πρόσαπτε·... ο8ους δ’ αὐτοὺς (sc. τοὺςθεοὺς) ‹οἱ› πολλοὶ νοµίζουσιν, οὐκ εἰσίν· οὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺςο8ους νοµίζουσιν43.

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  • Nimmt man an, daß Epikur hier betonen möchte, daß die Mehr-heit in ihren Annahmen die richtige κοινή νόησις verlassen und inihrem falschen Götterglauben nicht die Auffassung von der Unver-gänglichkeit und Glückseligkeit der Götter bewahrt, so schließt ersich der Kritik an derartigen Widersprüchen im traditionellen Göt-terglauben an, die bereits vor ihm geäußert worden ist, vor allemdurch Platon, wenn dieser sich in der Politeia zu den Göttervorstel-lungen der Dichter äußert.

    Dieser Widerspruch in der Gottesauffassung trifft nun nicht nurauf die breite Masse der Griechen zu, die an rächende, amouröseund allzu menschliche olympische Götter glaubt – es läßt sich auchfür die Akademie und den Peripatos festhalten.

    Die Vorstellung der Astralgötter des platonischen Timaios undder Nomoi war für die Theologie der Akademie und Peripatos maß-geblich44 – eine Auffassung, der sich Epikur und seine Anhängermassiv widersetzten45. Von Bedeutung sind in unserem Brief aller-dings nicht physiologische Gesichtspunkte, sondern von Epikur ge-sehene Widersprüche in den Eigenschaften der Götter: zum einenglaubt man als Anhänger Platons oder Aristoteles’ an ewige perfek-te Wesen, die Gestirngötter, zum anderen (οὐ γὰρ φυλάττουσιναὐτοὺς ο®ους νοµίζουσιν) aber hängt man traditionellen (falschen)Vorstellungen von Göttern an, die gute und schlechte Handlungenvollbringen sowie den Menschen Schaden und Wohltaten bringen(ο®ους δ’ αὐτοὺς ‹οἱ› πολλοὶ νοµίζουσιν, οὐκ εἰσίν)46.

    Hier seien nur einige Beispiele genannt.

    – Bereits in Platons Dialogen finden sich neben der Annahme erha-bener kosmischer Wesen47 traditionelle Vorstellungen von denolympischen Göttern48, die dann auch gleichermaßen für Wohlta-ten und Strafen verantwortlich sind (besonders in den Nomoi fin-

    44 Ausführlich KRÄMER, Platonismus, 108-184.45 Epistula ad Herodotum 76-80; Epistula ad Pythoclem 97. 113; fr. 361 Us.;

    Lukrez II 1052-1057. 1077-1104 u.ö.; Philodem, De dis III col. 8-11 D.; cfr. FESTU-GIÈRE, Épicure, 103-106; ESSLER, Glückselig, 246-252, mit weiterer Literatur.

    46 Bignone (BIGNONE, Aristotele, 2, 46) spricht von «atroci vendette contro gliirreligiosi» und äußert weiter (ib., 2, 315): «Epicuro... diceva di credere a tutti glidèi a cui credevano i Greci, mentre negava che gli astri potessero essere consideraticome dèi e avere anima e intelligenza, e operare volontariamente in vantaggio o indanno degli uomini».

    47 Platon, Timaeus 39d-42e; Leges 821b-822c. 967d-968a; Ps.-Platon, Epino-mis 984d-987d; KRÄMER, Platonismus, 108-130; ERLER, Platon, 455-473 mit wei-terer Literatur.

    48 ERLER, Platon, 470-471.

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  • ERGEBNISSE DER ARBEIT AM KOMMENTAR ZU EPIKURS BRIEF AN MENOIKEUS 23

    49 Platon, Leges 828a.d. 885b. 899d. 905a-b. 931d. Zur Strafe seitens der Göt-ter für frevelhafte Handlungen SCHÖPSDAU, Nomoi, 223-224 mit weiteren Textstel-len. Cfr. auch Platon, Politicus 273a; BIGNONE, Aristotele, 2, 42.

    50 Cfr. Epikur, De natura XIV; XXVIII; SCHMID, Epikurs Kritik; SEDLEY, Pro-fessional rivals, 133-134.

    51 Herakleides Pontikos fr. 46a-b Wehrli. Zu traditionellen Göttervorstellungenbei Pontikos cfr. auch frr. 49-50 W.; GOTTSCHALK, Heraclides, 93: «Belief in divineintervention in human affairs seems to have been a fundamental tenet of Heraclides».

    52 GOTTSCHALK, Heraclides, 94-95.53 Cfr. BIGNONE, Aristotele, 1, 352-353 zu Epistula ad Menoeceum 132.54 Nach Pötscher (PÖTSCHER, Strukturprobleme, 82) 315 oder 314 v.Chr. ent-

    standen; nach Ditadi (DITADI, Teofrasto 95) 316 oder 315 v.Chr.55 Pötscher (PÖTSCHER, Strukturprobleme 79) stellt fest, «daß Theophrast nicht

    nur Polytheist war..., sondern auch, daß er an die mythischen Götter seines Volkesgeglaubt hat». Cfr. auch Xenokrates frr. 213-218 Isnardi Parente mit ISNARDI PA-RENTE, Senocrate, 400-408; FLASHAR, Aristoteles, 49. Entscheidend ist für dieSchule Epikurs allerdings nicht, daß jemand an die traditionellen Götter glaubt,sondern wie; cfr. Philodem, De Pietate I col. 10, 26-30 Henrichs (cfr. n. 40).

    56 Fr. 3 Pötscher mit PÖTSCHER, Strukturprobleme, 100; fr. 7 Pötscher mit PÖT-SCHER, Strukturprobleme 101-102; fr. 12 Pötscher.

    57 Genannt bei Plutarch, Adversus Colotem 7 = Moralia 1110c = fr. 29 Us. = fr.16,2 2Arr. – freilich geht es in diesem Werk nicht um die Götter. Cfr. hierzu GIGANTE,Kepos, 51-57.

    58 Es wäre schließlich verwunderlich, wenn Epikur gerade in dem Bereich, indem seine Lehre sich am fundamentalsten von allen anderen unterscheidet und die erfolgerichtig mit πρῶτον an den Beginn seines protreptischen Briefes stellt, keine Ab-grenzung von der philosophischen Konkurrenz suchen würde, dies aber bei anderenThemen bis in einzelne Formulierungen tut (z.B. 122. 126. 130. 132. 133. 135).

    den sich zahlreiche Belege)49. Wenn Epikur sich auch in anderenGebieten mit Platon auseinandersetzte, was hinreichend bekanntist50, dann sollte dies auch in theologischen Fragen denkbar sein.

    – Herakleides Pontikos äußert ebenfalls Vorstellungen von strafen-den Göttern, so z.B. anläßlich des Untergangs der Stadt Helike51,der auf die µῆνις Poseidons zurückgeführt wird52. Epikur hat sichnicht nur in diesem Zusammenhang mit diesem Platonschülerauseinandergesetzt53.

    – Theophrast folgt in seiner Gottesvorstellung im Prinzip den theo-logischen Ausführungen des Aristoteles. In seiner Schrift De pie-tate54 lassen sich jedoch etliche Aussagen finden, die eineAnnahme der traditionellen Götter belegen55, die den MenschenGutes und Schlechtes, Strafe und Wohltaten bringen56. Daß sichEpikur mit Theophrasts Lehrmeinungen auseinandersetzte, istnicht zuletzt belegt durch den Werktitel Πρὸς Θεόφραστον57.

    In diesem Kontext spricht einiges für Bignones These, Epikurreagiere hier auf die Lehren und Anfeindungen anderer58. M.E. muß

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  • man sich aber selbst bei dieser Annahme nicht unbedingt (wie Bi-gnone) gegen die Ergänzung ‹οἱ› πολλοί entscheiden: 1) Die Anhän-ger der anderen Philosophenschulen sind ein Teil der Mehrheit,deren Annahmen Epikur beschreibt. 2) Nimmt man durchgehend οἱπολλοί an, so versteht ein Leser, der ohne Hintergrundkenntnisse anunseren protreptischen Brief herantritt, die Aussagen dieses Satzesund der folgenden als allgemeine Aussage, derjenige mit Hinter-grundkenntnissen sieht den Seitenhieb auf die philosophische Kon-kurrenz. Bei der Gegenüberstellung πολλοί – οἱ πολλοί bleibt fürmanchen Leser evtl. die Identität der ersten Gruppe offen. Wie obenerwähnt (cfr. S. 21-22), ist hier eher an zwei Verständnisebenen zudenken (allgemein für den ‘Erstkontakt’, vertieft für Fortgeschrittene).

    Folglich kann es als wahrscheinlich gelten, daß auch in unseremSatz ἔνθεν... ὠφέλειαι ein Tadel seiner Gegner anzunehmen ist59.Ähnlich ließe sich vor diesem Hintergrund auch Lukrez 5, 82-87deuten:

    nam bene qui didicere deos securum agere aevom,si tamen interea mirantur qua rationequaeque geri possint, praesertim rebus in illisquae supera caput aetheriis cernuntur in oris,rursus in antiquas referuntur religioneset dominos acris adsciscunt.

    Im Prinzip nehmen Akademiker und Peripatetiker die Götter alsglückselige Wesen an, doch während sie himmlische Phänomeneuntersuchen und Gestirngötter annehmen, verfallen sie in überkom-mene Vorstellungen und glauben an strafende Götter – freilich kannman diese Verse ebenso als Aussage über die Allgemeinheit, diemultitudo oder eben πολλοί, auffassen. Letztere Deutung wäre dieoben, S. 16, als erste genannte Verständnisebene, die auch meinAusgangspunkt für die Interpretation des Folgesatzes sein wird.

    2. Die Interpretation von ταῖς ... νοµίζοντες

    ταῖς γὰρ ἰδίαις οἰκειούµενοι διὰ παντὸς ἀρεταῖς τοὺς ὁµοίους ἀποδέ-χονται, πᾶν τὸ µὴ τοιοῦτον ὡς ἀλλότριον νοµίζοντες.

    59 Cfr. neben den oben genannten Stellen wegen der Formulierung besondersXenocr. fr. 251 Isnardi Parente = Plutarch, De communibus notitiis adversos Stoi-cos 22 = Moralia 1068f-1069a: ἐλήρει δ’ Ἀριστοτέλης, ἐλήρει δὲ Ξενοκράτης,ὠφελεῖσθαι µὲν ἀνθρώπους ὑπὸ θεῶν, ὠφελεῖσθαι δὲ ὑπὸ γονέων, ὠφελεῖσθαι δὲὑπὸ καθηγητῶν ἀποφαινόµενοι τὴν δὲ θαυµαστὴν ἀγνοοῦντες ὠφελείαν, ἣν οἱσοφοὶ κινουµένων κατ’ ἀρετὴν ‹ὑπ’› ἀλλήλων ὠφελοῦνται.

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  • ERGEBNISSE DER ARBEIT AM KOMMENTAR ZU EPIKURS BRIEF AN MENOIKEUS 25

    60 Diano (DIANO, Ethica app. crit.) nimmt gar an, der Satz sei vom Rand in denText geraten und als gegen die Stoiker gerichtete Glosse zu streichen; cfr. ib., 107;dagegen bereits SCHMID, Götter 106.

    61 Zu weiteren nicht angeführten Interpretationen von Batteux bis Gigon cfr.SCHMID, Götter 109 n. 45.

    62 LONG, SEDLEY, Hellenistic 1, 140.63 LONG, SEDLEY, Hellenistic 1, 146: «The bad conceive the gods as power-see-

    king and meddling like themselves, and thus perpetuate in themselves a correspon-ding state of disquiet... The good retain in the true preconception of god’sblessedness as consisting in supreme tranquillity, and derive immense calm andmoral uplift from it».

    Der nächste Satz ist nicht weniger umstritten als der vorherige. Daein explizit genanntes Subjekt fehlt und man sich erschließen muß,wer ‛sie’ sind, werden die Theorien und Spekulationen zu ἔνθεν...ὠφέλειαι gleichsam in diesen Satz übernommen und weiter differen-ziert. Je nachdem, wie die einzelnen Gelehrten βλάβαι und ὠφέλειαιauffassen, interpretieren sie in der Folge ταῖς... νοµίζοντες, um zu ei-ner schlüssigen Gesamtinterpretation dieses Komplexes zu gelan-gen60. Dementsprechend lassen sich auch hier zahlreiche unterschied-liche Deutungen aus der Forschungsliteratur anführen, man kannaber auch zu einigen neuen Überlegungen gelangen61.

    2.1. Subjekt sind die ἀγαθοί und die κακοί (nach Long und Sedley)Sedley und Long (LONG, SEDLEY, Hellenistic, 2, 145 = 23B) se-

    hen als Subjekt «people in general, the good and the bad alike», d.h.die ἀγαθοί und die κακοί. Die Passage wird bei diesen Forschernfolgendermaßen übersetzt: «It is through these that the greatestharms, the ones affecting bad men, stem from the gods, and thegreatest benefits too. For having a total affinity for their own virtu-es, they are receptive to those who are like them, and consider alienall that is not of that kind»62.

    Ich versuche, den Gedankengang nachzuvollziehen, der m.E.stark brachylogisch vorgebracht wird. Im ersten Satz ἔνθεν...ὠφέλειαι ist nach der Übersetzung ausschließlich von den κακοί dieRede. Daß für diese Schädigungen von den Göttern kommen, ließesich noch begründen – allerdings nur, wenn man die traditionelleDeutung anwendet: die Schlechten glauben, Schaden und Nutzenkommen von den Göttern. Nun interpretieren allerdings Long undSedley die Stelle psychologisch63, wogegen ich bereits argumentierthabe. Möglich ist dies aber nur, wenn man annimmt, für dieSchlechten kommen Schädigungen von den Göttern, für die Gutenhingegen positive Effekte. Somit müßten die beiden Forscher ei-

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  • gentlich ‹τοῖς ἀγαθοῖς› ergänzen, also als Text annehmen ἔνθεν αἱµέγισται βλάβαι... τοῖς κακοῖς ἐκ θεῶν ἐπάγονται καὶ ὠφέλειαι ‹τοῖςἀγαθοῖς›64. Die Ergänzung sei aber nicht notwendig, um die Adres-saten der ὠφέλειαι zu klären: «because a correct or relatively cor-rect conception of the divine nature is beneficial not only to thosealready good, but to anyone at all». D.h., Long und Sedley gehendavon aus, daß a) die Guten implizit auch angesprochen sind. Daßdie Empfänger der ὠφέλειαι nicht ausdrücklich genannt sind, aberdie ἀγαθοί gemeint sind, begegnet auch bei anderen Interpreten65.Dies läßt sich allerdings nicht vereinbaren mit b) daß die κακοί Nut-zen von den Göttern erfahren durch «a correct or relatively correctconception of the divine nature». Bei allen anderen Vertretern derpsychologischen Deutung erfahren die Schlechten ausschließlichSchädigungen – wie κακοί eine richtige Auffassung von den Göt-tern haben sollen, erschließt sich mir nicht.

    Insofern ist bereits Long-Sedleys Verständnis von ἔνθεν...ὠφέλειαι (zumindest für mich) höchst problematisch. Was ταῖς...νοµίζοντες betrifft, so plädieren, wie erwähnt, die beiden Forscher alsSubjekt für «people in general, the good and the bad alike». Begrün-det wird dies folgendermaßen: entsprechend der Gruppierung, derman angehört, verhalte man sich und umgebe sich mit seinesgleichen:ἀγαθοί verkehrten mit anderen ‛Guten’ und verfügten über positiveEigenschaften, für κακοί sei das Gegenteil anzunehmen. Folglichstelle man sich auch Götter vor: «Good and bad alike choose theirgods according to their own private views of moral excellence»66.

    Die ‘guten Menschen’ wiesen wahre Tugenden auf, die ‘schlech-ten Menschen’ sähen Dinge wie Macht als ἀρεταί an67. Folglich gehees nach «da es richtige und falsche Auffassungen von den Götterngibt, kann man (geistigen) Schaden für die Schlechten und Nutzenauf die Götter zurückführen» weiter mit: «Denn da man eine völligeAffinität gegenüber den eigenen Tugenden hat, nehmen sie diejeni-gen auf, die sind wie sie, und betrachten alles, was nicht so ist, alsfremd». «People in general» als Subjekt dieses Satzes ist schwer vor-stellbar: letztgenannte Handlungsträger in οὐ... ὠφέλειαι sind entwe-der die Götter oder die πολλοί. Deshalb scheint eine dieser beidenGruppen auch als Subjekt von ταῖς... νοµίζοντες am besten geeignet.

    64 Zu Longs Lösung für das überlieferte αἴτιαι τοῖς κακοῖς, hier mit ... markiert,cfr. unten im textkritischen Teil dieses Aufsatzes, S. 57 Variante 14.

    65 Cfr. unten im textkritischen Teil Varianten 3, 9 und 13.66 LONG, SEDLEY, Hellenistic, 1, 146.67 LONG, SEDLEY, Hellenistic, 2, 145.

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  • ERGEBNISSE DER ARBEIT AM KOMMENTAR ZU EPIKURS BRIEF AN MENOIKEUS 27

    68 Anders OBBINK, On Piety, 462-463.69 USENER, Epicurea, ad loc. «bene morati»; BIGNONE, Epicuro, ad loc. «i buo-

    ni e saggi».70 Ablehnend auch DIANO, Note, 78.71 BARIGAZZI, Epicurea; ID., Uomini: ταῖς γὰρ ἰδίαις ‹οἱ› οἰκειούµενοι... Letzt-

    lich folgt diese Theorie in ihren Grundzügen GASSENDI, Animadversiones, 1250.72 U.a. TRAVERSARI, Epistula ad Menaeceum, 447; RONDEL, De vita, 23-25;

    PHILIPPSON, Zu Epikur, 62-63; JENSEN, Neuer Brief, 79; DEWITT, Epicurus, 268;OTTO, Wort, 327 («denn die Götter, mit ihren Tugenden immerfort im Einklang»);FESTUGIÈRE, Épicure, 85; KRÄMER, Platonismus, 151 n. 200. 170-172; ARRIGHETTI,Epicuro; SEDLEY, Structure, 92; GEMELLI, Causa, 88; VANDER WAERDT, Hermar-chus, 102; ERLER, Epikur, 167; GERSON, INWOOD, Hellenistic, 29; PIETTRE, Dieu,27; KOCH, Dieu, 112.

    73 Gemeint ist SCHMID, Götter. Dort (120) übersetzt er: «nam di propriis virtu-tibus continuo dediti similes sui in societatem divinam admittunt, omne quodhuiusmodi non est tamquam alienum excludentes» (er setzt ἐξορίζοντες stattνοµίζοντες); cfr. auch SCHMID, Epikur, 692; KRÄMER, Platonismus, 171 spricht voneiner «heuristischen Schlüsselfunktion» Schmids.

    Wenn man nun die ἀγαθοί mit einbezieht («the good and the badalike»), so ergeben sich Schwierigkeiten, die auch bei anderen Inter-pretatoren entstehen, die dies tun: der Übergang scheint nicht plau-sibel, da unbegründet – warum sollte Epikur plötzlich (auch) zu denἀγαθοί – σοφοί übergehen, ohne sie im Text zu erwähnen? DieseLösung ist m.E. nicht sehr wahrscheinlich68.

    2.2. Subjekt die ἀγαθοί (nach Usener und Bignone)Usener und Bignone sehen als Subjekt die ἀγαθοί, auch wenn sie

    diese letztlich (auch) im Sinne von σοφοί verstehen69. Diese For-scher haben freilich im Satz zuvor die Ergänzung ‹τοῖς ἀγαθοῖς›nach ὠφέλειαι in den Text aufgenommen, die m.E. nicht notwendigist (cfr. S. 54-55)70. Ohne den Zusatz ist der Übergang zw. ἔνθεν...ὠφέλειαι und ταῖς... νοµίζοντες noch problematischer als derjenigebei Long und Sedley. Diese Interpretation ist aufgrund der Gleich-setzung ἀγαθοί - σοφοί nicht weit entfernt von derjenigen Barigaz-zis, der ohne die Ergänzung ‹τοῖς ἀγαθοῖς› als Subjekt die σοφοίvorschlägt71, allerdings mit großem Gewicht auf dem Thema Göt-terfreundschaft und in Auseinandersetzung mit Schmid, worauf ichin 2.4 eingehen werde. Wenn man also ἀγαθοί - σοφοί als Subjektdes Satzes annehmen möchte, so sollte man sich eher mit der TheseBarigazzis auseinandersetzen.

    2.3. Subjekt sind die Götter (nach Schmid)Die meisten Forscher nehmen die Götter als Subjekt an72, vor al-

    lem Schmids Ausführungen erfuhren eine große Wirkung73.

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  • 28 JAN ERIK HESSLER

    74 So auch SCHMID, Götter, 117.75 Philodem, De dis III fr. 84, col. 1, 14-18 p. 16 D.; cfr. v.a. Platon, Leges

    716d-717a: ὁ µὲν σωuφρων ἡµῶν θεῷ φίλος, ὅµοιος γάρ, ὁ δὲ µὴ σωuφρων ἀνóµοιóςτε καὶ διάφορος. Theaetetus 176e. Zu platonischen Elementen der ὁµοίωσις θεῷbei Epikur cfr. Erler, Deus mortalis. Cicero, De legibus I 25: virtus eadem in homi-ne ac deo est,... est igitur homini cum deo similitudo; Seneca, Epistulae morales adLucilium 31, 8; Sallust, De dis et mundo 14.

    76 Philodem, De dis III fr. 84, col. 1, 6-9 D.; fr. 84 col. 1, 19 - fr. 85, 2 D.77 Diesen Einwand Philodems sieht zwar Schmid (SCHMID, Götter, 129 n. 90),

    doch hat er keinerlei Wirkung auf dessen Ausführungen zur Götterfreundschaft(ib., 127-140).

    Der Vorteil dieser Lösung ist ein guter Übergang zwischen ἔνθεν...ὠφέλειαι und ταῖς... νοµίζοντες, gerade wenn man die Ergänzung‹τοῖς ἀγαθοῖς› nicht in den Text aufnimmt: die letzgenannten Hand-lungsträger in ἔνθεν... ὠφέλειαι sind die Götter, von denen nun weitergesprochen wird74. Der Satz erklärt (γάρ) quasi anhand des Verhaltensder Götter die ὠφέλειαι, als deren Nutznießer die Weisen zu denkensind (τοὺς ὁµοίους ἀποδέχονται), βλάβαι erfahren die anderen (πᾶντὸ µὴ τοιοῦτον ὡς ἀλλότριον νοµίζοντες). Ein gewichtiger Einwandwäre zu dieser Interpretation: die von den Gelehrten angegeben Stel-len laufen darauf hinaus, daß es eine Annäherung zwischen den σοφοίund den Göttern gibt, was sich durchaus anhand von Zeugnissen v.a.von Philodem belegen ließe. Doch hier – zumindest bei Schmid –wird den Göttern etwas zugesprochen, das so nicht möglich ist: eineaktive Aufnahme bzw. Ablehnung von Menschen, sei sie nun geistigoder realiter gemeint – beides ist in der epikureischen Lehre nichtdenkbar, da es gegen Ratae sententiae 1 verstößt.

    Auf welchen Zeugnissen beruht Schmids These? Zunächst wärehier Philodems berühmte Aussage zur Götterfreundschaft in De disIII anzuführen:

    ...τsοῖς θεοῖς, κ(αὶ) θαυµάζει τὴν φύσιν [κα]ὶ τὴν διάθεσιν καὶ πειρᾶταισυνεγγί[ζε]ιν αὐτῆι κ(αὶ) καθάπερ εἰ γλίχεται θιγε[ῖ]ν [κ(αὶ) συ]νεῖναι,καλείτω καὶ τοὺς σοφοὺς τῶν [θε]ῶν φίλους κ(αὶ) τοὺς θεοὺς τῶν σοφῶν75.

    Diese Freundschaft dürfe man nicht wörtlich nehmen, so äußerter bereits einige Zeilen zuvor:

    τοὺς γὰ[ρ] ἀπείρους (sc. σοφοὺς) [ο]ὐ δυνατὸν ἀλλήλο[ις εἰ]ς γνῶσινἀφικνεῖσθαι. διόπερ οὐ [π]άs[ντων] τῶν ἐ[ν] τῇ [γῇ σο]φ sῶν φ[ί]λους ἄν τιςεἴποι [το]ὺ[ς θεοὺς] ἀ[ληθ]ῶ[ς] und an anderer Stelle ἀλλ’ οὐ]κ ἐοίκαµε[νπου] τὰ τοιαῦτα τὴν φιλίαν ἐρεῖν, ὥστε βέλτ[ιον] αὐτὰ τὰ πράγµατασκοπεῖν, τὰ δ‹ὲ› [ῥήµατα ἀχρ]ήστως µὴ παραβιάζεσθαι76.

    Also ist diese φιλία metaphorisch zu verstehen77 – daß sie je-

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  • ERGEBNISSE DER ARBEIT AM KOMMENTAR ZU EPIKURS BRIEF AN MENOIKEUS 29

    78 Basierend auf dieser Stelle setzt Schmid ἐξορίζοντες statt νοµίζοντες(SCHMID, Götter, 113). Cfr. Philodem, De dis III fr. 18, 4-6 p. 47 D.: µηδὲsν [...]ἀλλόφυλον δέχεσθαι, τὰ δ’ οἰκεῖαs πs[ά]ντsαs µsηs[δ’ ὑ]φs’ ἑνὸς κρατεῖσθαι... Cfr. auchEpistula ad Menoeceum 123.

    79 Man muß aber darauf hinweisen, daß in Philodem, De dis III fr. 41, p. 55-56D. δέχεται und in III fr. 32a, p. 52 D. ἀποδέχεσθαι durch Diels ergänzt wurden undsich somit der Textbestand von 3 Fragmenten auf eines reduziert (III fr. 18, 4-6 p.47 D.). Überhaupt ist die starke Abhängigkeit der Theorie Schmids von den Frag-menten aus De dis problematisch, da Diels’ Rekonstruktionen nicht unbedingt zu-verlässig sind, cfr. KLEVE, Neuausgabe, 89: «Ohne Uebertreibung darf man sagen,dass es im Diels’schen Text kaum eine Zeile gibt, die ohne Fehler ist». Diese Aus-sagen beziehen sich auf Buch I, aber die geschilderten Vorbehalte und die fehlendeAutopsie gelten auch für Buch III.

    80 Freilich mag mancher an eine Korrektur des Textes in πάντα µὴ τοιοῦτονdenken (für diesen Hinweis danke ich Holger Essler), dann wäre ὁµοίους undπάντα jeweils auf Personen bezogen. Doch an einer schwierigen Stelle gegen alleMSS zu konjizieren, damit der Text zu einer Passage eines späteren Autors paßt,scheint mir problematisch. Dies ist wohl der Grund, warum dieser Vorschlag nochnicht erwogen wurde.

    doch anders als ausschließlich vom Menschen aus gesehen werdenkann und an ein wie auch immer geartetes aktives Verhalten derGötter gegenüber den Menschen gedacht werden kann, ist m.E.nicht vorstellbar.

    Die Formulierung τοὺς ὁµοίους ἀποδέχονται, πᾶν τὸ µὴ τοιοῦτονὡς ἀλλότριον νοµίζοντες des Menoikeus-Briefes rückt bei Schmidweitere Stellen bei Philodem ins Blickfeld, durch die das Verhaltender Götter gegenüber ὅµοια / οἰκεῖα einerseits und ἀλλότρια /ἀλλόφυλα andererseits erläutert wird:

    Philodem, De dis III fr. 41, p. 55-56 D.:...] διὰ τὴν ἀ[πειρί]αν τὰ µὲν ὑπερβαίνῃ, τοῖς δ’ ἐγκυ[ρῇ· ἐπει]δὴ γὰρ

    ἀπειρία καὶ τῶν οἰκείω sν κ(αὶ) τῶν [ἀ]λλsοsφ sύλων ἔστιν αὐτῶι παλ[µῶν,οὕτω]ς τ sὰ µὲν ᾠκειω[µένα] ἀδι sαsλs[είπτ]ως [δέχεται, τὰ δ’ ἀλλόφυλαδιωθεῖται]78.

    Philodem, De dis III fr. 32a, p. 52 D.:...κ(αὶ) κατασκευὴν µετὰ τοῦ λογισµοῦ κ(αὶ) τῆς τῶν περιεχόντων

    εsὐλαsβsεsίας ἰσχύει διερείδεσθα‹ι π(ρὸς)› τὸ ἀλλόφυλον ἀπὸ πάσηςὀχλήσεως κ(αὶ) πᾶν τὸ ποιητ[ικ]ὸν τsῆς ἀ[ιδιότητος ἀποδέχεσθαι...

    Aus diesen Passagen ist ersichtlich, daß bei Philodem und imMenoikeusbrief Epikurs zumindest die Formulierung nicht weit aus-einanderliegt79 – fraglich ist allerdings, ob diese Aussagen auf denMenschen anwendbar sind80, da in den Passagen Philodems derUmgang mit annehmbaren bzw. auszustoßenden Stoffen in der gött-

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  • lichen Sphäre behandelt wird: es geht um die Ernährung derGötter81. Die von Schmid (SCHMID, Götter 114-115) dargelegte Vor-stellung, daß die Götter ein ἀσεβές nicht in ihrer Sphäre dulden kön-nen, ist mit Skepsis zu behandeln, wie einige der von ihmvorgebrachten Argumente und Parallelstellen: ἀσεβές ist wieᾠκειωµένα / οἰκεῖα, ἀλλόφυλον / ἀλλόφυλα und πᾶν τὸ ποιητικόνzum einen Neutrum. Falls dies im Sinne von ‛alles, was...’ auch aufMenschen bezogen werden kann, so bleibt ein weiteres Problem:wieso sollten die epikureischen Götter eine Bewertung der Men-schen vornehmen oder sogar eine Aufnahme dieser in die göttlicheSphäre bzw. einen Ausstoß? Wie sollte dies mit der Rolle der Götterim Kepos vereinbar sein? Nach Schmid bezeichnet das Verbἀποδέχεσθαι die Aufnahme «in den göttlichen Bezirk» und quasiein göttliches Korrelativ zum ἐθέλειν συνεῖναι auf der Seite derWeisen82. Alle Beispiele Schmids für den Ausstoß aus der Götter-sphäre haben zweierlei gemeinsam: sie sind zum einen nichtepiku-reisch, zum anderen sind es diverse Male Neutra in anderemKontext, die abgelehnt werden. Erneut stellt sich die Frage, ob diesauf Menschen, ob weise oder nicht, anwendbar ist83.

    Vielleicht kann eine Betrachtung zweier Passagen aus PhilodemsDe pietate, die auch Schmid vornimmt, weitere Erklärungen liefern.

    So berichtet der Epikureer von einer Äußerung des Schulgrün-ders ἔν τε τῶιs τρε[ισκαι]δεκάτωι περ[ὶ τῆς] οἰκειότητος, ἣs[ν πρός]τινας ὁ θεὸς ἔχ[ει καὶ] τῆς ἀλλοτρι[ότητος]84.

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    81 Zusammenfassend DIELS, Philodemos, 2, 85. Der Anwendbarkeit auf unsereStelle positiv gegenüber steht PHILIPPSON, Zu Epikur, 63. Negativ DIANO, Ethica,107.

    82 Im Kontext der Fragmente aus De dis III (und folglich nicht mit der Begriff-lichkeit ἀποδέχονται verbunden) schließt bereits Diels eine Beziehung der Götterzu Menschen kategorisch aus – eine Freundschaft kann es nur zwischen Götterngeben (DIELS, Philodemos, 2, 6-7), die «Gefühle der Menschen der Gottheit gegen-über sind also auf das bewundernde Element beschränkt und schließen eine Ver-traulichkeit aus, die man mit dem Begriffe der Freundschaft verbindet» (ib., 11).

    83 SCHMID, Götter, 109-111. Die Parallelstellen, die Schmid anführt, zeigenletztlich stets – sofern man Diels’ Ergänzungen annimmt, cfr. oben –, daß eine tat-sächliche Aufnahme bzw. ein Ausstoßen zwischen Menschen in der menschlichenSphäre geschieht (bes. ib., 110 n. 50.) oder Götter in der göttlichen Umgebung Din-ge und nicht Menschen akzeptieren bzw. zurückweisen (ib., 115). Zudem ist dashier praktizierte Heranziehen von v.a. außerepikureischen Texten eher problema-tisch, da diese die spezifisch epikureische Theologie nicht wiedergeben können.Schmid spricht gar von «Wohlgefallen der Gottheit» (!), die Götter «gewähren»ὠφέλειαι – dies ist mit Sicherheit nicht auf den Kepos anwendbar.

    84 Philodem, De Pietate I col. 37, 1050-1054 O. Obbink (OBBINK, On Piety,472-473) sieht den Bezug zu ταῖς... νοµίζοντες: die Wortwahl suggeriere hier die

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  • Götter als Subjekt oder zumindest, daß Philodem die Götter als Subjekt annahm.Der Satz scheine trotz γάρ jedoch nicht die zwei Sätze zuvor zu erklären. Da PHerc1428 zudem zeige (cfr. unten), daß in Philodems Text ὠφέλειαι τοῖς ἀγαθοῖς nichtstand, könnten Subjekt aber auch nicht die Guten und Weisen sein. Folglich plä-diert Obbink für die Lösung von Long und Sedley («people in general»).

    85 Philodem, De Pietate I col. 38, 1101-1108 O.86 Zu göttlichen Tugenden cfr. Sextus Empiricus, Adversus Physicos, I 152-

    176; zum Versuch einer Widerlegung der Kritik Barigazzis cfr. ARRIGHETTI, Epicu-ro, 539-540 mit weiterer Literatur; zu den ἀρεταί der Götter cfr. auch KRÄMER,Platonismus, 151 mit Anm. 200.

    87 Als Autor wurden Philodem (SCHMID, Pap. Oxy. 215) und Epikur genannt(OBBINK, POxy 215, 189-191).

    ERGEBNISSE DER ARBEIT AM KOMMENTAR ZU EPIKURS BRIEF AN MENOIKEUS 31An anderer Stelle findet sich in ähnlicher Formulierung ...ἐsκs

    θεῶν ποs[λλὰ κἀγα]θὰ{ι} συνέs[χειν, κἀν] τῆι Πρὸ[ς Ἐµπεδο]κλέαπρ[ώτηι γραφῆι] τὴν οἰ[κειότητ’ ἔ]χειν ἐν[ίοις καὶ τὸ] ἐναντί[ονἄλλοις]85.

    Eine konstatierte οἰκειότης der Gottheit gegenüber manchenMenschen rechtfertigt allerdings noch keine ἀποδοχή, wie Schmidsie annimmt, eine solche ‛Verwandtschaft’ kann auch bzw. sollteausschließlich auf menschlicher Seite feststellbar gedacht werden.

    Folglich ist die These Schmids, so gelehrt und materialreich sieauch sein mag, mit einer gehörigen Skepsis zu betrachten. BereitsBarigazzi, der die Weisen als Subjekt annimmt, bringt gegen dieTheorie Schmids folgende Argumente vor: 1) man solle wohl an ei-ne Beziehung von Menschen zu Göttern denken und nicht umge-kehrt; 2) das Verb νοµίζειν passe nicht zu Göttern, weshalb es wohlSchmid auch in ἐξορίζοντες ändert (cfr. S. 46-47); 3) man würdenicht ἀρεταί erwarten, sondern den Singular, wenn die ἀρετή derGötter darin bestehe «pellere aliena saluti», wie Schmid annimmt.Dementsprechend solle es hier um Menschen gehen, da es bei die-sen diverse Einzeltugenden gebe86.

    2.4. Subjekt sind die Weisen (nach Barigazzi)Wie verhält es sich nun mit der Theorie Barigazzis, die ich be-

    reits kurz erwähnt habe? Sofern die Weisen Subjekt sind, wie dieseres annimmt, so ergeben sich bei einigen der eben besprochenenPunkte aufgrund des Perspektivwechsels zunächst weniger Proble-me. Eine weitere Textstelle, an der sich Epikur ebenfalls zum Ver-hältnis zu den Göttern äußert, bietet Unterstützung für die TheseBarigazzis: in POxy 21587 erfolgt im Rahmen einer Ablehnung tra-ditioneller Götterverehrung aus Furcht der Rat, der Adressat sollesich seine richtige Auffassung bewahren µόνον [γε π]ολs[υω]ρῶν

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    88 So die Textbasis Barigazzis, nach OBBINK, POxy 215, 172: µόνον [µὴ]οrλs[ιγ]ωρῶν τηλικού[του] σεµsνώµατος κατsὰ [τὴ]ν θ[ε]ωsρίαν πρὸς τὴν [σεαυ]τοῦεὐ[δαιµ]ονίαν und τιµs[ᾶ]ν αὐτὴν τὴν θεωρίαν σεαυτοῦ ταῖς συγγενέσιν κατὰσάρκα ἡδοναῖς.

    89 Nach Schmid (SCHMID, Götter, 134-135) die θεωρία τῶν θεῶν, die gleichzu-setzen sei mit γνῶσις τῶν θεῶν; ähnlich OBBINK, POxy 215, 173: «questa tua pro-pria osservanza religiosa»; anders BARIGAZZI, Uomini 41-42: θεωρία τῆς φύσεως.

    90 ταύτην (sc. ἡδονὴν) γὰρ ἀγαθὸν πρῶτον καὶ συγγενικὸν ἔγνωµεν.91 So BARIGAZZI, Uomini, 49-50.92 Hiergegen mag aber Chrysipp SVF 229a sprechen: τριῶν οὖν τούτων ἡµῖν

    οἰκειώσεων ὑπαρχουσῶν φύσει καθ’ ἕκαστον τῶν µορίων τῆς ψυχῆς εἶδος, ...,Ἐπίκουρος µὲν τὴν τοῦ χειρίστου µορίου τῆς ψυχῆς οἰκείωσιν ἐθεάσατο µόνην, ὁδὲ Χρύνσιππος τὴν τοῦ βελτίστου, φάµενος ἡµᾶς οἰκειοῦσθαι πρὸς µόνον τὸκαλόν, ὅπερ εἶναι δηλονότι καὶ ἀγαθόν. Wäre es nicht wahrscheinlich, daß Epikurschriebe ταῖς γὰρ ἰδίαις οἰκειούµενοι διὰ παντὸς ἡδοναῖς?

    93 Cfr. VANDER WAERDT, Justice, 414 mit Belegstellen.94 Denn die Götter sind das Ideal der εὐδαιµονία, das der Weise natürlich ver-

    ehrt (Cicero, De natura deorum I 45); BARIGAZZI, Uomini, 50-52.95 Philodem, De dis III fr. 84 col. 1, 19 - fr. 85, 2. Ähnlich SCHMID, Götter, 138

    τηλικού[του] σεµνώµατος κατὰ [τὴ]ν θ[ε]ωρίαν πρὸς τὴν [σεαυ]τοῦεὐ[δαιµ]ονίαν (col. 1, 28-32 O.) und im Anschluß τιµ[ῶ]ν αὐτὴν τὴνθεωρίαν σεαυτοῦ ταῖς συγγενέσιν κατὰ σάρκα ἡδοναῖς (col. 2, 2-5O.)88. Deuten lasse sich diese Passage folgendermaßen: versteheman sich auf die richtige Form der θεωρία89, so verehre man dieGottheit und somit die εὐδαιµονία, um diese und dadurch die Stufeder Götter zu erreichen. Dies geschehe vor allem bei den Festen, andenen Götter verehrt werden. Hierzu passe POxy 215, col. 2, 2-5 O.:τιµ[ᾶ]ν αὐτὴν τὴν θεωρίαν σεαυτοῦ ταῖς συγγενέσιν κατὰ σάρκαἡδοναῖς. Diese Aussage sei wichtig für den epikureischen Götter-kult: in einer Formulierung, die derjenigen in Epistula ad Menoe-ceum 129 ähnlich ist90, werde hier geäußert, daß a) die Lust für denMenschen συγγενής sei; b) man durch sie die θεωρία und somit dieGötter verehre, die das τέλος der ἡδονή verkörperten. Dieses τέλοςkönne man ταῖς συγγενέσιν κατὰ σάρκα ἡδοναῖς erreichen, welcheman mit ταῖς ἰδίαις ἀρεταῖς gleichsetzen bzw. parallelisieren kön-ne91. Anhand einer οἰκείωσις ταῖς ἀρεταῖς92 könne der Weise die Tu-genden korrekt auf die ἡδονή anwenden, seinem συγγενές undgleichsam οἰκεῖον: wenn der Mensch sich diesem immer widme, seier glücklich93. So nähere man sich bei Götterfesten durch die Verge-genwärtigung der körperlichen Lust und der Nähe der Götter diesenals einem Modell an94, bis man sich mit diesen identifiziere undquasi eine freundschaftliche Beziehung erfolge (τοὺς ὁµοίουςἀποδέχονται) – mit der Einschränkung βέλτ[ιον]... τὰ... [ῥήµαταἀχρ]ήστως µὴ παραβιάζεσθαι95. Durch diese Art der Göttervereh-

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  • rung werde die εὐδαιµονία erreichbar, die Götterfreundschaft sei al-so vom Menschen aus zu sehen. ταῖς... νοµίζοντες erklärt (γάρ) fürBarigazzi quasi wie bei Schmid die ὠφέλειαι, als deren Nutznießerdie Weisen zu denken sind.

    Nach Betrachtung der Theorien Schmids und Barigazzis mag ichmich letztlich noch nicht recht für ein Subjekt entscheiden96 undwill an dieser Stelle kurz Vor- und Nachteile der Thesen Barigazzisund Schmids vor Augen führen.

    Wenn wie bei Schmid die Götter Subjekt sind, 1) so hat man einenerklärbaren Übergang von ἔνθεν... ὠφέλειαι zu ταῖς... νοµίζοντες –wobei Schmid für seine Interpretation das Verb aber ändern muß;2) trägt man der ähnlichen Formulierung bei Philodem und Epikurhinsichtlich ὅµοια / οἰκεῖα einerseits und ἀλλότρια / ἀλλόφυλα ande-rerseits Rechnung – doch besteht hier die Gefahr einer Über- bzw.Fehlbewertung der Fragmente, die einem völlig anderen Kontextentstammen; 3) ist selbst eine metaphorische ἀποδοχή schwervorstellbar, ein wie für Schmids Theorie notwendiges aktives Verhal-ten der Götter gegenüber den Menschen gar nicht (da sonst Rataesententiae 1 verletzt würde). Plausibler wirkt die Annahme, daß dieGötterfreundschaft vom Menschen aus zu sehen ist97; 4) paßSchmids These nicht zur oben angenommen Interpretation vonἔνθεν... ὠφέλειαι als Epikurs Wiedergabe der falschen traditionellenGottesauffassung der Menschen, sondern erfordert die Annahme ei-ner Aussage über die psychischen Auswirkungen der jeweiligenGottesauffassung.

    Da hier ein protreptischer Brief vorliegt, ist dieses Hintergrund-bzw. Zusatzwissen aber nicht als voraussetzbar anzunehmen.

    Nimmt man die Weisen als Subjekt an, 1) so ist der Übergang

    zu POxy 215 col. 1, 17-22 Barigazzi (identisch bei OBBINK, POxy 215, 170): dasseligste Gut sei der ‛rechte Begriff’ vom Edelsten – von den Göttern. Die genießen-de Vergegenwärtigung der göttlichen Sphäre sei auch der einzige Sinn des epiku-reischen Gebets – ohne diese sei eine ‘freundschaftliche’ Beziehung zu den Götternnicht möglich.

    96 So enthält sich einer solchen dann z.B. auch MANSFELD, Aspects, 176 n. 7.Anders äußern sich freilich Schmid (SCHMID, Götter 111: «Nachdem nun... wohlendgültig... die Götter als Subjekt sichergestellt sind») und Barigazzi (BARIGAZZI,Epicurea, 153: «è più semplice e più efficace dire che i saggi ἀποδέχονται τοὺςὁµοίους») selbst zu ihren Thesen.

    97 Letztlich stellt sich dieser Eindruck auch bei der Lektüre Schmids (SCHMID,Götter) ein, selbst wenn er das nicht zugestanden hätte. Daß Götter oder Weise alsSubjekt vorstellbar sind, ergibt sich aus zahlreichen Passagen, cfr. z.B. ib., 120-121: «das ist eine Notwendigkeit ebensosehr für den Menschen, der mit ihnen inKontakt treten möchte, wie für die Götter selbst».

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    98 Ohne nähere Erklärung nimmt dies auch Vander Waerdt an (VANDER WA-ERDT, Hermarchus, 100-101).

    99 Cicero, De finibus bonorum et malorum II 88 = fr. 602 Us.: voluptatem nonoptabiliorem diuturnitas facit? quid est igitur, cur ita semper deum appellet Epicu-rus beatum et aeternum? dempta enim aeternitate nihilo beatior Iuppiter quamEpicurus; uterque enim summo bono fruitur, id est voluptate. ...qua igitur re ab deovincitur, si aeternitate non vincitur? in qua quid est boni praeter summam volupta-tem, et eam sempiternam?

    100 Daß eine Annahme der Götter als Subjekt per se keine direkte Kommunika-tion zwischen Mensch und Gott erfordert, äußerten bereits BIGNONE, Studi, 94-99;DIANO, Note, 78-79; BARIGAZZI, Epicurea, 152.

    101 So auch BARIGAZZI, Epicurea, 151 n. 3 gegen SCHMID, Götter, 107-108.102 Zur θεωρία Epikurs cfr. ERLER, Deus mortalis, 170-174.103 BARIGAZZI, Epicurea, 153; BARIGAZZI, Uomini, 41-42. Schmid (SCHMID,

    Götter, 136) zeigt anhand von fr. 385 Us., daß Gottesanschauung bzw. Gotteser-kenntnis und imitatio dei die höchste Form des εὐδαιµονεῖν sind, und setzt voluptasin homine a deo auctore creata gleich mit ὠφέλειαι ἐκ θεῶν ἐπάγονται.

    von ἔνθεν... ὠφέλειαι zu ταῖς... νοµίζοντες nicht gegeben und erfor-dert einen Eingriff in den Textbefund (ταῖς γὰρ ἰδίαις ‹οἱ›οἰκειούµενοι...); 2) läßt sich ταῖς... ἀρεταῖς gut erklären und Rataesententiae 1 bliebe beachtet; 3) bleiben die Aussagen Philodems zuοἰκεῖα / ἀλλόφυλον weitgehend unberücksichtigt; 4) wie zu Schmid.

    2.5. Subjekt sind die Weisen und die GötterWäre evtl. eine Kombination beider Theorien denkbar? Wenn

    man Barigazzis Text übernimmt, so lautet die Übersetzung: «Denndiejenigen, die stets mit ihren eigenen Tugenden vertraut sind, neh-men ihresgleichen an, während sie alles, was nicht so ist, für fremdhalten». Dies könnte nun für die Weisen und die Götter gelten. Vordem Hintergrund der besprochenen Angleichung in Eigenschaftenund Wesen könnte man hier an eine bewußte Ambiguität denken98,da der Unterschied zwischen epikureischem Weisen und seiner idea-len Gottheit nach der Annäherung nicht mehr groß ist und lediglichdie Dauer der εὐδαιµονία divergiert. Dies fügt sich zu anderen Zeug-nissen99 und weist voraus auf Epistula ad Menoeceum 135. Somitkönnten letzten Endes die Götter und die Weisen Subjekt sein, be-achten sollte man allerdings, daß die Götter nicht wirklich mit denWeisen verkehren100 oder sie gar aktiv in ihre Sphäre aufnehmen.

    Der Bezug zur ‘Götterfreundschaft’ in Philodems De dis III wäre dannwohl folgendermaßen zu sehen: die Götter können die Weisen nicht in ihreGemeinschaft aufnehmen101, vielmehr ist die Freundschaft zu ihnen quasieine Freundschaft zur εὐδαιµoνία. Durch die Betrachtung der glücklichenGötter102 nähert sich der Weise deren Glückseligkeit an und empfindet soLust, er erfährt also ὠφέλειαι durch die richtige Auffassung103, was sich

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  • ERGEBNISSE DER ARBEIT AM KOMMENTAR ZU EPIKURS BRIEF AN MENOIKEUS 35freilich nur zur oben verworfenen Interpretation von ἔνθεν... ὠφέλειαι alspsychischer Auswirkung der Gottesauffassung fügt. Diesen Umstand emp-findet der Weise als φιλία, die durch ὁµoιότης verursacht ist. Die Götterprofitieren von dieser Beziehung nicht, nur der epikureische Weise.

    Nimmt man im Rahmen einer Doppeldeutigkeit die Götter als Subjektan, so fügt sich dies zu Philodems Aussagen über οἰκεῖα / ἀλλόφυλον: siebetreffen die Annahme bzw. Ablehnung von Stoffen in der göttlichenSphäre; die ἀποδοχή von Menschen ist bestenfalls metaphorisch und un-wahrscheinlich.

    Denkt man sich die epikureischen Weisen als ein mögliches Subjekt derambiguen Formulierung, so passen Philodems Ausführungen auch zu die-sen als θεοὶ ἐν ἀνθρώποις: in der menschlichen Sphäre und in seinem Ver-hältnis zu den Göttern erfolgt eine ἀποδοχὴ τῶν ὁµοίων. Die σοφοίunterhalten Beziehungen nur zu ihresgleichen und fühlen sich den idealenGottheiten freundschaftlich verbunden, πᾶν τὸ µὴ τοιοῦτον ὡς ἀλλότριοννοµίζοντες: dies gilt für alles in der menschlichen Sphäre und besondersfür falsche Gottesvorstellungen. So erfüllen sie auch die Forderung in Epi-stula ad Menoeceum 123:

    πρῶτον µὲν τὸν θεὸν ζῷον ἄφθαρτον καὶ µακάριον νοµίζων, ὡς ἡ κοινὴτοῦ θεοῦ νόησις ὑπεγράφη, µηθὲν µήτε τῆς ἀφθαρσίας ἀλλότριον µήτε τῆςµακαριότητος ἀνοίκειον αὐτῷ πρόσαπτε.

    Wählt man diese Variante der offenen Formulierung, so läßt sichhierzu sagen: 1) man könnte an den Thesen Schmids und Barigazzisin Teilen festhalten; 2) was erreicht wurde, ist leider eine hochkom-plizierte Ambiguität; 3) auch hier wäre ein Eingriff in den Text nö-tig (der von Barigazzi vorgeschlagene); 4) wie bei Schmid undBarigazzi.

    Da keine der besprochenen Theorien überzeugen konnte, möchteich mich um eine Interpretation bemühen, die folgende Kriterienaufweist: 1) um dem protreptischen Charakter des Briefes gerechtzu werden, sollte der Text ohne Zusatz- oder Vorwissen zu verste-hen sein; 2) Ratae sententiae 1 sollte nicht verletzt werden; 3) dieInterpretation sollte zu derjenigen von ἔνθεν... ὠφέλειαι passen undeine Weiterentwicklung bzw. Vertiefung durch die bei Schmid undBarigazzi angeführten Textstellen ermöglichen.

    2.6. Subjekt sind die Götter, die Aussage bezieht sich komplettauf die Sphäre der Götter

    Eine solche ist durchaus denkbar. Zunächst sei nochmals οὐ...ὠφέλειαι in Erinnerung gerufen: «Denn die Aussagen der Mengeüber die Götter sind keine (richtigen) Annahmen, sondern falscheVermutungen, aufgrund derer (sc. von der Menge) die größten

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  • 36 JAN ERIK HESSLERSchäden und Vorteile auf die Götter zurückgeführt werden».

    Der nächste Satz könnte nun mit den Göttern als Subjekt fortfah-ren, allerdings nicht in einer Erklärung der ὠφέλειαι, sondern einerBegründung, warum die Auffassung der Menge falsch ist(ὑπολήψεις ψευδεῖς... γὰρ): «Denn sie (= die Götter) sind stets mitihren eigenen Tugenden vertraut und akzeptieren ihresgleichen,während sie alles, was nicht so ist, für fremd halten». Die Erläute-rung beschriebe das Verhalten der Götter in der eigenen Sphäre fernvon den Menschen: a) sie sind mit ihren Tugenden vertraut; b) sienehmen nur ihresgleichen, also andere Götter wahr; c) alles anderehalten sie für fremd.

    Der Argumentationsverlauf wäre also folgender:

    «Denn die Aussagen der Menge über die Götter sind keine (richtigen)Vorbegriffe, sondern falsche Vermutungen, aufgrund derer (sc. von derMenge) die größten Schäden und Vorteile auf die Götter zurückgeführtwerden. Denn sie sind ja stets mit ihren eigenen Tugenden vertraut und ak-zeptieren ihresgleichen, während sie alles, was nicht so ist, für fremd hal-ten». Hier könnte es nun weitergehen «und folglich kümmern sie sich nichtum die Menschen, und weder Schaden noch Nutzen geht von ihnen aus».

    Diese Interpretation käme ohne Ergänzungen aus und der Über-gang von ἐκ θεῶν ἐπάγονται καὶ ὠφέλειαι zu ταῖς γὰρ ἰδίαις wäreder von Schmid postulierte (die Götter sind die letztgenannten‘Personen’). Der Gedankengang wäre auch für jemanden verständ-lich, der erstmals mit epikureischer Lehre konfrontiert ist. Rataesententiae 1 wäre ebenso gewahrt, da sich die Aussagen des Satzesrein auf die Göttersphäre bezögen und somit irgendein aktives Ver-halten der Götter gegenüber den Menschen nicht angesprochenwäre. Somit wäre diese Interpretation als Basisaussage zur epiku-reischen Theologie unproblematisch. Was nun die anhand zahlrei-cher Textstellen ausgeführten Thesen Schmids und Barigazzisangeht, so könnten diese nun als Erläuterungen bzw. Vertiefungender Beziehungen zwischen Menschen und Göttern hinzugezogenwerden.

    Die vorgeschlagene Bedeutung von ταῖς... νοµίζοντες wider-spräche nicht: 1) Philodems Aussagen zur Götterfreundschaft; die-se ist ja metaphorisch und vom Menschen aus zu sehen – wenneine metaphorische ἀποδοχή möglich sein sollte, so läßt der Wort-laut τοὺς ὁµοίους ja Götter und Menschen zu; 2) der Angleichungdes epikureischen Weisen an Gott; 3) den Aussagen Philodems zuden Göttern hinsichtlich des Umgangs mit Fremdstoffen und der Er-nährung; 4) den Aussagen Philodems zu οἰκειότης und ἀλλοτριότης

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  • ERGEBNISSE DER ARBEIT AM KOMMENTAR ZU EPIKURS BRIEF AN MENOIKEUS 37

    104 BAILEY, Epicurus, 330-331; RYBA, Zu Epikur; DIANO, Ethica, 107-108;STARK, Epicurea, 422; MANUWALD, Prolepsislehre, 124-129.

    105 SCHMID, Götter, 107-108.

    der Götter gegenüber den Menschen.Entscheidend ist, daß derart komplizierte Theorien als Einleitung

    in die Theologie Epikurs schwer vorstellbar scheinen – folglichblieben sie mögliche Ergänzung für Fortgeschrittene, im Brief anMenoikeus stünde: die Auffassung der Menge von Schaden undNutzen durch die Götter ist falsch, denn die Götter beschäftigen sichnur mit ihrer eigenen Sphäre. Dies würde anhand dreier charakteri-stischer Verhaltensweisen gezeigt: ταῖς ἰδίαις ἀρεταῖς διὰ παντὸςοἰκειοῦνται - τοὺς ὁµοίους ἀποδέχονται - πᾶν τὸ µὴ τοιοῦτον ὡςἀλλότριον νοµίζουσιν.

    Auch gegen diese letzte Interpretation lassen sich leider Einwän-de vorbringen: 1) zum einen gäbe es keinen flüssigen Argumenta-tionsverlauf, da die angenommene Erklärung der ὑπολήψειςψευδεῖς mittels ταῖς γὰρ durch den ἔνθεν-Satz gesperrt wäre; 2) zumanderen ist es fraglich, warum Epikur, falls begründet werden soll,daß die Auffassung von Nutzen und Schaden durch die Götterfalsch ist, nicht einfach formuliert:

    οὐ γὰρ προλήψεις εἰσίν, ἀλλ’ ὑπολήψεις ψευδεῖς αἱ τῶν πολλῶν ὑπὲρθεῶν ἀποφάσεις, ἔνθεν αἱ µέγισται βλάβαι ἐκ θεῶν ἐπάγονται καὶὠφέλειαι. τὸ γὰρ µακάριον καὶ ἄφθαρτον οὔτε αὐτὸ πράγµατα ἔχει οὔτεἄλλῳ παρέχει o.ä.

    Denn eine Begründung, warum gerade die drei in ταῖς...νοµίζοντες genannten Tätigkeiten zeigen sollen, daß die Götternicht in die Belange der Menschen involviert sind, fällt dochschwer. 3) Wie oben zu οὐ... ὠφέλειαι angesprochen, ist Ratae sen-tentiae 1 bereits in der Aussage enthalten ὑπολήψεις ψευδεῖς αἱτῶν πολλῶν ὑπὲρ θεῶν ἀποφάσεις, ἔνθεν αἱ µέγισται βλάβαι ἐκθεῶν ἐπάγονται καὶ ὠφέλειαι. Insofern ist fraglich, ob der Lehrsatzhier nochmals und in anderer Form angeführt würde.

    Diese Einwände führen mich nach Abwägen aller erdenklichenVarianten zur letzten Möglichkeit:

    2.7. Subjekt sind die πολλοί (Bailey)οἱ πολλοί als Subjekt nehmen an Bailey, Ryba, Diano, Stark und

    Manuwald104. Gegen diese Interpretation wendet bereits Schmidein, die πολλοί hätten keine ἀρεταί und zudem gebe es zwischenφαῦλοι keine Freundschaft105. Schließlich werde ja unmittelbar zu-

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  • 38 JAN ERIK HESSLER

    106 LONG, SEDLEY, Hellenistic, 2, 145=23B.107 ERLER, Platon, 433 mit weiterer Literatur.108 Zu Schmids zweitem Einwand sollte man bemerken, daß es von der jeweili-

    gen Interpretation abhängt, ob der Satz überhaupt etwas mit Freundschaft zu tun hat.109 125: οὐθὲν γάρ ἐστιν ἐν τῷ ζῆν δεινὸν τῷ κατειληφότι γνησίως τὸ µηδὲν

    ὑπάρχειν ἐν τῷ µὴ ζῆν δεινόν. 130: ὅπως ἐὰν µὴ ἔχωµεν τὰ πολλά, τοῖς ὀλίγοιςχρώµεθα, πεπεισµένοι γνησίως ὅτι ἥδιστα πολυτελείας ἀπολαύουσιν οἱ ἥκισταταύτης δεόµενοι. 133: ἐπεὶ τίνα νοµίζεις εἶναι κρείττονα τοῦ... τὸ τῆς φύσεωςἐπιλελογισµένου τέλος. Negativ 127: εἰ µὲν γὰρ πεποιθὼς τοῦτό φησιν, πῶς οὐκἀπέρχεται ἐκ τοῦ ζῆν; ἐν ἑτοίµῳ γὰρ αὐτῷ τοῦτ’ ἐστίν, εἴπερ ἦν βεβουλευµένοναὐτῷ βεβαίως.

    vor davon gesprochen, daß die Auffassung der πολλοί falsch sei.Doch läßt sich hier die Auffassung von Long und Sedley anführen,ἀρεταί bezeichne das, was der einzelne für eine ἀρετή halte (so z.B.Macht), und nicht das aus philosophischer Warte als wahre ἀρετήBeurteilte – im Sinne von ‘die ganz persönlichen Auffassungen vonἀρετή’106. Der Begriff ἀρετή umfaßt bekanntlich im Griechischenweit mehr als ‘Tugend’107, bei einer Gegenüberstellung der ἀρετήhomerischer Helden, philosophisch beurteilter ἀρετή und ἀρετή imVerständnis des Volkes benötigt man im Deutschen drei unter-schiedliche Begriffe. Insofern scheint es durchaus denkbar, denπολλοί ἀρετή zuzuschreiben, allerdings nicht, wie Schmid richtigerkannte, eine ‘wahre Tugend’108.

    Freilich kann man οἱ πολλοί nur als Subjekt annehmen, wennman für ἔνθεν... ὠφέλειαι annimmt, hier sei die Rede von der tradi-tionellen Auffassung von Schaden und Nutzen durch die Götter –diese Interpretation wurde aber oben ohnehin als die wahrschein-lichste erwiesen (cfr. S. 21). Ein weiteres Argument für die Annah-me der πολλοί als Subjekt mag das Tempus von οἰκειούµενοι sein:im Sprachgebrauch Epikurs nimmt eine wichtige Rolle das resulta-tive Perfekt ein. So beschreibt er auch im Brief an Menoikeus denidealen Weisen mit Partizipien im Perfekt, um zu demonstrieren,welche Eigenschaften dieser als Basis erworben haben muß, um dieWelt richtig zu sehen. Dies geschieht in der Form «derjenige, der...getan hat»109. An der einzigen Stelle, an der οἰκειοῦσθαι bei Epikurnoch verwendet wird, steht es ebenfalls im Perfekt und weist eineEigenschaft zu, die man sich erworben hat:

    ὅθεν δὴ πᾶσι χρησίµης οὔσης τοῖς ᾠκειωµένοις φυσιολογίᾳ τῆς τοιαύ-της ὁδοῦ, παρεγγυῶν τὸ συνεχὲς ἐνέργηµα ἐν φυσιολογίᾳ καὶ τοιούτῳµάλιστα ἐγγαληνίζον τῷ βίῳ ποιήσασθαι, καὶ τοιαύτην τινὰ ἐπιτοµὴν‹συνέθηκα› καὶ στοιχείωσιν τῶν ὅλων δοξῶν (Epistula ad Herodotum 37).

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  • ERGEBNISSE DER ARBEIT AM KOMMENTAR ZU EPIKURS BRIEF AN M