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Aus:

Tania Meyer

GegenstimmbildungStrategien rassismuskritischer Theaterarbeit

April 2016, 414 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3520-1

Wie intervenieren Theaterprojekte in eine rassistisch strukturierte Gesellschaft undihre Identitätskonstruktionen?Aus postkolonialer Perspektive und mit Blick u.a. auf postmigrantisches Theater oderdie Kontroverse um Blackfacing an deutschen Bühnen zeichnet Tania Meyer Strategienrassismuskritischer Theaterarbeit nach.Sie stellt Theaterprojekte vor, die das dominanzgesellschaftliche Narrativ über dieAufklärung als ›europäische Errungenschaft‹, mit dem Identitäten des Eigenen undAnderen konstruiert werden, zur Debatte stellen. Die Studie öffnet den Blick auf diehistorischen Dimensionen rassistischer Unterscheidungspraxen und ihre Tradierun-gen bis in die Gegenwart und ist zugleich ein Plädoyer zur Repolitisierung von Thea-ter und Theaterpädagogik.

Tania Meyer (Dr. phil.), Kulturwissenschaftlerin, lehrt an der Universität Potsdam undist Gründungsmitglied des Berliner Arbeitskreises Kritische Theaterpädagogik.

Weitere Informationen und Bestellung unter:www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3520-1

© 2016 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Einleitung „Es funktioniert!“ – oder nicht? | 9 Herausforderung | 14 Aufbau | 22 Dank | 29

STANDORTE Diskurse des Interkulturellen | 33 Theaterpädagogik interkulturell: Grundkonzeptionen | 37 Ästhetik der Differenz | 44 Kritik der Aneignungsästhetik | 52 Differenz und Fremdheit in der Theaterpädagogik | 62 Ambivalenz der Präsenz auf der Bühne | 67 Kritik der Differenz | 73 Rassismus | 74 Verfügungen über Aufklärung | 89 Perspektiven | 107 Performativität der Sprache | 108 Repräsentation und Repräsentationssysteme | 113 Subjektbildung als Subjektivierung | 118 Umkämpfbarkeit von Sprache | 121 Beherzte Neuschreibung | 126 Vor-stellen als Zu-sehen-Geben | 131

GEGEN-ERZÄHLUNGEN BEISPIEL: AMO – EINE DRAMATISCHE SPURENSUCHE

Re-Signifizieren | 137 Theatrale Lückenüberschreibung | 138 Prolog des Prologs: Rollenfindung | 143 Inszenierung von Differenz – Universität und Theater | 162 Einsprüche | 174 Weiße Abwehrstrategien | 178

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Re-Konstruieren | 183 Gegen Entinnerungen | 183 Entlastung der Aufklärung | 189 Einsprengsel | 198 Utopische Leerstelle | 202 Re-Vidieren | 209 ‚Der Mensch‘: Subjekt und Objekt der Aufklärung | 209 Exotenrolle im Goldenen Käfig | 215 Sehen Schreiben Besitzen: Exkurs zur kolonialen Trennung von Subjekt und Objekt | 219 Neuordnung des Schweigens | 229

GEGEN-BILDER BEISPIEL: BOMBENWETTER. DAS KOPFTUCH HÄLT

Re-Orientieren | 241 Eigene Zugänge – Zugänge zum ‚Eigenen‘ | 242 Politiken des Nahe-Liegenden | 247 Erwartungen an Lessing | 251 „Nathan – da werden Sie geholfen“ | 259 Störungen im Betriebsablauf | 266 Re-Polemisieren | 271 Lessing, der Dissident | 273 Dissidente Aneignung des Fragmentenstreits | 277 Harmonie durch Autorität: Exkurs in das Drama der Aufklärung | 284 Aneignende Frontstellungen | 290 Fragmente (einer Sprache) der kulturkriegerischen Hysterie | 294 Re-Arrangieren | 315 An/Ordnungen | 316 Ambivalente Gemeinschaftsbildungen | 322 Die Wir-Maschine | 326 Plakate des Konfrontativen | 334

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Einleitung

„ES FUNKTIONIERT!“ – ODER NICHT? Ein traumhafter Anblick: Ferit steht auf der Bühne und spielt voller Leidenschaft den Karl Moor. In weichem, leicht blauem Licht schwört er der Räuberbande, die ihn eben zum Hauptmann gewählt hat, Treue und Standhaftigkeit: „Mein Geist dürstet nach Taten, mein Atem nach Freiheit“, ruft er. „Ich habe keinen Vater mehr, ich habe keine Liebe mehr!“. Ferit spielt, und er spielt gut, so gut, dass die Herzen der Zuschauenden, allen voran das der Lehrerin, aufgehen: Frau Kelich steht vor ihm und ist fasziniert. „Es funktioniert. Ja. Es funktioniert“, spricht sie in die Stille – Schiller hatte Recht: Das Spiel, insbesondere das Thea-terspiel, erzieht zu besseren Menschen, oder besser: macht sogar aus diesen Rotzlöffeln Menschen. Ferit geht in seiner Rolle vollends auf. Plötzlich spricht er seinen Text frei, sogar akzent-frei und in fließendem, fehlerfreiem Deutsch. Mit Friedrich Schiller, dessen Namen richtig auszusprechen Ferit erst wenige Momente zuvor noch unter äußerstem Zwang zu üben hatte, mit den Ideen die-ses deutschen Aufklärungsdichters – so zeigt uns diese Szene auf der Bühne – werden sogar die gröbsten Rüpelschüler zu Menschen: Nur da, wo der Mensch spielt, ist er richtig Mensch – das beweist Ferit jetzt nicht nur seiner Lehrerin auf der Bühne, sondern auch dem Publikum, das den Glauben an die „Versprechun-gen des Ästhetischen“ (Ehrenspeck) mit Ferits Lehrerin teilt und teilen möchte. Denn was hier in Verrücktes Blut von Nurkan Erpulat und Jens Hilje auf der Bühne am Ballhaus Naunynstraße inszeniert wird, ist nicht nur der Traum vieler Theaterpädagog_innen, die mit dem Glauben an die ästhetische Bildung ihren Lebensunterhalt verdienen, sondern es ist der bildungsbürgerliche Traum schlechthin, mit dem sich ein großer Teil jenes Publikums identifiziert, das die Szene hier mit Spannung verfolgt. An dieser Stelle wird es für seinen guten Glauben mit der Bestätigung dessen belohnt, was es eigentlich immer schon wusste: Dass Theater und kulturelle Bildung ein hohes Maß an Integrationspo-

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10 | GEGENSTIMMBILDUNG

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tenzial bereithalten, um jungen Menschen dazu zu verhelfen, die Werte einer modernen Gesellschaft wie der deutschen anzuerkennen und anzunehmen.

Nicht genug also, daß alle Aufklärung des Verstandes nur insoferne Achtung verdient, als sie auf den Charakter zurückfließt; sie geht auch gewissermaßen von dem Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden. Ausbildung des Emp-findungsvermögens ist also das dringendere Bedürfniß der Zeit, nicht bloß weil sie ein Mittel wird, die verbesserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst da-rum, weil sie zu Verbesserung der Einsicht erweckt. (Schiller 2006: 33) So Schillers Worte von 1793. Sonia Kelich, die Deutsch- und Theaterlehrerin, die sich mit dem hoffnungslosen Unterfangen in ihre Klasse begeben hat, ihren Zöglingen über das Spiel von Schillers Räubern zu Ästhetischer Erziehung zu verhelfen, zeigt heute auf der Bühne, was alles möglich ist. Doch gerade als sie ansetzt zu erklären, was Karl Moor nun mit der Lebensrealität ihrer (Migranten-) Schüler_innen zu tun zu haben scheint („ohne Vater und ohne Liebe – das seid IHR! Und jetzt könnt Ihr es endlich einmal aussprechen.“), klingelt ein Handy, das den Traum zerplatzen lässt wie eine Seifenblase und den Zustand der (Büh-nen-)Realität wieder ins Gedächtnis ruft: Da liegen sechs andere Jugendliche mit Händen hinter dem Kopf bäuchlings auf dem Boden und starren mit Horror und Angst auf Frau Kelich. Mit einer Knarre in der Hand hält sie die Erfüllung ihrer Träume – und ihres Erziehungsauftrags – unter Kontrolle.

Verrücktes Blut ist in einer kaum überschaubaren Anzahl von Kritiken als „Hit der Saison“ 2010/11 (Wolfgang Höbel, Spiegel) hinlänglich beschrieben und bejubelt worden: als „Stück der Stunde: ein Spiel, das mit sozialem Spreng-stoff jongliert und dabei sein Vorbild, den Film ‚La Journée de la Jupe‘ von Jean-Paul Lilienfeld, […] weit hinter sich lässt“, wie Andreas Rossmann (FAZ) konstatiert, und das in seiner Gesellschaftsrelevanz „einen Nerv trifft“ (ebd.). Die Frage ist jedoch: Welchen Nerv trifft das Stück eigentlich genau?

Rossmann – und andere Kritiker_innen – erkennen in dem Rückgriff auf Schiller einen „Aufklärungscrashkurs“, in dem die Schüler_innen in einer „ge-waltsamen Konfrontation mit den Texten“ begreifen, wie viel Schiller ‚sie an-geht‘, weil „Blutrache, Vaterliebe, Treue, Verrat ihre Themen“ seien und sie sich schließlich in „wundersame[r] Läuterung“ „von den falschen Autoritäten [und] Lebenslügen“ befreien ließen. „Heilsamer Idealismus“ (ebd.)? Schillers Idealis-mus ganz anders zu verstehen als das Personal auf der Bühne, meint dagegen Sa-rah Heppekausen (Nachtkritik) für die Zuschauer_innen, „die, die Schillers [Texte] lesen können“. Sarah Heppekausen bemerkt jedoch als eine von weni-gen, dass das Spiel auf der Bühne sein Ende darin findet, dass das Publikum

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EINLEITUNG | 11

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symbolisch erschossen und ihm zum Abschied ein Schlaflied gesungen wird. Vermutlich geht es wohl doch um etwas anderes als um die selbstbestätigende Erzählung einer Aufklärungsgesellschaft, die den Migrantenkindern dazu ver-hilft, Menschen – statt Affen – zu werden: „Wer soll Euch denn glauben, dass Ihr keine Affen seid, wenn Ihr nicht mal dieses schöne deutsche Wort Vernunft aussprechen könnt: Vernunft.“, spricht Frau Kelich ihnen, die Waffe in der Hand, mit rührendem Engagement vor (Erpulat/Hilje 2010: 52). Fast liebevoll betont sie dabei das n – Vernunft: „Nun spricht aber die Vernunft: das Schöne soll nicht bloßes Leben und nicht bloße Gestalt, sondern lebende Gestalt sein,“ zitiert sie. Vor ihr steht Ferit, zitternd bemüht, der Aussprache der Vernunft und dem Aufklärungsdiktat seiner Lehrerin Folge zu leisten.

Noch einmal von vorn: Worum ging es? Dezidiert geht es an dem Theaterabend, wie mit wenigen Sätzen dem Stücktext vorangestellt wurde, um viele Dinge ge-rade nicht:

In dem Stück geht es nicht um die Schüler. In dem Stück geht es nicht um die Lehrer. In dem Stück geht es nicht um Schule In dem Stück geht es um den Blick darauf, es geht um das Publikum. (Erpulat/Hilje 2010: 49)

Der Theaterabend beginnt mit dem Eintritt in den Zuschauersaal. Im hell er-leuchteten Bühnenraum hängt schräg – wie ein Damoklesschwert – über einer leicht erhöhten spiegelartigen Fläche, als Sinnbild bildungsbürgerlichen Kultur-gutes: ein Flügel mit offener Tastatur. Hinter dem Bühnenpodest halten sich die Schauspieler_innen auf, die ihre Vorstellung mit einer offenen Kostümanklei-dung vorbereiten. In Kapuzenshirts und Schlabberhosen stellen sich sieben von ihnen am vorderen Bühnenrand auf. Sie beginnen in einer „chorischen Sequenz“ klischeehafte „Ghetto-Pose[n]“ einzunehmen und zitieren dazu „mediale[] Re-präsentationen von jugendlichen ‚Migrationsanderen‘ aus sogenannten ‚Prob-lemvierteln‘ wie Neukölln“ (Blum 2011: 25). Die demonstrative Herstellung und konfrontative Vorführung dieser Posen als Stereotypen ist hier ebenso (Brecht’sche) Strategie wie der offene Umzug und die wiederholten Spielunter-brechungen im späteren Verlauf des Stücks, bei denen die Spieler_innen sich jeweils unter den Flügel stellen und romantisches Volkliedgut vortragen.1

1 Zur Analyse der Stereotypenzitate aus orientalismuskritischer Perspektive führt Thomas Blum die klischeehaften Haltungen und Gesten auf verschiedene Orientdis-

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Mit einem Stapel Reclam-Hefte kommt die Lehrerin Sonia Kelich in ein bereits total chaotisches Klassenzimmer. Dem Geschrei und Gerangel zum Trotz gilt ihr Engagement – zum Wohle ihrer Schüler_innen – der Vermittlung deut-schen Bildungsgutes (Schillers Räuber, Kabale und Liebe, die deutsche Aus-sprache und nicht zuletzt die Werte einer aufgeklärten Zivilisation), und zwar aus der selbstgewissen Perspektive derjenigen, die weiß, was es heißt ‚ganz Mensch‘ zu sein. Doch, wie zu erwarten, sind die Gören weit davon entfernt, sich von Frau Kelich überhaupt zu etwas bewegen zu lassen, sodass das Vorha-ben zu scheitern droht. Dass es dennoch gelingt, verdankt Frau Kelich dem Ein-satz einer Pistole, die einem der besonders aufsässigen Schüler in einem Hand-gemenge aus der Tasche gefallen ist, und die sie – zunehmend sicher – einsetzt, um ihre Schüler_innen in den Genuss ästhetischer Erfahrung und Aufklärung zu zwingen. In genau diesem Widerspruch besteht der systematische Witz des Stücks, der den rassistischen Paternalismus in absurder Zuspitzung zur Artikula-tion kommen lässt. Vorgestellt wird der Einsatz von Aufklärung als materielle wie auch als ideologische Waffe zur Degradierung. Denn Frau Kelich schickt ihre Eleven durch alle Instanzen der ‚Zivilisierung‘ und lässt dabei kaum eine diskriminie-rende Anrufung aus. Das Stück strotzt vor Rassismen, die die junge engagierte Lehrerin von sich gibt, um die Schüler_innen dahin zu bekommen, wo sie sich in den Augen der Dominanzgesellschaft hinbewegen sollten. Verrücktes Blut kon-struiert Aufklärung als eine Art ‚Besitz‘ in der Verfügungsgewalt einer staatstra-genden weißen Bildungsschicht, die diese als Waffe oder Bedrohungsinstrument zur Angleichung des Anderen, zur ‚Integrationsbefähigung‘, einsetzt. Auf höchst subtile Weise und vor allem mit sarkastischem Witz wird hier die (erzwungene) Anpassung an eine hegemonial definierte Aufklärung als Dressur in Szene ge-setzt: „richtiges Sprechen“ (Aussprache), „freies Spiel zur Menschwerdung“ (Schiller), Fähigkeit zum rechtstaatlich-demokratischen Urteilsvermögen und Emanzipation der Frau (ohne Kopftuch). Aufklärung wird in diesem Spiel zur Bedingung von Überleben.

Erpulat und Hiljes Erfolgsstück positioniert sich gegen das dichotom struktu-rierte Repräsentationsregime der Opposition von Eigenem und Anderem, wie es

kurse zurück (Blum 2011: 19–22; 25–31). Neben dem ausgestellten Zitat beschreibt er auch die Aneignung von deutschem Volksliedgut als ästhetische Strategie zur Desta-bilisierung von fixierten Identitätskonstruktionen. Aus postmigrantischer Perspektive geht Azadeh Sharifi (2011) auf die Aufklärungsbezüge ein. Hanna Voss (2014) unter-scheidet intellektuelle und performative Strategien theatraler Reflexion und beschreibt Verrücktes Blut als performativ reflektierend.

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EINLEITUNG | 13

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in den aktuellen Debatten zu Themen um Zuwanderung und Migration dominant und als Blick auf Migrant_innen in der Gesellschaft fest verankert ist. Deswegen geht es „um den Blick darauf“ und „um das Publikum“ (Erpulat/Hilje 2010: 49). Die im Stück zugespitzten Zuweisungen von Modernität und Vormodernität ma-chen Aufklärung im wörtlichen Sinn exklusiv: zu einem Instrument des Aus-schlusses. Zugleich stellt Verrücktes Blut die ‚Waffe Aufklärung‘ aber als mobil vor, die angeeignet, in ihrer funktionalen Ausrichtung verschoben und gegen das bildungsbürgerlich angenommene Publikum gerichtet werden kann.

Doch hintergeht die Produktion ihr Publikum auf geradezu perfide Weise – so, dass es kaum merkt, wer wen wie und warum in die (Aus-)Bildung schickt. Dass es selbst Adressat der Belehrung ist, wird erst richtig deutlich, als ‚sein‘ Unterricht beendet ist. Besonders ‚hinterlistig‘ ist die Strategie, mit der die Zu-schauer_innen hinterrücks gezwungen werden, auf sich selbst zu schauen: Das Stück aktiviert bei ihnen systematisch den Wunsch nach der (vorgestellten) ent/bemündigenden Aufklärung der – ‚migrantisch‘ konstruierten – Schüler_in-nen, indem es ihnen mit der höchst ambivalenten Figur der Lehrerin die einzig tragbare Figur zur Identifikation anbietet. Und gerade diese Identifikation mit der Lehrerin, die sich so tapfer mit der Waffe gegen ‚ihre‘ impertinenten Schü-ler_innen schlägt, um diesen zur Aufklärung zu verhelfen, erweist sich schließ-lich als Identifikation mit den eigenen Rassismen. Das Gut-Gemeinte, das Frau Kelich den jungen Leuten mit der Waffe aufzwingt (Schiller, Spiel zur Mensch-werdung, demokratisches Handeln etc.) – all das wird dem Publikum über Frau Kelich als Lehrerin als ‚seins‘ unterstellt: Angesprochen wird ein Publikum, das ‚seinen Schiller kennt‘ – weniger im Sinn einer genauen Kenntnis der Texte als vielmehr in seinem Wissen um ‚sein‘ ‚deutsches Kulturgut‘ – das es aber gern ‚abgibt‘, weitergibt – unter der Bedingung, dass die Gelehrigen willig sind und werden ‚wie wir‘ (gemeint ist die hergestellte Gemeinschaft zwischen Publikum und Lehrerin). Dieses Wissen erzeugt zugleich jenes mit der Lehrerin geteilte Unverständnis, warum ‚sie‘ das vorgehaltene Kulturgut einfach nicht annehmen wollen. Gewaltanwendung und Bedrohung erscheinen plötzlich (heimlich) nachvollziehbar. Aus dem Mitfiebern mit dem zunehmend erfolgreichen Enga-gement der Lehrerin, aus den Migranten-Schüler_innen mit den Mitteln des Theaters aufgeklärte mündige Menschen zu machen, aus dieser Normalität sol-chen Integrationsbemühens, das sich offen rassistisch zeigt, rührt der große Schock am Ende, wenn die Lehrerin oder ihre Darstellerin das Publikum – nicht die Schüler – entlässt mit dem Satz: „Der Unterricht ist beendet“. Die Inszenie-rung hat uns systematisch zu der Annahme verführt: Es funktioniert – oder doch nicht? Sch(l)uss.

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14 | GEGENSTIMMBILDUNG

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HERAUSFORDERUNG Auf subtile und eindringliche Weise geht es in Verrücktes Blut um „die Schwie-rigkeit, nicht rassistisch zu sein“, auf die Annita Kalpaka und Nora Räthzel (1985, 1992, 1996) u. a. mit Blick auf den Paternalismus hinweisen, der dem Publikum so radikal ‚gespiegelt‘ vorgehalten wird. Die Autorinnen betrachten Paternalismus als eine „Form des Rassismus, die anderen auf den eigenen Ent-wicklungsstand ‚hochhelfen‘ will“ und dabei zugleich die „Unterschiede im Grad der erreichten Entwicklung oder der Emanzipationsfähigkeit“ definiert (1985: 25). Denn „Ethnozentrismus und Rassismus wirken auch bei der Übertra-gung eigener Emanzipationsmodelle auf andere Kulturen. Emanzipation wird so zur Unterwerfung“ (Kalpaka/Räthzel 1992: 98).

Das Interesse an der Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein, das Annita Kal-packa und Nora Räthzel vor dreißig Jahren mit der Beobachtung begründeten, dass „‚ausländerfeindliche‘ Gesetzgebung und rassistische Propaganda nicht auf den Widerstand der Mehrheit der deutschen Bevölkerung stoßen“ (Kalpacka/ Räthzel 1994: 9), hat bis heute nicht nachgelassen. Denn es richtet den Blick auf die Mechanismen der Reproduktion und Stabilisierung rassistisch organisierter Machtbeziehungen, die strukturell und hegemonial in die Gesellschaftsordnung eingelassen sind. Rassismus wird in seinen unterschiedlichen Dimensionen und Wirkweisen beschreibbar. Das gilt auch und gerade für die heimlichen und un-bewussten Momente sozialer und symbolischer Ausschließungspraxis, die oft unbemerkt den Alltag bestimmen und dabei kaum einen Bereich auslassen – auch nicht die Kunst und das Theater.

Die Schwierigkeit, mit Theater nicht rassistisch zu sein, ist Thema dieser Ar-beit. Sie fokussiert Ansatzpunkte im Theater und in der Theaterpädagogik, die sich um ein Gegensprechen bemühen. „Gegenstimmbildung zu Kulturellem Ras-sismus in theaterpädagogischen Projekten“ ist ein Entwurf für eine Theaterpäda-gogik, die sich als kritische Intervention in gesellschaftliche Diskurse um Migra-tion versteht. Das leitende Interesse besteht darin, ein praktisches wie theoreti-sches Konzept der Theaterpädagogik, das seit ca. zwanzig Jahren unter der Be-zeichnung „Interkulturelle Theaterpädagogik“2 begrifflich wie programmatisch gefasst und beschrieben wird, aufzugreifen, es aus kulturwissenschaftlicher Per-spektive zu überdenken und in seiner Ausrichtung grundsätzlich zu verschieben.

2 Hoffmann 2008, Sting 1994, 2005, 2008, 2010a, 2010b, Domkowsky 2008, Warte-mann 2002, Matthies 1996, darüber hinaus: Fischer-Lichte 1990, 1996a, 1996b, 2009, Balme 1995, 2007, Regus 2009. Eine eingehende Auseinandersetzung nehme ich in Kapitel 1 vor.

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EINLEITUNG | 15

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Der Blick richtet sich hier vor allen auf rassismuskritische Reflexion als konsti-tutivem Teil theater/pädagogischer Praxis und Theoriebildung. Gemeint ist da-mit zum einen die Reflexion von (eigener) Theaterarbeit sowie ihrer theoreti-schen Beschreibung im Verhältnis zu ihrem jeweiligen diskursiven Rahmen, zum anderen die Reflexion der Handlungsmacht von/mit Theater als diskursiver Eingriff in die jeweiligen Rahmungen. Im Besonderen geht es dabei um die Be-fragung der (eigenen) Blick- und Wissensbildungen und deren Verwicklung in einem gesellschaftliches Umfeld, das sich, wie Hartwig Pautz aus politikwissen-schaftlicher Perspektive feststellt, durch eine zunehmende „Kulturalisierung des Politischen“ (Pautz 2005: 10) auszeichnet und insofern durch Formen und Funk-tionsweisen des Kulturalismus3 rassistisch geprägt ist. Vor diesem Hintergrund zielt die Arbeit auf eine sich innerhalb des Migrationsdiskurses kritisch positio-nierende Theaterpädagogik, die einer zur ‚Kulturalisierung des Theaterpädago-gischen‘ tendierenden ‚Interkulturellen Theaterpädagogik‘ mit Skepsis begegnet. Mit dem hier vorgeschlagenen Programm der ‚Gegenstimmbildung‘ lotet sie Möglichkeiten, Varianten und Grenzen antirassistischer Artikulation und Inter-vention aus und setzt diese in Szene.4

Antirassismus verstehe ich mit Alastair Bonnett nicht nur als „those forms of thought and/or practise that seek to confront, eradicate and/or ameliorate rac-ism“, sondern grundsätzlicher als „anti-essentialist political force that acts to de-naturalize both ethnic and racial allegiances and categories“ (Bonnett 2000: 3f). Eine in diesem Sinn antirassistische Theaterpädagogik versteht Theater – die Kunstform, das Medium und die Institution – als Teil gesellschaftlicher Diskur-sivität und bildet eine auf diese bezogene Reflexions- und Kritikfähigkeit aus. Hierzu gehört auch und insbesondere die Denaturalisierung des ‚weißen Blicks‘, den Julia Lemmle im Rahmen der Debatten um das blackfacing an Berliner Bühnen (vgl. Schmidt 2012) im Jahr 2012 wie folgt beobachtet und kritisiert: „Zum weißen Selbstverständnis gehört, immer und überall über alles sprechen zu können. Das zeigt sich auch in der Idee, man wäre in der Lage, eine anti-rassistische Inszenierung zu machen, ohne sich intensiv mit dem Thema [Ras-sismus] auseinanderzusetzen.“ (Lemmle 2012: 2)

3 Annita Kalpacka und Nora Räthzel beschreiben mit Kulturalismus die Naturalisierung von Kultur, bei der „Kultur selbst zu einer Naturkonstante“ gemacht wird (Kal-packa/Räthzel 1985: 25); ausführlicher dazu das Kapitel „Kritik der Differenz“.

4 Mit dieser Programmatik, so hoffe ich, lassen sich Dynamiken und Handlungsspiel-räume theoretisieren, die über die Theaterpädagogik hinaus andere Arbeitsfelder Kul-tureller bzw. Ästhetischer Bildung und künstlerischer Produktion betreffen.

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16 | GEGENSTIMMBILDUNG

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Diese Reflexions- und Kritikfähigkeit bezieht sich zunächst auf die Ausei-nandersetzung mit dem ‚Kontext‘, also dem diskursiven gesellschaftlichen Rah-men, in dem Texte – wie z. B. Theaterproduktionen – hergestellt werden, auf den sie reagieren, in den sie aber auch spätestens mit der ersten Aufführung in welchem Maß auch immer eingreifen. Jede Form der Re/Aktion wird dabei also zugleich als ihrerseits aus dem Diskurs hervorgebracht betrachtet – so auch das Phänomen der Interkulturellen Theaterpädagogik selbst.5 Das Theaterprodukt lässt sich als ein komplexer, multimedialer Text auffassen, entstanden aus der Selektion und Kombination gesellschaftlich vorhandener, ‚flottierender‘ Diskur-spartikel, die der dem Text vorgängige Kontext enthält und bereitstellt. Da die semantischen Materialien und syntaktischen Regeln der Textproduktion voraus-gehen, ist diese kontextuell gerahmt. Gleichzeitig aber ist jeder Text als je neue Re-Selektion und -Kombination des bearbeiteten Materials eine eigenständige Artikulation. Diese beinhaltet immer auch eine diskursive Positionierung sowie ein prinzipielles Potenzial zur Intervention in den rahmenden Kontext und setzt strategische Entscheidungen der beteiligten Akteure voraus. Solche Entschei-dungen zu reflektieren ist integraler Bestandteil einer Theaterpädagogik der Ge-genstimmbildung: In deren Fokus rücken die in theatralen Re/Aktionen einge-setzten Materialien und Rekurse auf bestimmte Text- und Bildrepertoires (ein-schließlich der darin eingelassenen Geschichts- und Identitätskonstruktionen), auf die Theaterproduktionen zurückgreifen und die sie selbst re/produzieren, wie auch die künstlerischen Strategien, Repräsentationspraktiken und Sprech- und Adressatenpositionen. Eine so formulierte Reflexionsfähigkeit als konstitutives Element einer Gegenstimmbildung in theaterpädagogischen Projekten setzt sich in der vorliegenden Arbeit (programmatisch) um in der Vorstellung und Ver-wendung eines theoretischen ‚Vokabulars‘, mit dem aktuelle Diskurse um Mig-ration, Zuwanderung, Flucht und Interkulturalität in Deutschland beschrieben und innerhalb dieses Diskursrahmens sich artikulierende theatrale Interventionen analysiert werden können.

Das Begriffs- und Methodenarsenal basiert auf poststrukturalistisch orien-tierten Theorien der Cultural, Postcolonial und Gender Studies. Ihre Perspekti-ven lenken den Blick auf die Theaterproduktion sowie ihre theoretische (Neu-) Bestimmung und bieten auch das Handwerkswerkszeug für die angestrebte Re-flexion der eigenen Theaterpraxis. Auf dieser Grundlage entwickle ich anhand

5 Insofern Texte auch ‚Anrufungen‘ (Interpellationen) sind, die Subjekte im Sinne Alt-hussers und Butlers konstituieren, betrachte ich die Theaterproduktionen auch als Re/Aktionen auf solche vorangegangen Interpellationen.

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der Analyse bestimmter Praxisbeispiele neue Perspektiven für theaterpädagogi-sche Theoriebildung. Ich lese die Stücke exemplarisch als Gegenstimmen zu kulturellen Rassismus, d. h. als Texte, die gesellschaftlichen Mechanismen des Ein- und Ausschlusses entlang bestimmter Differenz-Kategorien wie ‚Kultur‘6 oder Religion (als verschobene „Rasse“-Kategorien) in unterschiedlichen Facet-ten nachgehen. Mich interessieren die in den Stücken verhandelten unterschied-lichen Dimensionen und Aspekte rassistisch strukturierter Diskurslandschaften ebenso wie die theatralen Strategien zur kritischen Kommentierung der wahrge-nommenen Rassismen. Das heißt nicht zwingend, dass die hier analysierten Theaterproduktionen immun wären gegen die Mechanismen des Kulturellen Rassismus; mein Fokus liegt jedoch weniger auf den unreflektierten Momenten, in denen auch diese Produktionen dazu tendieren, Rassismus zu affirmieren, sondern auf denjenigen Aspekten, die für eine Theoriebildung der Gegenstimm-bildung produktiv zu machen wären. Es geht insofern darum, die Praxis exemp-larisch für die Theoriebildung nutzbar zu machen, um von dort aus Theater als gesellschaftliche Praxis zu verstehen.

Die generelle Frage lautet demnach: Wie und mit welchen Effekten werden Gegenstimmen zu Kulturellem Rassismus in Theaterstücken als Ergebnisse thea-terpädagogischer Projekte hergestellt? Mit welchen Strategien der Selektion und Kombination werden vorgängige Diskurspartikel aufgegriffen und in die Stücke eingebracht, welche künstlerischen Mittel zur Repräsentation von Rassismus werden gewählt, welche ‚Antworten‘ entstehen daraus, und auf welche Weise werden diese wieder im jeweiligen Diskurs positioniert? Und: Welche Repräsen-tationspolitiken werden mit den Stücken verfolgt? Hier knüpfen sich Fragen nach den Sprechpositionen der Akteure und deren Positionierungen der Adres-sierten in den Stücken an. Oder, um es mit Fragen aus dem Bereich der Visual Culture zu formulieren: Wer gibt wem was zu sehen, und wie wird wer mit die-sem Akt des Zu-sehen-Gebens hergestellt? (vgl. Schade/Wenk 2011: 9)

Der Blick richtet sich auf Theater, das in einem deutschen Kontext für einen deutschen Kontext – von Akteuren mit oder ohne deutschen Pass bzw. ‚Migrati-onshintergrund‘ – produziert wurde und die innergesellschaftlichen Fragen oder

6 Ich verwende die Schreibweise ‚Kultur‘, wenn von Vorstellungen die Rede ist, die den Terminus im Sinne homogener und geschlossener Kulturkreise verwenden (zur Kritik dieser Auffassung vgl. Welsch 2000). Die Schreibweise dient zur Kennzeich-nung eines „totalitätsorientierten Kulturkonzepts, [für das] die Kopplung von Kultu-ren als Lebensformen an einzelne ‚Kollektiv-Subjekte‘ – Völker, Ethnien, Nationen, Kulturkreise –, und an Gemeinschaften“ charakteristisch ist. (Reckwitz zit. in Shoo-man 2011: 60)

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verlautbarten Konflikte der Einwanderungsgesellschaft reflektiert. Eine zeitliche Eingrenzung des Feldes auf die Theaterpraxis, die sich in den aktuellen politi-schen Debatten um Integration im Zuge des neuen Staatsbürgergesetzes verorten lässt, führt – trotz erheblicher Forschungslücken – zur Auslassung des sog. „Ausländertheater“, das in soziokulturellen Zentren der 60er und 70er Jahre pro-duziert wurde (vgl.: Brauneck 1983; Boran: 2004 und Cohn 2012: 162). Ausge-klammert wird auch, was in theaterwissenschaftlichen Untersuchungen über in-ternationales Theater mit Begriffen des „Interkulturellen“, „Fremden“, „Synkre-tismus“ und auch „Postkolonialen“ beschrieben wurde.7

Befragt werden Theaterstücke bzw. Inszenierungen, die dem Diskurs um Migration angehören und sich mit ihm auseinandersetzen. Die Beobachtung, dass in den Debatten um Zuwanderung, Einbürgerung, Flucht und Integration, die begleitet sind von solchen über Marginalisierung, Ausgrenzung, Diskrimi-nierung und Rassismus, auffällig oft ‚Aufklärung‘ und ‚Modernität‘ zur Kon-struktion von Identitäten eingesetzt wird, hat mein Interesse auf die spezifische Frage nach Aufklärungskonstruktionen fokussiert. ‚Aufklärung‘, so die hier zu-grunde liegende Annahme, wird in den öffentlichen Debatten tendenziell so kon-struiert, dass mit ihr gesellschaftliche Ein- und Ausschlüsse legitimiert und er-neut hergestellt werden. Solche Aufklärungskonstruktionen bilden das Material für die theatralen Auseinandersetzungen und Verhandlungen, wie eingangs am Beispiel von Verrücktes Blut illustriert wurde. An zwei weiteren Beispielen soll ausführlicher untersucht werden, mit welchen theatralen Mitteln Aufklärungs-konstruktionen jeweils vor- und ausgestellt und verschoben werden, sodass neue Vorstellungen von Aufklärung entstehen, die als Gegenstimmen gelten können. Damit präzisiert sich die Fragestellung der Untersuchung folgendermaßen: Wie wird ‚Aufklärung‘ in den Stücken konstruiert, und in welcher Weise verschieben und destabilisieren diese Aufklärungskonstruktionen die Festschreibungen, die im dominanten Diskurs über Zuwanderung vorgenommen werden? Wer wird wie mit den inszenierten Aufklärungskonstruktionen positioniert? Kurz: Wie funktionieren die neuen, tendenziell dissidenten Aufklärungskonstruktionen in den Theaterstücken als Gegenstimmen zu Kulturellem Rassismus? Und schließ-lich: Was lässt sich aus einer solchen Lektüre theatraler Texte für eine Theorie der Theaterpädagogik im Sinne einer Gegenstimmbildung ableiten?

Es wird sich zeigen, dass nicht jede Gegenstimme automatisch destabilisie-rende Effekte erzeugt, sondern mitunter das Risiko besteht, vorangegangene Zu-schreibungen und Positionierungen zu affirmieren und so Rassismen zu re/produzieren. Diese Risiken der Re/Stabilisierung von dominanten Fixierungen

7 Vgl.: Fischer-Lichte 1995, 1996a, 1996b, 1999; Balme 1995, Regus 2009.

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als Momente des (partiellen) Scheiterns verweisen jedoch auf Dilemmata, die sich aus langen Traditionen von Festschreibungen und Konventionen des Spre-chens ergeben. Insofern sind Gegenstimmen nicht als ‚Lösungen‘ zu verstehen. Sie sind Entgegnungen auf zuschreibende, diskriminierende, positionierende An-reden und Äußerungen, die auf der Grundlage eingehender Reflexion artikuliert werden – aber ohne Garantie auf Widerspruchsfreiheit oder ‚Richtigkeit‘. Mit Judith Butler lese ich sie als Versuche von Umdeutungen (Resignifizierungen) im Rahmen von Sprache und ihren Regeln, als Versuche, genau diese Regeln der Sprache, denen auch sie unterliegen, partiell zu verschieben. Gegenstimmbil-dung zielt insofern weder auf Widerspruchsfreiheit noch kann sie gar die Anlei-tung zu ‚richtigen‘ Theaterformen geben.8 Dies würde in der Tendenz zur ein-dimensionalen, starren Festlegung sehr enggefasster Regeln auf der Grundlage von Wahrheiten und ‚Wissen‘ führen, die ihrerseits jedoch nur neue Konventio-nen oder Definitionen stützten, und damit einer anvisierten Destabilisierung ge-rade zuwider laufen. Stattdessen versteht sich Gegenstimmbildung als theatrale Herausforderung zur Verhandlung, ohne Anspruch auf Stabilität und Sicherheit, aber immer mit der Bereitschaft zur Neuverhandlung und vor allem der Selbstre-flexion. Eine Neuausrichtung von Theaterpädagogik als eine Theorie und Praxis, die sich in die Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens einmischt, basiert demnach nicht zuletzt auf dem Moment der Bewegung und der Veränderbarkeit, das als Reflexions- und Handlungsfähigkeit (agency) eingefordert wird.

In diesem Sinn begreife ich Gegenstimmbildung mittels Theater auch als In-tervention, die Roswita Muttenthaler und Regina Wonisch als Praxen des „Ein-mischens“, des „Beanspruchens“ und des „Verschiebens“ erklären (Muttentha-ler/Wonisch 2003). Sie exemplifizieren diese Praxen aus museologischer und

8 Sogenannte „performative Spiel- und Darstellungsformate in jugend- und popkulturel-len Ausdrucksformen“, mit denen „eine vom Literatur- und Repräsentationstheater abweichende aktuelle Ästhetik mit einer Nähe zur Performance“ entstehe (Sting, 2010: 23), werden vielfach als adäquate Formen für interkulturelles oder auch politi-sches Theater vorgestellt und begründet. Solchen Nahe-Legungen stehe ich skeptisch gegenüber, da m. E. Rassismen unabhängig von Formaten oder Genres affirmiert werden können. ‚Neue‘ Formen sind also keine Garantie für anti-rassistisches Thea-ter. Dennoch sind in die konventionellen Theaterformen strukturell Machtverhältnisse eingelassen, die sich historisch zurückführen lassen auf Ordnungen und (neue) Auftei-lungen des Sinnlichen wie auf ein „neue[s] Regime der Identifizierung mit Kunst […], das sich im Übergang vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert herausge-bildet hat“ (Rancière 2008: 78). Ausführlicher werde ich mich dieser Frage noch ein-mal am Schluss dieser Arbeit widmen.

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kuratorischer Perspektive anhand neuer Ausstellungskonzeptionen, mit denen Kritiker_innen den „zivilisierenden Ritualen“ und Anordnungen musealer Aus-stellungsorganisation begegneten, um deren „gesellschaftliche Relevanz [zur] Sicherung dominanter Wissens- und Bedeutungsproduktion einer bürgerlichen Elite“ in Frage zu stellen (ebd.). Durch neue partizipative Ausstellungskonzepti-onen, die eine „Auseinandersetzung mit Vergangenheit und der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfasstheit“ einforderten, fand eine dezidierte Einmischung in gesellschaftliche Diskurse statt (ebd.). Beansprucht wurde dabei der Zugriff auf die Institutionen als machtvolle Orte der Repräsentation und auch die Verfü-gung über die Repräsentationsstrategien, die nicht zuletzt Ein- und Ausschlüsse, Positionierungen und die Regulierungen von Blicken bestimmen (ebd.). Solchen partizipativen Ansätzen geht es darum, Grenzen und Fixierungen der jeweiligen An/Ordnungen und dadurch hierarchisierte Sichtweisen zu verhandeln und ver-schieben (ebd.). Auf den Repräsentationsort Theater bezogen heißt das, die Re-präsentationspolitiken auch dieser Institution des Ausstellens und des Zu-sehen-Gebens in den Fokus zu rücken. Unter anderem anhand der Produktion Amo – eine dramatische Spurensuche, aber auch entlang der Theoriebildung zu Inter-kulturellem und politischem Theater lassen sich diese Dimensionen verdeutli-chen.

Mit dem Vorhaben der Gegenstimmbildung wird ein wissenschaftlicher Standpunkt in die Theoriebildung der Theaterpädagogik eingeführt, der bisher noch kaum systematisch, sondern lediglich in wenigen, zudem kürzeren Publika-tionen sowie unveröffentlichten Abschlussarbeiten skizziert worden ist. Dieser, hier noch sehr verkürzt und thesenhaft dargestellte Standpunkt ist in den folgen-den Kapiteln zu beschreiben und zu begründen.9

Begriffe sind unterschiedlich verortet und „wandern“, wie Mieke Bal erklärt (Bal 2006: 28). Entsprechend verändern sich ihre Bedeutungszuweisungen. Ge-rade bei der Verknüpfung solcher Wissenschaftsbereiche wie der Theaterpäda-gogik, die ihr Vokabular zum Teil aus dem der Theaterwissenschaft generiert,

9 Damit verfolge ich zugleich eine Ausformulierung dessen, was Ute Pinkert mit der Bezeichnung „Theater als kulturelle Praxis“ – neben „Theater als subjektiver Erfah-rung“ und „Theater als Fähigkeit, Kunstfertigkeit und Handwerk“ – eingeführt hat. Mit „Theater als kultureller Praxis“ plädiert Pinkert für die Reflexion dessen, was ich als (allerdings stärker reziprokes, diskursiv verstandenes) Verhältnis zwischen ‚Text‘ und ‚Kontext‘ benannt habe. Pinkert fordert für diese kulturelle Dimension der Thea-terpädagogik die Beschäftigung mit „außerhalb des Theaters vorhandenen kulturellen Praktiken und Bildern und den ihnen zugrunde liegenden und durch sie produzierten Macht- und Gesellschaftsverhältnissen“ ein (Pinkert 2010: 178).

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mit den Gender Studies, den Cultural und Postcolonial Studies sowie den Stu-dien zur visuellen Kultur kommt es zur Anwendung von Begriffen, deren Signi-fikanten gleich sind, denen jedoch mit je unterschiedlicher wissenschaftlicher Ausrichtung zum Teil deutlich divergente Bedeutungen und Verwendungszu-sammenhänge zugewiesen werden. Dies gilt insbesondere für Begriffe wie Re-präsentation und Performativität, die ich in einem eigenen Kapitel für die Thea-terbetrachtungen als Teil meiner theoretischen Perspektive genauer vorstellen werde.10

10 Im Vorgriff auf die Ausführungen meiner theoretischen Basis sei hier kurz auf eine für die Arbeit zentrale Differenz im Begriff des Performativen verwiesen: Zur Theo-retisierung zeitgenössischer Theaterformen, die Hans Thies Lehmann (2001) unter dem Begriff des postdramatischen Theaters systematisiert hat, konzeptualisiert Erika Fischer-Lichte eine Ästhetik des Performativen (2004), die sie von einer semiotischen Ästhetik abgrenzt, um beide in ein Wechselverhältnis zueinander zu setzen. Grundla-ge ist dabei die Differenzierung von zwei Funktionen des Theaters: eine referentielle Funktion, die im Gegensatz zur performativen die „Darstellung von Figuren, Hand-lungen, Beziehungen, Situationen etc.“ (Fischer-Lichte 1998: 2) fokussiert und darin die Semiotizität, Repräsentation, Referentialität und Bedeutungsproduktion – u. a. als „Verdopplung“ – von Kultur (vgl.: Fischer-Lichte 2003: 19). Die performative Funk-tion richte sich dagegen „auf den Vollzug von Handlungen – durch die Akteure und zum Teil auch durch die Zuschauer – sowie auf ihre unmittelbare Wirkung.“ (Fischer-Lichte 1998: 3) Mit dem Performativen bezeichnet sie das auf sich selbst verweisende Präsente, dem sie insofern keine oder zumindest in starkem Maße verminderte Bezüge zu einem ‚Außen‘ des Ereignisses zuschreibt. Bedeutung rückt damit in den Hinter-grund. Konstitutiv für das Performative ist bei Fischer-Lichte das Flüchtige, Ereignis-hafte, Singuläre, die Betonung des Einzelvorkommnisses eines Akts im Hier und Jetzt, während Butler mit Austin das Gelingen von performativen Akten gerade auf ihre Konventionalität und damit auf die Wiederholung verweist, hierbei aber jeder Wiederholung, mit Derrida, eine gewisse Singularität zuspricht. Zum Vergleich der Begriffe des Performativen: Meyer 2008; siehe auch Mieke Bals Reflexion von Per-formanz und Performativität durch eine Konfrontation mit dem Begriff des Gedächt-nisses: Bal 2001: 197–241; Bal 2006: 263–294.

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AUFBAU Der in drei Kapitel gegliederter Einführungsteil „Standorte“ beginnt mit der Er-läuterung und Diskussion des Diskurses um das ‚Interkulturelle‘ im Theater und in der Theaterpädagogik. Dieser Teil zeichnet nach, wie ‚Interkulturelle Thea-terpädagogik‘ als Arbeitsfeld der Theaterpädagogik bisher theoretisch eingeführt und programmatisch umrissen wurde. Durch die Herstellung von Korresponden-zen zu Positionen aus der Theaterwissenschaft lassen sich die diesen Theorien zugrunde liegenden Begriffe wie Differenz, Fremdheit und Interkulturalität prä-zisieren, diskutieren und zum Teil problematisieren. Ziel ist dabei unter anderem die begründete Abgrenzung vom Begriff der „Interkulturellen Theaterpädago-gik“ und die Herleitung einer daraus erkennbaren Neuausrichtung. Unter ande-rem geben diese Überlegungen dazu Anlass, Theaterpädagogik in einigen defini-torischen Grundannahmen wie z. B. Teilnehmer_innenorientierung und Nicht-Professionalität zu überdenken.

Der Diskurs um Migration mit den darin eingeschriebenen Aufklärungskon-struktionen ist auf dominante Weise rassistisch organisiert. Diese Annahme wird im zweiten Teil der Standortbestimmung aus postkolonialer und rassismuskriti-scher Perspektive begründet und mit der Einführung in Begriffe wie Rassismus, Differenz und Stereotypisierung aus der Rassismusforschung, der Cultural, Postcolonial und der Critical Whiteness Studies als Grundlagen fundiert.11 Eine genauere Erläuterung der Aufklärungskonstruktionen im Migrationsdiskurs er-folgt im zweiten Teilabschnitt. Im Vorgriff auf die Inszenierungsanalysen ver-weist bereits ein erster historischer Blick auf das Verhältnis von Aufklärung und Rassismus seit Beginn des 18. Jahrhunderts auf konventionalisierte Wissensre-pertoires, die auch im 21. Jahrhundert noch zur Legitimierung sozialer Ordnun-gen aktiviert werden. Die Beteiligung der Künste und Wissenschaften an der Herstellung und Popularisierung von rassistischem Wissen und Konstruktionen von Identitäten wird hier vorbereitend diskutiert. Im Mittelpunkt steht aber Be-schreibung des diskursiven Rahmens für die Stückanalysen – des Rahmens also, in dem die hier untersuchten Theaterproduktionen entstanden sind und auf den sie re/agieren.

Dass dieser Rahmen, der wie letztlich jeder Betrachtungs- oder Beschrei-bungsgegenstand, u. a. durch das Schreiben, Sprechen oder Verbildlichen erst hergestellt und nicht als schon vorgängig bestehend ‚nur‘ abgebildet oder repro-duziert wird, ist Teil einer grundlegenden wissenschaftstheoretischen Ausrich-

11 U. a. Terkessidis 2004, 2010a, 2010b, Miles 1989, 2000, Castro Varela/Dhawan 2005, Hall 2000, 2002c, Kalpaka/Räthzel, 1989.

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tung, die ich im letzten Kapitel meiner Einführungen darlege. Mit poststruktura-listischen Theoriebildungen, insbesondere mit Judith Butlers Politik des Perfor-mativen (2006), erkläre ich meine Annahme einer sprachlich verfassten ‚Welt‘ und die Macht der wiederholenden Sprache zur Herstellung von Wissen und Vorstellungen. Besonderes Augenmerk fällt dabei auf die Konstituierung von Subjekten und die ihnen zugesprochene Fähigkeit zu sprechen, in der das Poten-zial des Wider-Sprechens angelegt ist. Fredric Jamesons Theorie des politischen Unbewussten (1988) folgend nehme ich das Verhältnis von Text und ‚Kontext‘ als sich wechselseitig konstituierend in den Blick. Jameson verortet ‚Kontext‘, wie Butler, nicht als außerhalb von Theater (als) Text, sondern als in den jewei-ligen künstlerischen (literarischen, theatralen oder bildlichen) Texten re/arti-kuliert. Die Verzahnung der beiden Theorien ermöglicht die Betrachtung von Sprechpositionen wie auch von Interpellationen, die in den Texten angelegt sind und die in die Diskurse eingreifen. ‚Kontext‘ wird insofern immer nur als dis-kursiv, sprachlich fassbar gedacht und ist als der diskursive Rahmen zu verste-hen, der in den Texten – inklusive der vorgenommenen Positionierungen – oder Sprechakten konstruiert wird.

Die Fragestellung richtet sich an zwei Inszenierungen, die zu dominanten Konstruktionen von Aufklärung im Migrationsdiskurs mit eigenen Positionen Stellung beziehen. In den ausgewählten Theaterstücke (Inszenierungstexte) und ihre Ankündigungen (Paratexte), die in den Jahren 2004 und 2005 als Ergebnisse theater/pädagogischer oder auch soziokultureller Theaterprojektarbeit entstanden sind und die ich im Folgenden kurz vorstellen will, werden als Gegen-Konstruktionen identifiziert und analysiert.

Amo, eine dramatische Spurensuche rekonstruiert eine (historische) Aufklä-rung, die in der dominanten Rezeption ihrer rassifizierenden Schattenseiten ent-ledigt wurde. Zum einen zeichnet das Stück die in der Geschichtsschreibung verschwiegene Existenz und Laufbahn des ersten deutschen Schwarzen Akade-mikers Anton Wilhelm Amo Afer im 18. Jahrhundert nach – und damit auch partiell inkludierende Bestrebungen der deutschen Frühaufklärung. Zum anderen rekonstruiert es die versteckte Kontinuität eines rassistisches Wissensarchivs in aktuellen (rassistischen) Theaterpraxen und stellt sie (anzeigend) aus. Die Ver-knüpfung beider Erzählebenen leistet die Konstruktion eines Stücks im Stück: Präsentiert werden die Erfahrungen eines Schwarzen Schauspielers, der während der Proben zu einer fiktiven Theaterproduktion über den Philosophen Anton Wilhelm Amo den gleichen oder ähnlichen Rassismen ausgesetzt ist wie der von ihm vorgestellte historische Protagonist zur Zeit der Frühaufklärung. In dieser Erzählkonstruktion wird, was Gundrun Hentges als die „Schattenseiten der Auf-klärung“ (Hentges 1999) beschrieben hat, in tragischer Form nachempfunden

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und in komischer Weise auf der Gegenwartsebene kommentiert, sodass die Ideen von Vernunft, Universalität, Gleichheit, Fortschritt, etc. als von weißen Europäern einseitig beschriebene und weiter getragene ‚Lichtseite‘ in Frage ge-stellt und revidiert werden. Darüber hinaus denkt das Stück Aufklärung in ihrem nicht verwirklichten Potenzial utopisch weiter und löst sie schließlich als nur be-dingtes Versprechen zu mündigem Sprechen in einem Schweigen auf, in das aporetische Widersprüche eingeschlossen sind. So zwiespältig, wie der als „dramatische Spurensuche“ ausgewiesene Theatertext die historische Aufklä-rung wie auch das Engagement für antirassistische Aufklärung in der Theater-gruppe konstruiert, so ambivalent erweisen sich die Effekte der gedoppelten mimetischen Darstellungsform. Gezeigt wird eine ‚Aufklärung über die (rassisti-sche) Aufklärung‘, die mit argumentierendem Wider-Sprechen und schweigen-der Verweigerung wie auch mit spielerischen Bedeutungsverschiebungen (Re-signifizierungen) arbeitet, aber im Wieder-Aufrufen des rassistischen Wissens-apparats (zu seiner enthüllenden Ausstellung und Anzeige) zugleich das Spre-chen in und mit dessen Begriffsrepertoire wiederholen muss.

Bombenwetter. Das Kopftuch hält reflektiert im Rückgriff auf Lessings dra-matisches Gedicht Nathan der Weise das Toleranzparadigma als eine Harmoni-sierungsbotschaft, die sich in aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debat-ten durch stetige Wiederholung auf ein hohles Glücksversprechen reduziert hat. Standardisierte, kanonisierte Texte und zu Gemeinplätzen verkommene Positio-nen der Aufklärung werden variiert, verdichtet oder mantraartig wiederholt mit dem Effekt der Erstarrung, Sinnentleerung und Uniformierung. Eingesetzt wer-den sie zur Disziplinierung und Harmonisierung von Dissens, Widerspruch und offenem Konflikt. Bombenwetter erzählt keine Geschichte, sondern kombiniert Textfragmente aus unterschiedlichen historischen, medialen und diskursiven Zu-sammenhängen zu einer Collage, die chorisch und choreografisch in szenische Bilder umgesetzt ist. Dabei rekonstruiert das Stück eine Dimension des Origi-nals, die in der dominanten Tradition der Nathan-Rezeption unsichtbar gemacht wurde: Die offenkundig versöhnliche Tendenz, die Lessings Nathan zum gefäl-ligen Klassiker gemacht hat, stellt, so wird gezeigt, eine schreibstrategische Re-aktion auf die staatlichen Zensurdrohungen dar, denen Lessing sich nach seinen Polemiken gegen den protestantischen Hauptpastor Goeze ausgesetzt sah. Die fragmentarische Form sowie der Einsatz von Kontrasten und Widersprüchen sprengt die Kohärenz dieser Ausgangserzählung und führt die sich um Intole-ranz, Gleichheit und vernunftorientiertes Denken drehende Thematik ‚zurück‘ zu der Form, mit der Lessing diese Auseinandersetzung begann: der Polemik. In-dem das Stück auf diese Weise die verschüttete Polemik quasi exhumiert und aneignet, reklamiert es ein streitbares Potenzial der Aufklärung, das sich als Ge-

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genstimme zu Intoleranz und Rassismus artikulieren kann, die in der eigenen Gesellschaft vorgefunden werden. Bombenwetter begegnet so einem ‚kulturellen Erbe‘, das auf Formeln und Phrasen reduziert und fixiert überliefert vorgestellt wird. Als solches wird Nathan als kulturelles Erbe zum Instrument der Selbst-vergewisserung der eigenen Gesellschaft als tolerant, offen, demokratisch, ver-nunftorientiert kurz: aufgeklärt. Als Mittel hegemonialer Differenzproduktion dient es insofern der Legitimation von Herrschaft.

Beide Stücke adressieren weiße, nicht marginalisierte Publika, die auf ver-schiedene Weise ‚gebildet‘, belehrt oder ‚aufgeklärt‘ werden: Die Zuschauer_in-nen sehen sich mit ‚ihren‘ Grundannahmen über Aufklärung konfrontiert, die aber radikal revidiert, kommentiert oder durch andere, immer ambivalente Kon-struktionen von Aufklärung in Frage gestellt werden. Amo folgt dabei der Logik der Erzählung (Gegen-Erzählung) und bemüht sich dabei über die formale Aus-richtung am Drama bzw. am handlungsdramaturgischen Plot, der zur Bildung von Gemeinschaft zwischen den Schwarzen Protagonisten (Doppelrolle) und dem Publikum auf Identifikation setzt. Das Scheitern dieser Anstrengung mün-det in ratloses Schweigen, das schließlich im gemeinsamen Scheitern die formal erzielte Einigung doch erzeugt.12 Die tableauhafte Form der Collage Bomben-wetter (Gegen-Bilder) lässt dagegen jede Form emotionaler Einbindung oder Ausgrenzung des Publikums außen vor und führt Kontraste, Widersprüche, Kon-fliktstoffe und Kampf nur in Gestalt einer miteinander verknüpften Bilderreihe vor. Der ‚Zeigefinger‘ Lessings, d. h. der schulmeisterliche Tonfall in dessen Nathan der Weise wird in einen ebenso autoritären Belehrungston der Polemik umgewandelt und an das Publikum gerichtet. Anders als Amo und auch Verrück-tes Blut spricht Bombenwetter von einer privilegierten Gymnasiasten-Position aus, die Intoleranz und Minorisierung von einer majorisierten Position aus an-greift, ohne dabei in ein distanziertes „Sprechen über“ oder gar „Sprechen für“ Marginalisierte zu verfallen. Der Blick richtet sich stattdessen auf die dominan-

12 Das dieser Einleitung vorangestellte Stück Verrücktes Blut setzt dagegen auf Distanz, die im Brecht’schen Sinne zu Einsicht führen soll. Diese Distanz wird am Ende eines, wenn auch zum Teil unterbrochenen, aber mitreißenden, d.h. Identifikation und Ein-fühlung provozierenden Theaterspiels der jungen Schauspielgruppe abrupt (wieder) hergestellt, wenn die Belehrung des (oder: der Unterricht für das) Publikum(s) mit dessen symbolischer Erschießung endet. Die Emotionalität, mit der Amo die Nähe zum Publikum sucht, wird hier gegen dieses gerichtet. Größtmögliche Distanz – der symbolische Tod des weißen Publikums – folgt einer zuvor provozierten dichten Iden-tifikation (mit der Lehrerin). In diesem ‚Wechselbad der Gefühle‘ wird die Ratlosig-keit der Zuschauerin durch ihr Abgewiesensein produziert.

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ten eigengesellschaftlichen Mechanismen, mit denen Andere als (nicht zugehö-rige) Andere konstruiert werden. Fokussiert wird insofern eine eigene Betrof-fenheit (bzw. die ihres Publikums) von Rassismus und zwar aus einer Position der Dominanz heraus, deren Privilegien mit Gayatri C. Spivak möglicherweise als Verlust betrachtet werden könnten, die es zu verlernen gelten könnte.

Konstitutives Merkmal von Gegenstimmbildung ist die kritische Reflexion der eigenen (Theater-)Textproduktion im Verhältnis zu ihrem diskursiven Um-feld, in das sie positionierend interveniert. Exemplarisch konzentriert sich die vorliegende Analyse von Theaterproduktionen auf Gegenstimmbildung zu rassi-fizierenden Aufklärungskonstruktionen als eine Dimension von Kulturellem Rassismus. Herauszuarbeiten, oder mit Jameson: zu re/konstruieren sind in die-sen Texten und Paratexten zunächst Deutungsmöglichkeiten wie auch die jewei-ligen Mittel der Bedeutungsproduktion (poetics) und ihre Effekte (politics) (Hall 1997: 6), die der Repräsentation (Darstellung, Vorstellung und Herstel-lung) von Aufklärungsvorstellungen dienen, und schließlich die jeweiligen Sprechpositionen und vorgenommenen Positionierungen durch die Texte bzw. Textauszüge. Als Methoden der Lektüre kommen semiotische und diskursanaly-tische Verfahren und solche der rekonstruktiven Texthermeneutik zu Anwen-dung.13 Meine Re/Konstruktionen und Erläuterungen betrachte ich weniger als Inszenierungs- oder Aufführungsanalysen im streng theaterwissenschaftlichen Sinn (Fischer-Lichte 2003b; Hiß 1993). Die Theaterproduktionen werden viel-mehr als Anlässe genommen, um die kritische Reflexion von Rassismus „als Struktur, die hegemoniale Machtverhältnisse, Diskurse und Praktiken prägt“ (Mörsch 2012: 11), zu initiieren und um Möglichkeiten zu diskutieren, rassifi-zierendes Sprechen im und mit Theater zu unterbrechen. Ich beschreibe die Pro-duktionen als Versuche der Intervention im Sinne eines politischen Antirassis-mus, der an der „Sichtbarmachung rassistischer Strukturen auf allen gesell-schaftlichen Ebenen“ arbeitet und dabei „die Ermächtigung von marginalisierten und diskriminierten Subjekten selber“ anvisiert (ebd.).

Mein Vorgehen ist vergleichbar mit ‚Streifzügen‘ durch die Inszenierungen, bei denen längere Momente des genauen Hinsehens, flüchtiges Passieren und Panoramablicke abwechseln. Darin folgt diese Arbeit zugleich einem Anspruch auf vertiefte beispielhafte Detailbetrachtungen (close reading) und dem eines

13 Da beide Stücke – wie auch Verrücktes Blut – auf der Grundlage einer im Ensemble gemeinsamen Entwicklung der Inszenierung (und der Stücktexte) realisiert wurden, sind die zur Analyse herangezogenen Skripte als letzte Fassungen der Inszenierungen zu verstehen, die dennoch nicht vollständig den Aufführungstexten entsprechen.

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(distanzierteren) Blicks auf die Struktur und die Verlaufs-Logiken der Texte.14 Dieser Blick stützt sich zunächst auf mehrere Aufführungsbesuche, die meine erste Lektüregrundlage bilden. Aufführungsgespräche, Ankündigungsmaterial, Gespräche mit den Produktionsleitungen sowie Texte über die Inszenierungen und ihre Entstehungsgeschichten ergänzen meine Rezeption, die auf diese Weise verschiedene Perspektiven berücksichtigt. Zur Unterstützung einer präziseren Analyse standen mir außerdem die Skripte der Theaterstücke zur Verfügung wie auch Videoaufnahmen und Fotografien von unterschiedlichen Aufführungen. Aus diesen sind auch die jeweiligen Zitate (Skriptauszüge und Videostills) ent-nommen, um meine Aussagen belegen. Allerdings ist der videografierte Blick auf die jeweiligen Aufführungen immer auch durch Kamerastandorte, Wahl von Bildausschnitten, zeitliche Strukturierung ihrer Montage etc. gesteuert. Wie aus den Abbildungen z.T. erkennbar wird, zeigt sich in beiden Produktionsaufnah-men eine Kongruenz zwischen den Grundkonzeptionen der Stücke und dem Bildmaterial, die auf mögliche Absprachen zwischen der Produktionsleitung und dem Videoteam hinweisen. Denn die zentralperspektivische Kameraposition be-tont die tableauhaft konfrontative Anlage der Szenen/Bildcollage Bombenwetter ebenso, wie die dramatische Erzählung von Amo durch eine eher filmisch zu-sammengeschnittene Videoproduktion aus Aufnahmen von zwei eher seitlich positionierten Kameras unterstützt wird. Bild- und Videoanalysen über die Pro-duktion sind jedoch nicht primärer Gegenstand meiner Untersuchung, wenn-gleich die Nutzung von Fotografie und Video als Mittel zur Aufbewahrung und wiederholten Betrachtung der Theaterstücke die Reflexion ihrer Macht, den Blick kaum merkbar zu richten, nicht unberücksichtigt bleiben darf.

Darüber hinaus geht es mir in der Reflexion von Theater aus rassismuskriti-scher Perspektive weder um Vollständigkeit noch um ordnende Systematisie-rungen oder Vergleiche von vorgefundenem Material. Vielmehr lenkt der Fokus auf Aufklärungskonstruktionen den Blick auf Bezüge zur historischen Aufklä-rung, so dass die analytische Betrachtung von Theaterstücken exemplarisch zu-gleich in das „Archiv rassifizierender Repräsentationen“ (Hall 2002c: 269) ein-führt, das hegemoniale Machtverhältnisse und Praktiken der Gegenwart maßgeb-

14 Eine solche am Inszenierungstext orientierte Herangehensweise ist in der theaterwis-senschaftlichen, mit professionell-künstlerischen Produktionen befassten Forschung üblich, in theaterpädagogischer Forschungsliteratur, die sich eher auf Erarbeitungs- und Gruppenprozesse konzentriert, jedoch kaum entwickelt; vgl.: Jahnke 2003: 248. Die Analyse theaterpädagogischer Prozesse bedürfte jedoch eines anderen Methoden-repertoires, z.B. Verfahren der Ethnografie bzw. der praxeologischen Soziologie, und wurde daher vollständig ausgelassen.

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lich mitbestimmt. So geht es um den künstlerisch-strategischen Umgang mit tra-diertem rassistischen (Praxis-)Wissen, dessen verstecktes, aber nicht minder vi-rulentes Wirken in den aktuellen Diskursen von den Inszenierungen aufgedeckt und unterlaufen wird – selbst wenn es teilweise auch wiederholt werden muss, um den Widerspruch artikulieren zu können. Für Theaterproduktionen und ihre (selbst-)kritische Reflexion ist die Kenntnis eines solchen Wissensrepertoires ebenso unabdingbar wie die Aneignung des – ebenfalls tradierten – Repertoires an Polemiken, Einsprüchen und Strategien der Verschiebungen gegen dieses ras-sistische Wissen. Gegenstimmbildung benötigt die Anwendung analytischer Werkzeuge zum Selbstgebrauch – sie versteht sich gewissermaßen als Modell einer reflektierenden Erforschung eigener Theaterpraxis und ihrer Theoretisie-rungen als Voraussetzung einer Theaterproduktion und -theorie, die für (unbe-wusste) Rassismen weniger anfällig ist, analog etwa zu der Maxime Sandrine Micossé-Aikins’: „It is a common misconception that in order to be able to un-derstand the connection between imagery and racism, you would have to first and foremost have professional knowledge about art. What you need is a funda-mental understanding of racism“ (Micossé-Aikins 2012).

„Rassismus bildet“. Anne Broden und Paul Mecheril (2010) begründen diese Feststellung in der Einleitung ihrer gleichlautenden Aufsatzsammlung mit einem Bildungsbegriff, der den Prozess der Subjektivierung als Ergebnis „multipler Anrufungen“ (Broden/Mecheril 2010: 9) auffasst.15 Verallgemeinert kann

Bildung seinen positiven wie negativen Ausgangspunkt finden an allen inhaltlichen Ge-genständen, die Erfahrungen und Wissen strukturieren. Der Ausgangspunkt von Bildungs-prozessen ist nicht beschränkt auf jene Inhalte, Themen und Gegenstände, die in einem bildungsbürgerlichen Kanon oder einem sonstigen Sinne als wertvoll gelten. (Ebd.: 7) Subjekttheoretisch inspirierte Bildungsbegriffe verstehen, so Broden und Me-cheril, Bildung weder als ‚autonome Hervorbringungen‘ noch als abschließbar. Bildungsprozesse können stattdessen als heteronome Ansprachen – oder Inter-pellationen (Althusser) – betrachtet werden. Bildung meint dann „Aneignungen

15 Anne Broden und Paul Mecheril dezentralisieren den von Althusser abgeleiteten Be-griff der Subjektivierung, um diesen Prozess in fragmentierten, weniger kohärenten und eindeutigen Zusammenhängen zu fassen. Althussers Begriff der ‚Interpellation‘ wird in eine Vielzahl ‚multipler Anrufungen‘ pluralisiert. Das Subjekt kann so als mehrwertig, uneindeutig und dezentriert konstituiert beschrieben werden, was der „Nicht-Abgeschlossenheit der Diskurse entspricht“, vgl.: Broden/Mecheril 2010: 9.

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und Transformationen von Selbst- und Weltverhältnissen Einzelner […] In Dis-kursen, Wissensformen und Sprachen, den heteronomen Medien der Subjekt-konstituierung, werden Menschen machtvoll unterschieden“ (ebd.: 11). Solche Positionierungen bzw. Subjektivierungen „durch Ansprache [finden] in einem Raum der Ungleichheit statt“ (ebd.: 12). Rassismus bildet in diesem Sinn nicht nur diejenigen, die als Andere konstituiert werden, sondern auch diejenigen, die Andere rassifizierend ansprechen und zu Subjekten in einem Ungleichheitsver-hältnis konstituieren. Verrücktes Blut setzt dies an der Figur der Lehrerin Sonia Kelich in radikalisierter Absurdität in Szene. Die Widersprüche einer Bildung als heteronome Ansprache lassen sich wohl kaum besser auf den Punkt bringen als im Bild der Belehrung zu Aufklärung unter vorgehaltener Waffe. Doch die Waffe ‚wandert‘. Im Verlauf des Stückes übernehmen die Schüler_innen das Zepter und geben es immer wieder weiter. Es entsteht eine Dynamik von immer neuen Anrufungen und Subjektivierungen. Am Ende ist das Publikum dran.

DANK Dass Rassismus sich nicht erschießen lässt, ist eigentlich schade. Doch diese Unmöglichkeit birgt auch das Potenzial für Versuche, sich auf die unendlichen Schwierigkeiten, nicht rassistisch zu sein, einzulassen und die Herausforderung des immer wieder Neu-Versuchens anzunehmen. Diese Versuche sind keine Ak-te autonomer Hervorbringungen. Fast möchte ich meinen, es sind Ermöglichun-gen. Als solche betrachte ich zumindest ‚meine‘ Gegenstimm-Bildung/en – ge-wissermaßen als kooperativen Prozess einer Unzahl von Gesprächen, Wider-sprüchen, Kritiken wie auch von Erfahrungen, Lektüren, Betrachtungen und Ak-tionen etc. Sie sind nicht ‚fertig‘, denn die Unabschließbarkeit ist Prinzip. Das vorläufige (Zwischen)Ergebnis, die vorliegende Studie, ist Teil dieses mäan-dernden Prozesses. Ständig forderte er neue Perspektiven ein, permanent baute er neue Hürden auf und immer verlangte er eine unendliche Geduld und Zeit zum Weitermachen – nicht nur von mir. Dabei haben mich viele auf fachlicher und persönlicher Ebene sehr unterstützt, denen ich an dieser Stelle danken möchte.

Für die Begleitung des Dissertationsprojektes, für kritische Fragen, Hinweise und v. a. Zuspruch und Geduld danke ich Ute Pinkert, Karen Ellwanger, Silke Wenk, Barbara Paul und Ulrike Hentschel wie auch den Doktorand_innen des Oldenburger Kollegs Kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien und dem Kolloquium des Theaterpädagogischen Instituts an der UdK in Berlin. Den Pro-jektleiter_innen der Produktionen, Margrit Lang, Thomas Sander, Richard Na-

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wezi und Nurkan Erpulat möchte ich herzlich für die Gespräche und das Materi-al danken, das mir eine große Hilfe war. Endlose fachliche und persönliche Dis-kussionen, Einsprüche, Korrekturen, wichtige Hinweise und immer wieder Zu-spruch und Ermutigung verdanke ich Freundinnen und Freunden: Anke Bartels, Satish Poduval, Shaswati Mazumdar, Jörg Lagemann, Verena Rodatus, Ina Driemel, Thomas Blum, Iwan D’Aprile, Madhu Sinha, Andreas Döring, Lisa Nechutnys und Rajni Palriwala. Florian Schybilski danke ich für technische Hil-fe, Ute Maack für ein sensibles Lektorat und besonders Gine Seitz für ihre enga-gierte Beratung und Hilfe im Bereich Grafik und Fotografie. Meine Eltern Uschi und Dieter Meyer und meine Schwestern, allem voran Sandra Meyer haben mir das Projekt durch Ermutigungen und andere Unterstützung überhaupt ermög-licht. Mein ganz besonderer Dank gilt Dirk Wiemann. Um diesen zu fassen, müsste ich die Sprachen der Geschichte und der Gegenwart in einem Wort bün-deln können.

How many times have I wondered, if it is really possible … !