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Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 1 Armin Nassehi Institut für Soziologie Vorlesung Soziologische Theorie SoSe 2019 Mo 1015-1145 Uhr, AudiMax 8. Juli 2019 Pierre Bourdieu: Gesellschaft als Distinktionsraum/ Soziologie als (Selbst-)Aufklärung Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 2 Armin Nassehi Institut für Soziologie Armin Nassehi: Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen 2. Aufl. Wiesbaden: VS-Verlag 2011. Hans Joas/Wolfgang Knöbl: Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen Aktualisierte Auflage Frankfurt/M./Berlin: Suhrkamp 2004.

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VorlesungSoziologische Theorie

SoSe 2019Mo 1015-1145 Uhr, AudiMax

8. Juli 2019

Pierre Bourdieu:Gesellschaft als Distinktionsraum/Soziologie als (Selbst-)Aufklärung

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Armin Nassehi: Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen2. Aufl.Wiesbaden: VS-Verlag 2011.

Hans Joas/Wolfgang Knöbl:Sozialtheorie. Zwanzig einführende VorlesungenAktualisierte AuflageFrankfurt/M./Berlin: Suhrkamp 2004.

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Programm

29.04.Die Vorgeschichte: Rousseau, Hobbes, Hegel und MarxDie Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft und ihre KritikGeorg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Band 7, Frankfurt/M. 1970, �� 182-188, S. 339-346;

Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx-Engels-Werke, Band 1, Berlin (DDR) 1969, S. 378-391.

06.05. (Julian Müller)Emile Durkheim: Gesellschaft als integrierte Einheit/Soziologie als MoralwissenschaftEmile Durkheim: Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977, S. 152-173 und 437-450. Emile Durkheim: Regeln der

soziologischen Methode, Neuwied 1961, S. 115-128.

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13.05.Max Weber:Soziologie ohne GesellschaftMax Weber: Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: ders.: Schriften 1894-1922, ausgew. v. Dirk Käsler, Stuttgart

2002, S. 275-313.

20.05. (Julian Müller)George Herbert Mead:Gesellschaft als universe of discourse/Soziologie als VerhaltenswissenschaftGeorge Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Hrsg. von Charles W. Morris. Frankfurt/M. 1992, S. 194-221 und 230-265.

27.05.Talcott Parsons:Gesellschaft als politische Einheit/Soziologie als Theorie sozialer SystemeTalcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften, München 1972, S. 12-42.

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03.06.Alfred Schütz/Peter Berger/Thomas Luckmann:Gesellschaft als Lebenswelt/Soziologie als Phänomenologie und AnthropologieAlfred Schütz/Thomas Luckmann: Die Lebenswelt des Alltags und die natürliche Einstellung, in: dies.: Strukturen der Lebenswelt. Band

1, Frankfurt/M. 2003, S. 29-50.

10.06. Pfingstmontag

17.06.Gary S. Becker/James ColemanGesellschaft als Situation/Soziologie als Theorie rationaler WahlGary S. Becker: The Economic Way of Looking at Life, Nobel Lecture, Oslo 1992.

24.06.Jürgen Habermas:Gesellschaft als System und Lebenswelt/Soziologie als AufklärungsprojektJürgen Habermas: Der normative Gehalt der Moderne, in: ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen,

Frankfurt/M. 1985, S. 390-425.

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01.07.Niklas Luhmann:Gesellschaft ohne Zentrum und Spitze/Soziologie als AufklärungNiklas Luhmann: Das Moderne der modernen Gesellschaft, in: ders.: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 11-49.

08.07.Pierre Bourdieu:Gesellschaft als Distinktionsraum/Soziologie als (Selbst-)AufklärungPierre Bourdieu: Leçon sur la leçon, in: ders.: Sozialer Raum und ‘Klassen’. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S.

49-81.

15.07.Bruno Latour:Gesellschaft posthumaner Kollektive/Soziologie als Theorie hybrider AkteureBruno Latour: Kleine Soziologie alltäglicher Gegenstände, in: ders.: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der

Wissenschaften, Berlin, S. 15-84.

22.07.Klausur

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Weitere Informationen:

Die Texte werden in den Tutorien bearbeitet und sollen von allen sonstigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Vorlesung mitgelesen werden.

Die Anmeldeformalitäten für die Klausur bzw. für die Anmeldung zu den Theorie II-Veranstaltungen werden im Laufe der Vorlesung erläutert.

Sonntags ab spätestens 23.00 Uhr (meist früher) lassen sich die Folien des darauf folgenden Montags von der Homepage des Lehrstuhls herunterladen (www.nassehi.de).

[email protected]

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Pierre Bourdieu (1930-2002)

Leçon sur la leçon. In: ders.: Sozialer Raum und >Klassen<. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, FfM 1985)

S. 49f.: Jede Aussage dieser Wissenschaft kann und muß zugleich auf das Wissenschaft treibende Subjekt selber bezogen werden. Nur wenn es der Soziologe an dieser objektivierenden - und darin kritischen - Distanz fehlen läßt, gibt er denen recht, die in ihm ei-nen terroristischen, zu allen Akten symbolischer Ordnung bereiten Inquisitor sehen. In die Soziologie tritt nur ein, wer die Bande und Verhaftungen löst, die ihn gemeinsam an eine Gruppe binden, wer den Glaubensüberzeugungen abschwört, die unabdingbar sind, um

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dazuzugehören, wer jegliche Mitgliedschaft oder Abstammung ver-leugnet. So kann der Soziologe, dem sogenannten >Volke< ent-sprungen und in die sogenannte >Elite< aufgestiegen, jene eigen-tümliche, mit allen Formen sozialer Entfremdung einhergehende Klarsicht allein dann erwerben, wenn er gleicherweise die popu-listische Vorstellung vom Volk, die lediglich ihre eigenen Urheber täuscht, wie auch die elitäre Vorstellung von den Eliten aufdeckt, die sowohl diejenigen, die ihnen angehören, wie die anderen, die ihnen nicht angehören, zu täuschen vermag.

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S. 79f.: Dies also wäre wohl zu lernen aus einer soziologischen In-auguralvorlesung, die gewidmet war einer Soziologie der Inaugu-ralvorlesung. Ein Diskurs, der sich selbst zum Gegenstand nimmt, lenkt die Aufmerksamkeit weniger auf den Referenten, der durch jeden anderen Akt ersetzt werden könnte, als vielmehr auf jene spezifische Bezugnahme auf das, was man gerade tut, und darauf, worin dies sich unterscheidet vom schlichten unmittelbaren Tun, vom, wie es so schön heißt: ganz bei der Sache sein. Diese reflexi-ve Wendung hat, zumal wenn sie sich, wie hier, in der Situation sel-ber vollzieht, etwas Ungewöhnliches, nahezu Taktloses: Sie bricht den Zauber, ernüchtert. Sie zieht den Blick darauf, was das unmittelbare Tun zu vergessen und zu vergessen macht sucht. Sie registriert rednerische, rhetorische Effekte, die, wie das Ablesen

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eines vorweg geschriebenen Textes im eindringlichen Duktus im-provisierter Rede, zu beweisen und nachvollziehbar zu machen sucht, daß der Redner ganz bei der Sache ist, daß er glaubt, was er sagt, und daß die Aufgabe, die ihm überantwortet ist, seine volle Zustimmung findet. Diese reflexive Wendung führt eine Distanz ein, die - beim Redner wie bei seinen Zuhörern - den Glauben zu zerstören droht, der die gewöhnliche Voraussetzung für das er-folgreiche Funktionieren der Institution darstellt.

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Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz 1997.

S. 20: Jedes Feld, auch das wissenschaftliche, ist ein Kräftefeld und ein Feld der Kämpfe um die Bewahrung oder Veränderungen die-ses Kräftefeldes. Man kann, in einer ersten Annäherung, einen wis-senschaftlichen oder religiösen Raum wie eine physikalische Welt beschreiben, die Kräftebeziehungen, Herrschaftsbeziehungen ent-hält. Es sind die Akteure, Firmen etwa im ökonomischen Feld, die diesen Raum erschaffen, er besteht in gewisser Weise nur durch seine Akteure und die objektiven Beziehungen zwischen ihnen. Ein Großunternehmen verändert den ganzen ökonomischen Raum, ver-leiht ihm eine bestimmte Struktur. Im Feld der Wissenschaft konnte

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Einstein, eine Art Großunternehmen, den gesamten Raum umge-stalten. Diese Einsteinsche Metapher im Bezug auf Einstein meint, daß es keinen noch so großen oder unbedeutenden Physiker gibt, weder in Brioude noch in Harvard, der nicht (ohne je in unmittelba-re Beziehung oder Auseinandersetzung mit ihm getreten zu sein) vom Einfluß Einsteins betroffen, abgedrängt oder ausgegrenzt wor-den wäre, ebenso wie die Preissenkungen einer großen Firma eine ganze Schar von Kleinunternehmern aus dem ökonomischen Feld drückt.

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S. 22: Entgegen der machiavellistischen Illusion, von der bestimm-te Wissenschaftssoziologen übermannt werden, vielleicht, weil sie den Wissenschaftlern ihr eigenes »strategisches«, um nicht zu sa-gen zynisches Bild der Wissenschaftswelt unterschieben, ist daran zu erinnern, daß nichts schwieriger, um nicht zu sagen unmöglicher ist, als ein Feld zu »manipulieren«. Und dann muß gesagt werden, daß bei aller möglichen Könnerschaft in der »Verwaltung von Netzwerken« (um die sich so viele derer sorgen, die ihre »Wissen-schaft« der Wissenschaft einzusetzen verstehen, um ihre Auffas-sung von Wissenschaft verbreiten und ihre Entscheidungsmacht im Wissenschaftsbetrieb ausbauen zu können) die Chancen eines ein-zelnen Akteurs, sich die Kräfte des Feldes nach seinen Wünschen gefügig zu machen, von seiner Macht über das Feld abhängen, von

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seinem wissenschaftlichen Kredit also, oder noch genauer, von sei-ner Stellung in der Struktur der Kapitalverteilung. Eine Ausnahme machen hier nur jene ganz seltenen Fälle, in denen eine revolutio-näre Entdeckung die Grundlagen der bestehenden wissenschaftli-chen Ordnung selbst in Frage stellt, ein Wissenschaftler die Maßga-ben der Kapitalverteilung als solche und sogar die Spielregeln selbst neu festlegen kann.______________________________________________________S. 27: Eine Sublimation, die stillschweigend von jedem Neuzugang gefordert wird, und in jener besonderen Form der illusio beschlos-sen liegt, die zur Teilhabe am Feld notwendig gehört, also im Wis-senschaftsglauben, einer Art interesselosem Interesse und Interesse an der Interesselosigkeit, das zu Anerkennung des Spiels bewegt,

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zum Glauben, daß es das wissenschaftliche Spiel, wie man sagt, wert ist, gespielt zu werden, daß es sich lohnt, und gleichzeitig die Gegenstände bestimmt, die des Interesses würdig, bemerkenswert, bedeutend sind, jene also, die den Einsatz lohnen.Es ist mit anderen Worten das Feld, oder genauer gesagt, die anti-ökonomische Ökonomie und der geregelte Wettbewerb in ihm, die diese besondere Form der illusio hervorbringen, eben das wissen-schaftliche Interesse, ein Interesse, das im Verhältnis zu den her-kömmlichen Interessen des Alltags (und insbesondere denen des ökonomischen Feldes) als uneigennützig, unentgeltlich erscheint. Doch unterschwellig ist das »reine«, das uneigennützige Interesse ein Interesse an der Uneigennützigkeit, eine Art des Interesses, die zu allen Ökonomien symbolischer Güter, allen antiökonomischen Ökonomien gehört, wo es in gewissem Sinne die Uneigennützig-

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keit ist, die sich »auszahlt« (das ist einer der radikalsten Unter-schiede zwischen dem »Wissenschaftskapitalisten« und dem ein-fachen Kapitalisten). So sind die Strategien der Akteure in gewisser Weise immer doppelgesichtig, doppelsinnig, interessengeleitet und interessenlos, beseelt von einer Art Eigennutz der Uneigennützig-keit, der völlig gegensätzliche, aber gleichermaßen falsche, weil einseitige Beschreibungen zuläßt, die eine hagiographisch und idealisierend, die andere zynisch und reduktionistisch, wenn sie aus dem »Wissenschaftskapitalisten« einen Kapitalisten wie jeden an-deren macht.

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S. 32: Diese zwei Sorten wissenschaftlichen Kapitals folgen unter-schiedlichen Akkumulationsgesetzen. Das »reine« wissenschaftli-che Kapital wird vor allem durch anerkannte Beiträge zum Fort-schritt der Wissenschaft, durch Erfindungen oder Entdeckungen angehäuft (der beste Indikator sind hier Veröffentlichungen, insbe-sondere in hochselektiven und prestigereichen Organen, ähnlich wie symbolische Bankkredite). Das institutionelle wissenschaftli-che Kapital wird im Wesentlichen durch (spezifische) politische Strategien angesammelt, denen allen gemeinsam ist, Zeit zu bean-spruchen - Mitgliedschaft in Kommissionen, in Prüfungsausschüs-sen und Preisgerichten, Teilnahme an sachlich mehr oder weniger fiktiven Kolloquien, an Festakten, Zusammenkünften usw. Hier läßt sich manchmal nur schwer entscheiden, ob diesen Strategien,

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wie seine Inhaber oft freimütig bekennen, ein (kompensatorisches) Streben nach dessen Akkumulation selbst zugrundeliegt, oder ob sie das Ergebnis eines nur mäßigen Erfolges bei der Akkumulation einer spezifischeren und legitimeren Form wissenschaftlichen Ka-pitals sind.______________________________________________________Reflexive Anthropologie, FfM1996.

S. 139f.: Wenn ich sage, daß die Struktur des Feldes - Sie sehen, nach und nach habe ich doch eine Begriffsbestimmung konstruiert -durch die Distributionsstruktur der besonderen Kapitalsorten be-stimmt wird, die in ihm aktiv sind, dann heißt das, daß ich bei adä-quater Kenntnis der Kapitalformen alles differenzieren kann, was es zu differenzieren gibt. Zum Beispiel - das ist eines der Prinzi-

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pien, von denen ich mich bei meiner Arbeit über die Hochschulleh-

rer habe leiten lassen - kann man nicht bei einem Erklärungsmo-

dell stehenbleiben, mit dem keine Differenzierung von Menschen

oder vielmehr Positionen möglich ist, die für die gewöhnliche Sicht

des jeweiligen Universums stark gegensätzlich sind, sondern muß

sich fragen, ob man nicht irgendwelche Variablen übersehen hat,

die eine Unterscheidung zwischen ihnen erlauben würden.

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Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Soziale Welt, Sonderband 2: Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183-198.

S. 183: Die gesellschaftliche Welt ist akkumulierte Geschichte. Sie darf deshalb nicht auf eine Aneinanderreihung von kurzlebigen und mechanischen Gleichgewichtszuständen reduziert werden, in denen die Menschen die Rolle von austauschbaren Teilchen spielen. Um einer derartigen Reduktion zu entgehen, ist es wichtig, den Kapital-begriff wieder einzuführen, und mit ihm das Konzept der Kapital-akkumulation mit allen seinen Implikationen. Kapital ist akkumu-lierte Arbeit, entweder in Form von Materie oder in verinnerlichter, ‚inkorporierter’ Form.

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S. 183: Das Kapital ist eine der Objektivität der Dinge innewohnen-de Kraft, die dafür sorgt, dass nicht alles gleich möglich oder un-möglich ist.______________________________________________________S. 185: Das kulturelle Kapital kann in drei Formen existieren: (1.) in verinnerlichtem, inkorporiertem Zustand, in Form von dauerhaften Dispositionen des Organismus, (2.) in objektiviertem Zustand, in Form von kulturellen Gütern, Bildern, Büchern, Lexika, Instrumen-ten oder Maschinen, in denen bestimmte Theorien und deren Kriti-ken, Problematiken usw. Spuren hinterlassen oder sich verwirklicht haben, und schließlich (3.) in institutionalisiertem Zustand, einer Form von Objektivationen, die deswegen gesondert behandelt wer-

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den muss, weil sie – wie man beim schulischen Titel sieht – dem kulturellen Kapital, das sie ja garantieren soll, ganz einmalige Eigen-schaften verleiht. ______________________________________________________S. 190: Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und poten-tiellen Ressourcen, die mit dem Beseitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegen-seitigen Kennens und Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.

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Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, FfM 1987.

S. 49f.: Von allen Gegensätzen, die die Sozialwissenschaften künst-lich spalten, ist der grundlegendste und verderblichste der zwischen Subjektivismus und Objektivismus. Schon daß diese Spaltung immer wieder in kaum veränderten Formen aufbricht, dürfte zur Genüge belegen, daß die beiden Erkenntnisweisen, zwischen denen sie unter-scheidet, für eine Wissenschaft der Sozialwelt, die weder auf eine Sozialphänomenologie noch auf eine Sozialphysik reduziert werden kann, gleichermaßen unentbehrlich sind. Um den Antagonismus zwischen diesen Erkenntnisweisen zu überwinden und dabei den-noch die Errungenschaften beider zu bewahren (oder wegzulassen, was sich aus der interessierten Betrachtung der jeweils entgegen-

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gesetzten Position ergibt), müssen die Grundannahmen expliziert werden, die sie als wissenschaftliche Erkenntnisweisen miteinander gemein haben, die gleichermaßen im Gegensatz zur praktischen Er-kenntnisweise stehen, der Grundlage der normalen Erfahrung der Sozialwelt. Dies erfordert, die wissenschaftstheoretischen und sozia-len Bedingungen, welche sowohl das reflexive Zurückkommen auf die subjektive Erfahrung der Sozialwelt als auch die Objektivierung der objektiven Bedingungen dieser Erfahrung möglich machen, ei-ner kritischen Objektivierung zu unterziehen.

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Reflexive Anthropologie, a.a.O.

S. 110f.: Daß Praktiken von Mitgliedern derselben Gruppe oder, in einer differenzierten Gesellschaft, derselben Klasse stets mehr und besser aufeinander abgestimmt sind, als die Handelnden selber wis-sen oder wollen, liegt wiederum nach Leibniz daran, daß jeder, »in-dem (er) nur seinen eigenen Gesetzen folgt, ... dennoch mit den an-deren übereinstimmt«. Der Habitus ist nichts anderes als jenes im-manente Gesetz, jene den Leibern durch identische Geschichte(n) aufgeprägte lex insita, welche Bedingung nicht nur der Abstimmung der Praktiken, sondern auch der Praktiken der Abstimmung ist.

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S. 153: Ich habe mich schon so oft zu Bedeutung und Funktion des Habitusbegriffs geäußert, daß ich jetzt zögere, noch einmal auf ihn einzugehen, denn mir ist bewußt, daß ich mich beim Vereinfachen eigentlich nur wiederholen kann, ohne damit unbedingt verständli-cher zu werden ... Ich möchte hier nur soviel sagen, daß die Haupt-funktion dieses Begriffs darin besteht, den Bruch mit jener intellek-tualistischen (und intellektuellozentrischen) Philosophie des Han-delns zu betonen, für die vor allem die Rational Action Theory, also die Theorie des homo oeconomicus als eines rational Handelnden steht, die gerade wieder in Mode gekommen ist, obgleich viele Öko-nomen eigentlich von ihr abgekommen sind (auch wenn sie es mit-unter nicht sagen oder nicht wissen). Um also die wirkliche Logik der Praxis zu erklären (zwei Wörter, die eigentlich ohnehin zusam-

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mengehören, denn das gerade ist ja das ureigenste Merkmal der Pra-

xis, daß sie »logisch« ist, eine Logik hat - ich denke an eine schein-

bar am wenigsten logische Praktik wie das rituelle Handeln -, ohne

ihren Ursprung in der Logik zu haben), habe ich eine Theorie der

Praxis als Produkt eines Praxis-Sinns entwickelt, eines sozial kon-

stituierten Sinns für das Spiel.

_______________________________________________________

S. 159f.: Darüber hinaus erklärt die Habitus-Theorie, warum der Fi-

nalismus der Theorie der rationalen Entscheidung anthropologisch

zwar falsch ist, empirisch aber dennoch begründet erscheinen kann.

Der individualistische Finalismus, der das Handeln als etwas be-

greift, das von einer bewußten Orientierung an explizit formulierten

Zwecken bestimmt wird, ist eine »wohlbegründete Illusion«: Der

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Sinn für das Spiel, der eine antizipatorische Anpassung des Habitus an die mit dem Feld gegebenen Notwendigkeiten und Wahrschein-lichkeiten impliziert, erweckt nämlich den Anschein, als sei dabei die Zukunft richtig antizipiert worden. Auch die strukturelle Affini-tät der Habitus, die derselben Klasse angehören, kann Praktiken her-vorbringen, die konvergent und objektiv aufeinander abgestimmt sind, und zwar jenseits jeder kollektiven Absicht und jedes kollekti-ven Bewußtseins, geschweige denn irgendeiner Form von »Ver-schwörung« (dies ist zum Beispiel bei dem System der Reproduk-tionsstrategien der Fall, die von den Herrschenden angewendet werden und die Reproduktion der Gesellschaftsstruktur mittels ob-jektiver Mechanismen sichern helfen). Auf diese Weise lassen sich auch viele Formen jener Schein-Teleologie erklären, die in der so-

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zialen Welt zu beobachten ist, etwa die »Trittbrettfahrer« (Olson 1965), also jene kollektiven Aktions- oder Reaktionsformen, die der Theorie des rationalen Handelns so unüberwindliche Schwierigkei-ten bereiten. _______________________________________________________S. 163: Der Habitus ist das, was man voraussetzen muß, wenn man erklären will, warum die sozialen Akteure, ohne im eigentlichen Sin-ne rational zu sein, das heißt ohne ihr Verhalten im Hinblick auf die Maximierung der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zu organi-sieren, kurz, ohne Kombinationen, Pläne, Projekte zu machen, ver-nünftig sind und nicht verrückt, daß sie keine Dummheiten machen (in dem Sinne, wie man von jemandem, der sich bei einer Geldaus-gabe »übernommen« hat, sagt, er habe eine »Dummheit« gemacht): Sie sind viel weniger abwegig oder irregeleitet, als wir spontan mei-

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nen möchten, und zwar gerade deswegen, weil sie als Ergebnis eines langen und komplexen Konditionierungsprozesses die objektiven Chancen, die sich ihnen bieten, verinnerlicht haben, und weil sie die Zukunft vorhersagen können, die zu ihnen paßt (im Gegensatz zu dem, was »nichts für einen ist«), nämlich aufgrund praktischer An-tizipationen, die aus der Gegenwart selber das herauslesen, was ohne jedes Besinnen »zu tun« oder »zu sagen« ist (und dann rückblickend als das »einzige« erscheint, was überhaupt zu tun oder zu sagen war). Die Dialektik von subjektiven Erwartungen und objektiven Chancen ist überall in der sozialen Welt wirksam, und meist sorgt sie tendenziell für eine Anpassung der Erwartungen an die Chancen.

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Rede und Antwort, FfM1992.

S. 117f.: Zum Abschluß wäre zu fragen, ob die Illusion des univer-sellen ökonomischen Kalküls nicht doch auch in der Realität veran-kert ist. Die unterschiedlichen Ökonomien - die Ökonomie der Re-ligion mit der Logik der Opfergabe, die Ökonomie der Ehre mit dem Austausch von Gaben und Gegengaben, den wechselseitigen Her-ausforderungen, den Morden und Racheakten usw. - können teil-weise oder ganz dem Ökonomieprinzip gehorchen und eine Form des Kalküls, der ratio, zum Einsatz bringen, mit dem Ziel der Opti-mierung der Kosten-Nutzen-Rechnung. Auf diese Weise entdeckt man Verhaltensweisen, die sich als Investitionen zwecks Maximie-rung des Nutzens in den verschiedensten (im weitesten Sinn) ökono-

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mischen Universa - Gebet oder Opferhandlung etwa - begreifen las-sen und die zuweilen explizit dem Prinzip des do ut des gehorchen, aber auch in der Logik des symbolischen Austauschs mit all jenen Verhaltensweisen, die so lange als Verschwendung wahrgenommen werden, solange sie an den Prinzipien der Ökonomie im engeren Sinne gemessen werden. Die Universalität des ökonomischen Prin-zips, das heißt der ratio im Sinne des Optimumkalküls, auf Grund deren man jedes Verhalten rationalisieren kann (denken wir nur an die Gebetsmühle), nährt den Glauben, man könne alle Ökonomien auf die Logik einer Ökonomie zurückführen: Durch Generalisierung des Einzelfalls werden alle ökonomischen Logiken, insbesondere die Logik der auf der Undifferenziertheit der ökonomischen, politischen und religiösen Funktionen begründeten Ökonomien, auf die voll-

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kommen singuläre Logik der ökonomischen Ökonomie zurückge-führt, in der das ökonomische Kalkül explizit auf ausschließlich öko-nomische Zwecke orientiert ist, wie es das bloße Vorhandensein ei-nes ökonomischen Feldes postuliert, das als solches sich auf der Ba-sis jenes tautologisch formulierten Axioms: »Geschäft ist Geschäft« konstituiert hat.