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1 Kongress "Das leidende Subjekt" vom 12. - 13. April 2013 in Heidelberg Vortrag von Alice Holzhey-Kunz Titel und abstract Phänomenologie oder Hermeneutik des Leidens? Die Phänomenologie hat den Vorteil, sich an dem orientieren zu können, was „sich zeigt“. Sobald sie sich aber dem seelischen Leiden zuwendet, scheint sie keine andere Wahl zu haben, als dem psychiatrischen Diskurs folgend „Leiden“ als eine pathologische „Abwandlung“ anzusetzen, dessen jeweilige Eigenart und jeweiliges Ausmass sie durch phänomenologische Deskription zu erfassen unternimmt. Als Alternative bietet sich die Hermeneutik an. Doch auch sie entgeht dem Sog des psychiatrischen Diskurses nur dann, wenn sie sich nicht von den manifesten Sinnentstellungen leiten lässt, sondern in der Nachfolge Freuds einen „unbewussten“ Sinn unterstellt. Als Hermeneutik des Unbewussten zielt sie nicht auf eine Reparation des manifest deformierten Sinns, sondern will den verborgenen Sinn aufdecken und interpretieren. Das wiederum kann eine Hermeneutik nur leisten, wenn sie sich nicht als Texthermeneutik im Sinne Gadamers versteht, sondern als eine Hermeneutik des leidenden Subjekts, das sich ständig selbst auslegt und dabei immer dazu neigt, sich über sich selbst zu täuschen. 1. Die Titelfrage meines Vortrags nimmt Bezug auf das Leitthema der Tagung „Das leidende Subjekt“, das methodisch, folgt man dem Untertitel, der „Phänomenologie als Wissenschaft der Psyche“ zugeordnet wird. Nun wäre es wohl unzulässig, Phänomenologie und Hermeneutik grundsätzlich gegeneinander ausspielen zu wollen. Was mir hingegen unzweifelhaft scheint, ist, dass Phänomenologie und Hermeneutik dann, wenn es um seelisches Leiden geht, notwendig auseinandertreten in dem Sinne, dass die Phänomenologie ahermeneutisch wird und die Hermeneutik in diesem Bereich solange, als man seelisches Leiden unter die psychiatrischen

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Kongress "Das leidende Subjekt" vom 12. - 13. April 2013 in Heidelberg

Vortrag von Alice Holzhey-KunzTitel und abstract

Phänomenologie oder Hermeneutik des Leidens?

Die Phänomenologie hat den Vorteil, sich an dem orientieren zu können, was „sich zeigt“. Sobald sie sich aber dem seelischen Leiden zuwendet, scheint sie keine andere Wahl zu haben, als dem psychiatrischen Diskurs folgend „Leiden“ als eine pathologische „Abwandlung“ anzusetzen, dessen jeweilige Eigenart und jeweiliges Ausmass sie durch phänomenologische Deskription zu erfassen unternimmt. Als Alternative bietet sich die Hermeneutik an. Doch auch sie entgeht dem Sog des psychiatrischen Diskurses nur dann, wenn sie sich nicht von den manifesten Sinnentstellungen leiten lässt, sondern in der Nachfolge Freuds einen „unbewussten“ Sinn unterstellt. Als Hermeneutik des Unbewussten zielt sie nicht auf eine Reparation des manifest deformierten Sinns, sondern will den verborgenen Sinn aufdecken und interpretieren. Das wiederum kann eine Hermeneutik nur leisten, wenn sie sich nicht als Texthermeneutik im Sinne Gadamers versteht, sondern als eine Hermeneutik des leidenden Subjekts, das sich ständig selbst auslegt und dabei immer dazu neigt, sich über sich selbst zu täuschen.

1. Die Titelfrage meines Vortrags nimmt Bezug auf das Leitthema der Tagung „Das leidende

Subjekt“, das methodisch, folgt man dem Untertitel, der „Phänomenologie als Wissenschaft

der Psyche“ zugeordnet wird.

Nun wäre es wohl unzulässig, Phänomenologie und Hermeneutik grundsätzlich

gegeneinander ausspielen zu wollen. Was mir hingegen unzweifelhaft scheint, ist, dass

Phänomenologie und Hermeneutik dann, wenn es um seelisches Leiden geht, notwendig

auseinandertreten in dem Sinne, dass die Phänomenologie ahermeneutisch wird und die

Hermeneutik in diesem Bereich solange, als man seelisches Leiden unter die psychiatrischen

Leitkategorien von gesund und krank, normal und anormal, ungestört und gestört oder

ähnlichem stellt, nichts zu suchen hat.

Mein Titel müsste also genauer heissen: „Phänomenologie oder Hermeneutik seelischen

Leidens“ – oder, noch direkter auf den Tagungstitel bezogen: „Phänomenologie oder

Hermeneutik des seelisch leidenden Subjekts?“

2. Ich will zuerst Freud zitieren:

„Wir werden also die Analyse der Fehlleistungen hier verlassen. An eines darf ich Sie aber

noch mahnen; wollen Sie die Art, wie wir diese Phänomene behandelt haben, als vorbildlich

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im Gedächtnis behalten. Sie können an diesem Beispiel ersehen, welches die Absichten

unserer Psychologie sind. Wir wollen die Erscheinungen nicht bloss beschreiben und

klassifizieren, sondern sie als Anzeichen eines Kräftespiels in der Seele begreifen, als

Äusserungen von zielstrebigen Tendenzen, die zusammen oder gegeneinander arbeiten. Wir

bemühen uns um eine dynamische Auffassung der seelischen Erscheinungen. Die

wahrgenommenen Phänomene müssen in unserer Auffassung gegen die nur

angenommenen Strebungen zurücktreten.“ (GW XI, S. 62)

Dieses Zitat aus der vierten der „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ von 1917

und vor allem der letzte Satz wurde in der Daseinsanalyse immer wieder als Beleg dafür

angeführt, dass in Freuds Psychoanalyse die Phänomenologie zugunsten der

naturwissenschaftlichen Methode verabschiedet worden sei. Als erster hat Binswanger in

seiner Rede zum 80. Geburtstag Freuds, gehalten 1936 in Wien (VA I, S. 159-189) diesen Satz

angeführt und erklärt, man müsste eben diesen Satz „an die Spitze der psychoanalytischen

Wissenschaft stellen“, weil sich in ihm ein „echt naturwissenschaftlicher Geist“ ausspreche,

„kann doch die Naturwissenschaft nirgends etwas mit den Phänomenen anfangen und

besteht ihr Wesen doch gerade darin, die Phänomene so rasch und so gründlich wie möglich

ihrer Phänomenalität zu entkleiden“ (ebd.). Auch Heidegger hat sich gemäss den

überlieferten Protokollen in einem der „Zollikoner Seminare“ (Januar 1964) auf diesen Satz

und zwar vor allem auf den Ausdruck „angenommene Strebungen“ bezogen. Das Wort

„Annehmen“ ist ja, so zeigt Heidegger, doppeldeutig, bedeutet sowohl, etwas meinen,

supponieren, unterstellen, als auch: etwas annehmen qua hinnehmen, so wie es sich zeigt.

Für das Annehmen qua Supponieren bringt Heidegger als Beispiel Freud und sagt:

„Zum Beispiel in Freuds Abhandlung über die Fehlleistungen sind solche Suppositionen die

Strebungen und Kräfte. Diese angenommenen Strebungen und Kräfte verursachen und

bewirken die Phänomene. (Dann lassen sich die Fehlleistungen so und so erklären, d.h. in

ihrer Entstehung beweisen.)“ (S. 6) Dann fragt er weiter: „Nach welcher Hinsicht müssen

gemäss Freud die Phänomene zurücktreten gegen die Annahmen? Hinsichtlich dessen, was

für das Wirkliche und das Seiende gehalten wird: Nur das ist wirklich und wahrhaft seiend,

dem psychologisch lückenlose Kausalzusammenhänge von Kräften unterstellt werden

können, meint Freud.“ (S. 7) Heidegger, der sich wohl kaum die Mühe genommen hat, Freud

selber zu lesen, kennt diesen Satz von Boss, der ihn seinerseits von Binswanger kennt, und

auch Heidegger zweifelt keine Sekunde, dass sich Freud mit diesem Satz als ein

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hartgesottener Naturwissenschaftler ausweist, für den der Mensch ein „kausal erklärbarer

Gegenstand“ ist.

Ich lese diesen Satz anders, nicht als Bekenntnis zur Naturwissenschaft, sondern als

Bekenntnis zur Hermeneutik. Freud geht vom Tatbestand aus, dass man im Bereich der

Psychopathologie vor einer Wahl steht, der Wahl nämlich, die Erscheinungen entweder

„bloss zu beschreiben und zu klassifizieren“ oder aber sie zu „begreifen“. Wählt man das

Beschreiben und Klassifizieren, dann kann man und soll man sogar bei den

„wahrgenommenen Phänomenen“ verweilen; will man hingegen die Fehlleistungen oder

aber neurotische Leidenssymptome „begreifen“, dann „müssen sie gegen die nur

angenommenen Strebungen zurücktreten“.

3. Dass diese Wahl unumgänglich ist, hat mit der Eigenart psychopathologischer Phänomene

zu tun. Schon alltägliche Fehlleistungen fallen aus dem manifesten Sinnkontext, in dem sie

stehen, heraus und darum lässt sich ihr Sinn nur vermuten. Noch klarer ist es bei

neurotischen Symptomen, sei es eine Angst, die auftritt, obwohl realiter gar keine Gefahr

droht, oder eine Scham, die einem überfällt, obwohl man sich nach gängigen Kriterien keine

Blösse gegeben hat, oder der Drang, eine Handlung ausführen zu müssen, obwohl man

weiss, dass sie überflüssig und also unsinnig ist. Diese und analoge pathologische

Phänomene kann man nur entweder beschreiben und klassifizieren, oder, wie Freud hier

sagt, „begreifen“, und zu begreifen sind sie nur, wenn man nach jenem verborgenen

Zusammenhang sucht, dem sie eigentlich zugehören. Freuds „Begreifen“ hier mit „kausalem

Erklären“ im Sinne der Naturwissenschaften gleichzusetzen und den gesuchten

Zusammenhang als einen Kausalzusammenhang zu bestimmen, wie Binswanger und

Heidegger das getan haben, ist zumindest voreilig. Schon Freuds Rede von „zielstrebigen

Tendenzen“ weist in eine andere Richtung.

Wenn Freud die nächste, 5. Vorlesung mit dem Satz beginnt:

"Meine Damen und Herren! Eines Tages machte man die Entdeckung, dass die

Leidenssymptome gewisser Nervöser einen Sinn haben. Daraufhin wurde das

psychoanalytische Heilverfahren begründet." (S. Freud, Ges. Werke XI, S. 79), dann ist

spätestens jetzt klar, dass es ihm nicht um den Gegensatz zwischen Beschreiben und

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kausalem Erklären geht, wie Binswanger und Heidegger meinten, sondern um den Gegensatz

zwischen dem blossem Beschreiben der wahrnehmbaren Phänomene, die sich als

unverständliche Symptome präsentieren, und dem Begreifen qua Aufdecken eines

verborgenen Sinns in oder hinter den manifesten Symptomen.

Nun gehen Phänomenologie und Hermeneutik im Normalfall gut zusammen und oft gehen

sie auch ineinander über und ergänzen sich gegenseitig. Wenn sie im Falle

psychopathologischer Phänomene notwendig auseinandertreten, dann hat das Folgen

sowohl für die Phänomenologie wie für die Hermeneutik – das heisst beide nehmen hier

unweigerlich eine besondere Form an. Die Phänomenologie muss sich darauf beschränken,

die manifesten Phänomene in ihrer manifesten Unsinnigkeit und, was gleichbedeutend ist,

ihrer manifesten Krankhaftigkeit oder Gestörtheit zu beschreiben, während die Hermeneutik

nur ins Spiel gebracht werden kann unter der „Annahme“, dass der Sinnkontext, aus dem

das Symptom verständlich wird, verborgen ist. Wenn ich mich für die Hermeneutik auf Freud

beziehe, dann nur, um an ihm die essentials einer solchen Hermeneutik zu verdeutlichen,

und nicht weil ich meine, die Psychoanalyse im Ganzen lasse sich einfach als eine

Hermeneutik charakterisieren. Das ist heute, wo sich der Schwerpunkt auf die sogenannten

frühen Störungen verschoben und hauptsächlich mit einem Strukturbegriff gearbeitet wird,

wohl noch weniger der Fall als zu Freuds Zeiten.

Freud spricht zu Recht nicht von Verstehen oder Auslegen, sondern von Deuten und er

definiert Deuten als „einen verborgenen Sinn finden“ (XI, 84). Längst nicht immer, wenn ich

einen Text etwa nicht auf ersten Anhieb verstehe oder auch ein Erleben oder Verhalten

eines anderen Menschen mir zunächst fremd vorkommt, muss ich Deuten, um den Sinn zu

finden. Meist genügt es, sich hinreichend in einen Text zu vertiefen oder ergänzende Texte

heranzuziehen, um dessen Sinn zu erfassen; und analog wird mir das zunächst befremdliche

Erleben oder Verhalten eines Menschen dann verständlich, wenn ich ihn besser kennenlerne

und mir von ihm sagen lasse, warum er das so erlebt oder sich so und nicht anders verhält.

Anders ist es, wenn mir ein Patient eine Geschichte erzählt, und ich zwar glaube, dass er sie

selber glaubt und also subjektiv ehrlich ist, mir diese Geschichte aber doch auf keine Weise

plausibel wird, oder wenn ein Patient von Ängsten oder Schuldgefühlen ob Sachverhalten

bzw. Handlungen berichtet, die nach gesundem Menschenverstand weder bedrohlich noch

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schuldhaft sind. Will man solche Phänomene nicht nur beschreiben, sondern verstehen,

dann muss man sie „deuten“ – das heisst: es braucht im Falle psychopathologischer

Phänomene eine besondere Hermeneutik, die sich von einer geisteswissenschaftlichen

Hermeneutik unterscheidet.

3. Analog nimmt auch die Phänomenologie eine besondere Form an, wenn sie es mit

psychopathologischen Phänomenen zu tun hat, und zwar deshalb, weil sie hier ohne die

Voraussetzung der Verstehbarkeit dessen, was sie beschreibt, auskommen muss. Was

ändert sich, wenn sie zu ihrem Thema Phänomene hat, die prinzipiell verstehbar sind,

nämlich menschliche Erlebens- und Verhaltensweisen, im vorliegenden Fall aber eben diese

Verstehbarkeit verloren haben (wie etwa eine irreale Angst oder eine unsinnige

Zwangshandlung)? Zuerst einmal scheint sich wenig zu verändern, da ja die

phänomenologische Untersuchung wie immer vorgeht, nämlich so, dass sie nach dem Wie,

nach der besonderen Eigenart oder Qualität eines gegebenen Phänomens fragt. Aber diese

Frage bewegt sich nun zwangsläufig in einem mehr oder weniger sinnleeren Raum, sodass

die ansonsten wie selbstverständlich mitlaufende Orientierung an dem, was das zu

beschreibende Phänomen bedeutet bzw. welchem Zweck es in welchem Zusammenhang

dient, nicht mehr gegeben ist.

Es ist klar, dass die Phänomenologie als Ersatz dafür eine andere Orientierung braucht. Es

gibt, soweit ich sehe, dafür nur einen Ersatz, nämlich sich am nicht-pathologischen

Äquivalent des vorliegenden pathologischen Phänomens zu orientieren. Hier gibt es dann

zwei Varianten: man kann sich entweder an dem orientieren, was lebensweltlich bzw.

alltäglich als das gesund qua durchschnittlich-normale Aequivalent gilt oder an dem, was

wesensphänomenologisch als das wahre oder eigentliche Aequivalent erachtet wird.

Anhand dieser Orientierung wird nun die phänomenologische Frage nach der besonderen

Eigenart und Qualität eines Phänomens zur Frage nach der Eigenart und Qualität der

pathologischen Abwandlung vom nicht-pathologischen Aequivalent. Die Frage lautet simpel

gesagt: Was ist hier anders, wobei ‚anders‘ meint: in defizitärem Sinne anders, was soviel

meint wie: was hier fehlt.

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Das aber heisst, dass die Phänomenologie nicht anders kann, als sich dem medizinisch-

psychiatrischen Diskurs zu unterstellen, sobald sie sich psychopathologischen Phänomenen

zuwendet. Sie kann dann nur so vorgehen, dass sie das zu erfassende Phänomen jeweils mit

seinem positiven Aequivalent vergleicht, um so zu erkennen, was hier anders ist, das heisst

was hier wie privativ abgewandelt ist.

Ein gutes Beispiel dafür ist die phänomenologische Analyse der Melancholie, später auch der

Manie als „Zeitstörungen“ durch Thomas Fuchs. Ausgangspunkt der phänomenologischen

Beschreibung bildet eine Wesensbestimmung der Zeit als einem intersubjektiven

Geschehen: „Zeitlichkeit“, so heisst es in dem Aufsatz von 2002, „bedeutet für den

Menschen weder ein solipsistisches Existenzial noch die rein vitale Werdezeit des

Organismus, sondern primär gelebte Synchronizität mit der Umwelt und mit den Anderen.“

(S. 128) Daran als dem nicht-pathologischen Aequivalent wird nun die melancholische und

später auch die manische Zeitform gemessen und „als Störung einer sonst synchronisierten

Beziehung“ (S. 113) bestimmt: Die phänomenologische Analyse der je spezifischen Zeitform

in Depression und Manie erfolgt also unter der Leitkategorie der „Desynchronisation“:

„Melancholie bedeutet Desynchronisierung oder partielle Entkoppelung von Organismus

und Umwelt bzw. von innerer und äusserer Zeit.“ Die Phänomenologie kann die

Veränderung der Zeitform und auch des Zeiterlebens nicht anders als ein Minus, konkret als

ein „Versagen“ dessen beschreiben, was zum menschlichen Leben wesentlich gehört,

nämlich sich als ein ständiger Synchronisierungsprozess zu vollziehen. (114)

4. Zur phänomenologischen-psychiatrischen Beschreibung von pathologischen Erlebens-

oder Verhaltensweisen bietet die Psychoanalyse eine Alternative an, nämlich deren

Deutung, die nur so möglich ist, dass, wie es im Zitat heisst, die „wahrgenommenen

Phänomene gegen die nur angenommenen Strebungen“ zurücktreten müssen. Freuds

Kurzformel für seine Einführung der Hermeneutik in die Psychopathologie lautet: „Der

Neurotiker leidet an Reminiszenzen.“ (vgl. erstmals GW I, S. 86; dann GW VIII, S. 11; GW XIII,

S. 10, GW XVI, S. 56) Dieser Satz muss jeden Psychiater irritieren, denn nach medizinischer

Auffassung leidet ein Patient an seiner Krankheit bzw. an den Symptomen, in denen sich die

Krankheit manifestiert. Natürlich wusste auch Freud, dass der Neurotiker manifest an seinen

Symptomen leidet und in der Regel deshalb eine Therapie aufsucht. Der hermeneutische

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Ansatz wird nur möglich dank der Annahme (qua Supposition), dass sich im Leiden an den

Symptomen ein anderes Leiden verbirgt, das Freud als ein Leiden an Reminiszenzen

charakterisiert.

. Für mich ist dabei weniger wichtig die Bestimmung, worauf dieses Leiden bezogen ist, als

die Entdeckung, dass sich im Leiden an den Symptomen überhaupt ein anderes Leiden, und

das heisst: ein Leiden an etwas, dessen sich der Leidende selber nicht bewusst ist, verbirgt.

Beim depressiven oder manischen Leiden an einer Desynchronisation könnte das zum

Beispiel das Leiden daran sein, als Mensch unentrinnbar dem Gesetz der Zeit zu unterstehen.

Bevor wir uns fragen, was man denn eigentlich mit dem Wort „leiden“ meint, wenn man das

eine Mal sagt, jemand leide an psychischen Störungen, das andere Mal, er leide an

Reminiszenzen, gilt es den Sinnbegriff zu klären, den Freud in die Psychopathologie einführt,

wenn er sagt, die Leidenssymptome hätten einen „Sinn“. Zunächst ist festzuhalten, dass

Freud den Begriff „Sinn“ strikt hermeneutisch verwendet, nämlich als das Korrelat von

Verstehen. Was dem Verstehen korreliert, ist immer irgendein Sinn, mag uns dieser Sinn

auch noch so befremden. Alles, was verstanden werden kann, ist sinn-haft und nicht sinn-

bar. Wenn jemand hingegen klagt, er müsse eine sinnlose Arbeit verrichten oder gar, das

Leben im Ganzen habe für ihn seinen Sinn verloren, dann verwendet er nicht den

hermeneutischen, sondern den normativ-lebenspraktischen Sinnbegriff, wo das Sinnlose

gegen das Sinnvolle, die Sinnleere gegen die Sinnerfüllung steht. Halten wir also fest, dass es,

wenn man die Hermeneutik in die Psychopathologie einführt, nicht darum geht, den

Symptomen einen positiven oder gar kreativen Sinn zu unterstellen, sondern nur eine

prinzipielle Sinnhaftigkeit und damit Verstehbarkeit.

5. Diese Klärung genügt noch nicht, weil auch der hermeneutische Sinnbegriff selber in sich

doppeldeutig ist, was man an der Rede vom „Sinn eines vorliegenden Textes“ deutlich

machen kann. Damit kann entweder die Sinnintention des Autors gemeint sein: Was war

sein Anliegen, was wollte er selber mit diesem Text zum Ausdruck bringen?, oder aber jener

Sinn, der sich dem Text selber entnehmen lässt: Was steht da, was ist hier gesagt, was

kommt hier zur Sprache? Gadamer hat betont, dass sich der Sinn eines Textes niemals auf

die Sinnintention des Autors reduzieren lasse, weil „die Sinntendenzen eines Textes weit

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über das hinausreichen, was der Urheber desselben im Sinn hatte“ (WM. S. 354), und wenn

Gadamer seine Hermeneutik als ein Gespräch zwischen dem Interpreten und dem Text

bestimmt, dann ist der Gesprächspartner gerade nicht der imaginierte Autor, der den Text

verfasst hat, sondern der Text selber. Für Gadamers Hermeneutik ist die Ausrichtung auf den

Textsinn zentral, denn historische Ereignisse oder soziale Verhältnisse sind ja immer viel

mehr als nur das Resultat von Akteuren, man kann sie also nur hermeneutisch untersuchen,

wenn man sie wie einen Text nehmen und interpretieren kann.

Wenn es aber sowohl intendierten wie auch nichtintendierten Sinn gibt: welcher Art ist dann

der Sinn, den Freud in den manifest sinnlosen Symptomen entdeckt hat: handelt es sich

dabei um einen nichtintendierten „Textsinn“ oder um einen „Handlungssinn“?

Im Zusammenhang des Nachweises, dass „die Fehlleistung einen Sinn hat“, sagt Freud:

„Einigen wir uns noch einmal darüber, was wir unter dem ‚Sinn‘ eines psychischen Vorgangs

verstehen wollen. Nichts anderes als die Absicht, der er dient, und seine Stellung in einer

psychischen Reihe. Für die meisten unserer Untersuchungen können wir ‚Sinn‘ auch durch

‚Absicht‘, ‚Tendenz‘ ersetzen“. (GW XI, S. 33; vgl. auch S. 294).

Aus diesen Äusserungen scheint man schliessen zu dürfen, dass der verborgene Sinn letztlich

ein intendierter Sinn ist, eben eine Absicht. Die Sache kompliziert sich aber, weil die Absicht

ja sowohl eine unbewusste wie zugleich eine vergangene ist, eine Absicht, die das Kind von

damals hatte und dann (ich folge jetzt der Einfachheit halber dem Schema Freuds)

verdrängte. Darum ist es unversehens offen, ob es nur ein damals intendierter Sinn ist, oder

ein heute noch intendierter Sinn, und man kann, wie ich gleich zeigen werde, für beide

Auffassungen gute Gründe anführen. Auf jeden Fall sind wir mit dieser Frage nochmals beim

Titel dieser Tagung: „Das leidende Subjekt“, denn je nachdem, ob sich im Leiden nur eine

damals, in der Kindheit aktuelle Absicht realisiert oder aber eine Absicht, die zwar eine lange

Geschichte hat, aber heute immer noch aktuell ist – je nachdem hat das Subjekt im Leiden

eine ganz andere Position.

6. Wenn wir uns jetzt dem Verhältnis von Subjekt und Leiden zuwenden, dann wollen wir

auch die phänomenologisch-psychiatrische Perspektive wieder einbeziehen und zuerst

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fragen, wie sich das Verhältnis in phänomenologischer Sicht darstellt. Bei den manifesten

Phänomenen verweilend kann man nur feststellen, dass das Subjekt an seinen psychischen

Störungen leidet. Und davon her bestimmt sich phänomenologisch auch die Position des

Subjekts im Leiden. Zu recht sind in der Medizin die Begriffe Leiden und Krank-sein fast

auswechselbar, ausser dass bei „Leiden“ der Akzent mehr auf dem subjektiven Erleben, bei

Krank-sein mehr auf dem objektiven Sachverhalt liegt. An einer Krankheit zu leiden heisst

hauptsächlich, von ihr als Subjekt unfreiwillig betroffen zu sein, sie als Subjekt passiv zu er-

leiden, und daran aktiv zu leiden meint vor allem, als Subjekt die mit der Krankheit

verbundene Mühsal und Einschränkungen auf sich nehmen und ertragen zu müssen. Erst

sekundär bekommt „Leiden“ auch im medizinischen Sinne eine aktive Komponente, weil

bekanntlich die einzelnen Individuen an derselben Krankheit unterschiedlich leiden, das

heisst mit dem Faktum, krank zu sein, unterschiedliche umgehen, dieses Faktum je anders

‚psychisch verarbeiten‘.

Es ist heute üblich, das Leiden an einer körperlichen Krankheit und das Leiden an einer

seelischen Krankheit nebeneinander zu stellen (und zwar vor allem im Dienste der

Entstigmatisierung seelischen Leidens). Damit wird suggeriert, es handle sich beide Male um

dasselbe Leiden, das sich nur auf eine je andere Form von Erkrankung beziehe. Ein Vergleich

zeigt jedoch sofort, dass das leidende Subjekt im Falle einer körperlichen Krankheit eine ganz

andere Position einnimmt als im Falle einer seelischen Krankheit oder Störung. Zwar leidet

man auch im Falle einer körperlichen Krankheit keineswegs nur körperlich, sondern immer

auch seelisch, und wie man seelisch daran leidet, hängt nicht nur von der jeweiligen

körperlichen Krankheit, sondern auch von der seelischen Eigenart der betroffenen Person

ab. Insofern mag man auch das Leiden an einer körperlichen Krankheit in einem weiten

Sinne als ein ‚seelisches‘ Leiden bezeichnen. Die Qualität des Leidens aber ist eine andere als

im Falle des Leidens an einer seelischen Störung.

Nehmen wir an, bei einer Frau sei ein Brustkrebs diagnostiziert worden und die

Heilungschancen seien ungewiss. Diese Frau mag deswegen für ei

nige Zeit von tiefer Angst oder gar Verzweiflung erfüllt sein und dafür auch nach

psychotherapeutischer Hilfe suchen. Aber niemandem käme es in den Sinn, sie deswegen als

seelisch ‚krank‘ zu diagnostizieren, weil niemand den Eindruck erhält, ihr ‚seelisches‘ Leiden

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am Krebs habe krankhafte Züge. Vielmehr werden die meisten, denen sie von ihren Gefühlen

erzählt, inklusive die Psychotherapeutin, für ihre Angst und Verzweiflung Verständnis haben

und zugleich vermuten, dass sie selber in einer analogen Situation wohl ganz ähnlich

empfinden würden.

Das ist anders bei einem seelischen Leiden: wenn hier jemand ständig in Angst ist, ohne

selber zu wissen, wovor er eigentlich Angst hat, oder man als Mutter in eine länger

andauernde Verzweiflungsstimmung gerät, nachdem man entdecken musste, dass die

11jährige Tochter heimlich eine kleine Summe Geld entwendet hatte, dann hat das

subjektive Leiden, weil manifest überhaupt grundlos oder doch völlig übertrieben, selber

den Charakter eines pathologischen Symptoms. Hubertus Tellenbach hat die Andersheit

seelischen Leidens vor allem für das depressive Leiden herausgestellt, und zwar so, dass er

es als ein „denaturiertes, fremdes, gleichsam pervertiertes Leiden“ charakterisiert hat. Auch

wenn einem die hier einfliessende Wertung irritieren mag, so illustriert diese

Charakterisierung doch noch einmal den phänomenologischen Zugang zum depressiven

Leidensphänomen. Auch Tellenbach kommt auf diese Wertung, weil er die Art, wie

Depressive leiden, mit seinem nicht-pathologischen Aquivalent vergleicht und daran misst.

Nicht-pathologisches Leiden zeichnet sich für Tellenbach dadurch aus, dass ihm ein

„Transzendierenkönnen des Leidens in der Hoffnung“ immanent ist (Egner 1985, S. 30). Eben

dieses Transzendierenkönnen des Leidens in der Hoffnung aber fehlt dem depressiven

Leiden und macht es zu einem „denaturierten“ Leiden.

Machen wir uns jetzt klar, in welchem Verhältnis Subjekt und Leiden hier und dort stehen.

Im Falle eines körperlichen Leidens, Beispiel Brustkrebs, ist das Subjekt zwar durchaus

rational und emotional betroffen, aber nicht so, dass zugleich seine Fähigkeit, ein Subjekt zu

sein, davon angegriffen wäre (ausser vielleicht im Endstadium einer Krankheit); im Falle

eines seelischen Leidens erscheint hingegen auch die Subjektivität des eigenen Subjektseins

krankhaft verändert, und zwar in Richtung einer mehr oder weniger ausgeprägten

Entsubjektivierung. Je stärker die Abweichung, umso geringer ist in der Regel die

Krankheitseinsicht, umso illusionärer ist, wenn er überhaupt besteht, der Genesungswunsch

und umso geringer sind auch die Heilungschancen.

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Wechseln wir nun in die hermeneutische Perspektive, die auf der Hypothese basiert, dass

sich im Leiden an psychischen Störungen ein anderes Leiden verbirgt, und zwar Freud

zufolge ein Leiden an Reminiszenzen. Was immer mit Reminiszenzen genau gemeint ist: es

ist ein Leiden an einem Negativum, von dem her dieses Leiden, so die Hypothese, verstehbar

wird, sobald es gelingt, aufzudecken, woran der Betroffene eigentlich, aber unbewusst

leidet.

Wenn man dieser Hypothese Kredit gibt, dann verliert erstens das Leiden seinen

pathologischen Charakter. So inadäquat etwa eine Angst oder eine Verzweiflungsstimmung

im manifesten Kontext auch sein mag, man kann dann fragen: wovor hat diese Patientin

denn in Wahrheit Angst oder worüber ist sie in Wahrheit verzweifelt, ohne es selber bewusst

zu wissen, und damit unterstellen, dass es einen zumindest nachvollziehbaren unbewussten

Grund dafür geben könnte. Zweitens ändert sich aufgrund dieser Hypothese auch das

Verhältnis von Subjekt und Leiden. Man kann jetzt zumindest fragen, ob das Subjekt, das

manifest als in seiner Subjektivität beschädigt erscheint, dies auch tatsächlich ist; man kann

darüber hinaus sogar vermuten, dass das, was manifest als eine krankheitsbedingt fehlende

Fähigkeit, noch in einem ‚gesunden‘ Sinne ein Subjekt zu sein, imponiert, selber eine

Funktion in diesem Leiden hat. Freud denkt in dieser Richtung, wenn er lapidar erklärt: „Das

Tun versteht es so häufig, sich als ein passives Erleiden zu maskieren“ (in Vorlesungen, GW

XI, 53).

Nun kann man den hermeneutischen Gesichtspunkt nur einnehmen, wenn man zugleich

irgend ein Konzept von Unbewusstheit im Sinne von Selbstverborgenheit hat – ein Konzept,

das zum Beispiel Gadamers Hermeneutik nicht hat und als Hermeneutik überlieferter Texte

auch nicht braucht. Ich sage das nur beiläufig, weil es vor allem in den USA heute Tendenzen

gibt, Gadamers Hermeneutik in die Psychoanalyse einführen zu wollen, wofür sie m.E. nicht

taugt. Dass der Sinn in den Leidenssymptomen verborgen ist – und zwar auch für den

Leidenden selber verborgen – das macht ja, dass man sich in der Psychopathologie nicht an

geisteswissenschaftlichen Hermeneutiken orientieren kann. Es braucht hier eine andere

Hermeneutik, die in Rechnung stellt, dass dem Menschen eine Tendenz zur

Selbstverbergung, oder wie Freud sagt: zur Flucht vor sich selbst, innewohnt. Weil Heidegger

in „Sein und Zeit“ seine Hermeneutik tatsächlich auf diesen anthropologischen Sachverhalt

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gründet, hat Ernst Tugendhat sie zurecht als „eine Art von philosophischer Psychoanalyse“

charakterisiert (Hermeneutics in Heidegger’s sense is thus a sort of philosophical

psychoanalysis, in: Philosophische Aufsätze Suhrkamp 1992, S. 427).

Doch was heisst Selbstverborgenheit? In welchem Verhältnis stehen Subjekt und

Unbewusstes? Und in welchem Verhältnis stehen das verdrängende Subjekt von damals und

das heutige, seelisch leidende Subjekt? Wir sind zum Schluss nochmals bei der Frage: Wenn

die Leidenssymptome einen verborgenen Sinn haben: handelt es sich dann um einen nicht-

intentionalen Textsinn oder um einen Handlungssinn?

Darüber zu debattieren scheint mir zentral, weil sich von daher noch einmal bestimmt,

welche Rolle das leidende Subjekt im seelischen Leiden hat. Nur fehlt jetzt dafür die Zeit. Ich

will zum Schluss die beiden Alternativen einander ganz schematisch gegenüberstellen, und

zwar, auch das schematisch, anhand von Freuds Bestimmung seelischen Leidens als einem

Leiden an Reminiszenzen. Setzt man für „Reminiszenzen“ verdrängte Erinnerungen ein, dann

gibt es zwei unterschiedliche Interpretationen von „Verdrängung“. Davon geht meine

Gegenüberstellung aus:

Das Subjekt im seelischen Leiden

Version A Version B Das infantile Subjekt kann aufgrund seiner Unreife noch nicht anders, als einen konflikthaften Wunsch zu verdrängen.

Das kindliche Subjekt verdrängt einen Wunsch, um nicht auf ihn verzichten zu müssen. Verdrängung als Selbst-täuschungsmanöver.

Damit kommt eine Eigendynamik in Gang, die sich hinter dem Rücken des Subjekts abspielt.

Das Subjekt hält eigensinnig an der Verdrängung fest, weil es auf der Erfüllung des bedeutsamen Wunsches insistiert.

Das neurotische Subjekt er-leidet passiv die „Wiederkehr des Verdrängten“ in Form der neurotischen Leidenssymptome.

Das neurotische Subjekt „agiert“ heimlich die Erfüllung des Wunsches in Form der neurotischen Leidenssymptome.

Das neurotische Subjekt leidet an den Folgen der damaligen Verdrängung des Wunsches.

Das neurotische Subjekt leidet an der Unerfüllbarkeit des Kindheitswunsches, auf den es nicht verzichten will.

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Das neurotische Subjekt ist dem „Wiederholungszwang“ unterworfen.

Das neurotische Subjekt reinszeniert den Wunsch so lange, bis er erfüllt sein wird.

Fazit:

Die neurotischen Symptome haben einen historischen Textsinn.

Die neurotischen Symptome haben einen intentionalen und immer noch aktuellen Handlungssinn.

Diese sehr schematische Gegenüberstellung sollte klar machen, dass man, folgt man Version

A, zwar immer noch nach dem verborgenen Sinn der Leidenssymptome fragen und also

Hermeneutik betreiben kann, dieser Sinn dann aber aufgrund der Verdrängung nicht nur

längst den Charakter eines intentionalen Sinns, einer Absicht verloren, sondern auch jede

aktuelle Relevanz für das heutige Subjekt eingebüsst hat. Diesen Wandel begründet

Habermas damit, dass aufgrund der Verdrängung sich die Absicht in Ursache verkehrt habe,

die nun das Subjekt von hinterrücks kausal determiniere (vgl. Habermas 1968, S. 312; vgl.

auch S. 330). Entsprechend wird die Hermeneutik zur Texthermeneutik, und zwar, wie Alfred

Lorenzer präzisiert, zur Hermeneutik eines „systematisch verstümmelten Textes“, den es aus

den Sinnbruchstücken zu rekonstruieren gilt. Das aber heisst, sie wird zu einer

Texthermeneutik, die sich nun ebenfalls dem psychiatrischen Diskurs unterstellt, genauso

wie die Phänomenologie.

Diese schematische Gegenüberstellung will klar machen, dass man mit guten Gründen auch

der Version B Kredit geben kann, in welcher Subjekt, Verdrängung und Leiden in einem ganz

anderen Verhältnis zueinander stehen. Um dieser Version zu folgen, braucht es eine andere

Hermeneutik, nicht eine Hermeneutik entstellter Texte, sondern eine Hermeneutik des an

sich selbst leidenden Subjekts. Ich selber favorisiere Variante B und verbinde dafür

psychoanalytische mit existenzphilosophischen Erkenntnissen, weil sich erst dank dieser

Verbindung verständlich machen lässt, was denn auch das heutige erwachsene Subjekt noch

dazu motivieren könnte, auf der Erfüllung eines damals wie heute unerfüllbaren Wunsches

zu insistieren. Ich rede darum auch nicht von einem Leiden an Reminiszenzen, sondern von

einem Leiden des menschlichen Subjekts am eigenen Sein (vgl. erstmals in: Holzhey-Kunz

1994).

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Literatur

Binswanger Ludwig: Freuds Auffassung des Menschen im Lichte der Anthropologie, in: Ausgew. Vorträge und Aufsätze Bd. I, Bern (Francke) 1947, S. 159-189

Freud Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1917), Ges. Werke Bd. XI.

Fuchs Thomas: Melancholie als Desynchronisierung. Ein Beitrag zur Psychopathologie der intersubjektiven Zeit, in: Zeitdiagnosen. Philosophisch-psychiatrische Essays, Graue Edition 2002, S. 111ff.

Habermas Jürgen: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M 1968

Heidegger, Martin: Zollikoner Seminare. Protokolle – Gespräche – Briefe, hg. von Medard Boss, Frankfurt/M. (Klostermann) 1983

Holzhey-Kunz, Alice: Leiden am Dasein. Die Daseinsanalyse und die Aufgabe einer Hermeneutik psychopathologischer Phänomene, Wien (Passagen) 2. Aufl. 2001

Tellenbach Hubertus: Sinngestalten des Leidens und des Hoffens, in: Egner Festschrift 1985.

Tugendhat Ernst: The Fusion of Horizons (Gadamer-Rezension), in: Philosophische Aufsätze, Suhrkamp 1992, S. 426ff.