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Familienrecht / P. Breitschmid § 12 Erwachsenenschutzrecht 1 § 12 Erwachsenenschutzrecht I. Allgemeines 1. Übersicht über das neue Erwachsenenschutzrecht (1) Das Erwachsenenschutzrecht (früher Vormundschaftsrecht) ist in der Dritten Ab- teilung des Familienrechts geregelt (Art. 360-456 ZGB). Es wurde unter anderem mit dem Ziel einer Revision unterzogen, das Selbstbestimmungsrecht von Personen, die von einer erwachsenenschutzrechtlichen Massnahme betroffen sind, zu fördern. Dies sollte damit erreicht werden, dass urteilsfähige Personen nun die Möglichkeit haben, Verfügungen und Anordnungen im Hinblick auf eine eventuell eintretende Urteils- oder Handlungsunfähigkeit zu treffen (BBl 2006 7002). Ferner sollten die erwachse- nenschutzrechtlichen Massnahmen besser auf die Bedürfnisse der betroffenen Per- son zugeschnitten werden können, indem an Stelle der Vormund-, Beistand- und Beiratschaft nach altem Vormundschaftsrecht nun die Beistandschaft vorgesehen wird, die je noch Schutzbedürfnis der betroffenen Person als Begleit-, Vertretungs-, Mitwirkungsbeistandschaft oder eine Kombination davon sowie als umfassende Bei- standschaft ausgestaltet werden kann (BBl 2006 7003). 2. Erwachsenenschutzrecht (2) Das Erwachsenenschutzrecht bezweckt den Schutz hilfsbedürftiger Erwachsener (Art. 388 Abs. 1 ZGB). Im Vordergrund stehen dabei einerseits die Vermögensinte- ressen. Einer schutzbedürftigen Person kann bspw. ein Berater zur Seite gestellt, der schaut, dass die Rechnungen bezahlt werden, oder es kann ihre Handlungsfähigkeit eingeschränkt werden, um zu verhindern, dass sie Verträge abschliesst, die sie in den finanziellen Ruin treiben könnten. Andererseits steht auch der Schutz der Per- sönlichkeit im Vordergrund. Der Wille einer urteilsunfähigen, verwahrlosten oder psy- chisch kranken Person soll etwa bei medizinischen Eingriffen oder bei der Betreuung in Wohn- und Pflegeeinrichtungen soweit wie möglich gewahrt werden. (3) Das Rechtsgebiet ist ein „Mischgebilde“ aus Privatrecht und öffentlichem Recht. Öffentlichrechtlichen Charakter haben vor allem die Normen, welche die Vorausset- zungen und das Verfahren zur Beschränkung der Handlungsfähigkeit regeln. Privat- rechtlichen Charakter haben hingegen Normen, welche die Handlungsfähigkeit und ihre Beschränkungen umschreiben sowie welche die Rechtsfolgen des Verhaltens

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Familienrecht / P. Breitschmid § 12 Erwachsenenschutzrecht

1

§ 12 Erwachsenenschutzrecht

I. Allgemeines

1. Übersicht über das neue Erwachsenenschutzrecht

(1) Das Erwachsenenschutzrecht (früher Vormundschaftsrecht) ist in der Dritten Ab-

teilung des Familienrechts geregelt (Art. 360-456 ZGB). Es wurde unter anderem mit

dem Ziel einer Revision unterzogen, das Selbstbestimmungsrecht von Personen, die

von einer erwachsenenschutzrechtlichen Massnahme betroffen sind, zu fördern. Dies

sollte damit erreicht werden, dass urteilsfähige Personen nun die Möglichkeit haben,

Verfügungen und Anordnungen im Hinblick auf eine eventuell eintretende Urteils-

oder Handlungsunfähigkeit zu treffen (BBl 2006 7002). Ferner sollten die erwachse-

nenschutzrechtlichen Massnahmen besser auf die Bedürfnisse der betroffenen Per-

son zugeschnitten werden können, indem an Stelle der Vormund-, Beistand- und

Beiratschaft nach altem Vormundschaftsrecht nun die Beistandschaft vorgesehen

wird, die je noch Schutzbedürfnis der betroffenen Person als Begleit-, Vertretungs-,

Mitwirkungsbeistandschaft oder eine Kombination davon sowie als umfassende Bei-

standschaft ausgestaltet werden kann (BBl 2006 7003).

2. Erwachsenenschutzrecht

(2) Das Erwachsenenschutzrecht bezweckt den Schutz hilfsbedürftiger Erwachsener

(Art. 388 Abs. 1 ZGB). Im Vordergrund stehen dabei einerseits die Vermögensinte-

ressen. Einer schutzbedürftigen Person kann bspw. ein Berater zur Seite gestellt, der

schaut, dass die Rechnungen bezahlt werden, oder es kann ihre Handlungsfähigkeit

eingeschränkt werden, um zu verhindern, dass sie Verträge abschliesst, die sie in

den finanziellen Ruin treiben könnten. Andererseits steht auch der Schutz der Per-

sönlichkeit im Vordergrund. Der Wille einer urteilsunfähigen, verwahrlosten oder psy-

chisch kranken Person soll etwa bei medizinischen Eingriffen oder bei der Betreuung

in Wohn- und Pflegeeinrichtungen soweit wie möglich gewahrt werden.

(3) Das Rechtsgebiet ist ein „Mischgebilde“ aus Privatrecht und öffentlichem Recht.

Öffentlichrechtlichen Charakter haben vor allem die Normen, welche die Vorausset-

zungen und das Verfahren zur Beschränkung der Handlungsfähigkeit regeln. Privat-

rechtlichen Charakter haben hingegen Normen, welche die Handlungsfähigkeit und

ihre Beschränkungen umschreiben sowie welche die Rechtsfolgen des Verhaltens

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der durch erwachsenenschutzrechtliche Massnahmen geschützten Personen im Pri-

vatrechtsverkehr regeln.

3. Prinzipien des Erwachsenenschutzrechts

(4) Erwachsenenschutzrecht ist, soweit es um die Anordnung erwachsenenschutz-

rechtlicher Massnahmen durch die Erwachsenenschutzbehörde geht, ein Eingriffs-

recht. Handlungsfreiheitsbeschränkende Massnahmen bewirken nämlich einen Ein-

griff in die persönliche Freiheit (Art. 10 BV). Die Grundrechte und verwaltungsrechtli-

chen Verfahrensgrundsätze sind deshalb zu beachten. Wesentlich sind insbesondere

folgende Prinzipien des Verwaltungsrechts:

Verhältnismässigkeitsprinzip (Proportionalität): Die in Frage kommende Mass-

nahme muss sich eignen, der betroffenen Person zu helfen bzw. diese zu

schützen. Sie muss erforderlich sein, das heisst, es darf kein milderer, weniger

weit gehender Eingriff geben, der ebenso geeignet wäre, um den mit der Mas-

snahme verfolgten Zweck zu erreichen. Es muss mit anderen Worten „so we-

nig wie möglich, aber so viel wie nötig“ angeordnet werden.

Subsidiaritätsprinzip: Massnahmen sind nur angebracht, wenn die Hilfe zur

Selbsthilfe versagt oder ungenügend ist. Es war insbesondere Ziel der Reform

der Erwachsenenschutzgesetzgebung, dass diese Hilfe (zur Selbsthilfe) zu-

nächst von Angehörigen wie nahen Verwandten oder dem Ehepartner er-

bracht werden soll und wenn diese Angehörigen keine Hilfe erbringen wollen

oder dazu nicht fähig sind, Behörden eingeschaltet werden (vgl. Art. 389

ZGB). Bei den Unterstützungsmassnahmen muss ausserdem möglichst auf

den Willen des Betroffenen Rücksicht genommen werden (Art. 388 Abs. 2;

401 ZGB). Das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen ist so weit wie mög-

lich zu erhalten und zu fördern (Art. 388 Abs. 2 ZGB).

4. Erwachsenenschutzrechtliche Organe

(5) Erwachsenenschutzbehörde: Die Behörde ordnet erwachsenenschutzrechtliche

Massnahmen an (Art. 388 f. ZGB) und überwacht die von ihr eingesetzten Mandats-

träger, insbesondere die Beistände (vgl. Art. 415 ZGB). Sie gibt die Zustimmung zu

gewissen Rechtsgeschäften (Art. 416 ZGB). Es handelt sich um eine Fachbehörde,

deren Organisation im Wesentlichen vom kantonalen Recht bestimmt wird (Art. 440

Abs. 1 ZGB; vgl. im Kanton Zürich §§ 4 ff. EG KESR).

(6) Beistand: Der Beistand wahrt die persönlichen und vermögenswerten Interessen

des Verbeiständeten. Er ist sein Vertreter, sofern er die entsprechenden Befugnisse

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hat (Art. 394 ZGB). Je nach Art der Beistandschaft nimmt er für die verbeiständete

Person unterschiedliche Aufgaben wahr (Art. 391 ZGB).

(7) Ärzte und Wohn- und Pflegeeinrichtungen, Einrichtungen für Personen mit

psychischer Störung: Die Kantone können Ärzte bezeichnen, die neben der Er-

wachsenenschutzbehörde eine fürsorgerische Unterbringung anordnen dürfen (Art.

429 Abs. 1 ZGB). Ähnlich wie diese Ärzte können auch Wohn- und Pflegeeinrichtun-

gen die Bewegungsfreiheit von urteilsunfähigen Personen, die sich bei ihnen aufhal-

ten, unter gewissen Voraussetzungen einschränken (Art. 383 ZGB). Zur Funktion der

Einrichtungen für Personen mit einer psychischen Störung im Bereich der fürsorgeri-

schen Unterbringung vgl. Art. 427 ZGB (Zurückbehaltung freiwillig eingetretener Pa-

tienten), Art. 434 ZGB (Behandlung ohne Zustimmung der betroffenen Person); Art.

438 ZGB (Massnahmen zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit).

(8) Aufsichts- und Rechtsmittelbehörde: Die Kantone müssen eine Aufsichtsbe-

hörde über die Erwachsenenschutzbehörde bestimmen (Art. 441 Abs. 1 ZGB). Die

Aufsichtsbehörde kann, muss aber nicht, gleichzeitig die Rechtsmittelinstanz sein. Im

Kanton Zürich ist die Aufsichtsbehörde der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde

eine vom Regierungsrat bezeichnete Direktion (§ 14 Abs. 1 EG KESR; Für die Be-

aufsichtigung der Wohn- und Pflegeeinrichtungen gemäss Art. 387 ZGB ist der Be-

zirksrat zuständig [§ 15 EG KESR]). Rechtsmittelinstanz gegen Entscheide der Er-

wachsenenschutzbehörde ist hingegen grundsätzlich das Bezirksgericht (entweder

das Einzelgericht oder das Kollegialgericht) als erste Instanz und das Obergericht als

zweite Instanz (§ 63 f. EG KESR).

5. Überblick über das Erwachsenenschutzrecht

(9) Das Erwachsenenschutzrecht umfasst die Dritte Abteilung des ZGB und ist unter-

teilt in drei Titel.

(10) Im 10. Titel des ZGB werden im ersten Abschnitt Instrumente der eigenen (priva-

ten) Vorsorge geregelt, die mündigen und urteilsfähigen Personen zur Verfügung

stehen, um für den Fall ihrer Urteilsunfähigkeit die nötigen Vorkehrungen zu treffen.

Als Massnahme nennt der Gesetzgeber den Vorsorgeauftrag, welchen eine hand-

lungsfähige Person einer natürlichen oder juristischen Person erteilen kann, damit

diese im Falle ihrer Urteilsunfähigkeit die Personen- und/oder die Vermögenssorge

übernehme oder sie im Rechtsverkehr vertrete (Art. 360 Abs. 1 ZGB). Im Weiteren

wird in diesem Abschnitt die Patientenverfügung gesetzlich normiert, in der eine ur-

teilsfähige Person festlegen kann, welchen medizinischen Massnahmen sie im Falle

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ihrer Urteilsunfähigkeit zustimmen bzw. welche sie ablehnen werde (Art. 370 abs. 1

ZGB).

(11) Im zweiten Abschnitt des zehnten Titels werden die Massnahmen geregelt, die

von Gesetzeswegen vorgesehen sind, falls eine urteilsunfähig gewordene Person in

Zeiten, als sie noch urteilsfähig war, keine speziellen Anordnungen für diesen Fall

getroffen hat. Konkret bestimmt das Gesetz, wer eine urteilsunfähig gewordene Per-

son von Gesetzes wegen vertreten darf, falls diese Person keine speziellen Anord-

nungen für diesen Fall getroffen hat (Art. 374 ff. ZGB). Speziell normiert wird dabei

der Fall, in dem eine medizinische Behandlung einer urteilsunfähigen Person ange-

ordnet werden muss (Art. 377 ff. ZGB). Schliesslich finden sich in diesem Abschnitt

Bestimmungen zum Aufenthalt urteilsunfähiger Personen in Wohn- und Pflegeein-

richtungen (Art. 382 ff ZGB).

(12) Im 11. Titel finden sich die Bestimmungen über die behördlichen erwachsenen-

schutzrechtlichen Massnahmen, d.h. insbesondere über die verschiedenen Arten der

Beistandschaft (Art. 388 ff ZGB) und über die fürsorgerische Unterbringung (Art. 426

ff. ZGB). Im 12. Titel sind die Zuständigkeit (Art. 440 ff. ZGB), das Verfahren (Art. 443

ff. ZGB) sowie organisatorische Belange (Verhältnis zu Dritten, Geheimnis und Zu-

sammenarbeit) und schliesslich die Haftung (Art. 451 ff. bzw. 454 ff. ZGB) geregelt.

II. Der Vorsorgeauftrag

1. Gegenstand des Vorsorgeauftrags

(13) Einen Vorsorgeauftrag kann (nur) eine handlungsfähige Person erteilen, und

zwar an eine natürliche oder (sofern es sich nicht um eine Beauftragung zur Vertre-

tung in höchstpersönlichen Rechten handelt, wie bei medizinischen Eingriffen) auch

an eine juristische Person (Art. 360 Abs. 1 ZGB; BBl 2006 7025). Im Vorsorgeauftrag

wird geregelt, wer im Falle der Urteilsunfähigkeit die auftraggebende Person be-

treuen, für ihr Vermögen sorgen und/oder sie rechtsgeschäftlich vertreten soll. Diese

Aufgaben können an verschiedene Personen übertragen werden und auch mit Wei-

sungen, Bedingungen, Auflagen und Einschränkungen versehen werden (Art. 360

Abs. 2 ZGB; BBl 2006 7025). Der Ungewissheit, ob die beauftragte Person den Vor-

sorgeauftrag dereinst wird annehmen können, kann für den Fall der Unfähigkeit oder

Ablehnung des Erstbeauftragten durch Bestimmung von Ersatzpersonen begegnet

werden (Art. 360 Abs. 3 ZGB).

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2. Errichtung, Hinterlegung, Änderung und Widerruf des Vorsorgeauf-

trags

(14) Der Vorsorgeauftrag muss entweder eigenhändig errichtet, d.h. von Anfang bis

zum Ende von Hand niedergeschrieben, datiert und unterzeichnet, oder öffentlich

beurkundet werden (Art. 361 Abs. 1 ZGB). Damit der Vorsorgeauftrag im Falle des

Eintretens des Vorsorgefalles zur Kenntnis gelangt, hat die auftraggebende Person

die Möglichkeit, dem Zivilstandsamt zu melden, wo sie ihn hinterlegt hat. Der Hinter-

legungsort sowie der Name der auftraggebenden Person werden dabei in eine zent-

rale Datenbank eingetragen (Art. 361 Abs. 3 ZGB).

(15) Für die Abänderung des Vorsorgeauftrags bedarf es ebenfalls der für die Errich-

tung vorgeschriebene Form (Art. 362 Abs. 1 ZGB). Gleiches gilt auch für deren Wi-

derruf, wobei dieser auch durch Vernichtung der Urkunde erfolgen kann (Art. 362

Abs. 2 ZGB). Wird ein neuer Vorsorgeauftrag errichtet, ohne einen früheren aus-

drücklich zu widerrufen, so tritt der neue Vorsorgeauftrag an die Stelle des früheren,

sofern er nicht zweifellos eine blosse Ergänzung darstellt (Art. 362 Abs. 3 ZGB).

3. Umsetzung des Vorsorgeauftrags

(16) Sobald die Erwachsenenschutzbehörde erfährt, dass eine Person urteilsunfähig

geworden ist, und ihr nicht bekannt ist, ob ein Vorsorgeauftrag vorliegt, erkundigt sie

sich beim Zivilstandsamt (Art. 363 Abs. 1 ZGB). Bei Vorliegen eines Vorsorgeauf-

trags prüft sie ihn insbesondere auf ihre Gültigkeit und ob die beauftragte Person

geeignet ist, ihr Amt zu erfüllen (Art. 363 Abs. 2 ZGB). Trifft dies zu, fragt die Er-

wachsenschutzbehörde die im Auftrag bezeichnete Person an, ob sie den Auftrag

annehme und weist sie auf die auftragsrechtlichen Pflichten gemäss Art. 394 ff OR

zur sorgfältigen Ausführung des Auftrags im Interessen des Beauftragten hin (Art.

363 Abs. 3 ZGB). Ist der Vorsorgeauftrag unklar oder regelt er bestimmte Neben-

punkte nicht, kann die Vormundschaftsbehörde von der beauftragten Person um

Auslegung oder Ergänzung der Nebenpunkte ersucht werden (Art. 364 ZGB).

(17) In Bezug auf die Ausführung des Vorsorgeauftrags gelten grundsätzlich die

Bestimmungen des Auftrags (Art. 365 Abs. 1 OR). Die Aufsichtsbehörde kann der

beauftragten Person Weisungen erteilen oder sie zur Rechenschaftsablage auffor-

dern, sofern dies die Interessen der auftraggebenden Person erfordern (Art. 368

ZGB). Enthält der Vorsorgeauftrag keine Anordnung über die Entschädigung, so legt

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die Erwachsenenschutzbehörde eine angemessene Entschädigung fest, wenn dies

mit Rücksicht auf den Umfang der Aufgaben als gerechtfertigt erscheint oder wenn

die Leistungen der beauftragten Person üblicherweise entgeltlich sind (Art. 366 Abs.

1 ZGB). Müssen Geschäfte besorgt werden, die vom Vorsorgeauftrag nicht erfasst

werden, ist die Erwachsenenschutzbehörde zu benachrichtigen (Art. 365 Abs. 2

ZGB). Betreffend Interessenkollisionen vgl. Art. 365 Abs. 3 ZGB. – Nicht zu unter-

schätzen (auch mit Blick auf die Haftung: unten Rz 59) sind hier und anderswo jene

Normen, die ein „Einschreiten der ESB“ (Marginale) verlangen; es sind dies die Art.

368, 373, 376, 381, 385, 419 ZGB (sowie in einem umgekehrten Sinne: Nicht-

Einschreiten, Art. 420 ZGB).

4. Beendigung des Vorsorgeauftrags

(18) Der Vorsorgeauftrag wird durch Wiedererlangung der Urteilsfähigkeit der auf-

traggebenden Person beendet (Art. 369 Abs. 1 ZGB). Unter Umständen müssen ge-

wisse Geschäfte aber noch während der wiedererlangten Urteilsfähigkeit der beauf-

tragen Person zu Ende geführt werden (vgl. 369 Abs. 2 ZGB). Durch schriftliche Mit-

teilung an die Erwachsenenschutzbehörde kann der Vorsorgeauftrag jederzeit mit

einer zweimonatigen Kündigungsfrist von der beauftragen Person niedergelegt wer-

den (Art. 367 Abs. 1 ZGB). Aus wichtigen Gründen ist eine Niederlegung sogar frist-

los möglich (Art. 367 Abs. 2 ZGB). Beendet wird der Vorsorgeauftrag ebenfalls, wenn

der beauftragten Person das Mandat von der Erwachsenenschutzbehörde entzogen

wird oder bei deren Tod, Handlungsunfähigkeit oder Konkurs (Art. 368 Abs. 2 ZGB;

Art. 405 Abs. 1 OR).

III. Patientenverfügung

1. Gegenstand der Patientenverfügung

(19) In der Patientenverfügung kann eine urteilsfähige Person festlegen, welchen

medizinischen Massnahmen sie im Fall ihrer Urteilsunfähigkeit zustimmt oder nicht

zustimmt (Art. 370 Abs. 1 ZGB; vgl. zur Urteilsunfähigkeit Art. 16 ZGB). Sie kann da-

rin auch eine natürliche Person bezeichnen, die mit den behandelnden Ärzten im Fall

ihrer Urteilsunfähigkeit medizinische Massnahmen bespricht und in ihrem Namen

über die Anordnung solcher Massnahmen entscheiden soll (Art. 370 Abs. 2 ZGB).

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2. Errichtung, Hinterlegung, Änderung und Widerruf der Patientenver-

fügung

(20) Die Patientenverfügung ist schriftlich zu errichten, zu datieren und zu unter-

zeichnen (Art. 371 Abs. 1 ZGB). Der Hinterlegungsort der Patientenverfügung kann

auf der Versichertenkarte eingetragen werden (Art. 371 Abs. 2 ZGB). Die Abände-

rung der Patientenverfügung ist ebenfalls möglich, wobei diese mit Datum und Signa-

tur zu versehen ist. Sie kann unter den gleichen Voraussetzungen wie der Vorsorge-

auftrag widerrufen werden (Art. 371 Abs. 3 ZGB).

3. Umsetzung der Patientenverfügung

(21) Ist ein zu behandelnder Patient urteilsunfähig muss der Arzt anhand der Versi-

cherungskarte abklären, ob eine Patientenverfügung vorliegt. Er muss dieser Verfü-

gung Folge leisten, ausser der Inhalt der Verfügung verstosse gegen gesetzliche

Vorschriften, etwa gegen das Verbot, aktive Sterbehilfe zu leisten, oder es bestünden

begründete Zweifel daran, dass die Verfügung nicht auf dem freien Willen des Pati-

enten beruhe oder dass sie aufgrund veränderter Umstände nicht mehr seinem mut-

masslichen Willen entspreche (Art. 372 Abs. 2 ZGB). Veränderte Umstände können

in Situationen vorliegen, in denen seit der Errichtung der Verfügung längere Zeit ver-

strichen ist und der Patient nach der Errichtung der Verfügung eine andere Meinung

geäussert hat, oder durch die medizinische Entwicklung Behandlungen möglich ge-

worden sind, die der Patient nicht gekannt hatte und die wesentlich geringere Ne-

benwirkungen zeigen (BBl 2006 7033). Der Arzt muss die Gründe für das Abweichen

von der Patientenverfügung im Patientendossier festhalten (Art. 372 Abs. 3 ZGB).

IV. Gesetzlich vorgesehene Massnahmen bei Urteilsunfähig-

keit

1. Gesetzliches Vertretungsrecht bei urteilsunfähigen verheirateten/in

eingetragener Partnerschaft lebenden Personen

1.1 Voraussetzungen und Umfang

(22) Wird ein Ehegatte oder ein eingetragener Partner, der im gemeinsamen Haus-

halt mit dem anderen Gatten bzw. Partner lebt, urteilsunfähig, steht dem anderen

Gatten/Partner von Gesetzes wegen (ohne dass es einer Ernennung durch irgendei-

ne Behörde bedarf) ein Vertretungsrecht zu (Art. 374 Abs. 1 ZGB). Dieses Vertre-

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tungsrecht umfasst alle Rechtshandlungen, die zur Deckung des Unterhaltsbedarfs

üblicherweise erforderlich sind, wie die ordentliche Verwaltung des Einkommens und

der übrigen Vermögenswerte sowie nötigenfalls das Öffnen und die Erledigung der

Post (Art. 374 Abs. 2 ZGB). Für Rechtshandlungen im Rahmen der ausserordentli-

chen Vermögensverwaltung muss die Zustimmung der Erwachsenenschutzbehörde

eingeholt werden (Art. 374 Abs. 3 ZGB). Die ausserordentliche Vermögensverwal-

tung umfasst Handlungen, die in Bezug auf das Vermögen des urteilsunfähigen Gat-

ten nicht mehr von geringer Bedeutung sind (vgl. die ähnlichen Bestimmungen Art.

227 Abs. 2 und 228 Abs. 1 ZGB; HAUSHEER/AEBI-MÜLLER, BSK ZGB I 227/228, N 8 ff;

BBl 2006 7035). Dies sind vor allem Rechtsgeschäfte im Zusammenhang mit der

Vermögensverwaltung, die von einem Beistand nur mit Zustimmung der Erwachse-

nenschutzbehörde vorgenommen werden dürfen (Art. 416 ZGB) sowie solche für die

es gemäss Auftragsrecht eine besondere Ermächtigung des Auftraggebers bedarf

(Art. 396 Abs. 3 OR). Massgebend sind die Umstände, in denen sich die (Ehe-) Part-

ner befinden.

1.2 Ausübung des Vertretungsrechts

(23) Grundsätzlich finden bei der Ausübung des Vertretungsrechts die Bestimmun-

gen des Obligationenrechts über den Auftrag Anwendung (Art. 375 ZGB). Bei der

Ausübung Vertretungsrechts ist zu beachten, dass die Ehegatten/eingetragenen

Partner einander aufgrund ihrer Ehe bzw. Partnerschaft Treue und Beistand schul-

den und ihre gegenseitigen Interessen wahren müssen (Art. 159 Abs. 3 ZGB). Ob

eine Entschädigung für die Ausübung des Vertretungsrechtes geschuldet ist, ist nach

Massgabe von Art. 164 f. ZGB zu entscheiden. Die Erwachsenenschutzbehörde

kann dem (Ehe-) Partner, der den anderen vertritt, Weisungen erteilen.

1.3 Ende des Vertretungsrechts

(24) Das Vertretungsrecht endet mit der Auflösung des gemeinsamen Haushaltes

oder mit der Ernennung eines Beistandes durch die Vormundschaftsbehörde und

dem gänzlichen oder teilweisen Entzug der Vertretungsmacht des (Ehe-) Partners

(Art. 376 Abs. 2 ZGB).

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2. Vertretungsberechtigung bei Entscheidungen über medizinische

Behandlungen

2.1 Im Allgemeinen

(25) Hat sich ein urteilsunfähiger Patient nicht in einer Patientenverfügung zu einer

bestimmten Behandlung geäussert, muss der behandelnde Arzt zur Vornahme einer

bestimmten medizinischen Massnahme die Zustimmung einer zur Vertretung des

Patienten berechtigten Person einholen (Art. 377 Abs. 1; 378 Abs. 1 ZGB; BBl 2006

7036). Dies selbstverständlich nur unter der Voraussetzung, dass dafür genügend

Zeit vorhanden ist. Anderenfalls hat der Arzt nach dem mutmasslichen Willen des

Patienten zu entscheiden (Art. 379 ZGB). Die zur Vertretung befugte Person ist, so-

weit sie nicht in einer Patientenverfügung oder einem Vorsorgeauftrag bezeichnet

wird, der Beistand, sofern dieser den Patienten bei der Entscheidfindung über medi-

zinische Massnahmen vertreten darf (Art. 378 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB). Besteht keine Bei-

standschaft steht dem Ehegatten bzw. eingetragenen Partner, sofern er mit dem Pa-

tienten im gemeinsamen Haushalt lebt und ihm persönlichen Beistand leistet, das

Vertretungsrecht zu (Art. 378 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB). Ist kein solcher Ehegatte oder ein-

getragener Partner vorhanden, sind Personen zur Vertretung berechtigt, die mit dem

Patienten einen gemeinsamen Haushalt führen und regelmässig persönlichen Bei-

stand leisten. Gibt es keine solche Personen, sind der Reihe nach Nachkommen,

Eltern und Geschwister vertretungsberechtigt, sofern diese dem urteilsunfähigen Pa-

tienten regelmässig persönlichen Beistand leisten, d.h. in engem Kontakt mit ihm

leben (vgl. Art. 378 Abs. 1 ZGB). Will keine der vorgenannten Personen die Ent-

scheidungen über die Anordnung von medizinischen Massnahmen treffen oder ist

keine vertretungsberechtigte Person vorhanden, muss die Erwachsenenschutzbe-

hörde durch einen speziell für diese Situation ernannten Beistand die Entscheide

fällen (Art. 381 Abs. 1 ZGB).

2.2 Ausübung des Vertretungsrechts

(26) Den Entscheid über die Durchführung einer medizinischen Behandlung am ur-

teilsunfähigen Patienten muss die vertretungsberechtigte Person nach dessen mut-

masslichen Willen treffen. Gibt es in einer Patientenverfügung Weisungen, sind diese

zu beachten (vgl. Art. 378 Abs. 3 ZGB). Besteht die Möglichkeit dazu, muss die ur-

teilsunfähige zu behandelnde Person in geeigneter Weise in die Entscheidfindung

einbezogen werden (Art. 377 Abs. 3 ZGB). Der Arzt hat die Beteiligten über alle Um-

stände, insbesondere Gründe, Zweck, Modalitäten, Kosten und Risiken des Eingrif-

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fes zu informieren (Art. 377 Abs. 2 ZGB). Er hat einen Behandlungsplan aufzustellen

(Art. 377 Abs. 1 und 4 ZGB).

3. Aufenthalt in Wohn- und Pflegeeinrichtungen

3.1 Betreuungsvertrag

(27) Besonders geschützt werden müssen urteilsunfähige Personen bei (freiwilligen)

Aufenthalten in Wohn- und Pflegeheimen von längerer Dauer (BBl 2006 7038). Aus

diesem Grund muss beim Eintritt in das Heim ein schriftlicher Betreuungsvertrag ab-

geschlossen werden, in dem die Leistungen, welche die Einrichtung erbringt und das

geschuldete Entgelt genau umschrieben werden (Art. 382 Abs. 1 ZGB). Nach Mög-

lichkeit ist dabei auf die Wünsche der betroffenen Person Rücksicht zu nehmen (Art.

382 Abs. 2 ZGB). Der Betreuungsvertrag wird auf Seiten der urteilsunfähigen Person

von derjenigen Person abgeschlossen, die auch für die Vertretung bei medizinischen

Massnahmen zuständig ist (Art. 382 Abs. 3 ZGB; vgl. zur Zuständigkeit betreffend

Vertretung bei medizinischen Massnahmen Art. 378 Abs. 1 ZGB).

3.2 Aufenthalt in Wohn- und Pflegeheimen

(28) Während des Aufenthalts in einer Wohn- und Pflegeeinrichtung ist die Persön-

lichkeit der urteilsunfähigen Person zu schützen und deren besonderen Bedürfnissen

Rechnung zu tragen. Kontakte zur Aussenwelt sind zu fördern (Art. 386 Abs. 1 ZGB;

BBl 2006 7041). Grundsätzlich darf die Wohn- und Pflegeeinrichtung die Bewe-

gungsfreiheit der urteilsunfähigen erwachsenen Person nicht einschränken. Ausge-

nommen sind Situationen, in denen eine ernsthafte Gefahr für das Leben oder die

körperliche Integrität der betroffenen Person oder Dritte abzuwenden oder eine

schwerwiegende Störung des Gemeinschaftslebens innerhalb der Wohn- und Pfle-

geeinrichtung zu beseitigen ist und diese Situation mit weniger einschneidenden

Massnahmen nicht abgewendet werden kann (Art. 383 Abs. 1 ZGB). Die betroffene

Person ist vorgängig anzuhören und ihr ist zu erklären, weshalb die Massnahme an-

geordnet werden muss, wie lange sie dauert und wer sich während dieser Zeit um sie

kümmert (Art. 383 Abs. 2 ZGB). Über die Einschränkung der Bewegungsfreiheit ist

Protokoll zu führen und es ist die zur Vertretung berechtigte Person zu informieren

(Art. 384 ZGB). Falls die betroffene Person mit der Einschränkung ihrer Bewegungs-

freiheit nicht einverstanden ist, kann sie jederzeit die Erwachsenenschutzbehörde

anrufen. Gleiches gilt auch für die ihr nahe stehenden Personen (Art. 385 Abs. 1

ZGB; vgl. zu diesen Personen Art. 378 ZGB). – Unerfindlich bleibt, weshalb Perso-

nen in Privatpflege vom Gesetz nicht in diesen Schutz einbezogen wurden.

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V. Behördliche Massnahmen

1. Die Beistandschaft

1.1 Voraussetzungen zur Errichtung einer Beistandschaft

(29) Eine Beistandschaft wird errichtet, wenn eine volljährige Person wegen einer

geistigen Behinderung, einer psychischen Störung oder eines ähnlichen in der Per-

son liegenden Schwächezustandes ihre Angelegenheiten nur teilweise oder gar nicht

besorgen kann (Art. 390 Abs. 1 Ziffer 1 ZGB). Unter geistiger Behinderung sind an-

geborene oder erworbene Intelligenzdefekte zu verstehen. Der Begriff der psychi-

schen Störungen umfasst nicht nur die anerkannten Krankheitsbilder der Psychiatrie,

sondern auch Demenz, insbesondere Altersdemenz. Suchtkrankheiten wie Alkohol-,

Drogen- und Medikamentensucht gelten auch als psychische Störung (BBl 2006

7043). Unter den Begriff „ähnliche Schwächezustände“ fallen Defizite wie extreme

Fälle von Unerfahrenheit oder Misswirtschaft sowie seltene Formen der körperlichen

Behinderung wie eine schwere Lähmung oder die Verbindung von Blindheit und

Taubheit (BBl 2006 7043). Bei der Anordnung der Beistandstaft ist stets zu prüfen,

ob die mit dieser Massnahme verfolgten Ziele nicht mit anderen, milderen und weni-

ger in das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Person eingreifenden Massnah-

men ebenso erreicht werden können. Bei der Anordnung der Beistandschaft ist das

gesamte Umfeld mit zu berücksichtigen, namentlich wie stark die unter Beistand-

schaft zu stellende Person auf Hilfe von Verwandten und (Ehe-)Partner zählen kann,

aber auch wie stark sie diese durch ihre Störungen und Defizite belastet (Art. 390

Abs. 2 ZGB).

(30) Eine Beistandschaft kann nicht nur bei Personen mit psychischen Störungen

angeordnet werden, sondern auch bei solchen, die vorübergehend urteilsunfähig

oder abwesend sind, und zwar in unaufschiebbaren Angelegenheiten, sofern die be-

troffene Person weder selber handeln kann, noch eine zur Stellvertretung berechtigte

Person bezeichnet hat (Art. 390 Ziff. 2 ZGB).

(31) Ist die Errichtung einer Beistandschaft trotz Hilfsbedürftigkeit der betroffenen

Person unverhältnismässig, kann die Erwachsenenschutzbehörde auf die Anordnung

einer Beistandschaft verzichten und stattdessen selbst die Zustimmung für ein be-

stimmtes Rechtsgeschäft erteilen oder einer Drittperson einen Auftrag für einzelne

Aufgaben geben sowie eine geeignete Person oder Stelle bezeichnen, welcher für

bestimmte Bereiche Einblick und Auskunft zu geben ist (Art. 392 ZGB). Es kann bei-

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spielsweise angeordnet werden, dass dieser Stelle Einsicht in Bankbelege gegeben

wird, damit nachgeprüft werden kann, ob die Rechnungen der Krankenkasse effektiv

bezahlt worden waren (BBl 2006 7045).

1.2 Ernennung des Beistandes

(32) Die Erwachsenenschutzbehörde ernennt den Beistand. Sie umschreibt dessen

Aufgaben entsprechend den Bedürfnissen der betroffenen Person (Art. 391 Abs. 1

ZGB). Die Massnahmen sollen – und das ist eine zentrale Stossrichtung des neuen

Erwachsenenschutzrechtes – „massgeschneidert“ sein (immerhin ist „Konfektion“

nicht per se Schimpfwort, sondern kann auch effizient und ziemlich passgenau ohne

lange Anprobe „funktionieren“ – im Alltag der Massnahme liegt es an Beistän-

din/Beistand, „Kleinreparaturen“ vorzunehmen oder gegenüber der ESB zu rapportie-

ren: Art. 411 bzw. 414 ZGB). Die Handlungsfähigkeit und die persönlichen Freiheiten

der betroffenen Person müssen so stark wie nötig, sollen aber nur so wenig wie mög-

lich einschränkt werden (BBl 2006 7015 f., 7044). Wie in der Medizin kann „minimal-

invasives“ Vorgehen (ein „arthroskopischer“ Prozess) deshalb besonders wirksam

sein, weil damit nur geringe Zusatzbelastungen verbunden sind. Bei der Wahl des

Beistandes hat die Erwachsenenschutzbehörde möglichst auf die Wünsche der be-

troffenen Person Rücksicht zu nehmen. Schlägt die betroffene Person selbst eine

Vertrauensperson als Beistand vor, entspricht die Erwachsenenschutzbehörde dem

Wunsch, wenn die vorgeschlagene Person zur Übernahme der Beistandschaft bereit

und dazu geeignet ist (Art. 401 Abs. 1 ZGB). Lehnt die zu verbeiständende Person

einen von der Erwachsenenschutzbehörde vorgeschlagenen Beistand ab, entspricht

die Erwachsenschutzbehörde diesem Wunsch soweit tunlich (Art. 401 Abs. 3 ZGB).

Auf die Wünsche der Angehörigen ist bei der Wahl des Beistandes ebenfalls Rück-

sicht zu nehmen (Art. 401 Abs. 2 ZGB).

1.3 Arten der Beistandschaften

1.3.1 Beigleitbeistandschaft

(33) Die Begleitbeistandschaft ist die „leichteste“ Form der Beistandschaft. Sie wird

nur mit Zustimmung der betroffenen Person errichtet und schränkt deren Handlungs-

fähigkeit nicht ein (BBl 2006 7045). Voraussetzung für die Begleitbeistandschaft ist

das Bedürfnis nach Unterstützung der betroffenen Person, weil sie bestimmte Ange-

legenheiten (Verwaltung ihres Vermögens, Briefe öffnen, Rechnungen bezahlen)

nicht erledigen kann (vgl. Art. 393 ZGB).

Familienrecht / P. Breitschmid § 12 Erwachsenenschutzrecht

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1.3.2 Vertretungsbeistandschaft

(34) Kann eine hilfsbedürftige Person bestimmte Angelegenheiten nicht erledigen

und muss sie deshalb vertreten werden, ist eine Vertretungsbeistandschaft zu errich-

ten (Art. 394 Abs. 1 ZGB). Dabei kann (aber muss nicht) die Erwachsenenschutzbe-

hörde die Handlungsfähigkeit der betroffenen Person einschränken (Art. 394 Abs. 2

ZG). Dies geschieht insbesondere, wenn die zu verbeiständende Person keinen Ko-

operationswillen zeigt (BSK-ESR HENKEL, Art. 394 N 29 ff.). Auch wenn die Hand-

lungsfähigkeit der betroffenen Person nicht beschränkt wurde, muss sie sich die

Handlungen des Beistandes trotzdem zurechnen lassen (Art. 394 Abs. 3 ZGB). Die

Handlungsfähigkeit kann je nach Bedarf umfassend oder nur punktuell eingeschränkt

werden. Die punktuelle Einschränkung der Handlungsfähigkeit kann in Bezug auf

bestimmte Rechtgeschäfte wie etwa die Vermietung einer zum Vermögen der hilfs-

bedürftigen Person gehörenden Liegenschaft erfolgen (BBl 2006 7046).

1.3.3 Vertretungsbeistandschaft mit Vermögensverwaltung

(35) Soll eine Vertretungsbeistandschaft für die Vermögensverwaltung errichtet wer-

den, bestimmt die Erwachsenenschutzbehörde, welche Vermögenswerte von einem

Beistand verwaltet werden sollen (Art. 395 Abs. 1 Satz 1 ZGB). Es kann sich dabei

um das gesamte Vermögen handeln, jedoch auch nur um einzelne Teile davon. Zu-

sätzlich kann auch das Einkommen unter die Verwaltung des Beistandes gestellt

werden (Art. 395 Abs. 1 Satz 2 ZGB). Trifft die Erwachsenenschutzbehörde keine

abweichenden Anordnungen, sind auch die Ersparnisse aus dem verwalteten Ein-

kommen oder die Erträge des verwalteten Vermögens von der Vermögensverwal-

tungsbeistandschaft erfasst (Art. 395 Abs. 2 ZGB). Muss die Verfügung über Grund-

stücke eingeschränkt werden, ist dies im Grundbuch vorzumerken (Art. 395 Abs. 4

ZGB). Soll der Eingriff in die Rechte der betroffenen Person weniger weit gehen,

kann ihr Anstelle des Entzugs ihrer Handlungsfähigkeit in Bezug auf die Verwaltung

ihres Vermögen oder Teilen davon auch nur der Zugriff zu einem bestimmten Ver-

mögen – etwa durch Konto oder Grundbuchsperre – entzogen werden (Art. 395 Abs.

3 ZGB; BBl 2006 7047).

(36) In der Praxis kommt es häufig vor, dass der Lohn oder eine Rente vom Beistand

mit befreiender Wirkung entgegengenommen wird und damit Schulden wie Kranken-

kasse, Mietzinse und Steuern bezahlt, mit anderen Worten Verpflichtungen des tägli-

chen Bedarfs gedeckt werden (vgl. auch Art. 408 Abs. 2 Ziffer 3 ZGB; BBl 2006

7047, 7053). Der Entzug der Handlungsfähigkeit muss Schuldnern der von der Er-

wachsenenschutzmassnahme betroffenen Person mitgeteilt werden. Schuldner, wel-

che von der Anordnung der Massnahme nicht wussten und auch nach den Umstän-

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den nichts wissen konnten, könnten anderenfalls mit befreiender Wirkung ihre Schul-

den durch Leistung an die verbeiständete Person tilgen (Art. 452 Abs. 2 ZGB).

1.3.4 Mitwirkungsbeistandschaft

(37) Eine Mitwirkungsbeistandschaft wird errichtet, wenn bestimmte Handlungen der

hilfsbedürftigen Person zu deren Schutz der Zustimmung des Beistandes bedürfen

(Art. 396 Abs. 1 ZGB). Voraussetzung ist, dass die hilfsbedürftige Person in Bezug

auf die zustimmungsbedürftigen Rechtsgeschäfte urteilsfähig ist. Der Beistand kann

die fehlende Urteilsfähigkeit nicht durch eigenes Handeln ersetzen (BBl 2006 7048).

1.3.5 Kombination von Begleit-, Vertretungs- und Mitwirkungsbeistandschaft

(38) Damit der zu verbeiständenden Person möglichst „massgeschneidert“ geholfen

werden kann, besteht die Möglichkeit, die verschiedenen Beistandsarten zu kombi-

nieren (Art 397 ZGB). Die Verwaltung eines bestimmten Vermögens (Grundstücks)

kann beispielsweise der Verfügungsgewalt der verbeiständeten Person entzogen

werden, während das übrige Vermögen ihrer Verwaltung nicht entzogen wird, ihr

aber trotzdem ein Begleitbeistand zur Seite gestellt wird (BBl 2006 7048).

1.3.6 Umfassende Beistandschaft

(39) Die umfassende Beistandschaft ist für Personen mit einer besonders ausgepräg-

ten Hilfsbedürftigkeit vorgesehen (Art. 398 Abs. 1 ZGB). Sie bezieht sich auf alle An-

gelegenheiten der Personen-, Vermögensvorsorge und des Rechtsverkehrs (Art. 398

Abs. 2 ZGB). Die betroffene Person ist durch die umfassende Verbeiständung nicht

mehr handlungsfähig (Art. 17 i.V.m. 398 Abs. 3 ZGB). Die Massnahme kann nur als

ultima ratio angeordnet werden und zwar bei dauernder Urteilsunfähigkeit etwa bei

schwer demenzkranken Personen. Sie steht zur Verfügung, wenn nicht verantwortet

werden kann, dass eine bestimmte Person Rechthandlungen vornimmt oder wenn

eine Person überhaupt nicht mehr handeln kann (BBl 2006 7048).

1.4. Führung der Beistandschaft

(40) Der Beistand hat mit der betroffenen Person bei der Übernahme der Beistand-

schaft persönlich Kontakt aufzunehmen und sich ein Bild über seine Aufgaben zu

machen (Art. 405 Abs. 1 ZGB). Umfasst die Beistandschaft auch die Vermögensver-

waltung, so nimmt er in Zusammenarbeit mit der Erwachsenenschutzbehörde unver-

züglich ein Inventar der zu verwaltenden Vermögenswerte auf (Art. 405 Abs. 2 ZGB).

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Rechtfertigen es die Umstände, insbesondere wenn die Vermögensverhältnisse un-

klar sind, kann die Erwachsenenschutzbehörde die Aufnahme eines öffentlichen In-

ventars i.S.v. Art. 580 ff. ZGB anordnen (Art. 405 Abs. 3 ZGB).

(41) Der Beistand darf die verbeiständete Person bei entsprechend errichteter Bei-

standschaft vertreten (Art. 394 ff. ZGB; vgl. betr. Vermögensverwaltung insb. Art. 408

ZGB). Bezüglich Rechtsgeschäfte, für welche die Zustimmung der Vormundschafts-

behörde erforderlich ist, vgl. Art. 416 ZGB, insb. dessen Abs. 2, der allgemein Ver-

träge mit Interessenkonflikten betrifft). Die Ausrichtung von Schenkungen, die Errich-

tung von Stiftungen und die Abgabe von Bürgschaftserklärungen für die verbeistän-

dete Person sind dem Beistand untersagt (Art. 412 Abs. 1 ZGB). Für den Abschluss

eines Vertrags, der höchstpersönliche Rechte des Verbeiständeten betrifft, ist, soweit

dies nach den Umständen möglich ist, dessen Zustimmung erforderlich (vgl. Art. 407

i.V.m. 19c ZGB).

(42) Der Beistand führt über seine Spesen und die Ausgaben und Einkünfte des Ver-

beiständeten Rechnung. Er erstattet der Erwachsenenschutzbehörde so oft wie nö-

tig, mindestens aber alle zwei Jahre Bericht und legt ihr die Rechnung vor (Art. 410 f.

ZGB). Sind aufgrund veränderter Verhältnisse andere als die angeordneten erwach-

senenschutzrechtlichen Massnahmen notwendig, informiert der Beistand die Er-

wachsenenschutzbehörde umgehend, damit diese (von Amtes wegen) Anpassungen

an der Ausgestaltung der Beistandschaft vornehmen kann (vgl. Art. 414 ZGB).

(43) Bei der Erfüllung seiner Aufgaben ist der Beistand zur gleichen Sorgfalt wie der

Beauftragte verpflichtet (Art. 413 Abs. 1 ZGB). Er hat die Interessen des Verbeistän-

deten zu wahren und so weit wie möglich auf seinen Willen und seine Meinung

Rücksicht zu nehmen (Art. 406 Abs. 1 OR). Er ist zur Verschwiegenheit angehalten

und darf nur dann Geheimnisse preisgeben, wenn daran ein überwiegendes Interes-

se besteht (Art. 413 Abs. 2 ZGB). Wenn es für die gehörige Erfüllung seiner Aufga-

ben als Beistand erforderlich ist, ist er sogar verpflichtet, Dritte über die Beistand-

schaft zu orientieren (Art. 413 Abs. 3 ZGB). Dies gilt namentlich, wenn er als Vertre-

ter der verbeiständeten Person Rechtsgeschäfte abschliesst und Gläubiger darüber

orientiert, dass sie mit befreiender Wirkung nur an ihn leisten können (vgl. Art. 452

Abs. 2 ZGB; BBl 2006 7055).

1.5 Ende der Beistandschaft

(44) Der Beistand wird grundsätzlich auf eine Amtsdauer von vier Jahren gewählt.

Nach dieser Dauer hat er Anspruch auf Entlassung aus seinem Amt (Art. 422 Abs. 1

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ZGB). Vorher kann er die Entlassung nur aus einem wichtigen Grund verlangen (Art.

422 Abs. 2 ZGB). Von der Erwachsenenschutzbehörde entlassen wird der Beistand,

wenn er für die Bewältigung seiner Aufgaben nicht mehr geeignet ist oder ein ande-

rer wichtiger Grund vorliegt, insbesondere wenn die Wahlvoraussetzungen des Bei-

stands gemäss Art. 400 Abs. 1 ZGB nicht mehr erfüllt sind (Art. 423 ZGB; BBl 2006

7060). Das Amt des Beistandes endet von Gesetztes wegen mit Ablauf einer von der

Erwachsenenschutzbehörde festgelegten Amtsdauer und, sofern keine Bestätigung

im Amt erfolgt, mit Ende des Arbeitsverhältnisses als Berufsbeistand. Es endet zu-

dem im Zeitpunkt, in dem der Beistand selbst verbeiständet oder urteilsunfähig wird,

stirbt oder die verbeiständete Person wieder vollkommen handlungsfähig wird (Art.

421 ZGB). Allenfalls ist eine teilweise „Rückstufung“ der Massnahme geboten.

(45) Der Beistand hat am Ende seiner Amtszeit einen Schlussbericht mit einer

Schlussrechnung zuhanden der Erwachsenenschutzbehörde zu erstellen (Art. 425

Abs. 1 ZGB). Der Bericht und die Rechnung werden von der Erwachsenenschutzbe-

hörde geprüft und genehmigt (Art. 425 Abs. 2 ZGB). Die Behörde hat dabei insbe-

sondere abzuklären, ob ein Verantwortlichkeitsfall vorliegt (BBl 2006, 7061). Sie stellt

den Bericht und die Rechnung der betroffenen Person oder deren Erben und gege-

benenfalls dem neuen Beistand zu (Art. 425 Abs. 3 ZGB). Sie teilt ihnen mit, ob sie

den Bericht und die Rechnung genehmigt hat oder nicht (Art. 425 Abs. 4 ZGB).

2. Die fürsorgerische Unterbringung

2.1 Voraussetzungen der fürsorgerischen Unterbringung

(46) Die fürsorgerische Unterbringung ist gegen den Willen einer schutzbedürftigen

Person in einer geeigneten Einrichtung anzuordnen, wenn sie an einer psychischen

Störung (worunter auch die Suchtkrankheit fällt) leidet oder schwer verwahrlost ist

(Art. 426 Abs. 1 ZGB). Beim Entscheid über diese Massnahme ist die Belastung und

der Schutz der Angehörigen und Dritter mit zu berücksichtigen (Art. 426 Abs. 2 ZGB).

Die Unterbringung ist insbesondere anzuordnen, wenn Betreuungspersonen (Anh-

gehörige, Heim, Spitex etc.) überfordert sind oder wenn die Gefahr besteht, dass die

geistig verwirrte Person eine schwere Straftat begeht (BBl 2006 7062 f.). Die fürsor-

gerische Unterbringung ist als freiheitsentziehende Erwachsenenschutzmassnahme

subsidiär. Sie kann nur angeordnet werden, wenn andere Massnahmen eine unge-

nügende Wirkung zeigen, insbesondere eine Betreuung am Aufenthaltsort der Per-

son – auch unter dem Gesichtspunkt der Kosten – nicht realistisch ist (s. BBl 2006

7062).

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2.2 Zurückbehaltung von freiwillig in eine Einrichtung für Personen mit psychischer

Störung eingetretene Erwachsene

(47) Eine freiwillig in eine Einrichtung für Personen mit psychischer Störung eingetre-

tene erwachsene Person kann unter der Voraussetzung, dass sie sich selbst an Leib

und Leben gefährdet oder das Leben oder die körperliche Integrität Dritter ernsthaft

gefährdet, von der ärztlichen Leitung während höchstens dreier Tage gegen ihren

Willen zurückbehalten werden (Art. 427 Abs. 1 ZGB). Innerhalb dieser Tage ist ein

Entscheid der Erwachsenenschutzbehörde über die fürsorgerische Unterbringung zu

erwirken. Andernfalls muss die Person entlassen werden (Art. 427 Abs. 2 ZGB).

2.3 Durchführung der fürsorgerischen Unterbringung

(48) Der behandelnde Arzt stellt nach Einweisung der Person mit einer psychischen

Störung in eine Anstalt einen schriftlichen Behandlungsplan auf. Er versucht die ein-

gewiesene Person nach Möglichkeit mit einzubeziehen. Gleiches gilt auch für die

Person des Vertrauens der eingewiesenen Person, falls sie eine solche beigezogen

hat (Art. 433 Abs. 1 ZGB; zur Person des Vertrauens vgl. Art. 432 ZGB). Die Person

des Vertrauens muss die Möglichkeit haben, die eingewiesene Person zu begleiten,

zu beraten und sich auch gegen ungerechtfertigte Anordnungen zur Wehr zu setzen

(vgl. BBl 2007 7067; Art. 439 Abs. 1 ZGB).

(49) Der eingewiesenen Person ist der Behandlungsplan unabhängig davon, ob sie

urteilsfähig ist oder nicht, zur Zustimmung zu unterbreiten (Art. 433 Abs. 3 ZGB).

Fehlt es an der Zustimmung, kann der leitende Arzt der Abteilung die Behandlung

der eingewiesenen Person dennoch anordnen, wenn sie bezüglich ihrer Behand-

lungsbedürftigkeit urteilsunfähig ist und ihr ohne Behandlung ein ernsthafter gesund-

heitlicher Schaden droht oder das Leben oder die körperliche Integrität Dritter ernst-

haft gefährdet ist und wenn keine angemessene mildere Massnahme zur Verfügung

steht (Art. 434 Abs. 1 ZGB). Die Anordnung wird der eingewiesenen Person und –

falls vorhanden – ihrer Vertrauensperson zusammen mit einer Rechtsmittelbelehrung

schriftlich mitgeteilt (Art. 434 Abs. 2 ZGB). In Notfallsituationen können die zum

Schutz der eingewiesenen Person oder Dritter unerlässlichen Massnahmen sofort

ergriffen werden, wobei nach Möglichkeit und sofern bekannt der Wille der eingewie-

senen Person mit zu berücksichtigen ist (Art. 435 ZGB).

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VI. Organisation und Verfahren

1. Verfahren

1.1 Im Allgemeinen

(50) Das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde und auch vor den Gerichten

wird im Wesentlichen im Bundesrecht geregelt (vgl. Art. 443 ff. ZGB [Verfahren vor

der Erwachsenenschutzbehörde]; Art. 450 ff. ZGB [Verfahren vor Gericht]). Wichtige

Verfahrensbestimmungen finden sich aber auch im kantonalen Recht (vgl. im Kanton

Zürich § 45 ff. EG KESR [Verfahren vor der Kindes- und Erwachsenenschutzbehör-

de]; § 63 ff. EG KESR [Beschwerdeverfahren]).

(51) Grundsätzlich können Betroffene, aber auch ihnen nahe stehende Personen, an

die Erwachsenenschutzbehörde gelangen, wenn sie mit einer Handlung oder Anord-

nung des Beiständs oder mit einer freiheitsentziehenden Massnahme ihrer Wohn-

und Pflegeeinrichtung nicht einverstanden sind (Art. 385 Abs. 1 ZGB [Rückbehaltung

in Wohn- und Pflegeeinrichtungen]; Art. 419 ZGB [Handlungen oder Unterlassungen

des Beistandes]). Für Rechtsmittel gegen Entscheide über die fürsorgerische Unter-

bringung ist hingegen das Gericht zuständig, auch wenn sie nicht von der Erwachse-

nenschutzbehörde getroffen werden (vgl. Art. 427 Abs. 3 ZGB, 439 Abs. 1 Ziff. 2

ZGB [Zurückbehaltung freiwillig eingetretener Personen mit psychischer Störung in

einer entsprechenden Einrichtung]; 430 Abs. 5 ZGB, 439 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB [Ärztliche

Unterbringung in einer Einrichtung für Personen mit psychischer Störung]; Art. 339

Abs. 1 Ziff. 3-4 ZGB [Weitere Entscheide im Rahmen der fürsorgerischen Unterbrin-

gung]). Entscheide der Erwachsenenschutzbehörde können an das Gericht weiter

gezogen werden (Art. 450 Abs. 1 ZGB).

1.2 Verfahren vor der Erwachsenschutzbehörde

(52) Jedermann, der von einer hilfsbedürftigen Person erfährt, kann, soweit er dabei

kein Berufsgeheimnis verletzt, bei der Erwachsenenschutzbehörde Meldung erstat-

ten (Art. 443 Abs. 1 ZGB). Zur Meldung verpflichtet sind Personen in amtlicher Tätig-

keit (Art. 443 Abs. 2 ZGB). Der Begriff der amtlichen Tätigkeit ist weit auszulegen.

Darunter fällt die Tätigkeit jeder Person, die öffentlichrechtliche Befugnisse ausübt,

auch wenn die Person nicht in einem Beamten- und Anstellungsverhältnis zum Ge-

meinwesen steht (BBl 2006 7076).

Familienrecht / P. Breitschmid § 12 Erwachsenenschutzrecht

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(53) Die Erwachsenenschutzbehörde erforscht den Sachverhalt von Amtes wegen,

zieht Erkundigungen ein und erhebt die notwendigen Beweise (Art. 446 ZGB). Kann

ein endgültiger Entscheid über die Anordnung von Massnahmen nicht abgewartet

werden, besteht die Möglichkeit, vorsorgliche Massnahmen anzuordnen; bei beson-

derer Dringlichkeit auch ohne Anhörung der betroffenen Personen (Art. 445 Abs. 1

und 2 ZGB). Um einen endgültigen Entscheid zu fällen, hat die Erwachsenenschutz-

behörde die betroffene Person aber anzuhören sofern dies nicht unverhältnismässig

wäre (Art. 447 ZGB). Unverhältnismässigkeit liegt in Fällen vor, in denen lediglich

unbedeutende ergänzende Anordnungen getroffen werden müssen (BBl 2006 7079).

Eventuell ist ein Gutachten einzuholen (Art. 449 ZGB) oder eine Person zu bestellen,

welche die schutzbedürftige Person im Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehör-

de oder, falls es zu einem gerichtlichen Verfahren kommt, vor Gericht vertritt (Art.

449a ZGB).

1.3 Vor Gericht

(54) Der Entscheid der Erwachsenenschutzbehörde kann mit Beschwerde an ein

Gericht angefochten werden (Art. 450 ZGB). Die Frist beträgt 30 Tage bzw. auf dem

Gebiet der fürsorgerischen Unterbringung 10 Tage seit Eröffnung des Entscheids

(Art. 439 Abs. 2; Art. 450b ZGB). Bei Massnahmen zur Einschränkung der Bewe-

gungsfreiheit kann das Gericht jederzeit angerufen werden (Art. 439 Abs. 2 ZGB).

Das Gericht prüft den Entscheid auf Rechtsverletzungen, unrichtige oder unvollstän-

dige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und auf Unangemessenheit

(Art. 450a Abs. 2 ZGB).

2. Zuständigkeit

(55) Grundsätzlich ist die Erwachsenenschutzbehörde am Wohnsitz der betroffenen

Person für eine Erwachsenenschutzmassnahme zuständig (Art. 442 Abs. 1 ZGB; vgl.

aber zur Zuständigkeit von besonderen Ärzten und Wohn- und Pflegeeinrichtungen

Rz 7, Rz 28). In besonders dringenden Fällen kann auch die Behörde an deren Auf-

enthaltsort handeln (Art. 442 Abs. 2 ZGB).

VII. Umfang und Folgen der Einschränkung der Handlungsfä-

higkeit

(56) Wie bereits zu den einzelnen Beistandsarten erwähnt, kann die Handlungsfähig-

keit der verbeiständeten Person in Bezug auf die Arten der Rechtsgeschäfte, die sie

abschliessen darf, unterschiedlich stark eingeschränkt werden. Dies hat zur Folge,

Familienrecht / P. Breitschmid § 12 Erwachsenenschutzrecht

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dass sie sich je nach Ausgestaltung der Beistandschaft in unterschiedlichem Mass

von ihrem Beistand vertreten lassen, bzw. dass der Beistand bei der Mitwirkungsbei-

standschaft bei einem grösseren oder kleineren Kreis von Rechtsgeschäften (als

Kollektivzeichnungsberechtigter) mitwirken muss (Art. 19 Abs. 1 ZGB). Rechtsge-

schäfte, die nur Vorteile bringen sowie Rechtsgeschäfte des täglichen Bedarfs (Ein-

kauf von Nahrungsmittel, Kleider und Haushaltsgegenstände) können Handlungsun-

fähige ohne Mitwirkung des Beistandes abschliessen (Art. 19 Abs. 2 ZGB). Die dafür

notwendigen Mittel erhalten sie vom Beistand aus ihrem Vermögen zur freien Verfü-

gung (Art. 409 ZGB). Rechte, die den Handlungsunfähigen um ihrer Persönlichkeits-

willen zustehen, üben sie, sofern das Gesetz nichts anderes vorsieht und sie urteils-

fähig sind, ebenfalls selbständig aus (Abs. 19c Abs. 1 ZGB; Bsp. Eingehung einer

Ehe und Verlobung).

(57) Die Frage, welche Wirkungen das rechtsgeschäftliche Handeln einer verbei-

ständeten und handlungsunfähigen Person in Bezug auf ein bestimmtes Rechtsge-

schäft hat, wird in Art. 19a und 19b ZGB umschrieben: Genehmigt der Beistand das

Rechtsgeschäft nicht innert angemessener Frist, wird die andere Partei von ihrer

Verpflichtung frei (Art. 19a Abs. 2; zur Genehmigung vgl. Art. 19a Abs. 1 ZGB). Be-

reits vollzogene Leistungen können zurückgefordert werden (Art. 19b Abs. 1 ZGB).

Hat die handlungsunfähige Person den anderen Teil zur irrtümlichen Annahme ihrer

Handlungsfähigkeit verleitet, so ist sie ihm für den dadurch entstandenen Schaden

(negatives Vertragsinteresse) verantwortlich, sofern der Vertrag nicht genehmigt wird

(Art. 19c Abs. 2 OR).

VIII. Verantwortlichkeit

(58) Gemäss Art. 454 Abs. 1 und 2 ZGB hat Anspruch auf Schadenersatz und sofern

die Schwere der Verletzung es rechtfertigt auch auf Genugtuung, wer im Rahmen der

behördlichen Massnahmen des Erwachsenenschutzes durch widerrechtliches Han-

deln oder Unterlassen verletzt wird. Behördliche Massnahmen des Erwachsenen-

schutzes sind Beistandschaften (Art. 390 ff. ZGB) und die fürsorgerische Unterbrin-

gung (Art. 426 ff. ZGB), einschliesslich der im Zusammenhang damit durchgeführten

Behandlungen (Art. 433 ZGB; BBl 2006 7092). Träger der Verantwortung ist direkt

und ausschliesslich der Kanton (Art. 454 Abs. 3 ZGB). Zur Verjährung vgl. Art. 455

ZGB.

(59) Hat eine vorsorgebeauftragte Person (Art. 360 ZGB) einer urteilsunfähigen Per-

son einen Schaden verursacht, bestimmt sich nach Auftragsrecht bzw. nach dem

Recht der unerlaubten Handlungen, ob der Schaden zu ersetzen ist. Träger der Ver-

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antwortung ist die beauftragte Person (Art. 375 ZGB; Art. 456 ZGB). Ähnlich steht

auch die Wohn- und Pflegeeinrichtung (Art. 382 ZGB) zur urteilsunfähigen Person in

einem Auftragsverhältnis (Art. 394 OR). Danach richtet sich auch deren Haftung.

Vorbehalten sind allerdings „Aufsichtsversäumnisse“ der Behörden.