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1 Dieser Text ist veröffentlicht in: Henkel, Anna (2010): Verbreitungsmedien, Organisation und die nächste Gesell- schaft S. 83-112 in Steffen Roth/Lukas Scheiber/Ralf Wetzel (Hrsg.), Organisation multimedial. Zum polyphonen Programm der nächsten Gesellschaft. Heidelberg: Carl-Auer. Verbreitungmedien, Organisation und die nächste Gesellschaft Anna Henkel, Universität Bielefeld ([email protected]) 1. Die These der nächsten Gesellschaft .......................................................................................................... 2 2. Theoriekontext: Unwahrscheinliche Kommunikation ............................................................................. 4 2. 1 Zeit und Struktur .................................................................................................................................. 5 2. 2 Bedingungen der Komplexitätssteigerung von Kommunikation .......................................................... 6 3. Komplexität und Gesellschaft..................................................................................................................... 7 3. 1 Stratifikation ........................................................................................................................................ 9 3. 2 Funktionale Differenzierung .............................................................................................................. 11 3. 3 Nächste Gesellschaft ? ....................................................................................................................... 13 4. Konsequenzen als ungelöste Probleme am Beispiel formale Organisation .......................................... 14 4. 1 Formale Organisation........................................................................................................................ 15 4. 2 Erweiterte Berechenbarkeit von Entscheidungsprozessen ................................................................. 16 4. 3 Konsequenzen als ungelöste Probleme .............................................................................................. 18 5. Ausblick ...................................................................................................................................................... 21 6. Literatur ..................................................................................................................................................... 24 Technische Neuerungen führen aus soziologischer Perspektive die Frage nach ihren gesamt- gesellschaftlichen Implikationen mit sich. Dies gilt, wählt man die Perspektive einer auf dem Kommunikationsbegriff aufbauenden Gesellschaftstheorie, insbesondere für solche Innovati- onen, die als kommunikatives Verbreitungsmedium fungieren: historisch stehen die Verände- rungen in der Primärstruktur der Gesellschaft und damit der Übergang von der segmentär dif- ferenzierten über die stratifizierte zur funktional differenzierten Gesellschaft jeweils in Ver- bindung mit der Entstehung eines neuen Verbreitungsmediums – erst der Schrift, dann dem Buchdruck (Luhmann 1999a). Davon ausgehend liegt es nahe, aus dem Aufkommen eines neuen Verbreitungsmediums auf einen Wandel der primären gesellschaftlichen Differenzie- rungsform zu schließen – und der Computer ist eine solche technische Innovation mit verbrei- tungsmedialem Charakter. Bereits Niklas Luhmann stellt deshalb Überlegungen hinsichtlich der verschiedenen Auswirkungen des Computers auf die Kommunikation an (Luhmann 1999a, S. 302-311; 405-412; Luhmann 2000, S. 361ff). Im Anschluss, sowie die Beschrei-

Verbreitungsmedien, Organisation und die nächste Gesellschaft

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Dieser Text ist veröffentlicht in: Henkel, Anna (2010): Verbreitungsmedien, Organisation und die nächste Gesell-schaft S. 83-112 in Steffen Roth/Lukas Scheiber/Ralf Wetzel (Hrsg.), Organisation multimedial. Zum polyphonen Programm der nächsten Gesellschaft. Heidelberg: Carl-Auer. Verbreitungmedien, Organisation und die nächste Gesellschaft Anna Henkel, Universität Bielefeld ([email protected])

1. Die These der nächsten Gesellschaft .......................................................................................................... 2

2. Theoriekontext: Unwahrscheinliche Kommunikation ............................................................................. 4

2. 1 Zeit und Struktur .................................................................................................................................. 5

2. 2 Bedingungen der Komplexitätssteigerung von Kommunikation .......................................................... 6

3. Komplexität und Gesellschaft..................................................................................................................... 7

3. 1 Stratifikation ........................................................................................................................................ 9

3. 2 Funktionale Differenzierung .............................................................................................................. 11

3. 3 Nächste Gesellschaft ? ....................................................................................................................... 13

4. Konsequenzen als ungelöste Probleme am Beispiel formale Organisation .......................................... 14

4. 1 Formale Organisation........................................................................................................................ 15

4. 2 Erweiterte Berechenbarkeit von Entscheidungsprozessen................................................................. 16

4. 3 Konsequenzen als ungelöste Probleme .............................................................................................. 18

5. Ausblick...................................................................................................................................................... 21

6. Literatur ..................................................................................................................................................... 24

Technische Neuerungen führen aus soziologischer Perspektive die Frage nach ihren gesamt-

gesellschaftlichen Implikationen mit sich. Dies gilt, wählt man die Perspektive einer auf dem

Kommunikationsbegriff aufbauenden Gesellschaftstheorie, insbesondere für solche Innovati-

onen, die als kommunikatives Verbreitungsmedium fungieren: historisch stehen die Verände-

rungen in der Primärstruktur der Gesellschaft und damit der Übergang von der segmentär dif-

ferenzierten über die stratifizierte zur funktional differenzierten Gesellschaft jeweils in Ver-

bindung mit der Entstehung eines neuen Verbreitungsmediums – erst der Schrift, dann dem

Buchdruck (Luhmann 1999a). Davon ausgehend liegt es nahe, aus dem Aufkommen eines

neuen Verbreitungsmediums auf einen Wandel der primären gesellschaftlichen Differenzie-

rungsform zu schließen – und der Computer ist eine solche technische Innovation mit verbrei-

tungsmedialem Charakter. Bereits Niklas Luhmann stellt deshalb Überlegungen hinsichtlich

der verschiedenen Auswirkungen des Computers auf die Kommunikation an (Luhmann

1999a, S. 302-311; 405-412; Luhmann 2000, S. 361ff). Im Anschluss, sowie die Beschrei-

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bung der Computer-Gesellschaft als „next society“ von Peter Drucker aufgreifend, vermutet

Dirk Baecker, dass wir uns auf dem Weg zu oder bereits in einer „nächsten“ Gesellschaft be-

finden (Baecker 2007).

Die folgenden Ausführungen diskutieren diese These einer nächsten Gesellschaft. Nach den

Annahmen der Luhmannschen Gesellschaftstheorie kommt es zu einer Veränderung der ge-

sellschaftlichen Primärstruktur infolge eines Komplexitätssprungs in der möglichen Kommu-

nikation. Ein solcher Komplexitätssprung setzt voraus, dass alle drei Grundprobleme der

Kommunikation – Verstehen, Verbreitung, Erfolg – auf einem neuen Komplexitätsniveau

bearbeitet werden. Erst unter dieser Voraussetzung erfolgt ein so grundlegender gesellschaft-

licher Strukturwandel, dass von einer neuen Primärstruktur die Rede sein kann (Luhmann

2005e), was wiederum Voraussetzung für einen Wandel der gesellschaftlichen Kulturform ist.

Unbestritten ist, dass der Computer Gesellschaft verändert. Doch diese Veränderungen führen

mangels sozialstruktureller Innovationen eher in ungelöste Probleme der funktional differen-

zierten als in eine nächste Gesellschaft.

Im Folgenden wird einleitend die These der nächsten Gesellschaft rekapituliert (Abschnitt 2

„Die These der nächsten Gesellschaft“). Daran schließt deren Diskussion an. Im ersten Schritt

wird der theoretische Kontext dargestellt, in den die Aspekte des Verbreitungsmediums und

eines Wandels der gesellschaftlichen Primärstruktur eingebettet sind (Abschnitt 3 „Theorie-

kontext: Unwahrscheinliche Kommunikation“). Im zweiten Schritt werden diese Grundlagen

auf die Frage nach dem Zusammenhang von Komplexität und Gesellschaft angewendet: Stra-

tifizierte, funktionale und „nächste“ Gesellschaft werden auf den Typus des Verbreitungsme-

diums, der Erfolgssicherung, der Sozialstruktur und den Komplexitätsgrenzen hin verglei-

chen. Es ergibt sich, dass das Potential zu einer nächsten Gesellschaft bislang nicht aktuali-

siert ist (Abschnitt 4 „Komplexität und Gesellschaft“). Der These eines primären gesellschaft-

lichen Strukturwandels hin zur nächsten Gesellschaft wird die Vermutung entgegengestellt,

dass die funktional differenzierte Gesellschaft an den Grenzen ihrer Komplexitätsverarbei-

tungsfähigkeit angelangt ist. Dies wird am Aspekt der formalen Organisation näher gezeigt

(Abschnitt 5 „Konsequenzen als ungelöste Probleme am Beispiel formale Organisation“). Ein

Ausblick fasst diese Überlegungen zusammen und zieht Schlussfolgerungen hinsichtlich der

Systemreferenz Gesellschaft (Abschnitt 5 „Ausblick“). Die Ausführungen werden kursorisch

am Beispiel der Verwendung von Pharmaka exemplifiziert (Henkel 2009b).

1. Die These der nächsten Gesellschaft

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Die These der nächsten Gesellschaft basiert auf der Annahme eines historischen Zusammen-

hangs der Entstehung neuer Verbreitungsmedien mit dem Wandel der primären gesellschaftli-

chen Differenzierungsform. Der Computer sei für die Gesellschaft ebenso folgenreich wie

zuvor die Einführung der Verbreitungsmedien Sprache, Schrift und Buchdruck: Jedes neue

Verbreitungsmedium konfrontiere die Gesellschaft mit neuen und überschüssigen Möglich-

keiten der Kommunikation, für deren selektive Handhabung die bisherige Struktur und Kultur

der Gesellschaft nicht ausreiche. Jede Einführung eines neuen Verbreitungsmediums müsse

daher zur Umstellung dieser Struktur und dieser Kultur führen, solle sie auf breiter Front

überhaupt möglich sein. Andernfalls werde das neue Medium auf eine periphere Verwen-

dungsform beschränkt (Baecker 2007, S. 7).

Von diesem Zusammenhang ausgehend wird vermutet, dass eine Gesellschaft, die auf die

Einführung des Computers zu reagieren beginnt, sich strukturell grundsätzlich verändert. Die

dann entstehende „nächste Gesellschaft“ müsse sich in allen ihren Formen der Verarbeitung

von Sinn von der modernen Gesellschaft ohne Computer unterscheiden, was sich in ihren

Institutionen, Theorien, Ideologien oder Problemen gleichermaßen manifestiere (Baecker

2007, S. 8). Derartige Veränderungen gesellschaftlicher Sinnverarbeitung weisen eine spezifi-

sche strukturelle Problemformel auf, ebenso wie bereits die gesellschaftlichen Strukturprimate

der segmentären Differenzierung, der Differenzierung nach Zentrum/Peripherie, der stratifika-

torischen Differenzierung und schließlich der funktionalen Differenzierung eine je spezifische

Problemformel aufwiesen. Anhand historisch-vergleichender Studien zu ganz unterschiedli-

chen empirischen Themen wie Architektur, Wissenschaft, Universität, Organisation oder Fa-

milie wird vermutet, dass sich die nächste Gesellschaft durch eine ökologische Ordnung aus-

zeichnet: Die nächste Gesellschaft sei zu verstehen als eine Population von Kontrollprojekten,

bestehend aus ökologisch geordneten heterogenen Einheiten (Baecker 2007, S. 9f).

Die Vermutung einer durch den Computer ausgelösten Veränderung der Gesellschaft hin zur

nächsten, ökologisch-heterarchischen Primärstruktur sieht sich im Kontext der Luhmannschen

Gesellschaftstheorie und bezieht sich explizit auf eine These, die in der Gesellschaft der Ge-

sellschaft am Ende des Kapitels über Kommunikationsmedien aufgestellt wird. Hier heißt es,

dass die Gesellschaft die Einführung von Schrift, Buchdruck und Computer nur überlebt habe,

weil es ihr gelungen sei, so genannte Kulturformen des selektiven Umgangs mit dem durch

die neuen Medien produzierten Überschusssinn zu finden.1 In den Studien zur nächsten Ge-

sellschaft bezieht sich Baecker ausschließlich auf dieses Konzept der Kulturform sowie das

jeweils neu hinzugekommende Verbreitungsmedium: Weil Luhmann zwar seine These von 1 Baecker 2007, S. 10, zitiert: Luhmann 1999a, S. 405ff; der Begriff der Kulturform sowie die von Baecker im folgenden aufgegriffenen Gedanken finden sich dort insbesondere S. 410-412.

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der Kulturform einer Gesellschaft auf einen von allen Kommunikationsmedien dieser Gesell-

schaft (Sprache, Schrift, Buchdruck und Fernsehen, Geld, Macht, Wahrheit und Liebe) produ-

zierten Überschusssinn beziehe, dann jedoch diese These nur an Verbreitungsmedien (im Un-

terschied zu Erfolgsmedien) vorführe, könne diese Vorgehensweise als beispielhaft angesehen

und für die Studien zur nächsten Gesellschaft entsprechend vorgegangen werden (Baecker

2007, S. 11).

2. Theoriekontext: Unwahrscheinliche Kommunikation

Aufgrund der voranstehenden Darstellung der These von der nächsten Gesellschaft kann zu-

gleich der Ausgangspunkt der im Folgenden zu führenden Diskussion spezifiziert werden:

Widersprochen wird nicht der These, dass der Computer als Verbreitungsmedium funktional

äquivalent zu Schrift und Buchdruck das Erreichen von Empfängern verändert. Widerspro-

chen wird ebenfalls nicht der Vermutung, dass sich aufgrund dessen Kommunikation – was

impliziert: Gesellschaft – verändert. Auch die von Dirk Baecker als spekulativ bezeichnete

Vermutung bleibt unwidersprochen, dass sich jede gesellschaftliche Differenzierungsform

durch eine je spezifische Kulturform charakterisieren lasse. Die Argumentation setzt vielmehr

an genau dem Punkt an, an dem die These der Kulturform auf die Untersuchung von Verbrei-

tungsmedien beschränkt wird. Die Unterscheidung gesellschaftlicher Kulturformen erfolgt bei

Luhmann am Ende einer ausführlichen Darstellung von Kommunikationsmedien, also keines-

wegs allein Verbreitungsmedien. Auf diese Stellung im Kontext von Kommunikationsmedien

weist die Einleitung zu den Studien zur nächsten Gesellschaft hin – um dann aus der rhetori-

schen Vorgehensweise am Kapitelende auf eine paradigmatische Vorgehensweise zu schlie-

ßen. Dem kann entgegengehalten werden, dass Epochen gesellschaftlicher Strukturkatastro-

phen sich über die Benennung des charakteristischen Verbreitungsmediums prägnant unter-

scheiden lassen, was für Luhmann Anlass zu der sprachlichen Engführung gewesen sein mag.

Doch nicht aus dem Auftreten, sondern aus dem Durchsetzen eines neuen Verbreitungsmedi-

ums kann auf den Wandel des gesellschaftlichen Strukturprimats einschließlich der Kultur-

form geschlossen werden.

Zumindest neben, wenn nicht vor der Frage nach der Kulturform der nächsten Gesellschaft

muss deshalb untersucht werden, inwieweit tatsächlich ein gesellschaftlicher Strukturwandel

katastrophalen, also grundlegenden Ausmaßes im Zusammenhang mit dem Computer beob-

achtbar ist. Diese Untersuchung setzt verschiedene theoretische Annahmen voraus, die in die-

sem Abschnitt unter dem Stichwort „Unwahrscheinliche Kommunikation“ zusammengefasst

werden: Das Stattfinden bestimmter Kommunikation ist unwahrscheinlich, weil erstens aus

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der zeitlichen Theoriegrundierung der Systemtheorie die Enttäuschungsanfälligkeit jeder

Struktur folgt und weil zweitens jede Kommunikation mit den drei Problemen von Informati-

on, Mitteilung und Verstehen konfrontiert ist.

2. 1 Zeit und Struktur

Die Systemtheorie nimmt Kommunikation als Grundelement des Sozialen an. Dies impliziert

eine genuin zeitliche Perspektive: Gesellschaft liegt der Prozess des Aneinanderanschließens

kommunikativer Operationen basal zugrunde. Indem sich Kommunikation aus ihren eigenen

Elementen heraus reproduziert und dafür Zeit braucht, ist sie ein selbstreferentieller Prozess

(Luhmann 1984, S. 192ff). Sinnhafte Kommunikation ist die spezifische Operation sozialer

Systeme.2 Die Gesamtheit der Kommunikation ist Gesellschaft.

Kommunikation als operatives Element des Sozialen (ebenso wie Handlung als Modus der

gesellschaftlichen Selbstbeobachtung) verschwindet, sobald die jeweils nächste Operation

anschließt (Luhmann 1984, S. 28, 77). Beobachtungen und Schlussfolgerungen lassen sich

jedoch nur auf etwas richten, das eine gewisse Zeitfestigkeit aufweist. Das notwendige Ge-

genstück zur zeitlichen Operation ist deshalb die zeitfeste Struktur. Ganz allgemein ist der

Strukturbegriff definiert als Muster erwartbarer Selektionen (Luhmann 1984, S. 66, 74f).

Strukturen entstehen, wenn nicht mehr alles mit allem verbunden werden kann und ausgehend

von einer zufälligen Verknüpfung durch Wiederholung eine Struktur entsteht (Luhmann 1984,

S. 383f). Solche Strukturen gelten für „ewig“ (Luhmann 1984, S. 385), wobei gerade diese

Zeitfestigkeit sozialen Wandel ermöglicht: Während einzelne Elemente irreversibel sind, weil

sie sofort wieder verschwinden, können erwartbare Strukturen Gegenstand von Änderungs-

bemähungen werden (Luhmann 1984, S. 188).

Die Möglichkeit des Strukturwandels impliziert zugleich ein permanentes Stabilisierungser-

fordernis: Im Unterschied zum Strukturalismus sind Strukturen in der Luhmannschen System-

theorie genuin enttäuschungsanfällig, weil sie von den kommunikativen Ereignissen reprodu-

ziert werden müssen. Mit jedem neuen Ereignis ist dadurch die Möglichkeit des Andersan-

schließens verbunden (Luhmann 1984, S. 385, 400), was jede konkrete Struktur stabilisie-

rungsbedürftig macht.

Der so zunächst formal bestimmte Strukturbegriff findet je nach Untersuchungsgegenstand

und theoretischem Forschungsinteresse unterschiedliche Ausformulierungen. Zu unterschei-

2 Sinn wird bereits in den 70er Jahren als Grundbegriff der Soziologie vorgeschlagen und trotz der Veränderun-gen innerhalb der theoretischen Konzeption der Systemtheorie auch bis zum Spätwerk beibehalten, vgl. Luhmann 1971; Luhmann 1984, S. 92-147; Luhmann 1999a, S. 44-60 Zur Umstellung der Systemtheorie von Handlung auf Kommunikation vgl. Luhmann 1999a, S. 33ff; Luhmann 2005b, S. 39f

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den ist insbesondere zwischen semantischen Strukturen und Sozialstrukturen. Semantische

Strukturen – oder kurz: Semantik – sind all jene Unterscheidungen, die für die Selektion von

Sinninhalten verfügbar gehalten werden.3 Sozialstrukturen beziehen sich auf die Ordnung von

Erwartungen. Erwartungsstrukturen stellen eine zeitfeste Verbindung bestimmter Handlungs-

typen her und fungieren so als soziale Strukturen (Luhmann 1984, S. 139). Erwartungsstruk-

turen ermöglichen, zeitübergreifende Orientierungen sowohl wechselseitig zu unterstellen, als

auch gegebenenfalls zu verändern.4 Darüber hinaus sind separat die sogenannten Struktur-

Identitäten zu differenzieren.5 Indem eine spezifische Verbindung von Erwartungen an Identi-

täten festgemacht werden kann, gewinnen die Erwartungen Zeitfestigkeit. Als Struktur-

Identitäten unterscheidet Luhmann Dinge, Personen, Rollen, Programme und Werte

(Luhmann 1984, S. 426-433).

2. 2 Bedingungen der Komplexitätssteigerung von Kommunikation

Eine Kommunikation kommt zustande, wenn drei Selektionen aufeinander bezogen stattfin-

den: Die Selektion einer Information (Information), die Selektion, diese Information mitzutei-

len (Mitteilung) und schließlich die Selektion, an diese mitgeteilte Information kongruent –

also bezogen auf diese Information sinnvoll – anzuschließen (Verstehen) (Luhmann 1999a, S.

290f, 316f; Luhmann 2005a, S. 212f; Luhmann 2005e, S. 29). Weder die Verständlichkeit der

Information, noch das Erreichen eines Empfängers und nicht die Anschlussfähigkeit einer

mitgeteilten Information sind ohne Weiteres gegeben. Zugleich gilt, dass wenn mit Verständ-

nis, Erreichen von Empfängern oder Erfolg nicht gerechnet werden kann, die entsprechende

kommunikative Offerte in der Regel unterbleibt.6 Entsprechend ist Kommunikation mit drei

Unwahrscheinlichkeitsschwellen behaftet (Luhmann 1999a, Kap 2: Kommunikationsmedien,

v.a. 290f, 316f; Luhmann 2005a, S. 29; Luhmann 2005e).

An dieser Stelle setzt die Entwicklung der systemtheoretischen Medientheorie an. Wenn

Kommunikation insgesamt und erst recht bestimmte Kommunikation unwahrscheinlich ist,

3 Semantik ist verstanden als kontingent typisierter Sinn, d.h. als generalisierter und damit relativ situationsunab-hängig verfügbarer Sinn, der immer eine Selektion und prinzipiell auch anders möglich ist, vgl. Luhmann 1980, S. 17ff 4 Luhmann 1984, S. 414 „Erwartung“ ist hier nicht als innerpsychischer Vorgang, sondern als kommunikative Sinnform gemeint (Luhmann 1984, S. 399), die strukturell die Wahl bestimmter Handlungen nahe legen. Dabei beziehen sich „Verhaltenserwartungen“ generell auf kommunikativ adressierbare Einheiten. Dazu gehören neben Personen z.B. auch Organisationen. 5 Luhmann bringt hier das Beispiel von Büchern und Liegestühlen, die jeweils verschiedene Erwartungen zu-sammenfassen, wobei man zufällig von beiden erwarten kann, dass sie zusammenklappen können – was dann aber sehr Unterschiedliches bedeutet, vgl. Luhmann 1984, S. 426f 6 „Man wird Kommunikationen unterlassen, wenn Erreichen von Personen, Verständnis und Erfolg nicht ausrei-chend als gesichert erscheinen.“, vgl. Luhmann 2005e, S. 31

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aber wie selbstverständlich stattfindet, kann dies als soziologische Leitfrage dienen. Entspre-

chend den drei Unwahrscheinlichkeitsschwellen werden drei verschiedene Typen von Medien

unterschieden. Auf das erste Problem des Verstehens reagiert Sprache. Auf die Schwierigkeit

des Erreichens von Empfängern sind die Verbreitungsmedien spezialisiert. Hier kommen

Schrift und Buchdruck ins Spiel. Die dritte Unwahrscheinlichkeitsschwelle schließlich, der

Erfolg kommunikativer Offerten, wird durch unterschiedliche Erfolgsmechanismen erwartbar

gemacht. Für den Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft ist die Entstehung

funktionsspezifischer Erfolgsmedien zentral: Indem Sonderprobleme wie die des Rechts, der

Wirtschaft oder der Politik in ebenso harte wie asymmetrische Codierungs-Alternativen

(Recht/Unrecht, Zahlung/Nichtzahlung) überführt werden, können sich Sondersemantiken

und später unter entsprechenden Bedingungen Funktionssysteme bilden (Luhmann 1999a;

Luhmann 2005a).

Der Entstehung funktionsspezifischer Erfolgsmedien, die als Codierung der Funktionssysteme

im Sinne gesellschaftlicher Subsysteme fungieren können, ist an dieser Stelle besondere

Aufmerksamkeit zu schenken. Bereits 1981 konstatiert Luhmann im Zusammenhang mit der

Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation: „Die drei Arten von Unwahrscheinlichkeit ver-

stärken sich wechselseitig. Sie können nicht eine nach der anderen abgearbeitet und in Wahr-

scheinlichkeiten transformiert werden. Wenn eines der Probleme gelöst ist, wird die Lösung

der anderen umso schwieriger. Wenn man eine Kommunikation richtig versteht, hat man um-

so mehr Gründe, sie abzulehnen. Wenn die Kommunikation den Kreis der Anwesenden über-

schreitet, wird Verstehen schwieriger und Ablehnen wiederum leichter.“ (Luhmann 2005e, S.

31f, erstveröffentlicht auf englisch im Jahr 1981).

3. Komplexität und Gesellschaft

Dieser Theoriekontext hat Konsequenzen für die Beantwortung der Frage, welche Aspekte bei

der Untersuchung eines Zusammenhangs von Verbreitungsmedium und gesellschaftlicher

Primärstruktur zu berücksichtigen sind. Nimmt man an, dass der Hinweis auf „Sprache“ zur

Bearbeitung der Unwahrscheinlichkeitsschwelle der Verständlichkeit ausreicht,7 so verbleiben

neben der Variable des Verbreitungsmediums mindestens noch zwei weitere Faktoren: erstens

der Aspekt des Erfolgsmechanismus, der unter Bedingung des Erreichens von mehr Empfän-

7 Dieser Aspekt wird bei Luhmann nicht weiter behandelt. Zu vermuten ist jedoch, dass es zu einer Vereinheitli-chung von Sprache bzw. jedenfalls der Verkehrssprache kommt, wie sie sowohl infolge der Entstehung von Schrift, als auch infolge der Entstehung des Buchdrucks tatsächlich beobachtbar ist. Hier steht die empirische Studie über das Verschwinden von Dialekten einerseits, zugleich aber auch die Variation von Sprache und die Entstehung neuer dialektartiger Formate (etwa in Chat-Foren) noch aus.

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gern die Anschlussfähigkeit sichert, sowie zweitens der Typus von Sozialstruktur, der kom-

munikative Erwartungsstrukturen auf dem höheren Komplexitätsniveau zuverlässig erwartbar

macht. Beide Aspekte ergeben sich aus der oben skizzierten Grundannahme der Unwahr-

scheinlichkeit bestimmter kommunikativer Strukturen. Die Grenzen der jeweils möglichen

gesellschaftlichen Komplexitätssteigerung werden beschränkt nicht nur durch die Erreichbar-

keit von Empfängern, sondern zugleich durch die Aussicht auf Erfolg der Kommunikation

und die Grenzen der sozialstrukturellen Verarbeitbarkeit dieser Kommunikation.

Der erste Aspekt, die Frage nach der Erfolgsaussicht von Kommunikation, ergibt sich direkt

aus den oben erwähnten Unwahrscheinlichkeitsschwellen der Kommunikation. Wenn mit

einem neuen Verbreitungsmedium das Erreichen von mehr Empfängern möglich wird, impli-

ziert dies eine Komplexitätssteigerung gesellschaftlicher Kommunikation nur unter der Be-

dingung, dass außerdem ein Mechanismus entsteht, der die Annahme so ermöglichter Kom-

munikation wahrscheinlich macht. Die Ausdifferenzierung der Erfolgmedien als Erfolgsme-

chanismus zum Umgang mit den durch den Buchdruck entstehenden kommunikativen Zumu-

tungen ist jedenfalls ein, wenn nicht das zentrale gesellschaftstheoretische Argument für die

Umstellung der gesellschaftlichen Primärstruktur auf funktionale Differenzierung. Moral fin-

det sich bei Luhmann deshalb als untergeordneter Mechanismus, weil sie zwar in einer strati-

fizierten Gesellschaft in der Lage war, die kommunikativen Herausforderungen durch das

Verbreitungsmedium Schrift aufzufangen, mit den Verbreitungsmöglichkeiten des Buch-

drucks aber an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gelangt (Luhmann 1999a, Kap. 2; Luh-

mann 2005a). Die Entstehung eines neuen Verbreitungsmediums erzwingt deshalb die Frage,

inwieweit ein funktionales Äquivalent auf der Ebene der Erfolgsmechanismen im Entstehen

begriffen ist, das die Annahme kommunikativer Offerten unter Bedingung neuer Verbrei-

tungsmöglichkeiten wahrscheinlich macht.

Der zweite Aspekt, die Grenzen der sozialstrukturellen Verarbeitbarkeit, mag in der Luh-

mannschen Gesellschaftstheorie als nachrangiger Aspekt erscheinen. Auf den zweiten Blick

wird deutlich, dass dem Übergang von der Erwartungsstabilisierung über Rollen auf die Er-

wartungsstabilisierung über Organisationen als Bedingung funktionaler Differenzierung eben-

so große Aufmerksamkeit gewidmet wird, wie dem Übergang von Moral zu Erfolgsmedien

hinsichtlich der Erfolgsmechanismen. Aus der Grundanlage der Theorie, nach der Kommuni-

kationen operativ aneinander anschließen, folgt die genuine Enttäuschungsanfälligkeit von

Strukturen. Wenn mit der Entstehung eines neuen Verbreitungsmediums die Anschlussmög-

lichkeiten von Kommunikation sowie das Komplexitätsniveau von Kommunikation insgesamt

steigen, bedarf es Mechanismen der Strukturstabilisierung, die Strukturen auf dem höheren

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Komplexitätsniveau absichern. Eine zentrale Ausgangsthese der Luhmannschen Gesell-

schaftstheorie ist, dass formale Organisation eine solche Möglichkeit der Bildung und Absi-

cherung von Erwartungsstrukturen auf höherem Komplexitätsniveau liefert, indem über das

Prinzip der freiwilligen, vertraglich festgelegten Mitgliedschaft die Verpflichtung auf organi-

sationsspezifische (statt gesellschaftsweite) Verhaltenserwartungen ermöglicht wird

(Luhmann 1995; Luhmann 1999c).

Die Möglichkeiten gesellschaftlicher Strukturstabilisierung implizieren eine Komplexitäts-

grenze, verstanden als Grenze der kommunikativen Komplexitätssteigerung eines bestimmten

Gesellschaftstyps. Solange für die Einrichtung von Verhaltenserwartungen nur Personen zur

Verfügung stehen, liegen die Grenzen der gesellschaftlichen Komplexitätsverarbeitung in

dem, was von Einzelpersonen an Verhalten erwartet werden kann. Durch eine Ausbildung

von Rollen können derartige Verhaltenserwartungen zwar über spezifische Interaktionskon-

texte hinaus generalisiert werden. Die Komplexität der Erwartungen bleibt aber auf die Person

als Zurechnungs- und vor allem Sanktionsadresse begrenzt. Die Entstehung formaler Organi-

sation mit kontingenter Mitgliedschaft erweitert diese Komplexitätsgrenze auf das, von dem

erwartet wird, dass die jeweilige Organisation sie zu kontrollieren, also über sie zu entschei-

den, in der Lage ist. Die Komplexitätsgrenze liegt somit in den Kontrollmöglichkeiten der

Buchhaltung.

Unterscheidet man im Anschluss an die Luhmannsche Gesellschaftstheorie zwischen dem

gesellschaftlichen Strukturprimat der Stratifikation und der funktionalen Differenzierung und

ergänzt mit Dirk Baecker die „nächste Gesellschaft“, ergibt sich als Zusammenfassung fol-

gende Tabelle, die in den nächsten drei Unterabschnitten erläutert wird:

Gesellschaftstyp Stratifiziert Funktional diff. Nächste Gesellschaft

Verbreitungsmedium Schrift Buchdruck Computer

Erfolgsmechanismus Moral Erfolgsmedien Erfolgsmedien +?

Strukturstabilisierung Rollen Organisation Organisation +?

Komplexitätsgrenze Person Buchhaltung Computer-Buchhaltung

Eigene Abbildung

3. 1 Stratifikation

Die primär über Stratifikation differenzierte Gesellschaft zeichnet sich neben dem Verbrei-

tungsmedium Schrift aus durch die Entstehung einer über die Grenzen segmentärer Gruppen

hinaus generalisierten Moral (Luhmann 1999a, S. 230ff). Solange Erwartungen nur innerhalb

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einer Gruppe verlässlich erwartbar sind, außerhalb der eigenen Gruppe aber von anderen Er-

wartungen, anderen Wertmaßstäben, abweichenden Verhaltensweisen ausgegangen werden

muss, genügt das Erreichen von Empfängern außerhalb der eigenen Gruppe nicht, um erfolg-

reich zu kommunizieren. Entscheidend ist darüber hinaus auf der Ebene der Sozialstruktur die

Innovation der generalisierten Rollenstruktur. Mit Rollen, die überinteraktional generalisiert

sind, entsteht die Möglichkeit, komplexere Verhaltenserwartungen zu stabilisieren.

Diese Bedingungen werden am Beispiel der Verwendung von Pharmaka deutlich.8 Pharmaka

zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Eigenschaften als genuin obskur, also unerkennbar gel-

ten. Der grüne Trank der Vorantike ebenso wie die kleine weiße Tablette unserer Zeit ist we-

der in ihrer Identität noch in ihrer Qualität aufgrund von Alltagserfahrungen erkennbar. Die

Stabilisierung der Erwartung, dass ein solches Pharmakon gefahrlos oder gar heilbringend

verwendet werden kann, ist somit voraussetzungsvoll. In der Vorantike gab es zwar bereits

Pharmaka, ihre Verwendung war aber entweder auf Extremsituationen oder auf eine kleine

soziale Schicht begrenzt. Zauberinnen und Wundärzte hatten vor allem als Personen eine be-

stimmte Reputation. Erst um 400 v.Chr. beginnt sich gleichzeitig mit dem Corpus Hippokra-

tikus der Arzt als überregionale Rolle auszudifferenzieren. In den folgenden Jahrhunderten ist

mit der Verbreitung von Rolle und verschriftlichten medizinischen Kenntnissen eine rasante

Komplexitätssteigerung des verfügbaren Arzneischatzes zu verzeichnen.9 Etwa im

10. Jahrhundert n.Chr. differenziert sich die separate Strukturidentität der Apothekerrolle aus,

womit erneut eine Komplexitätssteigerung einhergeht. Über zunächst die Arzt- sowie dann

die Apothekerrolle ist ohne besondere Kenntnis der je konkreten Person überinteraktional

erwartbar, dass Pharmaka die erwarteten Identitäts- und Qualitätserfordernisse zur intendier-

ten Verwendung erfüllen.

Diese die stratifizierte Gesellschaftsform auszeichnende Verbindung von Schrift als Verbrei-

tungsmedium, Moral als Erfolgsmechanismus und Rollen als dem dominanten sozialstruktu-

rellen Typus findet die Grenze möglicher Komplexitätssteigerung in dem, was von Personen

sinnvollerweise erwartet werden kann. Verhaltenserwartungen sind überinteraktional genera-

lisiert, und über Schrift und Rollen kann die Komplexität solcher Erwartungen gesteigert wer-

den. Allerdings sind Moral als Erfolgsmechanismus und Rollen als dominierender Sozial-

strukturtypus auf Personen als Zurechnungsadresse ausgerichtet. Für den Bereich des Phar-

mazeutischen impliziert dies, dass die Komplexität jedes einzelnen Arzneimittels sowie eines

verfügbar zu haltenden Arzneischatzes insgesamt nicht größer werden kann, als was von der

8 Vgl. als pharmaziehistorische Sekundärliteratur wenn nicht anders zitiert: Schmitz 1998a; Schmitz 1998b 9 Deutliche wird dies im Vergleich der pharmazeutisch-medizinischen Literatur seit dem Corpus Hippokratikus, vgl. Schulze 2002

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konkreten Person des Apothekers als Rollenvertreter zu erkennen, herzustellen, aufzubewah-

ren und richtig abzugeben erwartet werden kann.

3. 2 Funktionale Differenzierung

Der Übergang von der primär stratifizierten zur primär funktional differenzierten Gesellschaft

impliziert einen grundsätzlichen Strukturwandel. Zentrales Charakteristikum dieses Struktur-

wandels ist die Ergänzung des Verbreitungsmediums Schrift durch das Verbreitungsmedium

Buchdruck. Für die Komplexitätssteigerung gesellschaftlicher Kommunikation kommen hin-

zu die Entstehung funktionsspezifischer Erfolgsmedien und formaler Organisation als eigen-

ständiger Zurechnungsadresse. Diese drei Veränderungen – Buchdruck, Erfolgsmedien und

Organisation – stehen in einem Verhältnis der Ko-Evolution.

Mit dem Buchdruck steigen die Möglichkeiten des Erreichens von Empfängern kommunika-

tiver Offerten. Gerade diese Steigerung kommunikativer Angebote stellt vor das Problem,

unter welchen Bedingungen an welche kommunikativen Angebote kongruent angeschlossen

werden kann. Moral bleibt relevant. Als primärer Erfolgsmechanismus erweist sie sich jedoch

zunehmend als unterkomplex. An die Stelle der Moral tritt als spezifischerer Erfolgsmecha-

nismus das Prinzip der Erfolgsmedien. Kongruentes Anschließen an kommunikative Offerten

erfolgt zunehmend nach funktionsspezifischen anstelle generell moralischer Prinzipien. Die

theoretische Grundidee besagt, dass an sich unwahrscheinliche Kommunikationen erfolgreich

werden, indem die potentiell unbegrenzten Anschlussmöglichkeiten in die Form einer harten

Alternative gebracht werden, die zudem asymmetrisch gebaut ist. Eine kommunikative Offer-

te gewinnt an Anschlussfähigkeit, wenn sie auf diese Weise auf Wahrheit, Recht oder Zah-

lung referiert. Luhmann beschreibt, dass derartige Unterscheidungen bereits in der Antike

entstehen und als Sondersemantiken Kommunikation spezifizieren. Primär – das heißt: vor

Moral – relevant werden diese Erfolgsmedien im Übergang zur funktional differenzierten

Gesellschaft. In dieser Phase kommt es zur kommunikativen Schließung funktionsspezifischer

Kommunikationen: An Zahlung können nur noch andere Zahlungen anschließen, an Wahrheit

nur Wahrheitskommunikationen.10

Mit diesen beiden Veränderungen – der Entstehung des Verbreitungsmediums Buchdruck und

der Ausdifferenzierung von Erfolgsmedien als funktionsspezifischen Codierungen – kommt

es zum Wandel des gesellschaftlichen Strukturprimats. Der Buchdruck erweitert die Möglich-

keiten des Erreichens von Empfängern, der neue Erfolgsmechanismus ermöglicht eine funkti-

10 Vgl. v.a. Luhmann 1999a, S. 316ff; als konzeptionelle Einführung der Luhmannschen Version der Erfolgsme-dien, vgl. Luhmann 2005a (ursprünglich veröffentlicht 1974 in der Zeitschrift für Soziologie).

12

onsspezifische Komplexitätssteigerung. Über diesen primär semantischen Zusammenhang

darf jedoch eine dritte soziale Innovation nicht vergessen werden, von dem die primär funkti-

onal differenzierte Gesellschaft ebenfalls geprägt ist: Die sozialstrukturelle Innovation der

formalen Organisation. Für die über spezifische Erfolgsmedien ausdifferenzierten Funktions-

systeme ist die Entstehung funktionsspezifischer formaler Organisationen durchgehend rele-

vant. Zwar sind formale Organisationen für verschiedene Funktionssysteme unterschiedlich

bedeutsam – die Kunst der Gesellschaft ist weniger durch funktionsspezifische Organisatio-

nen geprägt als die Wirtschaft der Gesellschaft. Gleichwohl macht formale Organisation

nunmehr einen Unterschied und die unterschiedliche Entwicklung verschiedener Funktions-

systeme wird nicht zuletzt auf die jeweilige Einbindung formaler Organisation zurückge-

führt.11

Über solche funktionssystemspezifische Unterschiede in der Bedeutung formaler Organisati-

on hinaus ist formale Organisation gesellschaftstheoretisch betrachtet in zweifacher Hinsicht

relevant. Erstens entsteht mit formaler Organisation ein neuer Typus von sozialer Zurech-

nungsadresse. Über Jahrtausende sind allein Personen die zentrale oder gar einzige Adresse

von Verhaltenserwartungen. Rollen fungieren zwar als von Personen dezidiert unterschiedene

Strukturidentität. Doch muss eine Rolle immer von einer Person ausgeübt werden. Im Unter-

schied zu Rollen sind Organisationen eigenständige soziale Einheiten und werden wie Perso-

nen als gesellschaftliche „Akteure“ angesehen.12 Zweitens entwickeln Organisationen je ei-

genständige Komplexität (Luhmann 1995; Luhmann 1999a, S. 830f; Luhmann 2000). Für

Gesellschaft geht mit der Entstehung von Organisation somit die Möglichkeit einer erheblich

gesteigerten Komplexitätsverarbeitung einher. Während gesellschaftliche Komplexität bislang

ihre Grenzen in dem über Rollen Regel- und von Personen Erwartbaren fand, so liegen diese

Grenzen nun in dem durch organisierte Entscheidungsprozesse Kontrollierbaren.

Die funktional differenzierte Gesellschaft zeichnet sich gegenüber einer primär stratifizierten

Gesellschaft durch ein höheres kommunikatives Komplexitätsniveau aus. Diese Komplexi-

11 Zum Verhältnis von Organisation und Gesellschaft, vgl. Luhmann 1999a, S. 826ff; Luhmann 2000, S. 380ff. Zur unterschiedlichen Bedeutung formaler Organisation für verschiedene Funktionssysteme stellt Luhmann insbesondere grundsätzliche Überlegungen an. Zum einen geht er davon aus, dass Funktionssysteme, deren Funktion der Veränderung gesellschaftlicher Umwelt liegt – also v.a. Erziehung und Krankenbehandlung – stär-ker als andere Funktionssysteme von Organisation abhängig sind, dafür jedoch weniger bis nicht abhängig von Erfolgsmedien, vgl. Luhmann 1999a, S. 407f; Luhmann 2005d. Die andere These besagt, dass der Grad, in dem formale Organisation für ein Funktionssysteme relevant wird, ein Faktor für dessen Entwicklung und Relevanz im Verhältnis zu anderen Funktionssystemen ist, vgl. Luhmann 1999b, S. 320ff 12 Als Voraussetzung gilt, dass die „Intention“ intentionalen Handelns sich auf die von den beteiligten Individu-en erwartete gemeinsame Wirkung koordinierten Handelns bezieht, vgl. Scharpf 2000, S. 101 Bereits Ende der 1970er Jahre beschreibt Karl Weick demgegenüber, dass Organisation – im Sinne eines „komplexen Akteurs“ keineswegs auf gleichgerichtete Interessen der Organisationsmitglieder angewiesen ist, worin einer ihrer Stabili-tätsvorteile gesehen werden kann, vgl. Weick 1985, S. 133ff Dem entspricht, dass nicht nur „natürliche Perso-nen“ rechtsfähig sind, sondern auch „juristische Personen“.

13

tätssteigerung basiert auf den höheren Verbreitungsmöglichkeiten von Kommunikation durch

den Buchdruck, auf dem gegenüber Moral spezifischeren Erfolgsmechanismus der jeweils

funktionsspezifischen Erfolgsmedien und den höheren Komplexitätsverarbeitungsmöglichkei-

ten von formaler Organisation gegenüber gesellschaftlichen Strukturrollen. Die Grenzen einer

so ermöglichten Komplexitätssteigerung liegen ebenfalls auf allen diesen drei Ebenen. Als der

wesentlich begrenzende Faktor kann die Verarbeitungskapazität der formalen Organisationen

angesehen werden. Formale Organisation muss in der Lage sein, ihre Entscheidungspro-

gramme zu kontrollieren. Mit der doppelten Buchführung liegt bereits im 16. Jahrhundert eine

effektive Möglichkeit der Komplexitätskontrolle vor, auf die formale Organisation zurück-

greifen kann. Die Komplexitätsgrenzen liegen in den Grenzen einer auf dem Papier von Hand

durchgeführten doppelten Buchführung.

3. 3 Nächste Gesellschaft ?

Vor diesem Hintergrund wird unmittelbar einsichtig, dass der Computer einen Unterschied

macht. Wie bereits Schrift und Buchdruck erweitert der Computer die Möglichkeit des Errei-

chens von Empfängern kommunikativer Offerten. Doch diese Innovation hinsichtlich der

Verbreitung von Kommunikation löst nicht allein schon einen kommunikativen Komplexi-

tätssprung aus. Dazu käme es erst, wenn – ähnlich der Ausdifferenzierung von Erfolgsmedien

im Übergang zum Strukturprimat funktionaler Differenzierung – ein neuer Erfolgsmechanis-

mus sich ausbildete, der die zusätzliche Komplexität mit zusätzlichen Annahmechancen ver-

sähe. Bislang ist nicht ersichtlich, was als zusätzlicher oder zu den Erfolgsmedien funktional

äquivalenter komplexitätssteigernder Erfolgsmechanismus in Frage kommen könnte und wur-

de auch kein theoretisches Angebot in diese Richtung gemacht.

Nur geringfügig anders verhält sich die soziologische Beobachtungslage hinsichtlich der sozi-

alstrukturellen Ebene. Waren für den Übergang zur stratifizierten Gesellschaft die Entstehung

von Rollen und für den Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft die Entstehung

formaler Organisationen von wesentlicher Bedeutung, so ist auf dieser sozialstrukturellen

Ebene bislang keine durchgreifende Innovation beobachtbar, die auf einen grundsätzlichen

Wandel des gesellschaftlichen Strukturprimats hindeuten könnte. Ein hierzu gemachter Vor-

schlag geht dahin, Netzwerke als sozialstrukturelle Innovation zu sehen – ein Vorschlag, der

eine grundsätzliche Schwierigkeit birgt: Es wird nicht deutlich, wie Netzwerke auf eine netz-

werk-spezifische Art und Weise die Erfüllung von Verhaltenserwartungen sichern. Netzwerke

werden definiert über den Hinweis auf einen „Organisationsgrenzen überschreitenden“ Mit-

gliedschaftsbegriff von Netzwerkorganisationen“ (Baecker 2007, S. 49) und mögen die durch

14

Entscheidungsreproduktion gezogenen Grenzen von Organisationen überschreiten – doch

unklar bleibt, wie diese Netzwerk-Mitgliedschaft das Verhalten von Personen in besonderer

Weise stabil festlegt. Über kontingente Mitgliedschaft Verhaltenserwartungen gegen Enttäu-

schung abzusichern, ist bereits das gesellschaftsevolutionäre Novum der formalen Organisati-

on. Fraglich ist, inwieweit Netzwerke einen Modus der Stabilisierung von Verhaltenserwar-

tungen bereithalten, der sich von der interaktiven Kontrolle der Gruppe und der mit Mitglied-

schaftsentzug drohenden Kontrolle der Organisation unterscheidet sowie effektiv in der Lage

ist, bestimmte Verhaltenserwartungen gegen etwaige Eigeninteressen der Mitglieder durchzu-

setzen.

In einer Gesellschaft, die neben Schrift und Buchdruck über den Computer verfügt, bleibt, so

die hier vertretene Schlussfolgerung, formale Organisation der zentrale sozialstrukturelle Fak-

tor zur Ordnung von Verhaltenserwartungen.

4. Konsequenzen als ungelöste Probleme am Beispiel formale Organisation

Meine Gegenposition zur These der „nächsten Gesellschaft“ ist, dass Gesellschaft durch die

Entstehung eines neuen Verbreitungsmediums nicht zu einem nächsten Strukturprimat über-

geht, sondern in Ermangelung eines neuen Erfolgsmechanismus und einer sozialstrukturellen

Innovation an der Integration der neuen kommunikativen Komplexitätsmöglichkeiten zuneh-

mend scheitert. Diese „Überforderungs-These“ ist mindestens ebenso gewagt wie die These

der nächsten Gesellschaft. Ihre theoretisch-spekulative Grundlage findet sie in der Beobach-

tung einer „technisch induzierten, dann aber gebrauchsbestimmten, eigendynamischen Explo-

sion von Kommunikationsmöglichkeiten“ (Luhmann 1999a, S. 302), die Luhmann an den

Anfang seines Abschnitts über „Elektronische Medien“ im bereits zitierten Kapitel über

Kommunikationsmedien in der Gesellschaft der Gesellschaft stellt. Luhmann war der An-

sicht, dass sich die Konsequenzen dieser Neuerungen noch nicht abschätzen ließen, wagt aber

eine erste Beschreibung ihrer Strukturen. Zu den in diesem Zusammenhang aufgestellten Be-

obachtungen gehört, dass durch die Telekommunikation die räumlichen Beschränkungen der

Kommunikation gegen Null tendierten; über die Möglichkeiten des Sammelns und Auswer-

tens von Daten die Kommunikation in neuartiger Weise intensiviert und beschleunigt würden;

und es Kino und Fernsehen zu einer Verschmelzung von optischer und akustischer Wiederga-

be komme, die durch die Schrift markant getrennt waren (Luhmann 1999a, S. 303ff).

Ganz abgesehen von den sich daraus ergebenden Anschlussfragen stellt jede einzelne dieser

Beobachtungen genug Hypothese für ein ganzes Forschungsprogramm dar. Mit der Weiter-

entwicklung elektronischer Medien seit Ende der 1990er Jahre kommen weitere Beobachtun-

15

gen zu möglichen Auswirkungen hinzu. Das betrifft neben den Inhalten, Funktionen und

Auswirkungen virtueller Welten wie second life eine Vielzahl von ganz handfesten rechtli-

chen und politischen Fragen nach der Gestaltung von Eigentumsrechten, dem Verhältnis von

Information und Privatheit oder den Bedingungen, unter denen Regulierung angesichts größe-

rer Informationsverarbeitungsmöglichkeiten gestaltet werden kann.13

Diese Themen angemessen zu bearbeiten, würde den Rahmen eines Artikels erheblich über-

schreiten. Angesichts der empirischen Fokussierung des vorliegenden Sammelbandes wird

deshalb die These einer Überforderung der bestehenden Differenzierungsform am Beispiel

der formalen Organisation erörtert. Auch diese, bereits auf die Systemreferenz Organisation

begrenzte Frage, muss sich auf eine Skizze beschränken. Verdeutlichen sollen diese exempla-

rischen Ausführungen, welchen Unterschied der Computer für formale Organisation macht

und welche unter Umständen problematischen Konsequenzen die so eröffneten kommunikati-

ven Komplexitätspotentiale haben.

4. 1 Formale Organisation

Formale Organisation ist ein zentrales Charakteristikum der funktional differenzierten Gesell-

schaft.14 Organisation als eigenständiger Systemtypus bildet sich durch das Aneinanderan-

schließen von Entscheidungs-Operationen. Unter Entscheidung ist dabei zu verstehen, dass

eine Handlung auf eine an sie gerichtete Erwartung – ob kongruent oder abweichend reagiert

(Luhmann 1984, S. 400; Luhmann 1999b, S. 272-301). Entscheidungen in diesem Sinne fin-

den nicht nur in Organisationen statt. Im Unterschied zu Einzelentscheidungen verknüpfen sie

sich in Organisationen zu einem Entscheidungszusammenhang: Die Entscheidungen einer

Organisation schließen jeweils an die eigenen Entscheidungen an und berücksichtigen ver-

gangene sowie mögliche künftige Entscheidungen. Jeweils organisationseigene Strukturen

entstehen, indem die Organisation über die Prämissen ihrer eigenen Entscheidungsfindung

entscheidet. Dabei sind als zwei Typen von Entscheidungsprämissen Kommunikationswege

(Dienstwege) und Entscheidungsprogramme (Regeln sachlich richtigen Entscheidens) zu un-

terscheiden (Luhmann 2000, S. 225ff).

Gesellschaftstheoretisch betrachtet ist Organisation immer Organisation in Gesellschaft. Dies

impliziert die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Organisation. Die früh formu-

13 Als Überblick vgl. beispielsweise Rammert 2000; Degele 2002; Schuppert/Voßkuhle 2008. 14 Zur Ausdifferenzierung von Organisation als eigenständiger Systemreferenz, vgl. bereits Luhmann 2005c, erstveröffentlicht 1975 in Marlis Gerhardt (Hrsg.): Die Zukunft der Philosophie, S. 85-107. Bezüglich des Zu-sammenhangs funktionaler Differenzierung und formaler Organisation vgl. weiter Luhmann 1999a, Kap. 4: Systemdifferenzierung; Luhmann 2000, S. 380ff.

16

lierte und für die Entwicklung der Gesellschaftstheorie zentrale These Luhmanns dazu ist,

dass formale Organisation die Stabilisierung von Verhaltenserwartungen funktional äquiva-

lent zur Interaktion unter Anwesenden erfüllt (Luhmann 1995). Hinsichtlich dieses Bezugs-

problems kann formale Organisation als Alternative zur interaktiven Kontrolle beobachtet

werden. Denn mit der Mitgliedschaft verpflichtet sich das Mitglied auf die Erfüllung be-

stimmter Erwartungen. Kommt ein Mitglied diesen Erwartungen nicht nach, kann ihm die

Mitgliedschaft entzogen und an seine Stelle ein anderes Mitglied gesetzt werden. Für Gesell-

schaft geht mit diesem alternativen Mechanismus der Verhaltens- und damit Erwartungsstabi-

lisierung ein erhebliches Potential an Komplexitätssteigerung einher. Nicht nur die interne

Komplexität von Organisation ist steigerbar, indem das Verhalten vieler Personen über Mit-

gliedschaft, Dienstweg und Programme aufeinander abgestimmt wird. Vor allem entstehen

mit Organisationen eigenständig adressierbare Einheiten. Neben Personen können nun auch

Organisationen Handlungen zugerechnet werden.

4. 2 Erweiterte Berechenbarkeit von Entscheidungsprozessen

Die Einführung „der Computer-Buchhaltung“ bedeutet hinsichtlich der Systemreferenz Orga-

nisation eine erhebliche Komplexitätssteigerung. Bereits das Prinzip der Konditionierung von

Verhaltenserwartungen über kontingente Mitgliedschaftsverträge in ebenso kontingenten Or-

ganisation impliziert gegenüber der gesamtgesellschaftlichen Verhaltenskonditionierung über

Rollen die Möglichkeit des Aufbaus organisationsspezifischer Komplexität in sachlicher, zeit-

licher und sozialer Hinsicht. Die Grenzen dieser organisationsspezifischen Komplexität liegen

in dem, was die jeweilige Organisation über ihre Entscheidungsprämissen koordinieren und

kontrollieren kann. Diese Komplexitätsgrenzen werden durch die Computer-Buchhaltung bis

an die Entgrenzung hin erweitert. Dies kann wiederum am Beispiel der Pharmakon-

Kommunikation verdeutlicht werden:

Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war die Komplexität sowohl jedes einzelnen Arzneimittels

als auch des Arzneischatzes insgesamt auf das von der Person des Apothekers Leistbare be-

grenzt. Die Anzahl der pharmazeutischen Grundstoffe und die Komplexität der Arbeitsschritte

zur Herstellung eines Arzneimittels mussten von einer Einzelperson erfassbar sein; zeitlich

durften Ruhe- und Lagerphasen das von der Einzelperson Überschaubare nicht überschreiten;

und sozial konnte zwar Hilfspersonal beschäftigt werden, doch da der Apotheker persönlich

für Identität und Qualität der Arzneimittel verantwortlich war, musste jede Entscheidung auf

den Apotheker persönlich zurechenbar sein. Entsprechend war die Möglichkeit der Delegie-

rung von Tätigkeiten auf eine persönlich noch kontrollierbare Dimension beschränkt.

17

Formale Organisation verändert diese Verhältnisse grundlegend. Die chemisch statt humoral-

pathologisch begründeten Arzneimittel wären durch Einzelapotheker weitgehend nicht her-

stellbar: Da chemische Arzneimittel nicht mehr wie traditionell aus dem ganzen Rohgrund-

stoff – vor allem Pflanzen – hergestellt werden, sondern ihnen synthetische Wirkstoffe in

kleinsten Mengen zugrunde liegen, bedarf es einer Genauigkeit in der Dosierung, die bereits

für die frühen Alkaloid-Arzneimittel aus herstellungstechnischen Gründen selbst mit erhebli-

chem Aufwand nicht von Hand leistbar wäre (vgl. dazu auch Ridder 2000). Die industrielle

Fertigung ist nicht nur kostengünstiger, sondern bezüglich der Wirkstoff-Arzneimittel sogar

sicherer.

Dieser Effekt wirkt sich mit dem Fortschritt der pharmazeutischen Chemie zunehmend aus.

Die sachliche Komplexitätssteigerung durch das Ineinandergreifen von Handlungen aufgrund

organisationaler Entscheidungsprämissen wirkt sich neben der Herstellung vor allem in der

Entwicklung neuer Arzneistoffe und Arzneiformen aus. Gingen erste chemisch-

pharmazeutische Entdeckungen noch auf Einzelpersonen – Ärzte und Apotheker – zurück, so

sinkt deren Anteil im Verlauf des 19. Jahrhunderts zugunsten organisierter Forschung insbe-

sondere der pharmazeutischen Industrie (Schmitz 1998b, S. 460ff). Parallel erfolgt eine zeitli-

che und sachliche Komplexitätssteigerung, die sich in den erweiterten Forschungs- und Ent-

wicklungszeiten niederschlagen sowie sozial im Zusammenwirken einer Vielzahl von Spezia-

listen. Diese Entwicklung hin zu formaler Organisation erfolgt etwa seit den 1880er Jahren.

Wurden seit der Jahrhundertwende bereits chemische Grundstoffe durch Apotheker von der

chemischen Industrie bezogen, setzt der große Industrialisierungsschub mit der Entstehung

eines Patent- und Warenzeichenschutzes in den 1870er Jahren ein (zur Entstehung der Unter-

nehmen der pharmazeutischen Industrie, vgl. Schmitz 1998b, S. 977ff).

Die grundsätzlichen Veränderungen im Bereich der Pharmakon-Kommunikation erfolgen

somit auf Grundlage der klassisch buchhalterisch koordinierten und kontrollierten formalen

Organisation der funktional differenzierten Gesellschaft. Mit der Einführung des Computers

wird diese Entwicklung verstärkt: Seit spätestens den 1970er Jahren gewinnen die organisier-

ten Programme der Herstellung und Entwicklung von Arzneimitteln eine Komplexität, die

von der Einzelperson Apotheker nicht nur nicht mit ähnlichem Ergebnis durchgeführt werden

könnten, sondern deren Ergebnis auch nur zu kontrollieren der Einzelapotheker in seinem

Laboratorium nicht in der Lage ist.

Die Tablette als typisch industrielle Darreichungsform anstelle der bis dato üblichen flüssigen

Arzneimittel, wird in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Retard- und Deportarznei-

formen weiterentwickelt. Seit den 1980er entstehen außerdem Arzneiformen wie Liposomen,

18

Nanokapseln oder Mikroemulsionen, die als Arzneiträgersysteme im ultrafeinen Teilchengrö-

ßenbereich Fortschritte in der gezielten Therapie erzielen und die Verwendung erleichtern.

Neue Herstellungsanlagen und -verfahren wie die Exzenterpressen oder die Kodierverfahren

zum Ausschluss einer Arzneimittelverwechslung kommen ebenfalls hinzu (Schmitz 1998b, S.

504ff). Parallel zu diesen Entwicklungen auf der Herstellungsebene gehen vom Computer

sachliche Komplexitätssteigerungen auf der Entwicklungsebene aus. Das Hochdurchsatz-

Screening oder das Computer Aided Drug Design ermöglicht systematische Forschung anstel-

le weitgehend zufälliger Entdeckungen (Schmitz 1998b, S. 485ff). Dem entspricht, dass seit

den 1970er Jahren standeseigene Organisationen der Apothekerschaft entstehen, die als eben-

falls formal organisierte, selbständige Einheiten die Kapazitäten zur Kontrolle der Qualität der

industriellen Fertigarzneimittel haben – vom Einzelapotheker kann diese Leistung bestenfalls

noch pro forma eingefordert werden (Schmitz 1998b, S. 771ff).

Diese kurzen Stichworte zu den Veränderungen in der Sachdimension weisen bereits auf Er-

weiterungen hinsichtlich Zeit- und Sozialdimension hin. Nach dicht aufeinander folgenden

Neuentdeckungen ganzer Arzneistoffgruppen bis in die 1930er Jahre impliziert pharmazeuti-

sche Forschung seitdem stetig zunehmende Entwicklungszeiten. Die Pharma-Branche gilt

unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten als Muster-Beispiel für langfristige und in

hohem Maße unsicherheitsbehaftete Forschungsinvestitionen (Brealey/Myers 2000, S. 271ff).

Die Verschränkung einer Vielzahl unterschiedlicher Experten und Expertengruppen in der

Forschung nimmt zu, dasselbe gilt hinsichtlich der verschiedenen Sachaufgaben der Organisa-

tion. Erst mit dem Computer wird es möglich, dass sich Unternehmen der Pharmaindustrie

zusammenschließen oder gar Teil integrierter Chemie-Konzerne werden. Denn Zusammen-

schlüsse implizieren neben Größe eine internationale Dimension, die hohe Anforderungen an

die Abstimmung regional getrennter Verhaltensprogramme sowie die Integration unterschied-

licher Länder- und Unternehmenskulturen stellt.

4. 3 Konsequenzen als ungelöste Probleme

Der Computer macht zweifellos einen Unterschied – für Größe und Ausgestaltung von Orga-

nisationen ebenso wie für die organisational bearbeiteten Zwecke. Doch es erfolgt keine

grundsätzliche Veränderung des Prinzips formaler Organisation: Nach wie vor ist es formale

Organisation, die kommunikative Komplexität verarbeitet; nach wie vor stabilisiert formale

Organisation die Erfüllung von Verhaltenserwartungen über beidseitig kontingente Mitglied-

schaftsverträge. Statt der Umstellung auf ein grundsätzlich neues Prinzip zeichnet sich ab,

dass formale Organisation an die Grenzen ihrer Verarbeitungsfähigkeit stößt.

19

Hinsichtlich der Systemreferenz Organisation ist im ersten Schritt zu konstatieren, dass sich

ihre Charakteristika der eigenkomplexen Entscheidungsstrukturen sowie der Erwartungsstabi-

lisierung über Mitgliedschaft als ausgesprochen ausdehnungsfähig und flexibel erweisen.

Über den Computer entstehen sowohl internationale Großorganisationen mit einer breiten

Produktpalette und einer Vielzahl von Mitarbeitern, als auch ein Typus der „Mini-

Organisation“, die mit einem Minimum an Mitarbeitern in einem spezialisierten Bereich einen

überproportionalen Marktanteil gewinnen. Beide Typen, die Groß- wie die Mini-Organisation

sind auf den Computer angewiesen: Die Großorganisation, um ihre Programme sachlich, zeit-

lich und sozial aufeinander abzustimmen – ohne Computer unterstütztes Controlling wären

Großorganisationen wie Bayer oder VW nicht denkbar; die Mini-Organisationen, um einzelne

betriebliche Leistungen ganz über Verwendung des Computers herzustellen – neben den typi-

schen Internet-Startups der 1990er Jahre gehört dazu beispielsweise der Versand von indivi-

duell zusammengestelltem Müsli.

Im zweiten Schritt zeichnet sich ab, dass formale Organisation an die Grenzen ihrer Verarbei-

tungsfähigkeit von Komplexität kommt. Ein Indikator für typische Schwierigkeiten formaler

Organisationen sind die zunehmend spezialisierten Beratungsdienstleistungen, die formalen

Organisationen durch andere formale Organisationen angedient werden. Deutlich wird aus

diesen Beratungsangebots-Trends, dass Organisationen nicht nur Beratungsbedarf hinsichtlich

klassischer, betriebswirtschaftlicher Aufgaben wie Prozessoptimierung oder Angebotssteue-

rung haben, sondern zunehmend Anforderungen an die Mitglieder der Organisation gestellt

werden: Time-Management, Teamfähigkeit, Umgang mit fremden Kulturen oder personal

coaching gehören zu den Dienstleistungen zur Optimierung der Mitarbeiter.

Während die klassische Taylorsche Vorstellung eines Betriebs davon ausgeht, dass der dispo-

sitive Faktor die Aufgaben des Personals als einem der Produktionsfaktoren festlegt, das Per-

sonal qua Mitgliedschaftsvertrag auf die Ausführung dieser Aufgaben verpflichtet wird und

damit der Organisationszweck reibungslos erfüllt wird, so wird dieses Ideal einer mechanisti-

schen Pflichterfüllung spätestens mit den Leitkonzepten der lernenden Organisation und der

Wissensgesellschaft als unhaltbar offensichtlich.15 Mitglieder sollen nicht mehr nur die Auf-

gaben ihrer Stellenbeschreibung ausführen, sondern darüber hinaus ein hohes Maß an Flexibi-

lität und Eigeninitiative zeigen. Dies gilt keineswegs nur für Management-Positionen. Pro-

jektförmige Arbeitsformen, die gerade in großen Organisationen unter hohem sachlichen und

zeitlichen Abstimmungsdruck stehen, aber auch beispielsweise gelockerte Ladenschlusszeiten

führen zu unregelmäßigen Arbeitszeiten und ungleichmäßiger Arbeitsbelastung für ganz un-

15 Vergleiche dazu beispielsweise, Leonard-Barton 1995; Nonaka/Takeuchi 1995; Willke 2004

20

terschiedliche Tätigkeiten. Darüber hinaus sind trotz der Standardisierung von Verfahren die

Eigeninitiativen von Mitarbeitern relevant für die Entscheidung in Risikosituationen oder bei

technischem Versagen.

Diese Entwicklung kann als eine „Rückkehr des Individuums“ beobachtet werden oder mit

Dirk Baecker als eine Umstellung des Leitprinzips formaler Organisation von Rationalität auf

Motivation (Baecker 2007, S. 47ff). Dazu heißt es, dass das Bewusstsein des Menschen im

Umgang mit den Unwägbarkeiten der Kommunikation die einzige Ressource sei, die mit der

Schnelligkeit der elektronischen Datenverarbeitung zwar nicht Schritt halten, aber ihr Paroli

bieten und ihre Möglichkeiten ausnutzen könne (Baecker 2007, S. 51). Mit anderen Worten:

Durch den Computer habe Gesellschaft ein Komplexitätsniveau erreicht, das nur noch durch

die menschliche Konstitution der Kombination mentaler und sozialer Aufmerksamkeit und

unter höchsten Ansprüchen an Zuverlässigkeit bearbeitet werden könne.

Eine ähnliche sachliche Grundlage dieser Schlussfolgerung findet sich bereits bei Luhmann.

In Organisation und Entscheidung äußert Luhmann in seinen Ausführungen über Technik die

Vermutung, dass alles in allem die durch die Technologie selbst bedingten Störungen zunäh-

men, ohne dass das System noch die Möglichkeit habe, sich auf Handbetrieb umzustellen oder

sich durch Zuruf zu koordinieren. Mehr als früher brauche die Organisation jetzt Kompeten-

zen für das Überbrücken von situativ auftretenden Schwierigkeiten (Luhmann 2000, S. 369).

Doch anders als Baecker zieht Luhmann explizit nicht den Schluss auf einen Bedeutungszu-

wachs des Menschen. Hinsichtlich der Frage, woher die Fähigkeiten des Überbrückens situa-

tiver Schwierigkeiten kommen sollten, wenn alles auf den Computer eingestellt sei und die

Kompetenzen für Durchgriffe auf andere Stellen des Systems fehlten (Luhmann 2000, S.

369), mutmaßt Luhmann, dass sich mit Geschick ein System der „integrierten Verspätungen“

einrichten lasse, „wenn am Ort genügend Fantasie, Wissen über Alternativen und Durch-

griffskompetenz“ (Luhmann 2000, S. 369FN 19, Hervorhebung im Original) aktiviert werden

könne. Dass es unter diesen Umständen wieder mehr auf den Menschen ankomme, könne

man kaum glauben und erst recht nicht hoffen – jedenfalls liege darin keine Beruhigung

(Luhmann 2000, S. 369FN 19).

Diese eher pessimistische Auffassung hinsichtlich der Bearbeitbarkeit technologie- und damit

komplexitätsbedingter Störungen durch das menschliche Bewusstsein ist aus einem Grund zu

teilen, der sich aus den obigen Überlegungen zu den Charakteristika formaler Organisation

ergibt: Formaler Organisation mit ihrem Instrument der Entscheidung über Mitgliedschaft

fehlt die Handhabe, um Organisationsmitglieder auf umsichtiges, situationsadäquates oder

wissensgenerierendes Verhalten zu verpflichten. Zwar ist es möglich, in einem Arbeitsvertrag

21

eine allgemeine Bereitschaft zu Flexibilität und Eigeninitiative festzulegen. Allerdings ist

diese Verhaltenserwartung zu unpräzise, um stabile Entscheidungsprogramme darauf zu er-

richten – geht es doch um Verhalten in gerade nicht vorhersehbaren Situationen. Je stärker

Organisationen auf diesen Typus von engagiertem Allgemeinverhalten der Mitarbeiter ange-

wiesen ist, desto stärker mag sie zu einem solchen Verhalten anzureizen oder zu motivieren

suchen,16 was aber immer nur in Ergänzung zum eigentlichen Kern der vertraglich geregelten

Erwartungsstabilisierung erfolgen kann.

Wesentliches Instrument der Stabilisierung von Verhaltenserwartungen in durch vertraglich

konstitutierte Mitgliedschaft charakterisierten formalen Organisationen ist die Drohung mit

dem Entzug der Mitgliedschaft. Deshalb sind Motivationsmechanismen nicht funktional äqui-

valent zur vertraglichen Festlegung konkreter Verhaltenerwartungen: Erstens ist „motiviertes“

Verhalten nicht ausreichend formalisierbar, um als konkrete Verhaltenserwartung eingefordert

werden zu können; zweitens stehen Motivation und Drohung mit Mitgliedschaftsentzug in

einem pädagogischen Widerspruch. Motivation kann formale Vertragsbeziehungen als Me-

chanismus der Stabilisierung von Verhaltenserwartungen deshalb bestenfalls ergänzen, bildet

aber nicht einen auch nur ähnlich effizienten, neuen Typus der Erwartungsstabilisierung. Statt

dessen muss vermutet werden, dass gerade die steigenden Ansprüche an das freiwillige Enga-

gement der Organisationsmitglieder zeigt, wie sehr formale Organisation mit ihren bisherigen

Mechanismen der Komplexitätsverarbeitung an Grenzen stößt, für die bislang keine Alterna-

tive in Sicht ist.

5. Ausblick

Die voranstehenden Ausführungen gehen von der kommunikationstheoretischen Prämisse

aus, dass für einen grundsätzlichen Wandel gesellschaftlicher Kulturform neben der Entste-

hung eines neuen Verbreitungsmediums ein adäquater Erfolgsmechanismus sowie ein Me-

chanismus der sozialen Komplexitätsverarbeitung erforderlich sind. Eine gesellschaftstheore-

tische Skizze zeigt, dass für den Übergang von der stratifizierten zur funktional differenzier-

ten Gesellschaft diese Bedingungen gegeben sind, im Falle des Computers jedoch entspre-

chende soziale Innovationen bislang nicht beobachtet wurden. Darauf basiert die These, dass

der Computer bislang nicht in eine nächste Gesellschaft, sondern an die Grenzen der Komple-

xitätsverarbeitungsfähigkeit der funktional differenzierten Gesellschaft führt. Das Beispiel der

formalen Organisation verdeutlicht, dass Organisation trotz der erweiterten Berechenbarkeit

16 eine Untersuchung außerhalb der von Baecker zitierten Management-Literatur: Åkerstrøm-Andersen/Born 2008

22

von Entscheidungen auf die Sanktionsmöglichkeit des Mitgliedschaftsentzugs angewiesen

bleibt. Der zunehmende Bedarf an Motivation der Mitarbeiter zu engagiertem Allgemeinver-

halten kann als Indikator dafür gesehen werden, dass dieser traditionelle Mechanismus mit

zunehmender Komplexität immer weniger hinreicht.

Abschließend sei dem eine gesellschaftstheoretische Überlegung zum Verhältnis von Organi-

sation und Gesellschaft hinzugefügt. Eine zentrale Aussage der Luhmannschen Systemtheorie

über formale Organisation aus gesellschaftstheoretischer Perspektive besagt, dass die größten

und wichtigsten Organisationen einem bestimmten Funktionsprimat zugeordnet werden könn-

ten.17 Schulen, Banken, Universitäten, Gerichte oder Kirche seien hinsichtlich des obersten

Organisationszwecks auf die Funktion der Erziehung (Schule), der Wirtschaft (Bank), der

Wissenschaft (Universität), des Rechts (Gericht) oder der Religion (Kirche) verpflichtet.

Åkerstrøm-Andersen prägt für Organisationen dieses Typus den Begriff der monophonen

Organisation (Åkerstrøm-Andersen 2001). Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist zu

beobachten, dass sich diese monophone Orientierung vielfach in eine Polyphonie von Organi-

sationszwecken auflöst, was die einzelnen Entscheidungsoperationen mitunter vor gravieren-

de Prioritätsprobleme stellt (Åkerstrøm-Andersen 2001). Private Schulen, private Universitä-

ten oder private Krankenhäuser beispielsweise müssen sich an der wirtschaftlichen Gewinn-

orientierung ebenso ausrichten, wie am ursprünglich monophonen Zweck der Erziehung,

Wissenschaft oder Krankenbehandlung. Gerade für Kirche als formale Organisation wird

deutlich, wie schwierig operatives Entscheiden wird, wenn neben die Ausrichtung an der Re-

ligion die Ausrichtung an wirtschaftlichen Kategorien hinzutritt (Stöber 2005; Henkel 2009a).

Fragt man nun, wie es zu diesem in ganz unterschiedlichen Kontexten beobachtbaren Trend

von monophonen zu polyphonen Organisationen kommt, so kann die Antwort in dem erwei-

terten Komplexitätsverarbeitungspotential durch das Computer- anstellte des Buchhalter-

Controllings vermutet werden. Organisationstheoretisch betrachtet gibt es keinen organisati-

onseigenen Grund, aus dem eine Organisation ihr Entscheidungsverhalten auf ein einzelnes

Funktionsprimat ausrichten sollte. Im Gegenteil. Wenn Organisation darüber definiert ist, mit

eigenen Entscheidungen an eigene Entscheidungen anzuschließen und dabei über die Prämis-

sen dieses ihres Entscheidens zu entscheiden, gibt es keinen Grund, weshalb Organisation

nicht auch über ihre primäre Zwecksetzung entscheiden können sollte.

So betrachtet ist weniger die Polyphonie, als vielmehr die Monophonie von Organisationen

erklärungsbedürftig. Meine These ist, dass die durchgängige Festlegung von Organisationen

auf einen bestimmten Zweck darin begründet liegt, dass auf diese Weise die Komplexitätsvor- 17 Nach Luhmann bilden sich die wichtigsten und größten Organisationen innerhalb der Funktionssysteme und übernehmen deren Funktionsprimat sowie deren binäre Codierung, vgl. Luhmann 1999a, S. 841

23

teile von Organisation innerhalb der Beschränkungen des Buchhalter-Controllings optimal

zum Einsatz gebracht wurden. Mit der Erweiterung der Komplexitätskontrollkapazitäten der

Organisation entfällt diese innerorganisationale Notwendigkeit einer monophonen Orientie-

rung. Die Organisation kann die Herstellung mehrerer Produkte ebenso innerorganisational

abbilden wie sie eine größere Anzahl von Entscheidungsanforderungen einzubeziehen in der

Lage ist.

Für Gesellschaft resultiert aus dieser erweiterten Zwecksetzungsfähigkeit formaler Organisa-

tionen die Schwierigkeit, nunmehr polyphone Organisationen auf spezifische gesellschaftliche

Werte zu verpflichten. Das Konzept der Corporate Social Responsibility verlangt von Organi-

sationen eben diese Selbstverpflichtung auf nicht-betriebswirtschaftliche Werte. Den geringen

Erfolg solcher Selbstverpflichtungen zeigt nicht zuletzt die aktuell fortdauernde Finanz- und

Wirtschaftskrise. Wie aber sollen Organisationen auf Werte verpflichtet werden? Sowohl der

Ruf nach der ordnenden Kraft des Marktes als auch der aktuelle Umschwung in Richtung

einer Regulierungsverpflichtung des Staates impliziert zwangsläufig eine Überforderung von

Wirtschaft bzw. Politik, wenn man von operationaler Geschlossenheit der Funktionssysteme

ausgeht.

Dass Management-Problem der Motivation von Mitarbeitern zu engagiertem Verhalten taucht

hier als gesellschaftliches Problem der Motivation von Organisationen zu gemeinwohlorien-

tiertem Entscheidungsverhalten wieder auf. In beiden Fällen fehlt ein komplexitätsadäquater

Mechanismus der Festlegung und Stabilisierung von Erwartungen. Die Herausforderung liegt

darin, mit solchen Schwierigkeiten so umzugehen, dass Erwartungsstabilität gewährleistet ist.

Andernfalls entgleitet die Komplexität der Kontrolle selbst der computergestützten Buchfüh-

rung, was im Falle „systemrelevanter“ Organisationen gesellschaftliche Folgen hat. Diese

gesellschaftlichen Folgen liegen nicht nur in einer Überforderung des Staates oder der Staa-

tengemeinschaft, derart außer Kontrolle geratene Organisationen zu restabilisieren. Vor allem

besteht die Gefahr, dass sich Komplexitätskontrollschwierigkeiten auf Organisationsebene zu

einem Vertrauensverlust in Erwartungsstrukturen auf Gesellschaftsebene auswachsen und

schlimmstenfalls eine Hyperinflation der Erfolgsmedien zur Folge haben: Die ursprüngliche

Unwahrscheinlichkeit der Annahme von Kommunikationen mit besonderem Zumutungsge-

halt kommt dann wieder zum Vorschein – aber jetzt in einer entwickelten Gesellschaft, die

das nicht mehr ertragen kann (Luhmann 1999a, S. 384). In diesem Fall käme es anstelle einer

nächsten, ökologischen Gesellschaft zum Zusammenbruch der funktional differenzierten.

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