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Sonderdruck aus: Sympathie und Literatur ur Relevanz des Sympathiekonzeptes für die Literaturwissenschaft Herausgegeben von Claudia Hillebrandt und Elisabeth Kampmann ERICH SCHMIDT VERLAG 2014

Seelenräume und Sympathieebenen statt skeptischer Erzählartistik - Ludwig Richter und Josef Hegenbarth als 'empfindsame' Illustratoren von Johann Carl August Musäus' 'Stummer Liebe',

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Sonderdruck aus:

Sympathie und Literatur

ur Relevanz des Sympathiekonzeptes für die Literaturwissenschaft

Herausgegeben von

Claudia Hillebrandt und Elisabeth Kampmann

ERICH SCHMIDT VERLAG 2014

Andreas Beck

Seelenräume und Sympathieebenen statt skeptischer Erzählartistik - Ludwig Richter und JosefHegenbarth als ,empfindsame' Illustratoren von Johann Carl August Musäus' Stummer Liebe

Märchenillustrationen von Ludwig Richter oder solche, die Richtersehen Einfluss zeigen (wie etwa diejenigen JosefHegenbarths), entziehen sich ei­nem unumwundenen analytischen Zugriff. Richters Märchenillustrationen zeugen nämlich immer wieder von kompetenter, präziser Lektüre des von ihnen bebilderten Texts; sie knüpfen an eine literarische Tradition an und brechen mit einer anderen, und so bedarf eine Auseinandersetzung mit ihnen und ihren Nachfolgern zuvor der Entfaltung des literarhistorischen Hintergrunds, von dem sie sich her-,schreiben'. Die Illustrationen Richters und Hegenbarths zu Musäus' Stummer Liebe (aus den Volksmährehen der Deutschen) dürften nun literarischer Empfindsamkeit, deren sentimentaler Inblicknahme der Materialität beziehungsweise Visualität des Texts ver­pflichtet sein - zugleich wenden sich jene Illustrationen, wie mir scheint, gegen eine launige Erzählartistik a Ia Wieland oder Musäus, die gerade auch in der Behandlung materieller und visueller Textmomente empfind­sames Erzählgebaren parodiert. Daher gilt meine Aufmerksamkeit zunächst bestimmten Zügen des empfindsamen Briefromans; anschließend werde ich entsprechende antisentimentale Erzählkapriolen der Stummen Liebe vor­stellen - um dann zeigen zu können, wie Richter und Hegenbarth als Erben der Empfindsamkeit im Musäischen Text gegen ihn arbeiten.

Empfindsame literarische Texte des späteren 18. Jahrhunderts zielen auf emotionsgesättigte Rezeption. Sie wollen zu "SYMPATHIE" bewegen, 1

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Vgl. exemplarisch die anonyme Rezension des Trauerspiels Turneficus von Comelius von Ayrenhoff: "dieß sind keine schickliche Mittel, die Herzen des verfeinerten 18 Jahrhunderts zu rühren. Für uns ist das Stück [ . .. ] ohne Erregung der Sympathie, und also ohne den geringsten Nutzen"; Allgemeine deutsche Bibliothek (33/2) 1778, S. 524-526, hier S. 524.

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Seelenräume und Sympathieebenen statt skeptischer Erzählartistik

"welches eigentlich MITLEIDEN bedeutet"/ beziehungsweise sie wollen, allgemeiner gefasst, "MITGEFÜHL oder GLEICHGEFÜHL" erregen, derm es "umfaßt das Wort Sympathie sowol die angenehmen, als unangenehmen Mitgefiihle".3 Empfindsame Literatur wirkt also wesentlich auf eine see­lisch-emotionale Gleichrichtung ihres Publikums mit den in ihr geschilder­ten Figuren hin: Die Gefiihle, die literarisch-anthropologische ,Gemälde des menschlichen Herzens'4 zur Darstellung bringen, sollen, ein Instrument der Selbsterkermtnis, vom Rezipienten als einem qua Mensch empfin­dungsbegabten Wesen nach- respektive mitvollzogen werden.

Bei diesem Vorhaben lassen empfindsame Texte ein bemerkenswertes Gespür fiir das sentimentale Semantisierungspotential erkennen, das ihrem konkreten Erscheinungsbild irmewohnt. In Timetheus Herrn es ' Sophiens Reise von Memme! nach Sachsen etwa - einem damals viel gelesenen Briefroman5 der 1770er, Musäus spielt in der Stummen Liebe auf ihn an6

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erfährt die reisende Sophie sich selbst in ihrer unabweisbaren, amorali­schen Emotionalität und derart als rätselhaften, sozial inkompatiblen Men­schen.7 Eine skeptische literarisch-anthropologische Wortmeldung, die die

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Johann Christoph Adelung: Versuch eines vollständigen grammatisch­kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart. Bd. 4. Leipzig 1780, Sp. 889. - In Zitaten wird Antiqua im Fraktursatz durch Kursive markiert; Hervorhebungen (größerer Schriftgrad, Schwabacher, Sperrungen o.ä.) er­scheinen in KAPITÄLCHEN. Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Bd. 2. Braun­schweig 1801, S. 633 . So der Titel einer fünfzehnbändigen Sammlung von Erzählungen Heinrich August Lafontaines, die seit 1791 erschien; vgl. Franz Muncker: Lafontaine, August. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 17. Leipzig 1883, S. 512-520, hier S. 515. Zum Briefroman als einer der Empfindsamkeit affinen, nicht jedoch ,schlecht­hin empfindsamen' Gattung vgl. ausführlich Gideon Stiening: Briefroman und Empfindsamkeit. In: Das Projekt Empfmdsamkeit und der Ursprung der Mo­deme. Hg. von KlausGarberund Ute Szell. München 2005, S. 161- 190. Vgl. [Johann Carl August Musäus]: Volksmährehen der Deutschen. Bd. 4. Gotha 1786, S. 16f. - Nachweise aus dieser Ausgabe im Text unter der Sigle SL 1786 sowie Angabe der Seitenzahl. Vgl. etwa [Johann Timotheus Hermes]: Sophiens Reise von Memme! nach Sachsen. [Bd. 1]. Leipzig 1770, S. 63-65 und S. 70-72f. (IX. Brief); S. 110 (xr. Brief); S. 137 und S. 146 (XIII. Brief bzw. dessen Fortsetzung); S. 160f. und S. 168- 170 (xvr. Brief bzw. dessen Fortsetzung). - Nachweise aus dem ersten Band jener Ausgabe im Text unter der Sigle SR 1770 sowie Angabe der Seitenzahl. - Forschungsbeiträge zu Sophiens Reise sind rar; vgl. Fritz Brüg-

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schmerzliche Erfahrung der Gebrechlichkeit menschlicher Gemeinschaft auch über materielle Textmomente fühlbar machen möchte - von Anfang an: Die erste Seite des Romans droht unversehens das "LETZTE Blatt" vor­zustellen, "denn nun werden meine zitternde Hände wol nicht mehr schrei­ben"; so beginnt die Witwe E., deren "Herz[en] [ ... ]alles entrissen worden ist", den Brief an ihre "innigstgeliebte Tochter" (SR 1770, 1 ), zu der der Kontakt seit Jahren abgebrochen ist; "o! möchtest du diese zitternden Züge meiner Hand [ ... ] sehen"- der Schluss des Briefs betont abermals dessen singuläres Schriftbild, das in der Lektüre die womöglich unheilbare Ein­samkeit der alten Frau, die "Wunde meines Mutterherzens fühlen" (SR 1770, 2f.) lassen soll. Den zweiten Brief indes richtet Sophie an die Witwe E. als ihre "Geliebteste MUTTER!"; die verwaiste Pflegetochter er­setzt den schmerzlichen Verlust des leiblichen Kinds, sie versichert die Ad­ressatin der "Gewißheit, daß Sie von einer Tochter ganz ohne Zurückhal­tung geliebt werden" - und der "Beweis[] einer[ ... ] so zärtlichen Liebe" erfolgt im neuerlichen, nicht mehr nur das Schriftbild berücksichtigenden Rekurs auf die Materialität des Texts: "bey einem Tintenfaß, das mit an­dem nur das gemein hat, daß es auch schwarz aussieht; mit einer Feder, der nichts fehlt als eine Spalte, bey diesem Papier, das die Wirthin seit einigen Wochen wohlbedächtig im Keller aufbehalten hat", ist es schier "unmög­lich [ .. . ] zu schreiben, denn das kann kein Mensch lesen. Ich muß erst das Papier am Feuer trocknen" (SR 1770, 4f.). Visuelle und haptische Momen­te garantieren dem Rezipienten die rührende emotionale Tiefe des empfind­samen Texts; als Zeugnis überwundener Hindernisse machen sie die Stärke gefiihlsbasierter menschlicher Gemeinschaft spürbar - zugleich aber auch deren Gefährdung, denn angesichts vielfältiger Widrigkeiten, auf die hin jene Schreibwiderstände als pars pro foto gelesen werden können, ist es vielleicht nicht weit von der mühsamen Aufrechterhaltung sozialer Bin­dungen bis zu deren Zerbrechen.

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gemann: Einfiihrung. In: Johann Timotheus Hermes: Sophiens Reise von Memel nach Sachsen. Ausgewählte Teile aus der Erstausgabe von 1770-72. Hg. von Fritz Brüggemann. Leipzig 1941, S. 5-22; Norbert Miller: Der emp­findsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts. München 1968, S. 171-175 und S. 391f.; Wilhelm Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (45) 1971, S. 80-116, hier S. 93f.; erheiternd ist der leise Vorwurf, der Briefromancier Hermes habe "Goethes Radikalität[ ... ] nicht fol­gen wollen" (Gerhard Sauder: Briefroman. In: Reallexikon der deutschen Lite­raturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar. Bd. 1. Berlin u. a. 1997, S. 255- 257, hier S. 256) - das war auch, da der Werther zwei bzw. vier Jahre nach Sophiens Reise erschien, gar nicht so einfach.

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Solche Instrumentalisierung nonverbaler paratextueller Momente8

stellt keinen Einzelfall dar; in der Geschichte des Fräuleins von Sternheim be­gegnet ein weiteres signifikantes Beispie1.9 Hier beginnt das Spiel mit der Materialität des empfindsamen Texts nicht, wie in Sophiens Reise, erst auf der ersten Seite des ,eigentlichen' Romantexts, nach einem Bogen paratex­tueller Präliminarien - sondern schon mit dem Titelblatt sowie dem Einsatz des Vorworts. Die "GESCHICHTE DES FRÄULEINS VON STERNHEIM", belehrt uns ein Blick auf ersteres, ist "[v]on einer Freundin derselben aus Original­Papieren und andem zuverläßigen Quellen gezogen"

10 - das soll, Authenti-

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Genette deutet ihre Relevanz nur punktuell an; vgl. Gerard Genette: Paratex­te. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a. M. 2001, S. 14. - Vgl. zur empfindsamen Reflexion materieller Textbeschaffenheit im Briefroman des 18. Jahrhunderts (die recht selten in den Blick der Forschung gerät): Lothar Müller: Herzblut und MaskenspieL Über die empfindsame Seele, den Briefroman und das Papier. In: Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Hg. von Gerd Jüttemann, Michael Sonntag und Christoph Wulf. Göttin­gen 2005, S. 267- 290, hier S. 267; Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist derHerausgeberfiktion. München 2008, S. 166 und S. 172. Vgl. auch Arata Takeda: Die Erfindung des Anderen. Zur Genese des fiktionalen Herausgebers im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Würzburg 2008, S. 66f.; Takeda betont ebd., S. 72-76, die emotionsdämpfende Wirkung derartiger Reflexionen: Je präziser die Beschreibung solcher materialen Textmomente sei, desto gekünstelter wirke der Text, da dem unmittelbaren Adressaten jene Eigenschaften ohnehin einleuchteten. - Eine wohl zu pauschale Auffassung: Bleistiftgekritzel auf einem abgerissenen Brieffragment, Gekrakel auf feuch­tigkeitsgewelltem Papier - ohne jede Erläuterung könnte der Empfänger sol­che Missachtung des decorum doch auch als Unhöflichkeit auffassen. Vgl. außerdem, im ersten Teil von Sophiens Reise, etwa das Ende des IX. Briefs (SR 1770, 81), das Ende des XII. Briefs (SR 1770, 136), das Ende des xv. Briefs (SR 1770, 158f.) sowie den xvr. Brief (SR 1770, 168); ver­wandte Phänomene in Richardsons Pamela (1740) sowie Clarissa (1748), in Rousseaus Nouvelle Heloi'se (1761) oder in Laclos' Liaisons dangereuses (1782) weisen nach: Ian Watt: Der bürgerliche Roman. Aufstieg einer Gat­tung. Frankfurt a. M. 1974, S. 229; Müller: Herzblut und Maskenspiel (wie Anm. 8), S. 281; Takeda: Erfindung des Anderen (wie Anm. 8), S. 66f. und s. 72f. [Sophie von La Roche], Geschichte des Fräuleins von Stemheim. Herausge­geben von C. M. Wie land. Bd. 1. Leipzig 1771, Titelblatt. - Zu diesem Band existiert ein Doppeldruck; im folgenden Nachweise im Text unter der Sigle St 1771 sowie Angabe der Seitenzahl nach dem Exemplar der Österreichi­schen Nationalbibliothek, Sign. 275597-A.1; vgl. demgegenüber - auch als Digitalisat im Internet greifbar - das Exemplar der Herzog August Biblio­thek Wolfenbüttel, Sign. Wa 7074: 1.

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zität verbürgend, die Kraft dieser moralsentimentalischen Tugendschule stärken; entsprechend akzentuiert der Roman handschriftliche freundschaft­liche Kommunikation als Bedingung seiner Möglichkeit. "Sie sollen mir nicht danken, meine Freundinn, daß ich so viel für Sie abschreibe [ ... ]. . Glauben Sie, es ist ein Vergnügen für mein Herz" (St 1771, 1 ); dieser Be­ginn des ,eigentlichen' Texts präsentiert den empfindsamen Briefroman seinerseits als brieflich-handschriftliche, gefühlvolle Mitteilung - die dann, wenn intradiegetisch die Darbietung der Briefe des Fräuleins von Stern­heim ansteht, sich wiederum der konkreten materiellen Gestalt dieses sozu­sagen ,eigentlichsten' Texts annähert. Bei der Schilderung "meines gelieb­ten Fräuleins", des "Charakter[s] Ihres [sie] Geistes und Herzens", glaubt jene Freundin, dass sie "am besten thun werde, wenn ich hier, anstatt die Erzählung fortzusetzen, Ihnen eine Reihe von Originalbriefen, oder Ab­schriften [ ... ] vorlege" (St 1771, 87). So wird die Geschichte des Fräuleins von Sternheim, unter Wegfall der abschreibenden Freundin als Vermitt­lungsinstanz, auf des Fräuleins authentische Selbstdarstellung von "allen meinen Empfindungen" (St 1771, 88) hin transparent- gerade auch in ma­teriell-konkreter Hinsicht, indem jene authentische Selbstdarstellung hier als zumindest teilweise eigenhändige, , vorliegende' sichtbar, greifbar wird.

Vielleicht aber meint jenes ,vorlegen' gar nicht, dass die erwähnten Originalbriefe oder älteren Abschriften dem briefartigen Manuskript der Geschichte des Fräuleins im Original beilagen, sondern nur, dass besagte Freundin neue, ungekürzte Abschriften anfertigte? Anhaltspunkte für eine solche Lesart gibt es11 - wirklich klären lässt sich diese Frage indes nicht, denn wir haben ja weder die Sternheimsehen Originalbriefe (oder ältere Abschriften) noch die Abschrift jener ominösen Freundin vor uns. Wir ver­fügen lediglich über einen schnöden Druck, den "C. M. WIELAND" in "LEIPZIG, bey Weidmanns Erben und Reich" "[h]erausgegeben" hat (St 1771 , Titelblatt) -und dieser Druck offenbart auf den ersten Blick, dass wir es hier garantiert nicht mit Original-Papieren zu tun haben. Das ge­druckte Buch neutralisiert jene Bemühungen, visuelle beziehungsweise ma­terielle paratextuelle Momente in den empfindsamen Erzählvorgang zu in­tegrieren: Spuren der Trocknung bei gewelltem, vormals feuchtem Briefpapier, Zeichen des Kampfs mit ungeeigneten Schreibutensilien, zit­ternde Züge oder eine authentisch-individuelle Handschrift, in der geliebte Menschen präsent bleiben - die eine Papierqualität von der ersten bis zur letzten Buchseite, vor allem aber der einförmig-gewöhnliche, im Hinblick

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Vgl. den Schluss des ersten Bands, St 1771, 367 - warum sollte dort die schreibende Freundin versprechen, "fleißig seyn" zu wollen, um ihre Freun­din "nicht lange [ ... ] warten zu lassen" , wenn sie doch nur Briefe beilegt? V gl. auch den oben zitierten Beginn des Romans.

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auf schriftbildliehe Effekte limitierte Lettemsatz, kurz: die paratextuelle drucktechnische Normalität konterkariert eine Emotionalisierung der Text­rezeption in diesem Bereich. 12

Das kann man beklagen - muss man aber nicht. Das Vorwort zur Ge­schichte des Fräuleins von Sternheim wenigstens lässt gleich zu Beginn nicht nur ein waches Bewusstsein des Herausgebers für die empfindsam­keitsfeindlichen Folgen der von ihm initiierten Drucklegung erkennen; es lässt zudem lustvoll-spielerische Schadenfreude an diesem im Wortsinn unsympathischen Effekt vermuten: "Erschrecken Sie nicht, meine Freun­din, anstatt der Handschrift von Ihrer Sternheim eine gedruckte Copey zu erhalten [ ... ]. Die That scheint beym ersten Anblick unverantwortlich" (St 1771, m). Auf der Stelle wird das infolge des Drucks eben nicht mehr vorhandene authentisch-handschriftliche Originalmoment des Texts, auf das dieser doch um seiner Wirkungwillen Wert legt, als ein im Druck ver­loren gegangenes betont; und wenn letzterer ,beym ersten Anblick unver­antwortlich' zu sein scheint, dann wird der Rezipient durch solche Formu­lierung schier dazu gedrängt, von Anfang an das optische Moment des ihm vorliegenden Texts als mit dem Romanwort unvereinbar wahrzunehmen, in dessen Schriftbildlichkeit einen Störfaktor zu sehen, der stets und ständig zu einer distanzierend-reflektierten Lektüre anhält und so eine empfindsa­me Rezeption der Sternheim hintertreibt - die gerade als Manuskript "unter den Rosen der Freundschaft" Mitteilung war ",von meiner Art zu empfin­den, [ ... ] von den Betrachtungen, welche sich in meiner Seele, wenn sie lebhaft gerührt ist, zu entwickeln pflegen"' (St 1771, mf.).

Dass "C. M. WIELAND" (St 1771, Titelblatt) der schriftstellemden "Freundin" (St 1771, m) sogleich entschieden in die Parade fährt/ 3 lässt

12 Zur Nivellierung einmalig-authentischer Hand- und Herzensschrift durch die replizierbare, uniforme Drucktype vgl. Müller: Herzblut und Maskenspiel (wie Anm. 8), S. 278; Wirth: Geburt des Autors (wie Anm. 8), S. 173f.; Ta­keda: Erfindung des Anderen (wie Anm. 8), S. 72f. - Dennoch vermag der Druck als "Stellvertreter des eigentlichen Briefes" auf letzteren hin "gewis­sermaßen durchsichtig [zu] werden", die "Differenz zwischen Handschrift und Druck" zu "überspiel[en]", vgl. das (allerdings singuläre) ,Paper x' der wahnsinnigen Protagonistin in Richardsons, des "Drucker[s] und Roman­cier[s]", Clarissa; in der Nachahmung wirren Gekritzels durch kreuz- und quergestellte Druckzeilen werden "Techniken der Typographie zur ,lebendi­gen' Konterkarierung der Momente von Nivellierung, Entindividualisierung und Abstraktion im Druckbild eingesetzt"; Müller: Herzblut und Masken­spiel (wie Anm. 8), S. 278. Vgl. auch ebd., S. 281; vgl. außerdem Ian Watt: Der bürgerliche Roman (wie Anm. 9), S. 229, sowie Stephanie Fysh: The Work(s) of Samuel Richardson. Newark 1997, S. 80-99; ebd., S. 86, das Faksimile besagten ,Paper x' in der Erstausgabe der Clarissa.

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wenig kooperative Methode argwöhnen - ein Verdacht, den ein späterer Herausgeberkommentar bestätigt. Als das Fräulein von Sternheim den Aus­spruch eines "Gelehrten" anführt, "der einmal sagte: die EMPFINDUNG EN

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Anders Wirth: Geburt des Autors (wie Anm. 8), S. 174- 176; er betont, dass die ,Enteignung der [Hand-]Schrift' durch Publikation im Druck keinen Verlust von Authentizität bedeuten müsse - und liest, ausgehend von der zeitgenössischen Annahme einer erst durch Veröffentlichung hergestellten Authentizität, den "beinahe gewalttätige[ n] Akt der Veröffentlichung, den Wieland im Vorwort zu Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim in Szene setzt, als Authentizitätsstrategie" (ebd. , S. 176), als quasi-notarielle Beglaubigung der dem Herausgeber vorliegenden Origi­nalhandschrift, wofür ein Akt des Öffentlich-Machens notwendig ist. Eine anregende Lesart; m.E. jedoch zeigen Vorrede und Anmerkungen des Her­ausgebers im Fräulein von Sternheim zusammengesehen (s. das Folgende) ein gezieltes Unterlaufen handschriftlicher Authentizität durch den Druck. Dieser empfindsamkeitskritische Zug entgeht auch Martin Andree: Archäo­logie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute. 2. Auflage. München 2006, S. 264 - ihm zufolge verschafft die Druckle­gung des Fräuleins von Sternheim als Preisgabe einer "intimen Seelenge­schichte" dem Leser wie einem "Voyeur[ ... ] Einblicke in private Herzens­angelegenheiten", der Rezipient "blickt hinter den Schleier der Intimität"; zuallererst trifft doch aber der Leserblick, ganz unmetaphorisch, auf das Druckbild der Buchseite als eine Art undurchdringlich-emotionskalten Schleier. Ein Umstand, den Alexandra Kleihues gleichfalls übersieht - ob­wohl sie hervorhebt, dass das Fräulein von Sternheim "im wörtlichen Sinne ein Schau-Spiel" darstelle, in dem "sämtliche Interaktionsverhältnisse [ ... ] im wesentlichen visuell hergestellt" würden; Alexandra Kleihues: Der emp­findsame Blick. Zu Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim. In: Schaulust. Heimliche und verpönte Blicke in Literatur und Kunst. Hg. von Ulrich Stadler und Karl Wagner, München 2005, S. 39- 54, hier S. 41.- Selbst die Sternheim-Herausgeberin Barbara Becker-Cantarino zeigt sich an schriftbildliehen Phänomenen wenig interessiert - warum sonst zitiert sie eine einschlägige Briefstelle (Wieland an Sophie von La Roche, Ende April 1770) über Jahrzehnte hinweg falsch? Dort heiße es, der Verleger Reich solle die Sternheim ," in einer üppig gezierten, aber simpel schönen Ausgabe"' herausbringen; Barbara Becker-Cantarino: Nachwort, in: Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Stern­heim. Hg. von Barbara Becker-Cantarino, Stuttgart 1997 [zuerst 1983], S. 381-415, hier S. 397; dies., Meine Liebe zu Büchern. Sophie von La Roche als professionelle Schriftstellerin, Beideiberg 2008, S. 54. In Be­cker-Cantarinos Quelle ist indes von "einer nicht üppig gezierten [ ... ] Aus­gabe" die Rede; Wielands Briefwechsel. Hg. von der Akademie der Wis­senschaften der DDR. Bd. 4. Berlin 1979, S. 140.

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der FRAUENZIMMER wären oft richtiger als die GEDANKEN der MÄNNER", beliebt ,C. M. Wieland' dies wie folgt zu kommentieren: "Eine Bemer­kung, welche der Herausgeber aus vieler Erfahrung an sich und andem von Herzen unterschreibt" (St 1771, 127). Eine maliziöse Umkehrung des im Haupttext Gesagten, in zweifacher Hinsicht. Wenn "der Herausgeber" der Protagonistin "von Herzen" beipflichtet - solche adverbiale Bestimmung hätte ja fortbleiben können, wie überhaupt die für das Textverständnis ent­behrliche Anmerkung - , dann ist die im Haupttext vorgenommene Hierar­chisierung von überlegener weiblicher Position und falliblem maskulinem Standpunkt hinfällig, denn derart überwindet ja ein geftihlvoller Mann die seinem Geschlecht eigene Rationalität und schließt zu jener höheren emp­findsamen Warte des "FRAUENZIMMER[S]" auf. Allerdings: So passgenau, wie diese Spitze auf den Sternheimsehen Text gemünzt ist, schreibt sie sich kaum "von Herzen" her, sondern wohl aus artistisch-reflektiertem Kalkül -so dass jene Fußnote, da sie weiblich-emotionale Überlegenheit pseudo­empfindsam bestreitet, in ihrem absichtsvollen performativen Widerspruch zuletzt dem Romantext geradezu widerspricht und gegen ihn die Überle­genheit der "GEDANKEN der MÄNNER" reklamiert.

Ein Paradebeispiel dafür, dass Paratexte so, wie dies der Beginn von Genettes Seuils (dt. Paratexte) vorführt, in den Haupttext einzugreifen, womöglich gezielt gegen ihn vorzugehen vermögen: als ein paratexte, der - in Analogie zum parapluie, parasol, paravent oder parachute - ein In­strument darstellt, um sich gegen einen Text zu verwahren.

14 Das ist hier

aber noch nicht alles. Der Herausgeber "unterschreibt" in jener Anmer­kung, was wörtlich zu nehmen ist, denn dieses ,unterschreiben' kommt in

14 Die erste Seite der Introduction zu Seuils verweist auf den "sens [ . . . ] ambigu de ce prefixe [,para-'] en fran9ais" (,a cote de'/,neben' bzw. ,protection cont­re' I, Schutz gegen' , vgl. Micro Robert en Poche. Dictionnaire du Fran9ais primordial. Stuttgart u. a. 1979, S. 753) und führt die Bildungen ,"parafiscal' ou ,paramilitaire"' an; dies betont den Hierarchiebezug und die mögliche Ag­gressivität des ,.paratexte", und Genette demonstriert beides auf ebenjener Seite mit der zweiten Fußnote, die den Aufstand gegen den ,eigentlichen' Text wagt. Nur in ihr wird in Seuils (wenn ich recht sehe) die Begriffsbildung ,pa­ra-texte' ansatzweise erläutert; in einem Paratext, der nicht nur quantitativ mit dem ,über' ihm stehenden ,Haupt'-Text konkurriert, sondern sich auch dadurch gegen seine dort vorgenommene Marginalisierung als "accompagne­ment" wehrt, dass er zentrale Definientia seiner selbst bietet, die ,eigentlich' in den Haupttext und nicht in eine Fußnote gehören - und die, derart sozusa­gen passend deplatziert, eine zentrale Eigenschaft des Paratexts in praxi de­monstrieren: dessen Tendenz, verlässlich erscheinende hierarchische Textord­nungen zu stören; Gerard Genette: Seuils, Paris 1987, S. 7; die deutsche Übersetzung (wie Anm. 8) ist hier, weil simplifizierend, wenig brauchbar.

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besagter Fußnote, die unter dem Haupttext platziert ist, als letztes Wort ganz unten zu stehen, auf Höhe der Kustoden. Der Anmerkungstext geht also nicht nur durch das typographieunabhängig von ihm Bezeichnete ge­gen die Geschichte des Fräuleins von Sternheim vor, sondern außerdem mittels seiner schriftbildlich-visuellen Erscheinung; die Fußnote ,un­terläuft', 15 sie , untergräbtd 6 den Roman. Das Druckbild, das bereits als sol­ches "Verrätherey" (St 1771, m) an der empfindsamen Wirkabsicht dieses Briefromans darstellt, es wird hier außerdem gezielt antisentimentalisch semantisiert im Hinblick auf die konkrete räumliche (oder präziser: flächi­ge) Ausgestaltung der Buchseite.

Dies macht die Relevanz sichtbar, die dem ,Raum des Erzählens' zu­kommen kann: ,Raum des Erzählens' nicht verstanden als der "Raum", der "im Erzähltext evoziert" wird, 17 nicht als "Narrative Space" im Sinne von "the physically existing environment in which characters live and move"18

- sondern ,Raum des Erzählens' verstanden als der in der Erzählforschung, soweit ich sehe, kaum jemals als Element des Erzählvorgangs gewürdigte "Raum, den die Buchstaben auf dem Papier einnehmen", 19 beziehungswei-

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Zu ,unterlaufen' im Sinne von ,unter die gezogene Waffe eines andern lau­fen und ihn wehrlos machen' vgl. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörter­buch (wie Anm. 2), Sp. 1299; Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache. Bd. 5. Braunschweig 1811, S. 204. Zu ,untergraben' im Sinne von ,am Umsturz, an der Vernichtung von etwas arbeiten' vgl. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch (wie Anm. 2), Sp. 1293; Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache (wie Anm. 15), s. 198.

17 Natascha Würzbach: Erzählter Raum. Fiktionaler Baustein, kultureller Sinn­träger, Ausdruck der Geschlechterordnung. In: Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Hg. von Jörg Helbig. Beideiberg 2001, S. 105-127, hier s. 107.

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Marie-Laure Ryan: Space. In: Handbook of Narratology. Hg. von Peter Hühn, John Pier, Wolf Schmid und Jörg Schönert. Berlin u. a. 2009, S. 420-433, hier S. 421. Zu ähnlichen Inblicknahmen des ,Raums des Erzählens' vgl. etwa Frank C. Maatje: Versuch einer Poetik des Raumes. Der lyrische, epische und dramatische Raum. In: Landschaft und Raum in der Erzähl­kunst. Hg. von Alexander Ritter. Darmstadt 1975, S. 392--416, hier S. 392; Gerhard Hoffmann: Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit. Stuttgart 1978, S. 1-3; Matias Martinez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähl­theorie. 8. Auflage. München 2009, S. 140f.; Katrin Dennerlein: Narratolo­gie des Raumes. Berlin u. a. 2009, S. 48. Dennerlein: Narratologie des Raumes (wie Anm. 18), S. 5; vgl. ebd., als s. 50.

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se genauer: verstanden als "[t]he Spatial Extension of the Text"/0 was im Fall von Druckwerken ja nicht nur die Flächigkeit der Seite meint, sondern auch die Dreidimensionalität etwa des Buchs umfasst. 21

Der Blick auf jene beiden Briefromane der 1770er führt uns zu einem Paradox: Im Interesse emotionaler Gleichstimmung von Erzähltem und Rezipienten entwickelt empfindsame Literatur ein Sensorium für das re­zeptionssteuernde Potential nonverbaler, materialer respektive visueller paratextueller Momente - doch es sind nicht zuletzt empfindsamkeitskriti­sche Schriftsteller, die derartige Momente zu nutzen verstehen; sie kon­terkarieren mit Hilfe der - gerade, was visuelle Texteffekte angeht - ins­gesamt recht bescheidenen drucktechnischen Möglichkeiten des späteren 18. Jahrhunderts22 eine Sympathisierung des lesenden Publikums.

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Ryan: Space (wie Anm. 18), S. 423. - Die ,räumliche Ausdehnung des Texts' scheint lediglich systematischer Vollständigkeit halber ab und zu ver­zeichnet, ohne irgend erzählanalytisch fruchtbar zu werden - wenigstens sind mir entsprechende Arbeiten nicht bekannt, und bei Ryan fehlen, wie auch bei Dennerlein, Hinweise auf Forschungen zu diesem Thema. Diese Sicht mag problematischer Ausdehnung des ,Raums des Erzählens' verdächtig sein: So steht der Einwand zu gewärtigen, dass es sich bei der ,spatial extension of the text' nicht um einen ,Raum des Erzählens' handle, sondern um den Raum, den die materiale Repräsentation der Zeichen ein­nimmt, die dem Erzählvorgang zu Grunde liegt - dem Erzählvorgang, der nicht materialiter auf der Seite gegeben ist, sondern ein Konstrukt vorstellt, auch seitens des Rezipienten, nach Maßgabe von dessen Sprach- und Welt­wissen. Um zu entscheiden, ob besagte ,räumliche Ausdehnung des Texts' im ,Raum des Erzählens' angesiedelt werden darf, wäre daher wohl zu klä­ren, ob (insbesondere zeitgenössische) Leser räumliche bzw. materiale As­pekte der Textbasis bei der Lektüre berücksichtigen oder ob sie sie ausblen­den. Dies ist (vielleicht nicht nur) im Rahmen dieses Beitrags schwerlich zu leisten; indes dürften die im Folgenden untersuchten Illustrationen die An­nahme wahrscheinlich machen, dass zumindest seitens der Produzenten im­mer wieder versucht wird, die Wahrnehmung des Erzählvorgangs durch den Rezipienten gerade auch über die ,spatial extension of the text' zu steuern. Infolgedessen hoffe ich, Indizien für die erzähltheoretische Relevanz räum­lich-materialer Textaspekte zu bieten und zu einer Diskussion darüber beizu­tragen, bis zu welchem Grad solche Phänomene, gerade auch erzählanaly­tisch, berücksichtigt werden sollten. Die häufigen Holzschnittvignetten gerieten qualitativ oft bescheiden; höher­wertige Kupferstiche, die im Tiefdruckverfahren zu Papier kamen, wurden in Gestalt weniger einzelner, separat gedruckter und nachträglich eingebunde­ner Einschubillustrationen meist ohne schriftbildliehe Konsequenz in den Text integriert; oder es wurden einzelne Stiche in einem fehleranfälligen und oft wenig präzisen zweiten Arbeitsgang in den Text gedruckt - hier lassen

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Hiervon zeugt auch Johann Carl August Musäus' Stumme Liebe, die 1786 den vierten Teil seiner Volksmährehen der Deutschen eröffnet23 -und deren gefühlsskeptische Erzählartistik, unter Berücksichtigung der ,spatial extension of the text', der ,räumlichen Ausdehnung des Texts', von der Kupferstichvignette des Titelbatts (s. Abb. 1)24 ihren Ausgang nimmt. Und noch etwas lässt sich an Musäus' Stummer Liebe ablesen: Die Entwicklung neuer graphischer Drucktechniken seit Ende des 18. Jahrhunderts, die eine quantitativ wie qualitativ ungekannte Durchbilderung des Letternsatzes er­lauben und eine Fülle schriftbildlieber Gestaltungsmöglichkeiten bergen, zeitigt spätestens im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts spezifische sen-

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sich durchaus Interaktionen mit dem Schriftbild, Bezugnahmen auf die Drei­dimensionalität des Buchs beobachten (vgl. etwa Abraham a Saneta Clara: Heilsames Gemisch Gemasch. Nümberg u. a. 1704, S. l-10; ders.: Wohl an­gefüllter Wein-Keller. Nümberg u. a. 1710, S. [4]52; auch die Emblematik bietet Beispiele), aber entsprechende Finessen scheinen v. a. der Zeit des (Spät-)Barock anzugehören, während, so mein Leseeindruck, Illustrationen im Lauf des 18. Jahrhunderts insgesamt nicht mehr, bzw. noch nicht in dem Maß wie dann im 19. Jahrhundert, aufverbalvisuelle Textphänomene kalku­liert sind. Zu Musäus' Volksmährehen vgl. Norbert Miller: Der Romancier J. K. A. Musäus und seine Volksmärchen der Deutschen. In: Johann Karl August Musäus: Volksmärchen der Deutschen. München 1976, S. 876-906; Wemer Wilhelm Schnabel: Von der hübschen Magd und dem Herrn im Hause. Zur poetologischen Bestimmung des ,Volksmärchens' bei Johann Carl August Musäus. In: Texte Bilder Kontexte. Interdisziplinäre Beiträge zu Literatur, Kunst und Ästhetik der Neuzeit. Hg. von Ernst Rohmer, Wemer Wilhelm Schnabel und Gurrther Witting. Beideiberg 2000, S. 149-179. Vgl. auch, aus meiner Feder: Erzählen als Enttöten? Märchenhafte Menschenkunde in Mu­säus' fünfter Legende von Rübezahl. In: Das achtzehnte Jahrhun­dert 33/l (2009), S. 79- 94; Welthandelswege im Märchenwald - Johann Carl August Musäus' Stumme Liebe. In: Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien. Hg. von Christian Ma­ser und Linda Simonis. Bonn2014, S. 591- 601; Die ,Gattung Grimm' wird zum ,Volksmärchen' - Ludwig Richters Illustrationen zu Johann Carl August Musäus' Volksmährehen der Deutschen. In: Märchen, Mythen und Modeme: 200 Jahre Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Hg. von Claudia Brinker-von der Heyde, Holger Ehrhardt, Hans-Heino Ewers und Annekatrin Inder. Frankfurt a. M. u. a. 2014 [im Druck]. Die wohl "T. f" signierte Vignette dürfte von Medardus Thoenert (1754-1814) stammen - zu ihm vgl. Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler. Hg. von Hans Vollmer. Bd. 33. Leipzig 1939, S. 43.- Zu Thoenert als Illust­rator der Musäischen Volksmährehen vgl. Beck: Erzählen als Enttöten? (wie Anm. 23), S. 81f.

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timentalisierende Illustrationsstrategien; nun können Illustrationen das empfindsame Modell einer auf Sympathieinduktion zielenden Aufnahme von Literatur gerade auch dadurch geltend machen, dass sie materiale para­textuelle Momente - etwa die ,räumliche Ausdehnung des Texts' - ent­sprechend instrumentalisieren. Nun steht das Druckbild einer derartigen Rezeptionssteuerung, die sich gut fünfzig Jahre zuvor zwar denken, nicht aber praktizieren ließ, nicht mehr entgegen, und so können um 1830/40 Texte, die in neuartiger Weise illustriert sind, das Erbe der literarischen Empfindsamkeit antreten; sie können ihr durch die inzwischen mögliche Umsetzung eines ihrer erzählerischen Raffinements spät zu ihrem Recht verhelfen. Besonders deutlich wird dies, wenn eine solche sentimentalisie­rende Illustrationspraxis einen empfindsarnkeitskritischen Text umpolt: wenn etwa die Stumme Liebe in der Prachtausgabe der Musäischen Volks­mährchen von 1842/43 "[m]it Holzschnitten nach Originalzeichnungen von L[UDWIG] RICHTER"25 versehen wird- unter anderem mit Illustrationen, die in offensichtlichem Widerspruch zur Titelvignette des Erstdrucks der Stummen Liebe die ,räumliche Ausdehnung des Texts' umdeuten, den emo­tionskalten Raum gelehrter Intertextualität auf einen gefühlsreligiös konno­tierten Seelenraum hin öffnen.

Damit zum Erstdruck der Stummen Liebe, zur Titelvignette des "VIERTEN THEIL[S]" der "VOLKSMÄHRCHEN der DEUTSCHEN" (SL 1786, Ti­telblatt, s. Abb. 1 ): Mit brennender Laterne betritt ein geflügelter Putto das Dunkel einer Burg, er trägt Licht in deren ominöses ,Inneres', dessen Er­gründung ,äußere' Festungswerke entgegenstehen. Es liegt nahe, hierin ei­ne Allegorie empfindsamen Erzählens zu sehen; fünf Fenster hat die Burg, dem altbekannten Bild der fünf Sinne gemäß, durch die die Seele die Welt außer ihr wahmimmt26

- derart verspricht die Vignette eine psychologisch erhellende Lektüre: Der Leser soll das Außenwerk des Titelblatts hinter

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J[ohann] K[arl] A[ugust] Musäus: Volksmährehen der Deutschen. Pracht­ausgabe in einem Bande. Mit Holzschnitten nach Originalzeichnungen von R. Jordan, G. Osterwald, L. Richter, A. Schrödter. Leipzig 1842[f.], S. 431. ­Nachweise aus dieser Ausgabe im Text unter der Sigle Pa 1842 sowie Anga­be der Seitenzahl. - Zu Richter als Illustrator der Musäischen Volksmähr­ehen vgl. Beck: Erzählen als Enttöten? (wie Anm. 23), v. a. S. 79-81, sowie Beck: Richters Illustrationen (wie Anm. 23). Zur zeitgenössischen Präsenz dieser Metapher vgl. etwa: Bonaventura Le­onardelli: Die Ordensperson innerlich und äußerlich emeuret. Augsburg u. a. 1771, S. 38; Ludwig Anton Muratori: Über die Einbildungskraft. Bd. 1. Hg. von Georg Hermann Richerz. Leipzig 1785, S. 189f.; Christian Friedrich Rößler: Bibliothek der Kirchenväter. Neunter Theil. Leipzig 1785, S. 160; Blasius Hiller: Praktische Predigten für das Landvolk. Zweyter Jahrgang. Augsburg 1792, S. 495.

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sich lassen, er soll, wie der Putto die Tür zur Burg öffnet, durch Umschla­gen der Seite die , Tür' zum Text öffnen, um dort das menschliche Innere zu ergründen - in der durchaus auch räumlich zu verstehenden Tiefe des Texts, denn die perspektivisch konstruierte Vignette führt uns ja hinein in den Innenraum der dreidimensionalen Tiefe des Buchs. Der bildliehe "Pa­ratext" der Titelvignette, der ganz präzise "eine Schwelle" darstellt, die die "Möglichkeit zum Eintreten" in den Text "bietet",27 dieser Paratext weckt also die Erwartung eines empfindsamen Textraums zwischen den Buchdeckeln - um diese Erwartung zu enttäuschen, denn den Leser erwar­tet mit der Stummen Liebe alles andere als ein ,Gemälde des menschlichen Herzens'.

Nicht umsonst lautet der Titel der Erzählung ,Stumme Liebe': Wenn Franz, der Protagonist, sich der von ihm geliebten Meta nicht nähern, sie weder sprechen noch ihr schreiben darf, weil er bettelarm ist, scheint seine Liebe nicht für immer ,stumm' bleiben zu müssen, sondern nur v.orläufig gezwungen zu sein, auf nonverbale Zeichen wie Instrumentalmusik oder Blumen auszuweichen. Und tatsächlich: Franz gelangt schließlich zu Reichtum und "erklärt[]" Meta daraufhin "seine stumme Liebe mit deutli­chen Worten" (SL 1786, 139f.) - merkwürdig ist allerdings, dass der Er­zähler uns diese ,deutlichen Worte' vorenthält, dass die Liebe der Protago­nisten im discours nach wie vor stumm bleibt. Und merkwürdig ist ferner, dass auch die Liebenden selbst sich in eroticis womöglich wenig zu sagen haben: Als "zärtliche[s] Paar" nämlich nutzen sie "nun Zeit und Gelegen­heit, alle Hieroglyphen ihrer geheimnißvollen Liebe zu entziffern und zu paraphrasiren" (SL 1786, 141). Jetzt, da sie unumwundenen Klartext reden könnten, perpetuieren sie das vormalige Maskenspiel, indem sie es Revue passieren lassen - und unter Umständen gibt es hier ja auch nicht allzuviel zu ,entziffern': Zumindest bleibt unklar, warum Meta sich auf jene ,stum­me Liebe' eingelassen hat- "aus einem gewissen Wohlwollen gegen den girrenden Nachbar, oder aus Eitelkeit, um ihren hermenevtischen Scharf­sinn zu veroffenbaren" (SL 1786, 26)? Womöglich unterhält die Protago­nistirr ,stumme Liebe' nur als ein liebeleer in sich selbst kreisendes Spiel rätselhafter Zeichen, als ein in emotionaler Hinsicht nichtssagendes Ober­flächenphänomen.

Der Erzählvorgang wenigstens gibt sich in den Passagen, die mit der empfindsamen Tiefensuggestion der Titelvignette in Bezug stehen, ent­schieden gefühllos-,oberflächlich': Lustvoll ergeht er sich in intertextuellen Bezügen, gefällt sich als selbstgenügsamer, Text aus Texten fortzeugender Textvollzug, als ein gelehrtes Anspielungsmosaik, das keine Anstalten

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Genette, Paratexte, (wie Anm. 8), S. 10; vgl. Genette, Seuils (wie Anm. 14), S. 7f.: "i1 s'agit ici d'un seuil [ ... ] qui offre [ ... ] la possibilite d'entrer".

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macht, ,stumme Liebe' beredt werden zu lassen, Herzgefühlen die Stimme des Erzählers zu leihen- diese dient vielmehr dazu, zu verhindern, dass je­ne direkt zu Wort kommen.

Wenn sich der Leser einen guten halben Zentimeter in den Vierten Theil des Erstdrucks der Musäischen Volksmährehen vertieft hat, stößt er auf die in der Titelvignette allegorisierend dargestellte Szene: "Hinunter war der Sonnenschein, die finstre Nacht brach stark herein, als Franz, mit einer Laterne in der Hand, vor der Pfortenthür des Schlosses [ ... ] anlangte" (SL 1786, 87). Ein wichtiger Moment für den Protagonisten, denn in die­sem Schloss wird er ein Gespenst erlösen, wodurch er zuletzt als reicher Mann seine Meta heimführen kann. Solche Aussicht auf die Erfüllung ,stummer Liebe' kümmert den Erzähler jedoch wenig, denn ihm liegt ein philologisch-gelehrter Seitenhieb am Herzen. Der Anfang jenes Satzes übernimmt fast wörtlich den Beginn eines Lieds von ,,Nic[olaus] Heer­mann" (um 1500[?]-1561) - "Hinunter ist der Sonnenschein, die finstre Nacht bricht stark herein"-, und mitzuhören ist hier auch der Schluss die­ses Lieds: "für Schrekn, Gespenst und Feuers-Noth behüt uns heunt, o treu­er GOtt" .zs Dieses Ende des Lieds nämlich war einigen Zeitgenossen an­stößig; sie "vertrieben" die "schwarzen Nachtgespenster [ ... ] aus den Gesangbüchern'',29 u. a., indem sie besagte Schlussverse entschärften, etwa so: "Für ung1ück und für feuersnoth, Behüt uns heut, o lieber Gott!"30 Sol­che aufgeklärten Geisterjäger31 halten im Vertrauen auf das Licht ihres Verstands, ebenso wie der mit einer Laterne ausgestattete Protagonist, "Spukgeschichte[n]" für "leeres Geschwäz" (SL 1786, 89), und ihnen ge­genüber stellt der Erzähler Gespenster unter seinen literarischen Schutz, gewährt ihnen in seinem Volksmährehen textuelles Asyl.

Vor dieser Folie entpuppt sich die Titelvignette als Mogelpackung, als ganz unempfindsame ,Schwelle' zum Text: Zum einen erweist sie sich als satirische Allegorie auf den Missbrauch des Lichts der Aufklärung, auf edi­tionsphilologische Auswüchse im Namen der Vernunft; und zum andern er­weist sie sich als Aufforderung zu einer gelehrt-belesenen Lektüre, durch die ein kühler Kopf leidenschaftslos die Tiefe des Texts, die Dunkelheit von dessen intertextneUer Faktur zu erhellen vermag. - Aber vielleicht werden

28 Neu eingerichtetes Sachsen-Weimar-Eisenach- und Jenaisches Gesang­Buch. Hg. von Johann Gottfried Herder. Weimar 1783, S. 450.

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[Johann Carl August Musäus]: Physiognomische Reisen. Viertes Heft. Alt­enburg 1779, S. 85. Gesangbuch für die Freyherrlich Crailsheimische Kirchen. 2. Auflage. Schwa­bach 1784, S. 69. Hermann Kurzke (Mainz) hat mir deren Fährte gewiesen, wofür ich ihm danke.

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wir in Sachen empfindsamen Erzählens fündig, wenn wir uns der Parallel­episode jener Spukgeschichte zuwenden. Franz betritt ja nicht nur jenes Spukschloss, sondern "langt[]" bereits fünfundzwanzig Seiten weiter oben nachts, wenn auch ohne Laterne, "vor der Pforte eines Schlosses von altgo­thischer Bauart an", wo ihn gleichfalls ein "Abentheuer" (SL 1786, 62f.) er­wartet. Er wird auf der "Burg des ehrenvesten Ritters Eberhard Bronkhorst" nächtigen- der "herbergt" zwar, wird Franz vorher gewarnt, ,jeden", lässt indes "keinen Wandersmann ungerauft von sich" (SL 1786, 61). Franz will nun seine Schläge wenigstens verdienen: Mit "Dreustigkeit" lässt er sich "bedienen wie ein Bassa", er "foppt[] und näckt[] die Diener[ ... ] aufman­cherley Weise" (SL 1786, 64f.). Der Hausherr aber, statt den frechen Gast zu prügeln, "schüttelt[] [ ... ] ihm" zum Abschied nur "traulich die Hand" (SL 1786, 72). Warum? Weil Franz richtig kommuniziere, wie der Ritter auf Nachfrage ausführt: "Nun bin ich ein schlichter deutscher Mann, von alter Zucht und Sitte, rede wie mirs ums Herz ist, und verlange, daß auch mein Gast [ ... ] frey sage was er bedarf'; wenn jedoch Besucher "all ihre Worte auf Schrauben" stellen, das heißt mehrdeutig sprechen,32 so dass der Ritter "nimmer weiß, wie ich mit meinem Gaste dran bin: so werd ich endlich wild [ ... ], fasse den Tropf beym Fell, balge ihn weidlich und werf ihn zur Thür hinaus" (SL 1786, 74f.). Franz hingegen hat nichts zu befürchten: "ein Mann von eurem Schlag ist mir stets willkommen: ihr sagtet rund und deutsch her­aus, was euch zu Sinne war" (SL 1786, 75).

Das klingt nach unverstellter V erbalisierung des menschlichen Herzens - verschreibt sich mithin das Musäische Volksmährehen nicht vielleicht doch einer erzählerischen Erhellung seelisch-innerlicher Tiefe, wie sie die Titelvignette (wenn auch auf einer anderen Burg) vorzubereiten schien? Vorsicht. Schon Franzens Necken und Foppen der Diener dürfte kein rech­tes Beispiel für offenherzige Kommunikation abgeben; vor allem aber bie­tet die Bronkhorst-Figur ein Exempel für die Unmöglichkeit, sein Herz auf der Zunge zu tragen - und sie führt in ihrer empfindsamkeitskritischen An­lage erneut auf die lustvoll-selbstgenügsame intertextuelle Faktur der Stummen Liebe.

"Nun bin ich ein schlichter deutscher Mann, von alter Zucht und Sitte, rede wie mirsums Herz ist" (SL 1786, 74); ein performativer Widerspruch, denn ,schlicht' ist diese Selbstaussage, die wie eine metrische Muster­sammlung anmutet, gerade nicht: Auf eine trochäische (,nun bin ich ein schlichter deutscher Mann') folgt eine jambische Passage (,von alter Zucht

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,,SEINE WORTE AUF SCHRAUBEN STELLEN, sie so wählen, daß man sie nach Erfordern der Umstände erklären könne, wie man will"; Adelung: Gramma­tisch-kritisches Wörterbuch (wie Anm. 2), Sp. 259.

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und Sitte') und ein Hexameterschluss (,rede wiemirsums Herz ist')33; und

gerade letzteren Modus offener deutscher Rede sollten wir ernst nehmen, denn als antikisierender Gestus verweist er uns auf die Quelle der ,alten Zucht und Sitte' jenes ,schlichten deutschen Manns': auf die Herkunft Rit­ter Bronkhorsts aus der Germania des Tacitus.

Insbesondere für drei Eigenschaften machte Tacitus die Germanen, in denen man ,Deutsche' sah, berühmt.34 Erstens für ihre unzähmbare Kriegs­lust: ,Wenn der Heimatstamm in langem Frieden und Muße untätig herum­sitzt, suchen viele adlige Jünglinge auf eigene Faust Völkerschaften auf, die gerade einen Krieg führen; Ruhe nämlich ist diesem Volk unwillkom­men'. 35 Zudem hat der militante Deutschgermane ein Faible fürs Gastro­nomische: ,In Waffen begeben sie sich oft zu Gelagen; Tag und Nacht

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Zur Auffalligkeit dieses Phänomens für zeitgenössische Rezipientenohren vgl. [Johann Carl August Musäus]: Physiognomische Reisen. Zweytes Heft. Alten­burg 1778, S. 3 7: "er [ ... ] gab seinem Ausdruck einen gewissen Schwung und Tonfall, daß mir der Ausgang des Hexameters darinn gar oft vernehmlich war".- Die Ironisierung emotionaler Selbstaussage durch metrisch gebunde­ne Rede dürfte sich, wie vermittelt auch immer, (post-)gottschedianischen Diskussionszusammenhängen verdanken; vgl. etwa die 1739-1745 in den Gritischen Beyträgen sowie im Neuen Büchersaal ausgetragene Debatte um das Für und Wider einer Komödie in Versen - in diesem Rahmen wurde die Versrede gerade auch im Hinblick auf Affektäußerungen als unwahrschein­lich kritisiert (Gottlob Benjamin Straube) bzw. wurde sie in ihrer entschie­denen Artifizialität als Manifestation der Differenz von Darstellung und Dargestelltem gepriesen, in der das Vergnügen an künstlerischer Nachah­mung gründe (Johann Elias Schlegel). Letzteres Argument reicht (mindes­tens) ins frühe 18. Jahrhundert zurück: Dass das Material, in dem künstleri­sche Nachahmung sich ausformt, notwendig eine Differenz zum Nachgeahmten zeitige, die für das Wirkziel des delectare unabdingbar sei, diese Position formuliert in aller Deutlichkeit der seit 1716 schier allen Editio­nen der Werke Boileaus beigegebene Kommentar in den Ausführungen zum ersten Vers des dritten Gesangs des Art poetique. Vgl. etwa Grosses vollständiges Universal-Lexicon. Bd. 42. Leipzig und Halle 1744, Sp. 1703f. und 1709f. "Si civitas, in qua orti surrt, longa pace & otio torpeat; plerique nobilium adolescentium petunt ultra eas nationes, qwe turn bellum aliquod gerunt; quia & ingrata genti quies"; Gaius Comelius Tacitus: De Sitv, Moribvs et Popvlis Germanire Libellvs. Hg. von Justus Christoph Dithmar. Frankfurt a. d. 0. 1766, S. 88; vgl. Gaius Comelius Tacitus: Germania. Übersetzt, erläu­tert und mit einem Nachwort versehen von Manfred Fuhrmann. Stutt­gart 1997, S. 12.

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durchzuzechen ist für niemanden eine Schande' .36 Bei derartigen Gasterei­en wiederum zeigt sich dann ein besonders schöner Zug unseres Volkes: ,Häufig beraten sie sich bei Gelagen, als stünde zu keiner Zeit so sehr die Seele aufrichtigen Gedanken offen. Dieses Volk, weder listig noch ver­schlagen, offenbart bei solcher Gelegenheit die Geheimnisse des Herzens; auf diese Weise ist aller Gesinnung offen und unverhüllt'. 37 Ein National­stereotyp, das der Erzähler der Stummen Liebe, nicht zuletzt im Hinblick auf jene Herzenssprache, mit der Gestalt des Ritters Eberhard Bronkhorst lustvoll demontiert.

Ritter Bronkhorst begegnet uns, ganz im Sinne der Germania, als "ein rüstiger Kriegsmann", der sich "in Ruhe gesezt" hat und mit dem "stille[n] Frieden" nicht zurechtkommt- "denn er war ein roher wüster Kriegsmann, der des martialischen Tons sich nicht wieder entwöhnen konnte" (SL 1786, 62f.). Einen noch schwelenden militärischen Konfliktherd aufzusuchen, kommt allerdings nicht in Frage: Bronkhorst ist zwar adlig, aber kein Jüng­ling mehr, und so bleibt ihm lediglich der ,martialische Ton', seine "stento­rische[] Stimme", seine "Donnerstimme" (SL 1786, 64), anders formuliert: Es bleibt ihm nur seine Stimme als die eines Erzählers, um im Bericht von seinen Feldzügen akustisch den ,stillen Frieden' zu enden. Solche verbale Ersatzbefriedigung nährt indes die Hoffnung, bei diesem Nachfahr unserer taciteischen Altvorderen einer sprachlichen Offenbarung von Geheimnis­sen des Herzens beizuwohnen und damit doch noch in der Erzählung von ,stummer Liebe' den Laut einer (freilich recht rauben) Variante empfind­samen Erzählens zu vernehmen.

Immerhin ergreift Bronkhorst bei passender Gelegenheit das Wort, nämlich "[a]ls der Tisch bereitet war", bei "einer herrlichen Mahlzeit" (SL 1786, 64), die bis "spät in die Nacht" (SL 1786, 68) währt:

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Der Ritter[ .. . ] trank sich mit seinem Gaste heiter und froh, fing an von sei­nen Kriegszügen zu reden, wie er gegen die Venediger zu Felde gelegen, die feindliche Wagenburg durchbrachen und die wälschen Schaaren wie die Schaafe abgewürgt habe. Bey dieser Erzählung gerieth er in einen solchen kriegerischen Enthusiasmus, daß er Flaschen und Gläser niedersäbelte, das Irenschirmesser wie eine Lanze schwang. (SL 1786, 67)

"s::epe ad convivia procedunt armati. Diem noctemque continuare potando, nulli probrum." Tacitus: Germania 1766 (wie Anm. 35), S. 134; vgl. Tacitus, Germania 1997 (wie Anm. 35), S. 18.

37 "plerumque in conviviis consultant: tanquam nullo magis tempore [ ... ] ad simplices cogitationes pateat animus [ .. . ]. Gens non astuta nec callida, aperit [ ... ] secreta pectoris licentia loci. Ergo detecta & nuda omnium mens." Taci­tus: Germania 1766 (wie Anm. 35), S. 136f.; vgl. Tacitus: Germania 1997 (wie Anm. 35), S. 18.

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"Die Lebhaftigkeit der Erzählung mehrte sich mit jedem Becher, den er ausleerte" (SL 1786, 68) - nur schade, dass uns diese Erzählung so wenig zugänglich ist wie später Franzens Liebeserklärung, denn auch hier lässt der extradiegetische Erzähler seine intradiegetische Erzählfigur nicht direkt zu Wort kommen beziehungsweise erst, wenn Bronkhorst seinen Bericht auf Franz' Wunsch hin unterbricht: "der Ritter riß augenblicklich den Fa­den seiner Erzählung ab, und sprach: Zeit hat Ehre, morgen mehr davon!" (SL 1786, 68) Nur um seine autobiographische Erzählung abzubrechen und zu vertagen - für immer, denn sie wird nicht wieder aufgenommen und fortgesponnen - darf Bronkhorst sich hier direkter Rede bedienen.

Eine Figur, die offenkundig nicht im Wort zu sich kommt und andem sich zu eröffnen vermag - das zeigt bereits ihr Name, durch den der "Ritter, Eberhard Bronkhorst genannt" (SL 1786, 75), in grundlegendem Wider­spruch mit sich selbst steht: Der "Faust und Kolbengerechte[] Arm" (SL 1786, 72) dieses Kriegsmanns ist dem alten Fehderecht verpflichtet­doch dem erteilt sein unpassender Name eine Absage. Einen Ritter Eber­hard Bronkhorst nämlich hat es, Zedlers Universal-Lexicon zufolge, nie gegeben;38 dafür aber einen bürgerlichen Juristen dieses Namens, der aus­gerechnet ein Kenner der Pandekten war,39 des kodifizierten römischen Rechts, das in der Frühen Neuzeit jenes handgreifliche Gewohnheitsrecht verdrängt - so sind in dem taciteischen Ritter Eberhard Bronkhorst die Goetheschen Figuren Götz und Olearius spannungsvoll amalgamiert.40

In genauer Analogie zur Titelvignette verspricht also der ,ehrenveste' Ritter Eberhard Bronkhorst ob seiner taciteischen Provenienz eine Verbal­offenbarung seines Herzens - doch auch das Abenteuer auf dieser Burg führt, ähnlich wie der Eintritt in jene andere, lediglich auf ein Mosaik inter­textueHer Anspielungen, auf gelehrte kombinatorische Erzählartistik, die empfindsame narrative Anliegen ironisch überspielt. Wenn wir mit Franz das Bronkhorstsche Schloss wieder verlassen, sind wir im Textraum zwi­schen den Buchdeckeln einer Ergrundung der Seelentiefe des menschlichen

38 Vgl. das betreffende Geschlechtsregister in: Grosses vollständiges Universal­Lexicon. Bd. 4. Leipzig und Halle 1733, Sp. 1468-1471, sowie Supplement­Bd. 4. Leipzig 1754, Sp. 724.

39 Vgl. Grosses Universal-Lexicon. Bd. 4 (wie Anm. 38), Sp. 1472; außerdem· Just Christian Motschmann: Erfordia Literata oder Gelehrtes Erfurth. Fünffte Sammlung. Erfurt 1731, S. 714--716.

40 Vgl. insbesondere den ersten Akt des Götz von Berlichingen (1773) mit sei­ner zwischen physischer Direktheit und narrativer Vermittlung changieren­den Einführung des Protagonisten - der au{ das alte Fehderecht pocht, gegen das der Jurist Olearius das Corpus Juris (die Pandekten sind ein Teil davon) ins Feld führt.

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Innern um nichts näher gekommen; entsprechend lässt der Erzähler den "Ritter", als Franz von der Burg fortreitet, "im Thor [ ... ] glossir[en] ( ... ] über Abkunft, Gestalt und Bau des Rappens und seines harten Trabes", "zu Beförderung der Pferdekunde" (SL 1786, 72f.) - eine maliziöse Parodie von "Titel[n] der gewöhnlichen Lesebücher", wo in den 1780ern, wie Mu­säus in einer Rezension bemerkt, "Menschenkunde und Menschenliebe itzt so fleißig paradiren", was "im Grunde nichts weiter als Dekoration des Aushängeschildes" sei. 41 Mit jener parodistischen Abschiedsszene zeigt die Stumme Liebe einmal mehr, wie sie sich in ihrer intertextuellen Faktur skeptisch vom psychologisierenden literarisch-anthropologischen Schrift­tum ihrer Zeit distanziert.

Wenn Jahrzehnte später, 1842/43, Ludwig Richter in der Prachtausga­be der Musäischen Volksmährehen besagte Abschiedsszene ins Bild setzt (Pa 1842, 469f.; s. Abb. 2), hat sich manches geändert: Die von Musäus begründete Gattung ,Volksmärchen'42 setzt nun nicht mehr auf eine ironi­sche intertextuelle Erzählartistik, die dem gelehrten Leser intellektuell­emotionsfernes Vergnügen bereitet - sondern sie zielt, wie an prominenten Beispielen abzulesen, im Fahrwasser der Empfindsamkeit auf eine ,sympa­thische' emotionale Gleichrichtung der Rezipienten mit den geschilderten Figuren.43 Auf illustrationstechnischem Gebiet wiederum wurde der Holz-

41 Oz. [Sigle der nachfolgenden Rez.]: Rez. Friedrich Mahler, ein Beytrag zur Menschenkunde, ein dramatischer Roman. In: Allgemeine deutsche Biblio­thek 52/1 (1782), S. 146. - Zur Zuordnung der Sigle zu Musäus vgl. Gustav Parthey: Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai's Allgemeiner Deutscher Bib­liothek. Berlin 1842, S. 20f.

42 Entsprechend führt Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache (wie Anm. 15), S. 436, s.v. ,Volksmährchen' allein Musäus als Beleg; im Anschluss hieran führt das Deutsche Wörterbuch (URL: <http://woerterbuchnetz.de/DWB/> [25.2.2014]) s.v. ,Volksmärchen' Musäus als frühestes Beispiel; zu Musäus als Erstverwender jenes Begriffs vgl. Schnabel: Von der hübschen Magd (wie

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Anm. 23), s. 149. So schreibt etwa Ludwig Tiecks Blonder Ekbert motivisch wie gattungspoe­tologisch das Musäische ,Volksmärchen' fort (vgl. Andreas Beck: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen. Heidelberg 2008, S. 278f.), bereichert es jedoch um eine sympathetisch-empfindsame intradiegetische Erzählsituation (vgl. [Ludwig Tieck]: Volksmährehen herausgegeben von Peter Leberecht Bd. 1. Berlin 1798, S. 168f.) mit merklichen Analogien zur rührenden Vorgeschich­te des Fräuleins von Sternheim (vgl. ebd., S. 197, sowie St 1770, 11).- Zu­dem setzen die Grimmsehen Kinder- und Hausmärchen, die im Lauf des 19. Jahrhunderts zu ,Volksmärchen' werden, auf sympathisierende Rezep­tion; an den Wandlungen von Hänsel und Gretel, recht nahen Verwandten des Blonden Ekbert, von der ,Ölenberger Handschrift' bis zur Ausgabe von

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schnitt, in der Linienführung recht grob, in Ton- und Tiefenwirkung sicht­bar limitiert, durch den Holzstich, die Xylographie abgelöst; diese Technik ermöglicht Illustrationen, die in ihrer Nuanciertheit mit Radierungen, mit Kupfer- und Stahlstichen zu konkurrieren vermögen - und die, da es sich bei der Xylographie um ein Hochdruckverfahren handelt, in den Lettern­satz integriert sowie, womöglich stereotypiert, mit dem Wort zugleich in hohen Auflagen maschinell gedruckt werden können. Das war ökonomisch attraktiv, während jene anderen Techniken, als Tiefdruckverfahren mit se­paraten Platten, einen aufwändigen zweiten Druckvorgang erforderten, der die Vorteile des Einsatzes dampfgetriebener Pressen zunichte machte; meist jedoch wurde in Form von wenigen Einschubillustrationen auf eine Integration von Wort und Bild verzichtet.44

Der Holzstich erlaubt eine rentable, quantitativ wie qualitativ neuartige Durchbilderung des gedruckten Worts - qualitativ neuartig etwa auch da­hingehend, dass Illustrationen jetzt materiale paratextuelle Momente im Er­zählvorgang in der Weise geltend machen können, wie dies empfindsame Literatur der 1770er anvisierte. Jetzt ist es möglich, in diverser schriftbild­licher Form hinter die gefühlskalte Normalität des Letternsatzes zurückzu­gehen: So gelingt es etwa Ludwig Richter in zwei Illustrationen der Prachtausgabe zu Musäus' Rübezahl, eine dem Druckbild vorgängige Handschrift bis hin zum Riss im Papier ,einzufangen' (vgl. Pa 1842, 211f.). Und mit der Illustration zu Franz' Abschied vom Ritter Bronkhorst (s. Abb. 2) erschließt Richter hinter dem Druckbild in der dreidimen­sionalen Tiefe des Buchs den Seelenraum, den zu öffnen sich das Musäi­sche Volksmährehen hartnäckig geweigert hatte. Derart wird die Stumme Liebe in gefühlsreligiöser Semantisierung der ,räumlichen Ausdehnung des Texts' doch noch einer sympathisierenden Lektüre zugeführt.

1843, lässt sich exemplarisch die massiv sentimental verinnerlichende, auf Evokation des Lesermitgefühls berechnete Bearbeitung der Märchentexte durch die Grimms ablesen; vgl. Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm. Synopse der handschriftlichen Urfassung von 1810 und der Erstfas­sung von 1812. Hg. von Heinz Rölleke. Cologny-Geneve 1975, S. 70f. und S. 7fr-79, sowie Kinder und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Bd. 1. Grosse Ausgabe. 5., stark vermehrte Auflage. Göttingen 1843, S. 93f. und S. 100-102.

44 Zur Xylographie, zur durch sie bewirkten Revolution der Illustration im Buch bzw. in der periodischen Presse vgl. u. a.: Reinhard Kaiser: Das Pfen­nig-Magazin . Ein Orbis xylographicus des 19. Jahrhunderts. In: Das Pfennig­Magazin. Bd. 1. ND Nördlingen 1985, S. [m]-[vm]; John Buchanan-Brown: Early Victorian Illustrated Books. Britain, France and Germany 1820-1860. London u. a. 2005, S. 10-75.

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Zu Beginn der Seite ,liest' der Rezipient, der deiktischen Geste der Dienerfigur folgend, die Illustration von links nach rechts . Solche ,Lektüre' fiihrt aus dem "Wort" (vgl. Pa 1842, 469, Z. 10), aus dem ,Mauerwerk' ge­druckter Wörter, die die am rechten Bildrand angedeutete Burgmauer fort­setzen, hinaus - durch das geöffnete Tor in eine helle, weite, mit der Ge­drängtheit im dunkleren Innem des Bronkhorstschen Schlosses kontrastierende Landschaft hinein, die sich gerade auch hinter der Mauer des Märchenworts entfaltet - was dadurch betont erscheint, dass der Prota­gonist zu Pferd, nicht zur Gänze sichtbar, am rechten Bildrand teilweise hinter das bild-schriftliche Mauerwerk entrückt ist.

Die Behandlung der Perspektive, die hinter dem Wort jenen Land­schaftsraum öffnet, fiihrt auf dessen Bedeutung. Der "altgothische[ n] Bau­art" (vgl. Pa 1842, 464) von Bronkhorsts Burg gemäß erscheint das rund­bogige Tor perspektivisch zum Spitzbogen verkürzt, durch den helles Licht einströmt: Die Illustration zitiert christliche Sakralarchitektur,45 variiert die religiöse Spielart des romantischen Fenstermotivs, die durch Werke etwa Caspar David Friedrichs bildkünstlerisch prominent war.46 Licht als Sym­bol des christlichen Gottes fallt nun anstelle des Lichts der Aufklärung in den Märchentext - beziehungsweise genauer, der Gerichtetheit der Illustra­tion nach draußen entsprechend: Den heiter-ironisch aufgeklärten Raum des Musäischen Märchenworts baut Richter zu einem Gefangnis um, und er macht dieses auf ein lichtes Sein des Menschen in Gott hin transparent -wohin er den Protagonisten aus der Gefangenschaft im selbstgenügsam­säkularen Wort der Stummen Liebe entlässt, ihn erlöst.

Wenn Richters Illustration Franz derart emphatisch "in völlige[] Frei­heit" (Pa 1842, 468) setzt, ein religiöses Menschen-Bild zeichnet, in Ab­kehr von parodistisch-skeptischer ,Beförderung der Pferde kunde' (vgl. Pa 1842, 468) christliche Menschenkunde betreibt - dann ist es nur konse-

45 Zum Spitzbogen als Symbol der Erhebung zu Gott vgl. Ludwig Richter: Le­benserinnerungen eines deutschen Malers. Selbstbiographie nebst Tage­buchniederschriften und Briefen. Hg. von Heinrich Richter. 4., vermehrte Auflage Frankfurt a. M. 1886, r/S. 215; zu entsprechender Verwendung des Spitzbogenmotivs durch Richter an anderer Stelle in der Prachtausgabe (Pa 1842, 69) vgl. Beck: Richters Illustrationen (wie Anm. 23).

46 Zu Richters Beschäftigung mit religiös-allegorisierenden Darstellungen Fried­richs vgl. Richter: Lebenserinnerungen (wie Anrn. 45), r!S. 195f., IriS. 17 und S. 49f.; zum Fenstermotiv in romantischer bildender Kunst vgl. u. a. Eckart Kleßmann: Die deutsche Romantik, 6. Auflage. Köln 1996, S. 150 und S. 157; ebd., S. 36, 39 und S. 108, Beispiele spitzbogig-,religiöser' Fenstermotivik Karl Friedrich Schinkel, Entwuif zum Grabmal der Königin Luise (1810); Caspar David Friedrich, Huttens Grab (um 1820); Ernst Ferdinand Oehme, Dom im Winter (1821).

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quent dass diese Illustration sich auch des Rezipienten annimmt. Ihrer Sichtweise zufolge ist auch der Leser, wie Franz, ein Gefangener im Wort­gebäude der Stummen Liebe und wie der Protagonist einer Erlösung zu , völliger Freiheit' bedürftig; so dass, wenn Franz sich aus der Burg des Rit­ters herauswünscht, Richters Illustration beim Rezipienten die Induktion einer analogen Gemütsregung betreibt: Sie lenkt den Blick des Lesers aus dem spätaufklärerischen, oberflächlich-planen Textvordergrund in die Tie­fe einer metaphysisch aufgeladenen Landschaft, um ihn zu romantischer Sehnsucht über die sich in sich selbst verhausende intertextuelle Musäische Erzählartistik hinaus zu bewegen. Und wenn dem erlösten Franz beim Ver­lassen von Bronkhorsts Burg "ein schwerer Stein vom Herzen" (Pa 1842, 468) fallt, wird auch dem mit ihm (hoffentlich) sympathisierenden Leser eine Herzenserleichterung zuteil: Immerhin verschafft ihm Richters Illus­tration die befreiende Aussicht in eine christlich-religiös getönte Landschaft hinein, hinein in eine Art ,Landschaft Eichendorffs', in der ,meine Seele nach Haus' kommen könnte.

Richters Illustration bietet ein genaues Gegenbild zur Titelvignette des Erstdrucks;47 abermals fungiert ein visueller Paratext zur Stummen Liebe im wörtlichen Sinn als ,Schwelle' - die indes nicht, wie im Fall des Erst­drucks, in den Text hinein-, sondern provokant aus ihm hinausfUhrt: Aus­gerechnet am Beginn der Seite, auf der Position einer Initiale, der Markie­rung eines ,Eingangs' (initium) in den Text,48 geriert sich jene Illustration sozusagen als ,Exitiale', die einen ,Ausgang' (exitus) aus dem Verbaltext öffnet:49 hin zum eigentlichen ,Raum des Erzählens' , hin zur Tiefe jenes gernhisbesetzten symbolischen Seelenraums der Erfiillung menschlichen Daseins.

47 Deren Kenntnis durch Richter lässt sich nicht belegen; er hat für seine Mu­säus-Illustrationen sehr wahrscheinlich konsultiert: J[ohann] C[arl] [August] Musäus: Volksmärchen der Deutschen, Bd. 1- 5. Mannheim 1803 (dem Frontispiz-Kupfer zu Bd. 2 bzw. 5 von A. Peter/J. G. Mansfeld dürften die Holzstiche Pa 1842, 195f. bzw. 704 verpflichtet sein), sowie J[ohann] [Carl] A[ugust] Musäus: Volksmährehen der Deutschen. Bd. 1- 6. Halle 1839f. (die Stahlstich-Frontispize nach Theodor Hosemann zu Bd. 2, 3 und 6 scheinen Pa 1842, 215, 482 und 615 adaptiert).

48 Entsprechend inszeniert Richters Initiale zur Dritten Legende von Rübezahl (vgl. Pa 1842, 199) einen veritablen ,Einstieg' in den Text.

49 Ähnliches findet sich, kurz vor der Prachtausgabe, in Franz Kugler und Adolph Menzel: Geschichte Friedrichs des Grossen, Leipzig 1840, S. 14: Dort entlässt die als geöffnete Doppeltür gestaltete Initiale ,D', die "De[n] Tod Friedrich's I." einleitet, den Leserblick in einen Raum hinter dem Wort, in ein Jenseits der Verbalnarration, wo der tote König aufgebahrt ist, von dem nicht mehr die Rede sein wird.

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Nicht erst beim Abschied von Bronkhorsts Burg nimmt Richter eine auch räumlich zu verstehende religiöse ,Vertiefung' im Text der Stummen Liebe vor; ähnlich war er schon bei der Einführung Metas vorgegangen:

In dem engen Gäßchen, seinem [Franz'] Fenster gerade gegenüber, wohnte eine ehrbare Matrone, die auf Hoffnung besserer Zeiten sich kümmerlich vom langen Faden nährte, den sie nebst einer wunderschönen Tochter durch die Spindel gewann, sie zogen tagtäglich denselben so lang aus, daß sie die ganze Stadt Bremen mit Wall und Graben und allen Vorstädten leicht damit hätten umspannen mögen. (Pa 1842, 438)

Wieder begegnen wir selbstgenügsamer Musäischer Erzählartistik Im Zentrum steht hier weniger das Garn der Spinnerinnen als vielmehr der Fa­den der Erzählung, den der Erzähler, in Analogie zu seinen Figuren, in ei­nem überlangen Satzgefüge so ,lang auszieht', bis er, ausgehend vom ,en­gen Gässchen', verbal zuletzt tatsächlich, wie potentiell auch Meta und ihre Mutter, ,die ganze Stadt Bremen umspannt'. Gegen solche Vordergründig­keit eines Erzählens, das sich abermals auf sich selbst konzentriert, macht Richter die Tiefe christlich-religiös verstandener menschlicher Existenz geltend - der betreffende Holzstich (s. Abb. 3) ist von rechts nach links zu ,lesen', dem in ihm dargestellten Arbeitsprozess folgend: Rechts hantiert auf Knien, gebeugt, die Mutter mit Flachs; links über ihr sitzt - oder thront - aufrecht Meta mit einer Spindel, offenbar leichthändig verspinnt sie die Fasern zu Garn. Die Katze schließlich, auf die die Spindel der Tochter ,zeigt' , spielt mit dem aufgewickelten Faden; im Anschluss an Meta er­scheint der mühevolle Ernst der Arbeit aufgehoben zugunsten eines ande­ren: Das Garnknäuel ist in Richtung des Tischs mit dem Kruzifix gerollt; so führt der Arbeitsprozess auf eine ihm jenseitige religiöse Dimension, die ,hinter' Meta steht - und der sie zugleich zugewandt ist. Nicht umsonst sitzt Meta, da sie mit Christus hinter sich die Schwere der Arbeit überwin­det, in der breiter und heller werdenden Laibung lichtbeschienen vor einem unverhangenen Fenster - während ihre kompositorisch vom Erlöser distan­zierte Mutter, dunkel gehalten, gebeugt von Sorge und Mühe unter einem verhangenen Fenster laboriert.

In solcher Spielart der Martha/Maria-Konstellation (vgl. Lk 10, 39-41) hat Meta ,das bessere Teil erwählt'; durch Verknüpfung dieses biblischen Stoffs mit dem romantischen Fenstermotiv50 fällt hier erneut das Licht Got­tes in den illustrierten Märchentext, und nun fällt es auch tatsächlich in ihn

50 Vgl. etwa Friedrich Overbeck, Christus bei Maria und Martha (1815), Ab­bildung bei Kleßmann: Deutsche Romantik (wie Anm. 46), S. 51 ; außerdem Ludwig Richter: Eins ist noth. In: Christenfreude in Lied und Bild. Leipzig 1855, o.S.

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hinein. Denn auch wenn die Maserung der Dielen im Vordergrund sowie die breite Laibung der Fensternische perspektivische Tiefenwirkung erzeu­gen - der ,Raum des Erzählens', den die Illustration hier gegen das ge­druckte Wort ,hinter' diesem öffnet, verliert sich mit Bedacht nicht in die Weite eines Draußen; kein Schweifen in die Feme einer Seelenlandschaft, sondern Konzentration auf einen religiös tingierten Innen raum, dessen kompositorischen Schwerpunkt Metas ruhig-fromme Lichtgestalt bildet. Das Interieur fungiert als Symbol innerlich-kontemplativer Frömmigkeit, die Richter im Hinblick auf die Protagonistirr inszeniert; in einer Illustrati­on, die als Gegen-Bild zum transzendenzvergessenen Märchenwort eine al­ternative Sicht über dieses hinaus empfiehlt, den Rezipienten zu andächtig­frommer Betrachtung und so zu sympathisierender Gleichstimmung mit Meta einlädt.

Diesen Blick auf die Protagonistin hat Ludwig Richter, da er für die zweite Auflage der Prachtausgabe "12 GRÖSSERE[] TITELBLÄITER"51 zeich­nete, der Stummen Liebe programmatisch vorangestellt (s. Abb. 4):52 Die ganzseitige lithographische Einschubillustration zeigt erneut die spinnende Meta, ruhig sitzend, in sich versunken; der Hochzeitskranz rechts oben nimmt das glückliche Ende des Märchens vorweg, und der hinter Meta vor dem Fenster weggezogene Vorhang, der jene andere Illustration zitiert, macht die nachfolgende Erzählung von Anfang an auf die Geborgenheit des auf Gott bezogenen Menschen hin transparent - das unverhangene Fenster hinter der Protagonistin verleiht dem Märchentext sogleich die religiöse Tie­fendimension, die andere Illustrationen dann als emotionsbesetzten Seelen­raum in die ,räumliche Ausdehnung des Texts' eintragen werden.

Gut ein Jahrhundert später, 1946, entstehen Josef Hegenbarths Feder­zeichnungen zur Stummen Liebe;53 sie werden posthum, 1969, erstmals pu­bliziert,54 in der Volksmährehen-Ausgabe des (Ost-)Berliner Verlags Der

51 J[ohann] K[arl] A[ugust] Musäus: Volksmährehen der Deutschen. Pracht­ausgabe in einem Bande. Leipzig 1845, Titelblatt.

52 Reproduktionsvorlage mit teilweiser Buntstiftkolorierung, wohl von Kinder­hand; eine Abbildung der Zeichnung Richters, die als Vorlage der Lithogra­phie diente, bietet Paul Mohn: Ludwig Richter. Dielefeld u. a. 1896, S. 36; die Zeichnung befindet sich in der Graphischen Sammlung des Städelschen

53 Kunstinstituts in Frankfurt a. M., Inv. Nr. 327 Z. Datierung nach <http://www.josef-hegenbarth.de> (24.2.2014); dort gute Reproduktionen der Zeichnungen.

54 Von der im Brich Schmidt Verlag geplanten siebenbändigen, von Hegen­barth illustrierten Gesamtausgabe der Volksmährehen erschienen 1947--49 lediglich die ersten vier Bände; die Stumme Liebe war fiir den sechsten Band

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Morgen. 55 Hegenbarth setzt sich in seinen Zeichnungen zu Musäus wieder­holt mit Bildlösungen der Prachtausgabe, auch von Richter, auseinander56

- wobei es kaum erstaunt, dass Richters romantisch-gefühlsreligiöser Op­timismus bei Hegenbarth gründlich verflogen erscheint. Bemerkenswert ist indes, dass Hegenbarths Zeichnungen, bei aller Distanz zu Richters Illustra­tionen, einen grundsätzlichen Zug mit ihnen gegen Musäus gemein haben: Auch Hegenbarths Zeichnungen wenden sich gegen die emotionskalte Musäische Erzählartistik; auch sie arbeiten wiederholt, wie schon häufig die Holzstiche nach Richter, auf eine gefühlsbetonte Märchenlektüre hin, und hierbei lassen sich Strategien beobachten, die den Richtersehen ver­wandt sind. Auch Hegenbarths Illustrationen operieren mit einer emotiona­len Semantisierung des ,Raums des Erzählens', der ,räumlichen Ausdeh­nung des Texts' : Zwar sind die im folgenden behandelten Illustrationen kaum oder überhaupt nicht mehr darauf angelegt, dreidimensionale Tiefe zu evozieren; sie verzichten auf die bei Richter inszenierte Raumwirkung und widersprechen so der dort vorgenommenen metaphysisch-religiösen Bedeutungszuweisung an die Dreidimensionalität des Buchs - doch wenn Hegenbarths Zeichnungen stattdessen die Fläche der Buchseite betonen, dann geschieht dies gerade im Hinblick auf den Verlust jener dritten Di­mension als einer Sinndimension. Jene Zeichnungen nutzen die ,nur' zwei­dimensionale Fläche der Seite, um auf ihr eine entsprechende Verlusterfah­rung zu gestalten; sie nutzen sie als Sympathieebene, um die Gefangenschaft im Musäischen Märchenwort beziehungsweise die Verzweiflung über des­sen · Sinnleere spürbar werden zu lassen. Auch Hegenbarths Illustrationen -zumindest die, die ich vorstellen werde, am Ort ihrer Erstpublikation57

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vorgesehen, vgl. Johann Karl August Musäus: Volksmärchen der Deutschen. Bd. 2. Berlin 1947, S. 6. Johann Karl August Musäus: Märchen und Sagen. Mit Zeichnungen von Jo­sefHegenbarth. Hg. von Hans Marquardt. 2 Bde. Berlin [1969]; die Stumme Liebe in Bd. 2, S. 117- 205. - Nachweise aus dieser Ausgabe im Text unter der Sigle Mg 1969 sowie Angabe der Band- und Seitenzahl. - Zu Hegen­barth vgl. Fritz Löffler: JosefHegenbarth, Dresden 1959; Studien zu Hegen­barths Volksmährehen-Illustrationen sind mir nicht bekannt.

56 U. a. folgende Illustrationen in Mg 1969 dürften zuletzt Pa 1842 verpflichtet sein: Mg 1969, J/14f. < Pa 1842, 22f.; I/119 < 115; J/143 < 136; 1/188 < 176; I/263 < 244; I/329, 331, 333; < 255, 257, 259; n/49 < 407; n/67, 69 < 422, 425; n/151 < 441; n/159 < 469.

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Ob Hegenbarth noch an der mise en pages von Mg 1969 beteiligt war, ent­zieht sich meiner Kenntnis - es ist jedoch unwahrscheinlich: Wenigstens fuhrt Löffler: Josef Hegenbarth (wie Anm. 55), S. 260, zwei Jahre vor He­genbarths Tod im Verzeichnis der ,Illustrierten Bücher in Vorbereitung' kein Volksmährehen-Projekt auf.

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stemmen sich derart durch emotionsorientierte Semantisierung materialer paratextueller Momente gegen die Normalität des Letternsatzes und agieren damit gleichfalls, was man ihnen vielleicht nicht ansehen mag, in der Tradi­tion literarischer Empfindsamkeit als deren späte Erben.

Hegenbarths Abschiedsszene auf der Bronkhorstschen Burg (Mg 1969 n/159)58 kehrt die Lektürerichtung des Richtersehen Holzstichs um (s. Abb. 5a): Die Zeichnung adaptiert ihn im rechten Bilddrittel, wo der Rundbogen mit den zwei Figuren wiederkehrt und ebenso, nach links ver­schoben, das Pferd. Bei Richter bildet diese Szene, ganz wörtlich verstan­den, einen Ausgangspunkt, von dem aus unter anderem die Burg des Ritters verlassen wird - und bei Betrachtung lediglich jenes Bilddrittels scheint auch Hegenbarth den Ausritt des Protagonisten zu schildern, wenn auch aus anderem Blickwinkel: Der Rappe mutet mit seinem hier wie dort aufgeho­benen Huf bewegt an, als entferne er sich vom Schloss. Mit der vorderen, statischen Partie des Pferds jedoch wird dessen vermeintliche Bewegung eingefroren, und wenn vollends das noch ungeöffnete spitzbogige Burgtor am linken Bildrand in den Blick gerät, das noch mit großer Anstrengung aufgestemmt werden muss (s. Abb. 5b), dann ist klar, dass der von Richter übernommene Rundbogen hier nicht das Tor ist, durch das Franz bereits entkommen wäre.

Hegenbarth kehrt von der Setzung des Protagonisten in "völlige[] Frei­heit" (Mg 1969 n/159), die Richter sich angelegen sein ließ, zurück zu Franz' beklemmendem Aufenthalt innerhalb der Burgmauern. Die Feder­zeichnung, von mäßiger räumlicher Wirkung, entlässt Franz gerade nicht durch einen perspektivisch zum Spitzbogen verkürzten Rundbogen in die Tiefe einer lichten Seelenlandschaft hinter der Buchseite. Indem Hegen­barths Zeichnung Rund- und Spitzbogen unter Nutzung der Seitenbreite auseinanderdividiert, verweigert sie die Öffnung jenes Raums; vielmehr setzt sie den Protagonisten auf der Seitenoberfläche fest, im Bildzentrum, das ganz und gar nicht hell und licht, sondern betont dunkel gehalten ist. Dieser Paratext weigert sich augenscheinlich, als ,Schwelle' zu fungieren, einen Ausweg aus dem skeptischen Musäischen Märchenwort zu weisen und dieses auf einen höheren Sinn menschlicher Existenz hin durchsichtig zu machen. Anstelle solcher tröstlichen Menschenkunde begegnen wir dem recht düsteren Bild angstbesetzter Gefangenschaft in säkularer Immanenz.

Das Bekümmernde solcher Sinnleere setzt in jener Volksmährehen­Ausgabe von 1969 insbesondere Hegenbarths Titelvignette zur Stummen

58 Originalzeichnung im Josef-Hegenbarth-Archiv im Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, WV-Nr. F VI 596.033 I HA 7508.

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Liebe (Mg 1969, n/117, s. Abb. 6)59 beeindruckend in Szene. Indem die Ti­telseite die spinnende Meta zeigt, setzt sie sich ins spannungsvolle Verhält­nis zu jenem größeren lithographischen Titelblatt nach Richter in der Prachtausgabe: 60 Dort begegnete uns aufrechte Gelassenheit, deren Schil­derung in ruhiger Komposition auf die klare Anordnung vertikaler und ho­rizontaler Elemente setzte - nun hingegen erfolgt die Darstellung der Pro­tagonistirr in unruhiger, teils fahrig-amorph anmutender Strichführung; entsprechend erscheint diese aus dem Lot geratene Meta gebeugt, sie weist dem Betrachter kein heiteres, fast klassisches Profil, sondern verbirgt ihr Gesicht in der Hand des aufgestützten Arms, ein topischer Ausdruck von Melancholie. Diese Meta hat, mit dem Wegfall von Richters traulicher Häuslichkeit, keinen heimatlichen Ort und kennt, da das Rahmenwerk der

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Originalzeichnung im Josef-Hegenbarth-Archiv im Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, WV-Nr. F VI 596.001 I HA.7536. Ob Hegenbarth die Zeichnung als Titelvignette konzipiert hat, ist zweifel­haft; sie könnte auch Metas Kummer illustrieren, da sie sich von Franz ver­lassen glaubt: "sie [ . .. ] gelobte sich, nicht mehr an ihn zu denken, und netzte dabei den ausgezogenen Faden mit Tränen" (Mg 1969, 199). Zudem sind in Mg 1969 sämtliche, von Hegenbarth doch wohl approbierten Titelillustratio­nen der Volksmährchen-Teilausgabe 1947-49 durch andere Zeichnungen er­setzt, wahrscheinlich (vgl. Anm. 57) ohne Einbeziehung des Künstlers; bei der Titelvignette zur Stummen Liebe ist daher eine eigenmächtige Herausge­berentscheidung zu vermuten. - Dennoch darf die Titelposition der Zeich­nung ernst genommen und als Bezugnahme auf die Prachtausgabe verstan­den werden; zum einen, da Hegenbarths Musäus-Illustrationen (vgl. Anm. 56) insgesamt von einer Auseinandersetzung mit der Prachtausgabe zeugen; und zum andem, da sich die Auswahl Hegenbarthscher Zeichnungen für Mg 1969 offensichtlich an der Prachtausgabe orientiert: So korrespondie­ren die ersten drei Illustrationen im Text der Libussa (Mg 1969, r/329, 331 333) der motivgleichen Holzstich-Trias zu Beginn des Märchens in der Prachtausgabe (Pa 1842, 255, 257, 259) - eine akkurate Parallele, erzielt durch Auslassungdreier ,störender' Illustrationen, die die Ausgabe von 1949 bot (vgl. Johann Karl August Musäus: Volksmärchen der Deutschen. Bd. 3. Berlin 1949, S. 59-64; analog wurde im Geraubten Schleier verfahren, vgl. ebd., S. 50-53, neben Mg 1969, n/67-69, und Pa 1842, 422-425). Vor dieser Folie darf die Entscheidung fiir eine Titelvignette, die die spinnende Meta zeigt, als Rekurs auf die Prachtausgabe aufgefasst werden, zumal vor 1969, soweit mir bekannt, nur sie mit der Richtersehen Lithographie ein Titelblatt mit diesem Motiv bietet - sowie ein Quasi-Nachdruck der Prachtausgabe: J[ohann] K[arl] A[ugust] Musäus, Volksmärchen der Deutschen. Mit den Abbildungen der Holzschnitte nach Originalzeichnungen von Ludwig Rich­ter, A. Schrödter, R. Jordan und G. Osterwald und den 12 Titelblättern von Ludwig Richter. Hg. von Karl Martin Schiller. Leipzig 1926.

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Lithographie samt Hochzeitskranz fortgefallen ist, auch keine Perspektive erfüllter Liebe mehr. Zudem widerspricht die entschieden flächige Anlage der Zeichnung der christlich-religiös konnotierten räumlichen Tiefe, die die Protagonistirr auf dem Richtersehen Titelblatt bergend hinterfängt Hier gilt das Augenmerk einer gebrochenen Figur, die folgerichtig nicht mehr das Zentrum der Druckseite besetzt und diese souverän beherrscht, sondern in deren unterer Hälfte platziert ist, so dass die weitgehend leere Seite auf ihr lastet, eine unbedruckte Fläche, die "STUMME LIEBE" (Mg 1969, 117) in nichtssagender Zeichenlosigkeit als bedrückende Leerstelle erfahrbar macht-amAnfang ist hier kein Wort, von dem liebevoller Zuspruch oder geistlicher Trost zu gewärtigen wäre. Derart präsentiert sich diese Titelseite als Sympathieebene, die den Leser oder besser: Betrachter in der ver­zweifelten Einsamkeit der Protagonistirr die womögliche Perspektivlosig­keit menschlichen Daseins mitempfinden lassen will.

Angesichts einer Seite, auf der das Wort schon zu Textbeginn am Ende zu sein scheint, empfiehlt es sich, zum Schluss zu kommen. Mir ging es da­rum, die Relevanz nonverbaler, materialer paratextueller Momente für ein auf Sympathisierung des Lesers zielendes Erzählen darzulegen und zu zei­gen, wie insbesondere der ,Raum des Erzählens', verstanden als die analy­tisch meist vernachlässigte ,räumliche Ausdehnung des Texts', durch Il­lustrationen integrales Element solchen Erzählens zu werden vermag. Zugleich habe ich versucht, eine (noch dünne) literarhistorische Traditions­linie derartiger Phänomene zu zeichnen und schlage vor, in ihnen (sicher nicht ausschließlich) eine Errungenschaft der literarischen Empfindsamkeit zu sehen- die aber erst deren Nachfahren irrfolge neuer drucktechnischer Möglichkeiten der Buchgestaltung wirklich zur Geltung bringen können; die Nachfahren der Empfindsamkeit, die sich unter diesem Aspekt auch noch im späteren 20. Jahrhundert, vielleicht noch heute ausmachen lassen.

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