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Musik als Vollzug von Leiblichkeit Lars Oberhaus Zur phänomenologischen Analyse von Leiblichkeit in musikpädagogischer Absicht Detmolder Hochschulschriften Bd. 5

Musik als Vollzug von Leiblichkeit

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Musik

als Vollzug

von Leiblichkeit

Lars Oberhaus

Zur phänomenologischen Analysevon Leiblichkeitin musikpädagogischer Absicht

Detmolder Hochschulschriften Bd. 5

Detm

older Hochschulschriften

Eine Schriftenreihe der H

ochschule für Musik D

etmold

Herausgegeben von Prof. D

r. Ortw

in Nim

czik

Band 5

Musik

alsVollzug

von Leiblichkeit

Lars O

berhaus

Zur phänomenologischen

Analyse von Leiblichkeit

in musikpädagogischer A

bsicht

Vorwort des Herausgebers der Reihe

Die „Detmolder Hochschulschriften“ spiegeln die geistige Arbeit an der Hochschule für Musik Detmold. Sie nehmen an ihr erbrachte oder in ihrem Umfeld entstandene wissenschaftliche Beiträge zur Musikkultur auf. Dabei steht die gesamte Breite des wissenschaftlichen Nachden-kens über musikpädagogische, instrumental- oder vokalpädagogische und musiktheoretische Fragen bis hin zur Reflexion des künstlerisch-praktischen Tuns und seiner Grundlagen im Blick. Die Schriftenreihe zielt auf ein wechselseitiges Fundierungsverhältnis von künstlerischer und wissenschaftlicher Arbeit, von Tun und Denken, von sinnlichem Begreifen und reflektierendem Verstehen. Damit trägt sie bei zur auch in der Zukunft wichtigsten Aufgabe einer Musikhochschule: Musik auf höchstem Niveau zu vermitteln.

Der fünfte Band der „Detmolder Hochschulschriften“ präsentiert die musikpädagogische Dissertation von Lars Oberhaus, der an unserer Hochschule Schulmusik studiert hat und nach dem Ablegen des 1. Staatsexamens in den Promotionsstudiengang Musikpädagogik einge-treten ist.

Im Zentrum seiner Arbeit steht der menschliche Körper als höchst bedeutsames, unverzichtbares Medium ästhetischer Erfahrungen im Rahmen des schulischen Musikunterrichts und des dort möglichen musikalischen Lernens. Grundlage des methodischen Arbeitsganges ist die phänomenologische Untersuchung musikbezogener Leiblichkeit. Diese ist konstruktionstheoretisch angesiedelt im polaren Spannungs-bezug sowohl der Reflexion der körperbezogenen Wahrnehmungs- und Handlungspotentiale als auch der Differenzierung zwischen Theorie- und Praxisrelevanz der Musikpädagogik. Somit gilt es für den Autor zu allererst, Begründungen für die unterschiedlichen Konkretionen von „Körper und Musik“ aufzudecken. Vor diesem Hintergrund gelingt es, verschiedene Fenster zu öffnen, die neue Blickrichtungen auf das musika-lische Lernen mit und durch den Körper ermöglichen. Dies vollzieht sich jenseits der tradierten Körper-/Geist-, Leib-/Seele- sowie Theorie-/Praxis-Dualismen. Sie werden vielmehr aufgebrochen, überwunden und im Sin-ne von konstruktiven wie praxisrelevanten Perspektiven des schulischen Musikunterrichts gleichsam entfaltet.

Die Ergebnisse der Arbeit sind in ihrer Verschränkung von philosophi-schen und musikpädagogischen Fragestellungen für beide Wissenschafts-bereiche gleichermaßen relevant. Sie korrespondieren dem Anspruch, Teilbereiche einer „Philosophie der Musikpädagogik“ (J. Vogt) aufzu-arbeiten und weiter zu entwickeln. Dies gelingt besonders am Beispiel der Neuen Musik: Philosophische Ansätze und diverse Formen leib-bezogenen Komponierens, Gestalten und Unterrichten werden in ein konstruktives ,Gespräch‘ gebracht.

Detmold, März 2006 Ortwin Nimczik

DH 5

ISBN.....

Lars Oberhaus wurde 1971 in Herford geboren und studierte Musik sowie Philosophie für das Lehramt Sek. I/II an der Hochschule für Musik Detmold bzw. der Universität Paderborn. Er erhielt ein zweijähriges Forschungsstipendium und schrieb seine hier veröf-fentlichte Dissertation in Köln und während seines Referendariats in Marburg. Seit 2004 unterrichtet Lars Oberhaus als Studienrat am Schiller-Gymnasi-um in Hameln.

Im Zentrum der Arbeit steht der menschliche Körper als höchst bedeutsames und unverzichtbares Medium ästhetischer Erfahrungen im Rahmen des schulischen Musikunterrichts und des dort möglichen musikalischen Lernens. Grundlage des methodischen Arbeitsganges ist die phänomenologische Untersuchung musikbezogener Leiblichkeit. Diese ist konstruktionstheoretisch angesiedelt im polaren Spannungsbezug sowohl der Reflexion der körperbezogenen Wahr-nehmungs- und Handlungspotentiale als auch der Differenzierung zwischen Theorie- und Praxisrelevanz der Musikpädagogik.

Vor diesem Hintergrund gelingt es, verschiedene Fenster zu öffnen, die neue Blickrichtungen auf das musikalische Lernen mit und durch den Körper ermöglichen. Dies vollzieht sich jenseits der tradierten Körper-/Geist-, Leib-/Seele- sowie Theorie-/Praxis-Dualismen. Sie werden vielmehr aufgebrochen, überwunden und im Sinne von konstruktiven wie praxisrelevanten Perspektiven des schulischen Musikunterrichts gleichsam entfaltet.

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INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG 13

I BESTANDSAUFNAHME 22

1 Rolle des menschlichen Körpers im derzeitigen gesellschaftlichen Kontext 24

1.1 Körperinteresse heute 25

1.2 Konkurrierende Körperauffassungen 35 1.2.1 Zum Imperativ unvergesellschafteter Körperlichkeit 36 1.2.2 Zur theorieabstinenten Akzeptanz von Körperlichkeit 47

1.3 Konkurrierende Bezüge zur Musik Jugendlicher 50 1.3.1 Zum Imperativ musikkritisch fundierter Körpererfahrung 53 1.3.2 Zur Akzeptanz musiktheorieabstinenter Körpererfahrung 57

2 Differenzierung des Körperbegriffs 62

2.1 Etymologische Deutung: Körper/Leib 64 2.1.1 Körper/lîch 65 2.1.2 Leib/ lîp 66

2.2 Historische Entwicklung der Körperauffassung 68 2.2.1 Wandel vom homerischen zum platonischen Menschenbild 69 2.2.2 Triebhaftigkeit des Leibes und Entkörperlichung der Musik 74 2.2.3 Zur unterschiedlichen Rolle des Körpers im Lernprozess 78

3 Fragwürdigkeit und Fragestellung 80

II METHODE 82

1 Wahl 83

1.1 Vorurteilshaftigkeit im Körperverständnis 83

1.2 Triftigkeit der phänomenologischen Methode 84

2 Charakteristik 85

2.1 Zur Geschichte der Phänomenologie 85

2.2 Grundzüge der phänomenologischen Methode 87

3 Potenzial 90

3.1 Spezifität des Leibbegriffs in phänomenologischen Forschungen 90

3.2 Relevanz phänomenologischer Forschung für die Musikpädagogik 93

III ANALYSE 100

1 Husserls phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution des Leibes 102

1.1 ‚Cartesianische Meditationen’: Der Leib als Intersubjektivitätsmedium 102 1.1.1 Apodiktizität des ‚Ego Cogito’ 102 1.1.2 Erste Reduktion 103 1.1.3 Transzendentaler Solipsismus 105 1.1.4 Zweite Reduktion 105 1.1.5 Appräsentation des Anderen durch den Leib 107 1.1.6 Zur spezifischen Funktion des Leibes 110

1.2 ‚Ideen II’: Der Leib als Wahrnehmungsmedium 110 1.2.1 Orientierungsvermögen 111 1.2.2 Leibesempfindung/Doppelempfindung 113 1.2.3 Zur Priorität des Tastsinns in der Doppelempfindung 115

2 Merleau-Pontys Grundlegung einer Phänomenologie des Leibes 117

2.1 Zwischen Empirismus und Intellektualismus, Bewusstsein und Sein 118

2.2 ‚Zur Welt Sein’ 121

2.3 Ambiguität 123

2.4 Zwischenleiblichkeit 126

2.5 Ästhetische Verweise 127 2.5.1 Ausdruck des Leibes und Verstehen von Sinn 128 2.5.2 Gewohnheit und Erweiterung des Leibes 129 2.5.3 Instrument als Ausdrucksraum 130 2.5.4 Malerei als stummer Ausdruck des Leibes 132 2.5.5 Leib und Kunstwerk 135

IV ERGEBNISSE 138

1 Positionierung des ‚phänomenologischen Leibbegriffs’ 139

1.1 Zweideutigkeit 139

1.2 Intersubjektivität 141

1.3 Ausdruck 142

1.4 Erweiterung 144

2 Etablierung eines Begriffs von ‚Leiblichkeit’ 145

3 Explikation der Leiblichkeit als ästhetische Qualität 148

3.1 Zwischen 148

3.2 Interkorporalität 150

3.3 Expressivität 152

3.4 Extension 153

V BEWÄHRUNG 155

1 Integration der Leiblichkeit in musikpädagogische Konzeptionen 157

1.1 Waldenfels: Primat des Hörens im musikalischen Zwischengeschehen 159

1.2 Vogt: Antwortendes Hören als leibliches Register der Wahrnehmung von Musik 165

1.3 Mollenhauer: Kopplungen/Entkopplungen zwischen Werkzeug- und Sinnenleib 175

1.4 Khittl: Musikalisches Handeln zwischen Rezeption und Produktion 181

1.5 Richter: Musikalische Verkörperung zwischen Bewegung und Bewegtheit 186

2 Ausweisung von Neuer Musik als Vollzug von Leiblichkeit 200

2.1 Hinführung 201 2.1.1 Ausdifferenzierung des Neuen als neue

Wahrnehmungsweise 202 2.1.2 Neue Musik und Körperinteresse 215 2.1.3 Neue Musik und Leiblichkeit 223

2.2 Durchführung 224 2.2.1 Varèse: Musik als Klangbewegung 225 2.2.2 Schnebel: Musik aus Organbewegungen 245 2.2.3 Globokar: ‚Musique Engagée’ 276

VI DISKUSSION 308

1 Resümee 309

2 Ausblick 315

LITERATURVERZEICHNIS 320

SIGLEN 339

Zwischen Bewusstsein und Realität gähnt ein wahrer Abgrund des Sinnes.

(Husserl 51993, 93)

Wir behaupten also, daß der Leib ein zweiblättriges Wesen ist, auf der

einen Seite ist er Ding unter Dingen, und auf der anderen sieht und berührt

er sie; und wir stellen fest, da es offensichtlich so ist, daß er diese zwei

Eigenschaften in sich vereinigt, und daß es seine doppelte Zugehörigkeit

zur Ordnung des „Objekts“ und des „Subjekts“ und zur Entdeckung ganz

unerwarteter Beziehungen zwischen beiden Ordnungen führt. Daß dem

Leib ein Doppelbezug innewohnt, kann nicht auf einem unverständlichen

Zufalle beruhen. Er lehrt uns, daß ein Bezug den anderen hervorruft.

(Merleau-Ponty 21994a, 180)

12 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

VORWORT

Die vorliegende Arbeit ist während eines längeren Zeitraums entstanden.

Erste Untersuchungen zum Leibbegriff der Phänomenologie begannen bereits

1995 im Rahmen meines Philosophiestudiums. Einen Schwerpunkt bildeten die

ästhetischen Potentiale und praktischen Dimensionen der Forschungsmethode. Im

Anschluss an mein Musikstudium erhielt ich ein Stipendium und konnte im Hus-

serl-Archiv Köln zum Teil unveröffentlichte Manuskripte zum Leibbegriff einse-

hen, die ich für musikpädagogische Fragestellungen auswertete. Diese eher theo-

retischen Ansätze ließen sich dann während meines Referendariats auch für die

Unterrichtspraxis konkretisieren.

So ergaben sich im Laufe der Forschungen immer wieder wechselnde Perspekti-

ven im Hinblick auf das ‚musikalische Leibphänomen’. Diese letztlich biogra-

phisch begründete Verbindung von ‚Theorie und Praxis’ hat sich zu einem zentra-

len Anliegen meiner Arbeit entwickelt.

‚Musik als Vollzug von Leiblichkeit’ ist an Zeiten und Personen in Bad Salzuflen,

Detmold, Köln und Marburg gebunden.

Ich danke Andreas Glatz für seine konstruktiven Ideen.

Die Hochschule für Musik Detmold ermöglichte mir ein zweijähriges Forschungs-

stipendium.

Mein besonderer Dank gehört Herrn Professor Dr. Ortwin Nimczik.

Hameln, im März 2006

Lars Oberhaus

Einleitung · 13

EINLEITUNG

Der menschliche Körper erweist sich für den Musikunterricht als wesentliches und

unverzichtbares Medium ästhetischer Erfahrungen. Während das bewusste Zuhö-

ren dem Erschließen von Klangformen und dem Erwerb analytischer Kompeten-

zen dient, beruht die Musizierpraxis auf konkreten Tätigkeiten, bei denen z. B.

durch Bewegungen Klänge produziert werden, die vielfältige Interaktionsformen

ermöglichen.

Der Körper steht daher im Musikunterricht zwischen den zwei zentralen methodi-

schen Dimensionen, Töne entweder hervorzubringen oder sie zu verinnerlichen.

Diese Differenz ist von zentraler Bedeutung, da sich aus ihr weitreichende Konse-

quenzen für eine praxis- oder theorieorientierte Musikpädagogik ableiten.

Dabei muss zunächst davon ausgegangen werden, dass der Körper ästhetische

Erfahrungen bereitstellt. Diese banal anmutende Feststellung lenkt den Blick auf

einen zentralen anthropologischen Sachverhalt, der v. a. in unserer westlichen

Kultur stillschweigend vorausgesetzt wird: die Vorstellung von einem ‚objektiven

Körper’, der sich z. B. in der Medizin analysieren lässt, und einem ‚subjektiven

Geist’, der Individualität durch Vernunft bereitstellt. Dieser v. a. von René

Descartes konstruierte Körper/Geist- oder Leib/Seele-Dualismus trennt die

menschliche Existenz auf die Musik bezogen in einen Außenbereich (res extensa),

wo Bewegungen ausgeführt werden, und in einen Innenbereich (res cogitans), in

dem Klänge reflektiert werden. Der Körper dient also zur Etablierung motorischer

und analytischer Kompetenzen, wobei allerdings die beiden Seiten merkwürdig

disparat erscheinen und nicht einheitlich zu fassen sind, da ihnen, wie Physiologie

und Psychologie zeigen, unterschiedliche Aufgabenbereiche zugesprochen wer-

den. Für den Musikunterricht hat dies zur Folge, dass ästhetische Wahrnehmungen

immer nur im Nacheinander, konsekutiv, erfahrbar sind. Ein Musikstück wird

z. B. im Ensemble erprobt, bevor elementare Formparameter über eine Analyse

des Notentextes erschlossen werden. Eng hiermit verbunden erscheint ferner die

methodische Vorgehensweise, die Schulstunde zunächst durch ‚musikalische

Aktivitäten‘ aufzulockern, um sich anschließend den ‚eigentlichen’ Lerninhalten

zu widmen.

Letztlich untersteht der Körper im Unterricht festgelegten Funktionen, die ihn in

Form von ‚Bewegungen zur Musik’ für normative Zwecke einnehmen, anstatt

eigenständige musikalische Qualitäten im Sinne von ‚Musik zur Bewegung’ zu

beachten. Die Konkretisierung der eigenen Verfassung und Disposition des ‚musi-

14 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

kalischen Körpers’ für den Unterricht erfolgt damit unter Verzicht auf authenti-

sche Bewegung, die dem Subjekt immer schon zur Verfügung steht.

Hierbei wird deutlich, dass erst die Berührungspunkte zwischen ‚Theorie’ und

‚Praxis’ eine Einheit zwischen Wahrnehmen und Gestalten etablieren. Selbst die

Legitimation gegenüber anderen naturwissenschaftlichen Fächern beruht weniger

auf propädeutischen Vergleichen, sondern findet gleichsam auf einem anderen

‚schwankenden Boden’ statt, der sich mit Verstehensprozessen auseinandersetzt,

die in kein einseitiges Rationalisierungs- oder Kreativitätsraster passen.

Wie lassen sich also Rezeption und Produktion als Einheit erfahren, ohne den

konstitutiven Anspruch von Theorie und Praxis aufzuheben? Wie kann ein Ver-

stehen ‚von etwas als etwas’ erfolgen, ohne formale Formen des Hörens und In-

terpretierens gegen offene Erfahrungshorizonte auszuspielen?

Hermann Rauhe, Hans-Peter Reinecke und Wilfried Ribke haben bereits 1975

dargelegt, dass ‚Hören und Verstehen‘ nicht zwangsläufig an kognitive Prozesse

gebunden sind, sondern in Relation zu den Handlungsmöglichkeiten betrachtet

werden müssen, die Schüler im Rahmen ihrer Entwicklung mitbringen.1 Handeln

versteht sich als mehrdimensionaler Prozess, der das Wechselverhältnis von Sub-

jekt (Hörer) und Objekt (Musikwerk) thematisiert und besonders musikalische

Interaktionsformen berücksichtigt. Selbst wenn sich ausgehend von der ‚Erfah-

rungserschließenden Musikerziehung’ und Forderungen nach ‚Handlungsorientie-

rung’ eine verstärkte Praxisorientierung gebildet hat, stehen z. B. Singen und

Klassenmusizieren als ‚kreative Bereiche’ synonym für Spaß und Gruppenerlebnis

während eher kognitiv-theoretische Inhalte, wie z. B. Formenlehre oder Partitur-

analyse, mit Langeweile und Auswendiglernen verbunden erscheinen. Die Thema-

tisierung des Körpers im Musikunterricht führt also nolens volens von Reflexio-

nen über dessen Wahrnehmungs- und Handlungspotenziale zu einer Auseinander-

setzung mit der Theorie- oder Praxisrelevanz der Musikpädagogik. Dies beinhaltet

wiederum eine kritische Erweiterung des Verstehensbegriffs, der verallgemeiner-

baren Lernleistungen in Form von abfragbarem Wissen und ästhetisch-sinnlichen

Wahrnehmungen bezüglich produktiver musikalischer Gestaltungsansprüche ge-

recht wird.

______________

1 Vgl. Rauhe/Reinecke/Ribke 1975; Hermann J. Kaiser kritisierte schon früh den unsystemati-schen Gebrauch des musikalischen Handlungsbegriffs. Vgl. Kaiser 1976

Einleitung · 15

Demnach liest sich die Geschichte der Musikpädagogik wie ein ständiges ‚Auf

und Ab’ bezogen auf die Forderung, verstärkt entweder das ‚passive Analysieren’

im Sinne der Herausstellung formaler Kriterien oder das ‚aktive Gestalten’ heraus-

zustellen. Exemplarisch ist auf die ‚Jugendmusikbewegung’ zu verweisen, die

Musik als Gemeinschaftserlebnis verstand. Außerdem ließe sich eine dem auto-

nomen Anspruch des Musikobjekts angemessene rationale Durchdringung der

formalen Struktur im Sinne der Kunstwerkdidaktik anführen. Vielleicht ist Theo-

dor W. Adornos ‚Kritik des Musikanten‘ aktueller denn je, da sie nach dem „Vor-

rang des Musizierens über die Musik“ fragt (Adorno 1997b, 75). Selbst wenn der

soziale Typus eines schöpferisch Jungendmusikbewegten samt Kniebundhose,

Klampfe und Kochgeschirr heutzutage nicht mehr auffindbar ist, bleibt Kritik

daran nach wie vor bedenkenswert, weil es einen in die Musikpädagogik „einge-

bauten Widerspruch zwischen der Befriedigung des Bedürfnisses nach ‚Action‘

und ganzkörperlichem Sichausagieren und den Möglichkeiten des verstehenden

Eindringens in die Musik selbst gibt“ (Ott 1997, 7).

Unabhängig von der divergenten Theorie- bzw. Praxisbewertung und des damit

zusammenhängenden ‚eingebauten Widerspruchs’ hat der Körper in unterschiedli-

chen Lernbereichen seine feste Verankerung im Musikunterricht erhalten.

Das ‚Lernfeld Tanz’ ist in den Lehrplänen und Schulbüchern durchaus vertreten.

Zu unterscheiden wäre zwischen ‚Klassischem Tanz’, der sich unter Hinzunahme

traditionell festgelegter Choreographien auf das Bewegungsverhalten und die

historische Aufführungspraxis konzentriert, sowie ‚Rock- und Poptanz’, der an die

Hör- und Bewegungserfahrungen der Schüler anknüpft, hierbei oftmals unge-

wöhnliche Bewegungsarten mit einbezieht und sich z. B. mit dem Nachtanzen von

Choreografien in Musikvideos beschäftigt.

Etabliert hat sich auch schon die in den 1990er Jahren entwickelte ‚Szenische

Interpretation‘, wo Schüler sich in Rollen hineinversetzen und hierbei ein eigen-

ständiges Bewegungsrepertoire erwerben. Begründet werden ihre ungewöhnlichen

Methoden, wie z. B. die Arbeit mit Standbildern und Bewegungsimprovisationen,

v. a. durch die erfahrungserschließende Dimension der Musikerziehung, die ein

Spiel von Selbst- und Fremderfahrung ermöglicht. Szenen werden nicht nur nach-

gespielt, sondern spiegeln auch die Sphäre der eigenen Persönlichkeit wider. In

engem Zusammenhang steht hierbei der anthropologische Aspekt der ‚Verkörpe-

rung’, der von Christoph Richter für die Musikpädagogik verwendet wurde. In

Anlehnung an die Tätigkeit eines Schauspielers versteht er hierunter die „Gleich-

zeitigkeit von ‚Verkörperung von etwas‘ und ‚Verkörperung des Menschen

16 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

selbst‘“ (Richter 1987, 111), wenn Schüler z. B. durch Bewegungen zur Musik

eine fremde Rolle annehmen und sich selbst darin ausdrücken.

In den letzten Jahren führten die Thematisierung interkultureller Aspekte und die

Suche nach dem ‚musikalisch Fremden‘ zu einer Neubewertung außereuro-

päischer Praxen, wie z. B. ‚Afrikanisches Trommeln‘.2 Eng hiermit verbunden

sind die zahlreichen Ansätze körperbetonten Musizierens, wie z. B. ‚Bodyperkus-

sion‘, wo die Schüler im Sinne einer rhythmischen Elementarlehre für eigene

Körperklänge sensibilisiert werden. Das Musizieren auf Alltagsgegenständen hat

durch ‚Stomp in the classroom‘ besonders an Aktualität gewonnen und gewähr-

leistet die Erprobung ungewöhnlicher Spieltechniken.3

Nicht zu unterschätzen bleibt hierbei der Beitrag zur Gesundheitserziehung, da

durch Spiel- und Bewegungserfahrungen die motorischen Kompetenzen vieler

Schüler verbessert und durch das bewusste klangliche Erschließen der ‚Lautsphä-

re’ eine differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit für schädliche Umweltgeräusche

erreicht wird.

Auch auf theoretischer Ebene lässt sich eine bereits Anfang der 80er Jahre einset-

zende Forderung nach einer verstärkten Berücksichtigung von ‚Musik und Bewe-

gung’ im Unterricht feststellen, die sich unter instrumentalpädagogischen, musik-

soziologischen, elementarpädagogischen, ganzheitlichen oder allgemein fachdi-

daktischen Schwerpunkten immer wieder erneuert. Ihre gemeinsame Zielsetzung

besteht darin, der ‚Entsinnlichung‘ im Lernen und einer Beschränkung auf ein rein

abstrakt formelhaftes und verinnerlichtes Wissen entgegen zu wirken.4

Auffallend ist allerdings, dass der Körper neben seiner musikpädagogischen Viel-

seitigkeit auch auf eine Vieldeutigkeit seiner Erscheinungsweisen verweist. Vier

verschiedene Legitimationslinien der Einsatzmöglichkeiten von ‚Körper und Mu-

sik’ im Unterricht lassen sich festmachen.5

Eine ‚Zivilisationskritik‘ thematisiert die Entfremdung des Menschen durch Me-

dien und fokussiert sich auf die verstärkte Neugewinnung der Vielfalt menschli-

______________

2 Vgl. Schütz 1992 3 Vgl. z. B. Zimmermann 1999; Neumann 2000 4 Vgl. Geiger 1996; Fritsch 31992; Haselbach 1990; Gies/Jank/Nimczik 2001; Bruns 2000;

Horst Rumpf kritisiert die ‚übergangene Sinnlichkeit’ in der Schule. Vgl. z. B. Rumpf 1981; 1986; 1987

5 Vgl. Stroh 1994

Einleitung · 17

cher Tätigkeitskomponenten. Gerade die rationalistischen Wissenschaften führen

„zu einem Realitätsverlust, den wir nur in der Konkretheit unserer Geschichte und

unserer körperlichen Existenz überwinden können“ (zur Lippe 1990, 23).

Eine ‚Kritik an pädagogischen Institutionen‘ thematisiert die Entsinnlichung des

Körpers und konstatiert, dass „in Beruf, Erziehung, sowie im täglichen Umgang

miteinander […] geradezu eine Stillegung des Körpers zu beobachten“ ist (Pütz

1990, 9). Dem Fach Musik kommt eine Schlüsselfunktion zu, um der schulischen

Verinnerlichung durch „Denkregeln, die die persönliche Erfahrung am sinnlich

spürbaren Detail annullieren“ (Rumpf 1981, 7), kompensierend entgegenzuwir-

ken.

Ganzheitliches Lernen fordert die Verschmelzung von Physis und Psyche. Der

Körper kann dabei als Innen/Außen-Korrelat eingesetzt werden, so dass das Innen

und Außen die „ursprünglich aufeinander angelegte Ganzheit in eine positive

Spannung bringen“ (Kappert 1990, 205). Die methodischen Einsatzmöglichkeiten

reichen von der Feldenkrais-Methode und Alexandertechnik über Yoga, Aikido

bis hin zu Atem- und Empfindungsschulungen. Der letztlich auf die Gestaltpsy-

chologie zurückzuführende Ansatz, emotionale und intellektuelle Faktoren zu

verbinden, führte in der Musikpädagogik oftmals zu einer Betrachtungsweise, die

verstärkt gefühlsartige Erlebnisse des Schülers über den individuellen Körperaus-

druck berücksichtigt.

Eine ‚Body-Music’ thematisiert durch ihren afroamerikanischen Schwerpunkt die

stark rhythmisch ausgerichtete Musik Jugendlicher und ermöglicht einen schüler-

orientierten Unterricht. „Das Instrument der 90er Jahre ist der Körper“ stellt Rena-

te Müller fest und sieht gerade beim Rocktanz im Unterricht die Möglichkeit,

„musikalische, soziale und körperbezogene Lernprozesse“ zu initiieren (Müller

1992, 9). Das methodische Spektrum einer Body-Music reicht von einfachen

Tanzchoreographien über die thematische Berücksichtigung einzelner Körperpar-

tien (Hände und Füße) bis hin zum ganzkörperlichen Einsatz von Stimme und zu

unterschiedlichen Schlagtechniken (schlagen, streichen, klopfen etc.).

Diese Legitimationslinien zentrieren sich wiederum um sechs musikpädagogische

Bereiche: Tanz, szenisches Spiel, körperbezogenes Musikmachen, Stimm-, Atem-

und Chorarbeit, ganzheitliche Improvisation und körperbewusste Instrumentalpra-

xis.

Bemerkenswert erscheint, dass alle diese Maßnahmen „prototypische Probleme“

aufweisen. „Pädagogisierte körperorientierte Lernformen sind ambivalent“ (Stroh

18 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

1994, 141), woraus die Schwierigkeit resultiert, den Bewegungen zur Musik ein-

deutig pädagogische Funktionen zuzuschreiben. Demnach nehmen emanzipato-

risch tendierte Unterrichtsinhalte, wie z. B. ‚Pop- und Rocktanz’, durch die Ein-

haltung von Schrittfolgen und Bewegungsmustern disziplinierende Züge an und

stabilisieren das ursprünglich kritisierte Gesellschaftssystem. Ein ganzheitlich

orientierter Unterricht mit allen Sinnen führt zu einer einseitigen Bewertung jegli-

cher musikalischen Tätigkeit als alleiniges Lernziel und nötigt letztlich zu einer

erneuten Kritik an einer rein ‚schöpferischen Musikerziehung‘, um auch die quali-

tativen Aspekte der Praxis nicht zu vernachlässigen. Die Erarbeitung ungewöhnli-

cher Spieltechniken, wie z. B. im Rahmen der ‚Bodyperkussion’, führt zu einer

‚schöpferischen Musikerziehung’, die unkritisch das ‚gemeinschaftliche Tun‘

propagiert. Die Beschäftigung mit außereuropäischen Musikpraxen unter der The-

matik des ‚Fremden‘ wird deren Vielfalt nicht gerecht und verabsolutiert

leichtfertig die westliche Kunstmusik. Letztlich verlangen körperorientierte päda-

gogische Maßnahmen auch eine therapeutische oder tänzerische Zusatzausbildung

für den Lehrer, da zum einen unplanmäßige psychologische Folgeerscheinungen

durch ein zu hohes Maß an Expressivität auftreten können und zum anderen kör-

perlich behinderte Menschen oder Schüler mit wenig Bewegungserfahrung dis-

kriminiert werden. Ungeachtet der Schwierigkeit, die aus der qualitativen Bewer-

tung von Bewegungen im Musikunterricht resultiert, führt eine Praxisorientierung

zur Ausklammerung theoretischen Lernstoffs, der oftmals nur verbal zu vermitteln

ist. Pädagogische Maßnahmen mit dem Körper als Erfahrungsträger sind also

nicht nur schwer zu kontrollieren, sondern verfehlen im gleichen Maße schnell die

didaktischen Zielsetzungen.

Eine wesentliche Aufgabe für die musikpädagogische Forschung besteht darin, die

divergenten Einsatzmöglichkeiten von ‚Körper und Musik’ allererst zu begründen.

Wo fängt Praxis an, wo hört Theorie auf? Ist das Hören bereits als ein Akt passi-

ver Reflexion determiniert oder lässt sich das Analysieren selbst bereits als kreativ

bezeichnen? Die Kluft der Theorie/Praxis-Dimension des Musikunterrichts ist nur

durch eine gezielte Neubewertung ästhetischer Qualitäten zwischen Hören und

Gestalten und durch eine Aufhebung der Funktionalisierungsmechanismen des

Körpers zu überwinden.

Eine Arbeit, die sich im weiten Sinne mit ‚Musik und Bewegung’ auseinander-

setzt, kann das Thema in seiner Vollständigkeit nicht bearbeiten. Traditionelle

Tanz- und Rhythmikkonzepte, wie die von Jaques-Dalcroze oder Feudel, werden

daher nicht eigens thematisiert, da bereits Forschungen und methodische Einsatz-

Einleitung · 19

möglichkeiten für den Unterricht vorliegen. ‚Musik als Vollzug von Leiblichkeit’

ist vielmehr um eine Neuperspektivierung des ‚Körperphänomens’ bemüht und

untersucht unkonventionelle Zugänge, wie z. B. die Stellung des Körpers in der

Neuen Musik. Diese Schwerpunktsetzung bietet sich an, da viele relevante musik-

pädagogische Forschungen zum ‚Leibbegriff’ an wahrnehmungsspezische Aspek-

te innerhalb der zeitgenössischen Musik anknüpfen. Grundsäzlich sind jedoch

auch Einsatzmöglichkeiten der ‚Leiblichkeit’ in anderen Lernfeldern denkbar. Das

betrifft v. a. das extensive Körperinteresse in der Musik Jugendlicher. Eine solche

zweite Ausweisung bildet eine Perspektive für weitere Forschungen zur Leiblich-

keit.

Eine erste ‚Bestandsaufnahme’ zeigt bereits, wie sich das derzeitige Körperinter-

esse in immer komplexere Strukturen verzweigt und hierdurch nahezu unüber-

schaubar wird. Es liegt dabei von Anfang an im Interesse, solche Vieldeutigkeiten

zu berücksichtigen, um erstens nach deren ‚Sinn’ zu fragen und zweitens in posi-

tiver Weise ‚Fenster zu öffnen’, die neue Blickrichtungen auf ein so breites Feld

wie musikalisches Lernen mit und durch den Körper bereitstellen. Die Auseinan-

dersetzung mit Leiblichkeit als musikalische Vollzugsform impliziert allerdings

keine ‚Neuerfindung des Musikunterrichts’. Vielmehr werden ursprüngliche Qua-

litäten des ‚musikalischen Körpers’ exponiert, die im Unterricht zum Einsatz ge-

langen können.

Trotz dieser thematischen Mannigfaltigkeit, die neben grundlegenden musikpäda-

gogischen Fragestellungen auch musiksoziologische, musikwissenschaftliche,

anthropologische, philosophische und didaktische Aspekte berücksichtigt, lässt

sich eine klare Struktur innerhalb der ‚klassischen‘ Gliederung in Theorie (Be-

standsaufnahme), Methode, Analyse, Ergebnisse und Diskussion festmachen. Die

Systematik der Darstellung korreliert demnach mit der Öffnung für viele auch

fachübergreifende Blickrichtungen, die sich alle für die Etablierung eines neuen

Körperverständnisses, genannt ‚Leiblichkeit‘, konstitutiv erweisen. Eine solche

Anlage ermöglicht innerhalb der Verzahnung von methodischer Dichte und the-

matischer Vielfältigkeit die Orientierung von einem allgemeinen Körperinteresse

im derzeitigen gesellschaftlichen Kontext zu einer konkreten musikpädagogischen

Erfassung von ‚Musik als Vollzug von Leiblichkeit’.

Entsprechend einer von Jürgen Vogt vorgeschlagenen Begriffsdefinition lässt sich

diese Arbeit als Teil einer „Philosophie der Musikpädagogik“ (Vogt 2001, 13)

verstehen, die dazu auffordert, „sich mit den philosophischen Themen der Musik-

pädagogik ebenso zu beschäftigen wie mit den musikpädagogischen Themen der

20 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Philosophie“ (Vogt 2001, 14). Die Ergebnisse sind also sowohl für die Philoso-

phie als auch für die Musikpädagogik relevant.

Die Arbeit gliedert sich in fünf Teile, die durch die Kapitel ‚Bestandsaufnahme’

(I), ‚Methode’ (II), ‚Analyse’ (III), ‚Ergebnisse’ (IV), ‚Bewährung’ (V) und ‚Dis-

kussion’ (VI) gekennzeichnet sind. All diesen Teilen sind unterschiedliche wis-

senschaftliche Implikationen und Schwerpunkte zugeordnet, die eng mit dem

Thema ‚Musik und Körper’ verbunden sind.

In der ‚Bestandsaufnahme’ (I) wird auf soziologischer Basis den vielschichtigen

Rollen des Körpers im derzeitigen gesellschaftlichen Kontext nachgegangen, um

so einen ersten Überblick über dessen Funktionalisierung zu erhalten. Damit ver-

bunden erscheinen vertiefende Überlegungen, die sowohl die etymologische Dif-

ferenz von ‚Körper’ und ‚Leib’ berücksichtigen, aber auch grundlegende anthro-

pologische Fragestellungen thematisieren. Die ‚Methode‘ (II) und ‚Analyse‘ (III)

widmen sich phänomenologischen Forschungen zum Leibverständnis und kon-

zentrieren sich dabei auf die Autoren Edmund Husserl und Maurice Merleau-

Ponty. In den Ergebnissen wird zunächst ein eigenständiger ‚phänomenologischer

Leibbegriff’ gebildet, der sich durch vier Topoi (‚Zweideutigkeit’, ‚Intersubjekti-

vität’, ‚Ausdruck’, ‚Erweiterung’) auszeichnet. Diese sind auch für die Musikpä-

dagogik relevant. Im Rahmen einer musikpädagogischen Transformation resultie-

ren dann vier ästhetische Qualitäten (‚Zwischen’, ‚Interkorporalität’, ‚Expressivi-

tät’, ‚Extension’), die summarisch unter dem Begriff ‚Leiblichkeit’ zusammenge-

fasst werden. Die Bewährung (V) integriert zunächst ‚Leiblichkeit’ in bestehende

musikpädagogische Konzeptionen, um Ähnlichkeiten und Abgrenzungen zu vor-

handenen theoretischen Ansätze festzustellen. Anschließend bewähren sich die

Qualitäten im Unterricht im Bereich der ‚Neuen Musik’ und begründen ‚Musik als

Vollzug von Leiblichkeit’ auf musikpraktischem Boden. Eine abschließende Dis-

kussion (VI) resümiert die wesentlichen Standpunkte der vorliegenden Arbeit und

gibt auch einen Ausblick auf weitere Forschungen zum Körperverständnis im

Rahmen der Musikpädagogik.

Die hier gewählte sprachliche Darstellung orientiert sich an der pänomenologi-

schen Terminologie. Einige auf den ersten Blick fremd erscheinende Begriffe wie

‚Bewährung’ oder ‚Ausweisung’ sind kein ästhetisch-verbaler Selbstzweck, son-

dern verdeutlichen die eigenständige musikpädagogisch-phänomenologische

Tragweite der Darstellung ohne bereits fixierte Deutungsschablonen zu überneh-

men.

Einleitung · 21

Die Untersuchung soll ersichtlich machen, inwieweit die Stellung des ‚phänome-

nologischen Leibbegriffs’ zwischen Körper/Geist, Leib/Seele, Objekt/Subjekt,

Sein/Bewusstsein oder Aktivität/Passivität traditionelle dualistische Konzepte

unterläuft und eine Verflechtung von Denken und Handeln begründet, um als

‚Leiblichkeit’ die grundlegende Offenheit und Vielschichtigkeit ästhetisch-

musikalischer Erfahrungen und Handlungsvollzüge im Musikunterricht herauszu-

stellen.

22 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

I BESTANDSAUFNAHME

Das Finden, heißt es, leitet sich vom Gehen entlang eines Weges ab, bei dem man auf etwas tritt, stößt oder trifft; unklar ist dabei jedoch vorab die Rolle, die so gegensätzliche Dinge wie Zufall und Suche dabei spielen. Ei-ner Entdeckung haftet der Aspekt des Willkürlichen im selben Maß an, wie man sie oft auch als unwillkürlich begreift; man schreibt ihr einen aktiven Part ebenso zu, wie man ihr andererseits wieder das Prädikat des Passiven verleiht. Diese sprachliche Unschärfe jedoch ist es gerade, die dem tauto-logischen Kreisen um Begriffe eine Richtung und auch einen Anfang ein-schreibt. (Schrott 1999, 10)

Im Zentrum der Bestandsaufnahme stehen auf den menschlichen Körper bezogene

Beobachtungen, Feststellungen und Wertungen. Eine erste Annäherung an die

Thematik erfolgt über eine exemplarische Literaturauswahl, die unterschiedliche

Interessen verdeutlichen und die Rolle des menschlichen Körpers im derzeitigen

gesellschaftlichen Kontext aufzeigen soll. Dabei geht es um die Darstellung we-

sentlicher Positionen, die das extensive Körperinteresse unserer Zeit spiegeln und

bestimmen. Im Sinne einer Fokussierung werden dazu die vier Felder Gesundheit,

Sport, Mode und Musik der Jugendlichen in ihren gegenwärtigen und alltäglichen

Erscheinungsformen beleuchtet (1.1). Im Rahmen der Darstellung zeichnen sich

zwei konkurrierende Auffassungen von Körperkritikern und -befürwortern ab, die

sich systematisch als ‚Imperativ unvergesellschafteter Körperlichkeit‘ und als

‚Theorieabstinente Akzeptanz von Körperlichkeit‘ fassen lassen (1.2). Diese Aus-

arbeitung beinhaltet bereits Bezüge zu pädagogischen Körperkonzepten, die den

Bereich des sinnlichen Lernens ebenfalls unterschiedlich thematisieren. Sie sollen

auf die im weiteren Verlauf der Arbeit zentralen musikpädagogischen Fragestel-

lungen hinlenken. Die vorgestellten konkurrierenden Auffassungen spiegeln eben-

so die Bezüge zur Körperlichkeit in der Musik Jugendlicher wider. Hierbei fungie-

ren sie als ‚Imperativ musikkritisch fundierter Körpererfahrung’ und als ‚Akzep-

tanz musiktheorieabstinenter Körpererfahrung’ (1.3).

Vor dem Hintergrund der primär deskriptiv aufgezeigten Rolle des menschlichen

Körpers im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext erfolgt anschließend eine

erste Differenzierung des Körperbegriffs. Ausgehend von der etymologischen

Bedeutung von ‚Körper‘ und ‚Leib‘ (2.1) rekurriert die Arbeit auf deren histori-

sche Entwicklung (2.2). Dabei werden auch anthropologische Aspekte berücksich-

Bestandsaufnahme · 23

tigt, die zwischen einem homerischen und einem platonischen Menschenbild dif-

ferenzieren. Eine Bezugnahme auf die Triebhaftigkeit des Leibes in der Religion

und die damit verbundene Entkörperlichung der Musik schließen sich an. Sie

vertiefen die sich wandelnden historischen Dimensionen des Körpers. Eine beson-

dere Berücksichtigung erhält ferner dessen Rolle im Lernprozess.

24 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

1 Rolle des menschlichen Körpers im derzeitigen gesellschaftlichen

Kontext

Bei einem ersten Versuch, das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper näher

zu bestimmen, fällt eine Verbindung von historisch gesellschaftlichen Entwick-

lungen mit anthropologisch bedingten Auffassungen auf. Im Laufe der Geschichte

ergaben sich wechselnde Körperbilder, die sich innerhalb ihrer sozialen Rollen

unterschiedlich ausdrückten. Eine tendenziell vollständige Erfassung des gesell-

schaftlichen und körperlichen Wandels oder der Entwurf einer stringenten Ent-

wicklung der Körpergeschichte des Menschen wäre im Bereich der Geschichts-

wissenschaft, Anthropologie oder Sozialwissenschaft zu erwarten.

Unter diesem Anspruch hat der Soziologe Norbert Elias das unterschiedliche Kör-

perverhalten durch mehrere Jahrhunderte hindurch in seinen umfassenden zivilisa-

tionstheoretischen Untersuchungen dargestellt.6 In ihnen zeigt er, wie sehr gesell-

schaftliche Entwicklungen den Aufbau von körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten

regulieren, begünstigen und verändern können.

Elias geht davon aus, dass sich mit Beginn der Neuzeit im Zuge der Aufklärung

ein besonders markanter Wechsel im Körperverständnis vollzog. Im 18. Jahrhun-

dert stand noch die Disziplinierung im Vordergrund. Der Körper hatte sich den

bestehenden Sitten und Gebräuchen anzupassen oder in Formen der Industrialisie-

rung als Maschine zu funktionieren. Er galt als Werkzeug und wurde hinsichtlich

seiner Arbeitskraft bewertet.7 Erst die immensen Wirkungen der Philosophie Jean-

Jacques Rousseaus und die damit verbundene Forderung ‚Zurück zur Natur‘ ziel-

ten darauf ab, den Körper in seiner Natürlichkeit zurückzugewinnen.

Die Natur hat, um den Körper zu stärken und ihn wachsen zu lassen, Mit-

tel, die niemals aufgehalten werden dürfen (Rousseau 1978, 31).8

Der Regelkanon, in dem der Körper bisher vornehmlich stand, wurde durchbro-

chen, und es begann sich eine Neubewertung der Sinnlichkeit als Zeichen der

Befreiung des Individuums aus den Zwängen gesellschaftlicher Normen und ma-______________

6 Dabei sei v. a. auf das zweibändige Werk ‚Über den Prozeß der Zivilisation’ verwiesen. Vgl. Elias 1969

7 Er dient als Reiz-Reaktionsmechanismus dazu, „die innere Kraft aufzubieten, um prompt und mit der gebotenen Stärke auf Reize reagieren zu können“ (Baumann 1997, 187).

8 Der Originaltext lautet: „La nature a, pour fortifier le corps et le faire croître, des moyens qu’on ne doit jamais contrarier“. Die Übersetzung stammt vom Verfasser.

Bestandsaufnahme · 25

schineller Produktionsverhältnisse durchzusetzen. Diese einschneidende Erfah-

rung der Individualisierung des Körpers hat sich bis in die heutige Zeit weiter

ausdifferenziert. Entscheidungen selbsttätig treffen zu können, steht im Mittel-

punkt alltäglicher Erfahrungen und ermöglicht die Freiheit des Subjekts. Hierbei

gewinnt auch der Körper eine entscheidende Stellung, die ihn als ein grundsätzlich

sinnlich ästhetisches, selbständig gestaltbares und verfügbares Medium auszeich-

net.

Vor diesem Hintergrund ist auffallend, dass auch heutzutage ein Körperinteresse

anzutreffen ist. Neben dem Bereich der Individualisierung hat sich gerade in so-

zialen Bereichen die Möglichkeit zur Identifizierung durchgesetzt. Die Identifika-

tion des Menschen erfolgt zunehmend über körperliche Eigenschaften und wird

z. B. gerichtsmedizinisch für den Beweis von Straftaten nützlich. Eine DNA-

Analyse dient zur Erkennung von Verbrechern und Tätern. Selbst Vaterschafts-

nachweise werden anhand von Blutgruppen und genetischer Zellmarkierung er-

stellt. Polizeiliche Ermittlungen bedienen sich der Phantombilder und der Finger-

abdrücke. Die Unterschrift als persönliches Signum beschließt einen Vertrag und

gibt dem Graphologen Material zur Deutung der Persönlichkeit. Ein Körperinte-

resse findet sich auch in der Belletristik: Modemagazine, Kochbücher, Diätenfüh-

rer und Fitnesszeitschriften sind aus den Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken

und bestätigen die aktuelle Auseinandersetzung mit dem Körper. Im Zuge seiner

zunehmenden Entbindung von gesellschaftlichen Normen und Zwängen hat sich

das für die Gesellschaft relevante Körperinteresse derzeitig auf vier Schwerpunkte

verlagert: ‚Gesundheit’, ‚Sport’, ‚Mode’ und ‚Musik der Jugendlichen’.9

1.1 Körperinteresse heute

Gesundheit

Das Feld der Gesundheit bzw. Krankheit hat sich längst aus dem Bereich der In-

timsphäre und des Privaten gelöst und ist Teil des öffentlichen Diskurses gewor-

den. Dabei sind es v. a. populärwissenschaftliche Untersuchungen, die einer stän-

dig wachsenden Leserschaft komplexe Sachverhalte allgemein verständlich näher

bringen und das Verhältnis von persönlicher Lebensqualität und innerem Wohlbe-

______________

9 Im Folgenden werden unter den Begriffen ‚derzeitig’ oder ‚heutzutage’ weitestgehend die Entwicklungen des letzten Quartals des 20. Jahrhunderts bis zum Beginn des neuen Millenni-ums verstanden, die durch einzelne Bezüge zu unterschiedlichen Rollen des Körpers ab 1900 verdeutlicht werden sollen.

26 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

finden thematisieren.10 Die Breite des Angebots reicht von schulmedizinischen

Fragestellungen im Bereich chronischer Krankheiten oder Funktionsstörungen

einzelner Körperteile bis hin zu Heilpraktiken aus fremden Ländern, homöopathi-

schen Ansätzen und esoterischen Heilsversprechungen. In diesem Zusammenhang

sind auch Randgebiete, wie z. B. die Geschichte der Hygiene, des Blickes und des

Geruchs, marktfähig geworden und haben Eingang in die Wissenschaft gefun-

den.11

Selbst Psychologie und Neurologie betonen die Individualität des Körpers. Sie

untersuchen das Wechselverhältnis des äußerlich sichtbaren, aktiv gestaltenden

Körpers mit dem dazugehörigen inneren Körpergefühl.12 Viele psychische Krank-

heiten resultieren nämlich aus dem Ungleichgewicht dieser beiden Faktoren. Der

Körper kann depersonalisiert und als ‚Nicht-Ich’ empfunden werden, wenn sich

ein Kranker im Spiegelbild nicht mehr wiedererkennt. Patienten, die unter der

‚Dysmorphobie’ leiden, sehen ihre Körper als missgestaltet, obwohl Beobachtern

nichts Ungewöhnliches auffällt. In der ‚Heautoskopie’, dem Doppelgängerbe-

wusstsein, sieht der Kranke seinen Körper in der Außenwelt sogar verdoppelt.

Das Phänomen der Gesundheit ist eng mit einem Wandel in der Auffassung von

Arbeit und Freizeit verbunden. In Zeiten der Industrialisierung mussten viele

Menschen körperlich hart arbeiten und litten schon früh an physischen Verschleiß-

erscheinungen. Infektionskrankheiten reduzierten die Lebenserwartung, so dass

vor ca. einhundert Jahren nur jeder Zehnte älter als 70 Jahre werden konnte.

Krankheit hieß Schicksal. Die Auffassung von Arbeit und Gesundheit wandelte

sich im 20. Jahrhundert durch neue medizinische Erkennungs- und Behandlungs-

möglichkeiten. Es entstanden aber auch neue Zivilisationskrankheiten, von denen

v. a. Aids zu weitgehenden Veränderungen zwischenmenschlicher Umgangswei-

sen führte. Seit den 1970er Jahren wurde ‚Stress’ zu einem populären Schlagwort,

um die Bedeutung von Arbeit, Körper und Gesellschaft für die Gesundheit zu

umschreiben. Stress resultiert aus Maximalanforderungen in Arbeitsvorgängen

und bildet neben anderen Risikofaktoren des modernen Lebensstils, wie z. B.

Rauchen, eine der Grundgefahren für das Individuum. Diese Ängste sind aber ______________

10 Eine Recherche im VLB (Verzeichnis lieferbarer Bücher) für das Stichwort „Körper*“ ergibt für das Jahr 1990 eine Anzahl von 30 und für das Jahr 2005 eine Liste von 431 Neuerschei-nungen. Vgl. Hay 2001

11 Vgl. Vigarello 1992; Corbin 1984 12 Vgl. von Campenhausen 1993

Bestandsaufnahme · 27

individuell veränderbar und auch zu beeinflussen. Immer mehr Menschen gewin-

nen Grundkenntnisse über ihren eigenen Körper und wollen ihn nach eigenem

Nutzen gestalten. Die Möglichkeit, wie man seine Gesundheit selbst in die Hand

nehmen und seine Anpassungsfähigkeit ausnutzen kann, zeigt sich im besonderen

Maße im Bereich des Sports.

Sport

In einer Studie der Kölner Sporthochschule nannten 97 Prozent der Befragten

Gesundheit als ein zentrales Ziel ihrer sportlichen Aktivitäten.13 Viele Untersu-

chungen im Bereich der Sportwissenschaft kreisen um die Frage nach dem Ver-

hältnis von Leistungsfähigkeit und Gesundheit und bilden unterschiedliche Auf-

fassungen darüber, ob regelmäßiges Körpertraining die Lebenserwartung steigert

oder überdurchschnittliche Leistungen umgekehrt zu Verschleiß und Krankheit

führen.

Die Wissenschaftler belegen detailliert, daß regelmäßiges Training, auch

wenn erst in höherem Alter damit begonnen wird, die Leistungsfähigkeit

beträchtlich steigern kann. 20 Jahre lang 40 bleiben lautet ihre Devise.

Kritiker kritisieren indes die einfache Gleichung Sport = Gesundheit

(Bachmann 1997, 24).

Die immense Anzahl an Publikationen zur Gesundheitspflege verweist oftmals auf

meditative Sportdisziplinen aus dem fernöstlichen Raum, wie ‚Yoga’, ‚Tai Chi’

oder ‚Qi Gong’, die in unserer westlichen Zivilisation inzwischen einem breiten

Publikum näher gebracht worden sind.

Ganzheitliche, am körperlichen Lernen orientierte Verfahren wie Yoga,

Alexander-Technik, Feldenkrais, verschiedene Formen der Gymnastik und

Körpertherapien verschiedener Provenienz, die einen bewussten Umgang

mit unserem Körper anstreben, erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Die

Flut an zumeist sehr praktisch orientierter Literatur dazu ist kaum mehr zu

überblicken, und es fällt zunehmend schwerer, seriöse von nur einem modi-

schen Trend folgenden Publikationen zu unterscheiden (Pütz 1990, 10).

Das Interesse am Sport war jedoch nicht zu jeder Zeit gleich stark. Noch vor fünf-

zig Jahren wurde in Deutschland der aus dem Englischen stammende Begriff

‚sports’ wegen seiner Gewalttätigkeit und der Lustbetonung abgelehnt und ver-______________

13 Vgl. Bachmann 1997, 22

28 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

pönt. Im traditionellen Sinne steht Sport für „Spaß durch Sport, getreu der Ab-

stammung des Wortes von englisch ‚disport’ für Zerstreuung und Vergnügen“

(Bachmann 1997, 22). Die Leibeserziehung und Gymnastik in Deutschland kriti-

sierte diese oberflächliche Behandlung des Körpers. Heutzutage hat sich diese

negative Sichtweise relativiert, denn gerade Momente wie Spaß und Zerstreuung

gelten als besondere Motivation für sportliche Aktivität. Allgemein zeigt sich,

dass der Sport konsumorientierter und marktfähiger geworden ist. Fußball ist in

Deutschland Mannschaftssport Nr. 1, und

ein Drittel der Bevölkerung hierzulande ist im Deutschen Sportbund orga-

nisiert, 1970 waren es – in Westdeutschland – etwa 17 Prozent. Daneben

betätigt sich ein Millionenheer vereinsfrei: Die Hälfte der Deutschen fährt

regelmäßig oder öfter mal Rad […]. Ein Viertel geht mindestens einmal die

Woche schwimmen, und jeder Zehnte joggt häufiger (Bachmann 1997, 22).

Seit Beginn der 1980er Jahre hat sich ausgehend von der ‚Trimm-dich‘- und

‚Aerobic-Bewegung’ ein Wandel des Begriffs ‚Sport’ in ‚Fitness’ vollzogen. Ur-

sprünglich bedeutete Fitness soviel wie ‚gut gerüstet’ zu sein und fasste damit die

Lebenseinstellungen der Hobbyathleten zusammen, die sich vor Krankheiten

schützen und gleichzeitig attraktiv präsentieren wollten. Heutige Fitness betont die

Entlastungsmöglichkeiten aus der Arbeitswelt, den Spaßfaktor (‚Fun’), aber auch

den minimalen Zeit- und Nutzenaufwand, mit dem man sich ein körperliches

Idealbild aneignen kann. Dieses Prinzip erinnert an die Ausbildung körperlicher

Effektivität im Militär und ästhetisch-moralischer Werte im Sinne des antiken

Ideals eines ‚Mens sana in corpore sano’.14 Das vorhandene Fitnessinteresse dient

somit nicht nur dem Vergnügen, dem Mannschaftsgeist oder der Erholung, son-

dern orientiert sich an Leitbildern und beinhaltet auch die körperliche und geistige

Freiheit des Subjekts.

Derzeitig lässt sich eine zunehmende Vorliebe für flüchtige, aus Amerika impor-

tierte Trendsportarten feststellen, die für jeden Geschmack und auch für spezifi-

sche Interessen dem Menschen ein individuell-gestaltbares und vielfältiges Pro-

gramm bereitstellen. Der ‚Sportreport Köln 2004’, ein Angebot kostenfreier

Sportaktivitäten für Studenten, bietet ‚Body fit’, ‚Body forming’, ‚Bodyshaping’,

‚Circuittraining’, ‚Power fun’, ‚Stretch&Relax’, ‚Theae-Bo’ an. Der Inhalt gliedert ______________

14 Die Interpretation des Zitats im Sinne der Einheit von Körper und Geist „ist eine Fehldeu-tung. Vielmehr hält Juvenal, der Autor des Satzes, die Gesundheit an Leib und Seele für das einzige Gut, das Erdenbewohner von den Göttern erbitten könnten“ (Gerdes 1997, 82).

Bestandsaufnahme · 29

sich in Fitness, Gesundheitssport, Kampfsport, Tanz, Individualsportarten. Ziele

sind die Gesundheit des Körpers und das Erlebnis im Sport:

Gesundheit und Erleben – das sind die beiden Motive, die bereits seit Be-

ginn der 90er Jahre alle anderen Orientierungen sportlichen Handelns

verdrängt haben. Wer sich das vorliegende Programmheft genauer an-

schaut, wird erfreut feststellen, dass es eine Fülle von Anregungen bereit-

hält, um der Kopflastigkeit und Bewegungsarmut des Studienalltags wir-

kungsvoll zu begegnen (‚Sportreport Köln – Sommersemester 2004’, Vor-

wort).

Letztlich findet sich im Konzept der Fitness, welches besagt, dass ein Organ durch

größere Belastung auch mehr leistet, eine Umdeutung des biologischen Grund-

prinzips, nach dem sich der Mensch zum Überleben einer sich stetig gesellschaft-

lich wandelnden Umwelt anpassen muss. Der Mensch adaptiert aktuell vorge-

schriebene Leitbilder und untersteht so dem Risiko, dieses Ziel durch mangelnde

körperliche Fitness nicht erreichen zu können. Gleichzeitig besteht aber auch die

Gefahr, dass nach dem erfolgreichen Erreichen des Ziels eine Leere entsteht, da

keine neuen Reize angeboten werden. Im Rahmen dieser Ambivalenz unterschei-

det Zygmunt Baumann in seiner ‚Philosophie der Fitness’ zwei postmoderne

Ängste.15 Die ‚Proteophobie’ verdeutlicht dabei die Angst, niemals ein Ziel zu

erreichen. Die ‚Fixeophobie’ umschreibt die Angst, das Ziel erreicht zu haben.

Mode

Auch die Mode, die Menschen am Körper tragen, repräsentiert bestimmte Lebens-

formen. Sie ist Ausdruck ihrer Zeit und spiegelt die politische Lage, das Verhält-

nis von Mann und Frau, den Zeitgeist, aber auch den Protest dagegen. Dabei kann

von drei grundlegenden Kategorien ausgegangen werden, welche die Rolle des

Körpers in der Modewelt des 20. Jahrhunderts bestimmen.

Erstens vollzieht sich eine zunehmende Individualisierung in der Auswahl von

Kleidung. Sie geht mit einer Erotisierung des Körpers einher. Zweitens unterliegt

der Körper wechselnden Vorstellungen von Natürlichkeit, Bequemlichkeit und

Lässigkeit sowie der physischen Aneignung von Idealmaßen. Somit ‚rebelliert’ er

entweder gegen die bestehenden gesellschaftlichen Normen oder versucht sich den

Idealvorstellungen anzupassen. Drittens zeigen sich in Bezug auf das Modever-

hältnis von Mann und Frau wiederkehrende Formen der Androgynität des Kör-______________

15 Vgl. Baumann 1997

30 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

pers, bei der spezifische männliche oder weibliche Kleidungsmerkmale auf das

jeweilige andere Geschlecht übertragen werden. Ohne auf die Geschichte der

Mode näher eingehen zu können, erscheint es unerlässlich, diese drei Kategorien

knapp vorzustellen, weil sich dadurch die enge Verflechtung und der Wandel von

Modeauffassungen und Körperbildern systematisch dokumentieren lassen.

Die erste große Wende zu einer Natürlichkeit des Körpers vollzog sich am Ende

des 19. Jahrhunderts. Das Korsett als „fischbeinerner Brustpanzer“ (Lakotta 1996,

60) sollte die weibliche Taille betonen, disqualifizierte aber die Frauen zu unbe-

weglichen Puppen, die keine Form körperlicher Arbeit ausüben konnten. Die

weibliche Emanzipationsbewegung am Beginn des Jahrhunderts kämpfte nicht nur

für die Gleichberechtigung der Frau, sondern ermöglichte auch dem Körper größe-

re Bewegungsfreiheit. In einer Schweizer Lehrerinnenzeitung war 1897 zu lesen:

Frau Mode wird der Krieg erklärt vom weiblichen Geschlechte. Wie sie

sich sperrt, wie sie sich wehrt, wir bleiben keine Knechte (zit. nach Lakotta

1996, 60).

Diese Befreiungsmaßnahmen weiteten sich am Beginn des 20. Jahrhunderts auf

die Jugendstilbewegung aus. Farbenfrohe Tuniken und locker fallende Roben

ermöglichten durch Tragekomfort größere Bequemlichkeit. ‚Sportswear’ demon-

strierte den aktiven Lebensstil; Sportpaläste und Schwimmbäder führten dazu,

dass die gebräunte Haut als chic empfunden wurde. Das von Gabrielle (‚Coco’)

Chanel entworfene Kostüm aus Matrosenjacken, das bequem, sportlich und ele-

gant sein sollte, galt neben der aufkeimenden Charlestonbewegung als Bruch mit

den konservativen Vorstellungen einer passiven, verweichlichten Weiblichkeit

und führte zu einer ersten Welle der Androgynität. Frauen provozierten mit Hosen

und Jacketts, fuhren Auto, trugen den Bubikopf und rauchten. Um sich als kna-

benhafte Verführerinnen auszugeben, wurde der Busen mit einem Leibgürtel platt

gedrückt. Diese zwanghaften Anpassungsmaßnahmen an männliche Modevorstel-

lungen können als emanzipatorischer Befreiungsschlag, aber auch als Rückkehr in

die physische Belastung des Körpers interpretiert werden. Im 2. Weltkrieg wurde

die ‚Haute Couture‘ zahlreichen Reglementierungen und einer militärischen Äs-

thetik unterworfen. Jegliche Ornamentik war verpönt und selbst Dekolletés galten

im prüden Nazi-Deutschland als Provokation. Der Körper wurde auf Grund von

Materialarmut in enge Schnitte gezwängt. Luxusgüter wie Kunstseide wurden für

die militärische Fallschirmproduktion verwendet und machten die Mode zu einer

Bestandsaufnahme · 31

verordneten Tristesse, die sich mit dem Slogan ‚aus alt macht neu’ zufrieden ge-

ben musste.

Mit den 1950er Jahren begann sich in Paris der durch Christian Dior initiierte

sogenannte ‚New Look’ durchzusetzen, der Mode erstmals zum kostspieligen,

verschwenderischen Unterfangen werden ließ. Das Mieder sollte die Wespentaille

hervorheben und machte Frauen wiederum zu „hilflosen Geschöpfen“ (Lakotta

1996, 64), die sich dem jeweils neuesten Trend anzupassen hatten. Gleichzeitig

vollzog sich durch Stars wie Marilyn Monroe und Brigitte Bardot eine Sexualisie-

rung der Mode. Männliche Idole wie James Dean, Marlon Brando und Elvis Pres-

ley verkörperten die ‚Jungen Wilden‘ und machten Mode für Männer publik.

Durch die Blue Jeans wurde die Haute Couture in den Mittelklasse- und Arbeiter-

bereich verlagert. Diese führte zur Kulturrevolution der Pop-Ära, in der die Kon-

sumenten-Avantgarde der Jugendlichen die Modemacht an sich riss. Die Hippie-

bewegung orientierte sich an fernöstlichen Weisheiten und kehrte sich bewusst

von der westlichen Zivilisation ab. Wallende Gewänder, Westen, Sandalen und

Plateau-Sohlen symbolisierten die Natürlichkeit des Körpers im Zuge der Forde-

rungen nach ‚Love, Peace and Happiness’. Die ‚Politmode’ der 68er-Bewegung

bekundete ihr kritisches Engagement in Parkas, Breitschlag-Jeans und T-Shirts,

wo das offene Uniformhemd im Che-Guevara-Look das proletarisch geprägte

Körperbild vervollständigte. Als Abbild der Massenkultur steht dagegen die Dis-

cobewegung der Siebziger Jahre, die mit hautengen Stretchanzügen und Satinho-

sen zu einer Renaissance des Glamours führte und wieder Idealmaße vorschrieb.

Selbst der Punk, der ursprünglich noch eine Ästhetik des Hässlichen verkörperte,

wurde durch Designer wie Jean-Paul Gaultier und Vivienne Westwood in das

modische Repertoire der Haute Couture aufgenommen.

Die Achtziger sind von vielen parallelen Modebewegungen gekennzeichnet, die

sowohl die Politisierung des Körpers in der Öko-Mode der Friedensbewegung

hervorhoben als auch die konservativ-kapitalistische Gattung der ‚young urban

professionals’ hervorbrachten. Sie definierten sich über Marken wie Levis, Arma-

ni oder Boss. Neues Interesse erhielt die Sportlichkeit des Körpers durch das

Entstehen der Freizeitmode. Die klassenlose Rhetorik der neuen ‚Sportswear’

zeigte sich in Jogginghosen, Turnschuhen, Sweatshirts und Baseballkappen, die zu

Statussymbolen der Jugendlichen avancierten. Die Neunziger führten zu einer

zweiten Welle der Androgynität. Models wie die Kindfrau Kate Moss erscheinen

als Wiedergeburt der bleichen ‚Twiggys’ der Fünfziger Jahre und unbehaarte

Knaben prägen das Körperbild in Lifestyle Magazinen. Die Unisexbewegung ist

32 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

prägen das Körperbild in Lifestyle Magazinen. Die Unisexbewegung ist eine de-

tailgetreue Auferstehung der Pop- und Hippie-Mode samt Peace-Symbolen,

Ethno-Look und durchsichtigen Synthetikblusen, wo geschlechtslose Zwitterwe-

sen wie Michael Jackson oder Marilyn Manson das Abbild der Internetgeneration

bilden. Die ‚Techno-Clubwear’ prägt in bunten Farben und im schrillen Science-

Fiction Look abseits traditioneller Kleiderregeln das Körperbild am Ende des 20.

Jahrhunderts und versteht sich als ein Bekenntnis zur Spaßgesellschaft. Dabei ist

auffallend, dass sich die heutige Mode Jugendlicher nicht nur auf die Bekleidung,

sondern auch direkt auf den nackten Körper konzentriert. Dafür sprechen Tätowie-

rungen oder Piercings, die nicht wie Kleider abgelegt werden können, sondern

eine überzeitliche Veränderung der Haut ausdrücken, die bis zu einem Eingriff in

die Intimsphäre führen kann. Die teilweise mit Schmerzen verbundenen Operatio-

nen weisen über eine bloße vorübergehende Modeerscheinung hinaus. Hinzu

kommt, dass Piercings oder Tatoos nur dann sichtbar sind und von anderen wahr-

genommen werden, wenn sie nicht mit Kleidung bedeckt werden. Daraus resultiert

das Paradox, dass die derzeitige Mode, also das Stylen der Haut, keiner Mode im

Sinne von Kleidung bedarf. Das Zeigen der je eigenen Haut ist Teil der Mode

geworden. Demnach hat sich Karl Lagerfelds Definition der Mode als ‚zweite

Haut, hinter der man sich verstecken kann’, aufgehoben.16 Die zweite Haut ver-

weist durch die Art der Kleidung zwar immer noch auf die Zugehörigkeit zu einer

spezifischen Gesellschaftsklasse, die den gesellschaftlichen Status des Kleidungs-

trägers symbolisiert, aber die individuell-existenzielle Innenhaut ist längst zur

objektiv-repräsentativen Außenhaut geworden, die sich den Blicken preisgibt und

die Grenzen zwischen Stil, Scham, Erotik und Begehren auszuloten versucht.

Musik der Jugendlichen

Der Begriff ‚Musik der Jugendlichen’ umfasst hier jene Musik, welche die Mehr-

heit der Jugendlichen in ihrer Freizeit bevorzugt hört und die sich größtenteils in

den gängigen ‚Charts‘ und ‚Top-Ten‘ widerspiegelt. Daneben gewinnen verschie-

dene Stile wie z. B. Hip-Hop, Techno, Heavy-Metal oder Soul an Bedeutung, die

spezifische Hörertypen bilden und von der Musikindustrie propagiert werden.

Grundsätzlich verweist dieser Begriff somit auf die zentrale Rolle, die Vermark-

tungsstrategien in der derzeitigen Musiklandschaft spielen, um Hörgewohnheiten

mitzubestimmen. Der Terminus ‚Musik der Jugendlichen’ bezieht sich weniger

auf eine vollständige Erschließung des Musikgeschmacks Jugendlicher, sondern

______________

16 Vgl. Spiegel-spezial 9/1996

Bestandsaufnahme · 33

ermöglicht eine im Rahmen der Fragestellung verbundene Bezugnahme auf den

Körper, die im Kapitel 2.1 differenziert wird.

Für das 20. Jahrhundert lassen sich exemplarisch drei Musikbereiche ausmachen,

die mit einem bestimmten Körper- und Tanzverhalten Jugendlicher verbunden

sind: Rock’n Roll, Beat- und Discomusik.

Mitte der Fünfziger Jahre rebellierten die Jugendlichen gegen die Nachkriegsgene-

ration, welche sich mit Heimatfilmen und Schnulzen in Wunschwelten hinein-

träumte. Durch Elemente des Rhythm & Blues, der bluesorientierten Tanzmusik,

des Jazz und der Country & Western Musik entstand eine erste körperbetonte

musikalische Gegenbewegung, die ausgehend von Einflüssen der ‚schwarzen

Musik‘ auch zunehmend von Weißen gehört wurde. Bill Haley faszinierte als

erster die Massen und leitete mit ‚Rock around the Clock‘ die Ära des Rock’n Roll

ein, wo die rhythmische Körperbewegung eine Befreiung aus dem zur Konvention

erstarrten Gesellschaftskodex bedeutete. Elvis Presley brachte seine vorwiegend

weiblichen Fans mit exaltierten Körperbewegungen zur Hysterie und wurde zum

Idol einer neuen Generation.

Die zweite Bewegung nahm ihren Ausgang in Europa. Die Beatles begründeten

eine Musik, die richtungsweisend für die Popmusik bis in die heutige Zeit wurde

und als sogenannte ‚Beatmusik‘ Eingang in die populäre Musikgeschichte gefun-

den hat. In ihrem Auftreten als Gruppe legten sie Wert auf eine gemeinsame Klei-

dung und Frisur und entwickelten darüber hinaus eine kollektive Körpersprache,

die später von unzähligen Bands kopiert wurde.

Die dritte Bewegung entstand im Anschluss an den Film ‚Saturday Night Fever‘

und führte zur Entstehung von Discotheken, in denen Jugendliche individuell

ihren eigenen Tanzstil ohne Konventionen ausleben konnten. Damit war der Bo-

den für die körperlich roboterhaften Bewegungen des Breakdance, das rhythmi-

sche Sprechen des Rappens, sowie die Tanzexzesse der Techno- und Trancemusik

vorbereitet, die heute in Events wie der Loveparade ihren vorläufigen Höhepunkt

gefunden haben. In allen drei Entwicklungen finden sich seitens ihres begriffli-

chen Ursprungs Bezüge zum Körper. Während der Rock’n Roll sich von ‚to rock‘

ableitet und soviel wie ‚Schütteln‘ bedeutet, betont die Beatmusik (von engl.: ‚to

beat‘) die rhythmischen Schlagbewegungen auf den Instrumenten. Disco ent-

stammt dem lateinischen Wort ‚discus‘ und verweist in der Bedeutung von ‚Platte’

und ‚Teller’ auf das Medium der Schallplatte, zu der getanzt wurde.

34 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

In den Musikerwartungen Jugendlicher ist heutzutage die Frage, wer die Musik

‚gespielt‘, also selbsttätig hervorgebracht hat, im Vergleich zu der Erscheinungs-

weise und dem Auftreten eher sekundär. Die Band ist durch Tänzer und Choreo-

graphien und die Musikinstrumente sind durch Sampler, Keyboards und DJ’s

abgelöst worden. Die Priorität der Technik, die Aktualität des Sounds und die

Reduzierung auf einen schlagzeugbetonten Groove ersetzen die spielerischen

Fähigkeiten auf einem Instrument. Das derzeitige Körperinteresse prägt in ra-

schem Wechsel und in breiter Vielfalt unterschiedliche Gruppen und Sparten, die

einige Autoren unter dem Begriff ‚Szene[n]‘ zusammenfassen.17 Dieser Ausdruck

ist „nicht genau bestimmt. Offensichtlich ist die Theatersprache nicht ganz zufäl-

lig“ (Hettlage 1992, 350). Dort beinhaltet eine szenische Darstellung die visuelle

Abfolge festgelegter Handlungsmuster. Sie sind ein Bestandteil des Ganzen und

beleben im ständigen Wechsel die Aufführung. Auch Musikszenen sind an festge-

legte Musikstile, Kleidungsnormen und Verhaltensregeln gebunden, die unter dem

Begriff ‚Image’ zusammengefasst werden. Jugendliches Musikinteresse be-

schränkt sich daher nicht nur auf reine Hörpräferenzen, wo die Qualität der Musik

über den Platz in den ‚Top Ten’ entscheidet, sondern ist stark von äußeren Fakto-

ren wie Styling, Mode und Tanz abhängig. Besonders Musikvideos prägen Kör-

perimages, in denen nicht nur aktuelle Trends vorgeführt, sondern zusätzlich Le-

benseinstellungen vermittelt werden. Diese zeigen sich z. B. in einer ‚Coolness‘

im Bereich des Hip-Hop, Rebellion im Bereich des Heavy-Metal, Depressivität

beim Dark-Wave oder Naturverbundenheit in der World- und Ethnomusik. Durch

solche Verallgemeinerungen des Verhaltens können leicht Vorurteile und Kli-

schees über bestimmte Musikgenres entstehen, die den Punker als Asozialen und

den Waver als Grufti stigmatisieren. Dennoch ist auffallend, dass Stars, sofern sie

nicht durch Boy- oder Girlgroups ersetzt worden sind, äußerlich attraktiv, im Be-

reich der Medien präsent zu sein haben und dem Erwartungsbild der Zielgruppe

entsprechen müssen.

Vorläufig ist festzuhalten, dass durch die Verklammerung von Gesundheit, Sport,

Mode und Musik derzeitig ein Körperinteresse besteht, das Eingang in vielfältige

soziale Schichten gefunden hat. Der Körper hat sich als Teil des Marktes etabliert

und einen festen Stellenwert im gesellschaftlichen Kontext erhalten. Dies verdeut-

licht, dass dem Körper zahlreiche Erscheinungsweisen und Funktionen zuge-

______________

17 Vgl. Hettlage 1992; Deese/Hillenbach/Kaiser 1996

Bestandsaufnahme · 35

schrieben werden können. Seine ständige Präsenz in der alltäglichen Umwelt

verweist neben der Vielfältigkeit auch auf eine Vieldeutigkeit seiner Erschei-

nungsweisen, die mannigfaltige Darstellungen zulässt und damit ein Körperbild

etabliert, das je nach Situation seine Funktion wechseln kann und für unterschied-

liche Interpretationsansätze zur Verfügung steht.

1.2 Konkurrierende Körperauffassungen

Im Rahmen der Bestandsaufnahme weist die Vieldeutigkeit derzeitiger Körperauf-

fassungen in zwei unterschiedliche Richtungen. Der Körper ist einerseits natürli-

cher Ausdruck von Individualität und Persönlichkeit. Andererseits untersteht er

zugleich festgelegten Zielsetzungen, die seine Authentizität durch Kontrollmecha-

nismen einschränken.

In der vorliegenden Arbeit wird dieses Verhältnis unter dem Begriff ‚Konkurrenz’

gefasst. So lassen sich zwei konkurrierende Auffassungen von Körperbefürwor-

tern und -kritikern ausmachen. Eine positive Bewertung der Körperlichkeit ist eng

mit Begriffen wie Spontaneität, Individualität, Expressivität, Erlebnis und Freiheit

verbunden. Kritik tritt dann auf, wenn Medien, Verwissenschaftlichung und Ver-

gesellschaftung die sinnlichen Erfahrungen des Menschen entfremden und der

individuelle körperliche Selbstausdruck in Beliebigkeit, Allgemeinheit und nar-

zisstische Selbstgenügsamkeit umschlägt. Es erscheint paradox, dass gerade in

Freizeitbereichen sich die Unverwechselbarkeit des Individuums in Beliebigkeit

und Austauschbarkeit verwandelt.

Die Illusion der Unverwechselbarkeit unter dem verborgenen Gesetz der

Austauschbarkeit ist geradezu ein Prinzip von Marktstrategien, die auf den

Körper zielen (Küchenhoff 2000, 169).

Gemeinsamer Ansatzpunkt beider Auffassungen ist die Authentizität der Körper-

lichkeit, die persönliche Freiheit in der Wahl der Mittel garantiert, aber in die

Abhängigkeit vorgeschriebener gesellschaftlicher Normen führt. Beiden Konkur-

renzen liegt eine Form der Einsamkeit zu Grunde. Dem ‚kontrollierten Körper’

widerfährt Vereinzelung, er verkörpert eine numerische Individualität und muss

sich als Element in die abstrakte Klasse einfügen. Der ‚natürliche Körper’ unter-

liegt in seiner individuellen Einzelheit der Kunst der Verteilung. Er besitzt die

Freiheit, sich für sich selbst zu entscheiden.

36 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

1.2.1 Zum Imperativ unvergesellschafteter Körperlichkeit

Kritiker gegenwärtiger Körperkultur behaupten, dass sinnliche Ausdrucksmög-

lichkeiten nicht ausreichend wahrgenommen werden. Der Mensch bestimmt sich

über seine Vernunft, so dass die Spontaneität des Handelns vernachlässigt wird

und dagegen der reine Denkakt an Bedeutung gewinnt. Durch diese Überbewer-

tung der „logozentrischen Wissenskultur“ (Schultheis 1998, 22) wird der Körper

als zweckrationales Instrument entfremdet, und es werden Emotionen nur noch

subjektiv verinnerlicht. Der Mensch wird so lange konditioniert bis ihm affektive

Ausdrücke nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Kritik betrifft auch die instru-

mentalistische Verfügungsgewalt unseres Körpers, dessen ursprünglich selbsttäti-

ge Handlungen im Sinne des ‚homo laborans’ durch Technologisierung entmach-

tet und verdrängt worden sind. Die Folgen sind Phantasie- und Realitätsverlust

sowie ein Wandel im Verständnis der Lebensqualität, die sich mehr über Technik

(Fernsehen, Auto, Kino, Computer, Handy) als über Naturverständnis und zwi-

schenmenschliche Kommunikation definiert. Die gegenwärtige Situation mündet

in eine Kulturkritik, in der Schlagworte wie ‚Lebensentzug‘ oder ‚technologische

Instrumentalisierung des Körpers‘ das Interesse an methodisch objektivierbaren

Erkenntnissen und begründeten Erfahrungsweisen bemängeln. Eine Auseinander-

setzung mit dem eigenen Körper findet nach Meinung der Kritiker der Körperkul-

tur nicht statt.

In Beruf, Erziehung, sowie im täglichen Umgang miteinander ist geradezu

eine Stillegung des Körpers zu beobachten (Pütz 1990, 9).

Diese Körperkritik führt auch im Bereich der Kunst zu einer Ausblendung des

Spontan-Kreativen. Sinnliche Erfahrungen während der Bewegung zu einer Mu-

sik, die Empfindungen beim Lesen oder die haptische Wahrnehmung beim Malen

sind sekundäre Begleiterscheinungen. Das Ziel ist vielmehr die rationale Erfas-

sung von stilistischen Merkmalen, die sich dann unter Begriffe wie ‚die Klassik’

oder ‚die Romantik’ vereinheitlichen lassen. Das Subjekt besitzt entweder die

Möglichkeit, Inhalte zu kategorisieren und das Vernommene den Denkkategorien

anzupassen oder Eindrücke subjektiv zu verinnerlichen. Der Mensch muss die

Erfahrungswelt (Körper, Natur, Gesellschaft, Kultur) als Datenmenge umstruktu-

rieren und die Wende von sinnlichen Wahrnehmungen zu ‚kategorisierbaren Be-

wertungsmechanismen‘ oder ‚objektivierbaren Sachlagen’ vollziehen. Das Poten-

zial, unterschiedliche Empfindungen in der künstlerischen Produktivität zu erfah-

ren, wird zu Gunsten einer genormten Bewertung und Eingliederung in sprachlich

korrekte wissenschaftliche Termini aufgegeben. Ziele sind wissenschaftlich gesi-

Bestandsaufnahme · 37

cherte Erkenntnisse, Modellvorstellungen, kognitiv-induktive Strukturen, Ablei-

tungen und formelhaftes Wissen, das von Zufall, Spontaneität und individuell-

sinnlichen Erfahrungen isoliert sein muss.

Die negative Körperauffassung findet sich auch Anfang der Achtziger Jahre in

einer Kritik am Positivismus der Wissenschaften wieder. Die Wissenschaftsorien-

tierung bestimmt den Alltag so stark, dass der Mensch selbst in immer größere

Abhängigkeit von ihr gerät. Das betrifft v. a. die zunehmende Politisierung durch

Rüstungswettlauf, Kernenergie, nukleare Forschung, die heutzutage in der Diskus-

sion stehende Genforschung sowie die immer mehr an Dominanz gewinnende

‚Ästhetisierung des Lebenswelt’. Wolfgang Welsch hat für die damit verbundenen

veränderten Wahrnehmungsweisen in der ‚Spaßgesellschaft’ den Begriff ‚Anäs-

thesierung‘ geprägt.18 Demnach führt die totale Ästhetisierung durch Konsumver-

halten oder inszenatorische Dekorationsbauten zu innerer Leere und Langeweile,

so dass der Mensch, statt sinnlich ergriffen, nun im Sinne der Anästhesie narkoti-

siert wird. Die Folge ist, dass er stetig berauscht und betäubt werden muss.

Auch Rudolf zur Lippe betont, dass Wissenschaften ihre eigentliche Relevanz für

die Lebenspraxis verloren haben. Nur durch ein erneutes Zurückgreifen auf indi-

viduelle Körpererfahrungen kann diese Tendenz der Entfremdung aufgehalten

werden.

Unsere rationalistischen Wissenschaften leiden an einem Realitätsverlust,

den wir nur in der Konkretheit unserer Geschichte und unserer körperli-

chen Existenz überwinden können (zur Lippe 1988, 23).19

Demnach stehen Körpererfahrungen im derzeitigen gesellschaftlichen Kontext im

Zentrum wirtschaftlicher, politischer und ökologischer Interessen.20 Der Körper

funktioniert als Instrument der gesellschaftlichen Regulierung, Kontrolle und

Organisation. Die Beherrschung der Welt durch Technologien und die damit ver-

bundenen Folgeerscheinungen und Problemfaktoren, wie z. B. Umweltverschmut-

zung werden nicht mehr als plötzliche Gefahren wahrgenommen, sondern lassen

______________

18 Vgl. Welsch 51998, 9 ff. 19 Vgl. auch zur Lippe 1982 20 Die soziologischen Studien Foucaults thematisieren die staatliche Einnahme des Körpers zur

Machtausübung. Vgl. Foucault 1977

38 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

sich als Risikofaktoren kalkulieren. Während der Mensch Naturgefahren, wie z. B.

ein Erdbeben, am eigenen Leibe erfährt, ist der Begriff ‚Risiko’ durch die unvor-

hersehbaren Folgen einer Katastrophe im Wissenschaftszeitalter geprägt worden.

Die Rolle des Experten als Risikokalkulator ist eine Erfindung der Moderne in der

Folge der Wissenschaftsorientierung. Risiken geht man durch rationale Entschei-

dungen ein. Gefahren ist man sinnlich ausgesetzt.21 Fortschritt und Wachstumsop-

timismus haben unkontrollierbare Folgen nach sich gezogen, die nicht mehr unab-

hängig voneinander bewertet werden können. Durch ständige Säkularisierung hat

sich die Wissenschaft immer mehr von außen (körperliche Naturbeherrschung)

nach innen (rationale Vorhersage) gekehrt, was zu einer Entobjektivierung der

Lebenswelt führte. Angefangen von der Erfindung der Dampfmaschine, bei wel-

cher der Mensch die Natur benutzt, um künstliche Energie zu erzeugen, bis hin zu

virtuellen Welten im Cyberspace, die die Realität durch Computeranimation ab-

bildet, werden Gegenstände nicht mehr in ihrer faktischen Erscheinungsweise

wahrgenommen, sondern über neue wissenschaftliche Errungenschaften fiktiv und

digital erzeugt.

Allen diesen kritischen Stimmen ist gemeinsam, dass sie das Verhältnis des Men-

schen zu seinem Körper negativ deuten und vom „Tod des Leibes“ reden (Caysa

1997, 11), der durch die Priorität der Rationalität in der Konsum- und Industriege-

sellschaft erfolgte. Um den Wunsch nach ‚unvergesellschafteter Körperlichkeit’

zu erfüllen, sind Argumentationstypen notwendig, in denen sich ein ‚Imperativ’

ausdrückt. Dieser weist auf die Notwendigkeit einer Veränderung hin, die in zwei

zivilisationskritische Richtungen verlaufen kann. Erstens als retrospektive Annä-

herung an ein naturalistisches Körperkonzept im Sinne von Rousseaus ‚Zurück zur

Natur’, das den Menschen als integrativen Bestandteil der Natur begreift, oder

zweitens in Form einer fortschrittsoptimistischen, progressiv denkenden Theorie,

welche die Gesellschaft als ständig wandelbaren, unabgeschlossenen Prozess

versteht. Die erste Form setzt einen freien Naturzustand des Menschen voraus, in

dem das Subjekt mit anderen Lebewesen zusammen lebt und sich ganz auf sein

Gefühl verlassen kann. Durch kulturelle Entwicklungen löst sich diese natürliche

Gleichheit auf. Die ‚Reflexion’ symbolisiert die Quelle sozialer Übel und entzweit

den Menschen in ein Natur- und Kulturwesen. Rousseau versucht daher den verlo-

______________

21 Mit der Rolle des Experten und der Funktion des Risikos hat sich ausführlich Niklas Luh-mann beschäftigt. Vgl. Luhmann 1992, 129-147

Bestandsaufnahme · 39

rengegangenen Zustand zurückzugewinnen und wendet sich gegen Traditionsbe-

wusstsein und Fortschrittsoptimismus. Das Ziel der zweiten Form ist, soziale

Prozesse progressiv zu verändern, um nicht in festgefahrene Traditionen zurück-

zufallen. Diese Ausgangsbasis erinnert an die ‚Kritische Theorie’, die Mitte des

20. Jahrhunderts eine empirische Analyse der sozialen Realität anstrebte und das

Subjekt aus der gesellschaftlichen Entfremdung befreien sollte. Durch die Loslö-

sung des Individuums vom kollektiven Zwang der kapitalistischen Maschinerie

erhielt der Körper zwar eine Aufwertung, wurde aber durch die Skepsis gegenüber

der Kulturindustrie einem intellektualistischen Konzept untergeordnet.

Im Folgenden konzentriert sich die Darstellung des Imperativs unvergesellschafte-

ter Körperlichkeit auf die Schrift ‚Die übergangene Sinnlichkeit’ von Horst

Rumpf. Zu diesem Standardwerk einer körperkritischen Theoriebildung werden

ergänzende Ausarbeitungen der Autoren Klaus Haefner, Ursula Fritsch, Joachim

Th. Geiger hinzugezogen, da sie sich konkret auf die Prämissen von Rumpf beru-

fen und die darin enthaltenen Kerngedanken auch auf musikalische Bereiche, wie

z. B. die Instrumentaldidaktik, übertragen. Ergänzend zu den Vorstellungen einer

Entsinnlichung im Sinne Rumpfs wird ein Artikel von Dietmar Kamper und

Christoph Wulf mit dem Titel ‚Zwischen Archäologie und Pathographie: Körper-

Subjekt, Körper-Objekt’ hinzugezogen, den die beiden Autoren gemeinsam in

ihrem Sammelband ‚Der andere Körper’ voranstellen. Dieser Text, der durchaus

mit den Ansichten Rumpfs vergleichbar ist, fundiert die Vorstellung von einer

Entsinnlichung des Körpers gleichsam auf einer Metaebene. Obwohl das Erschei-

nungsdatum der Arbeiten von Rumpf und Kamper/Wulf fast zwanzig Jahre zu-

rückliegt, wird dort ein Verständnis ‚unvergesellschafteter Körperlichkeit’ expo-

niert, das nicht an Aktualität verloren hat und einen noch immer anhaltenden Ein-

fluss ausübt.22

Die Untersuchung ‚Die übergangene Sinnlichkeit’ von Horst Rumpf analysiert in

Form einer ‚Verlustdiagnose’, wie sinnliche Wahrnehmungen durch rationale

Vorschriften, wie z. B. festgelegte Zeitpläne oder Verhaltensregeln, immer mehr

______________

22 Vgl. Fritsch 31992; Geiger 1996; Christoph Wulf hat zudem zusammen mit Claudia Benthien eine umfassende Enzyklopädie der kulturellen Anatomie veröffentlicht, in der systematisch die Funktionen der Körperteile in verschiedenen Jahrhunderten untersucht werden. Vgl. Wulf/Benthien 2001

40 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

aus der Schulwelt verdrängt werden.23 Eine derartige Erziehung zielt darauf hin,

den Schülern in einer festgelegten Zeitspanne den optimalen Aufbau einer kogni-

tiven Operationsbasis bereitzustellen, damit sie sich den Lernstoff rational aneig-

nen und Punkte für die schulischen Leistungen sammeln. Durch die Verdrängung

affektiver Wahrnehmungen wird das Lernen im Schulalltag entsinnlicht. Die

Schule besitzt für Jugendliche einzig die Möglichkeit, mittels der Vernunft „von

der Verfallenheit an ihre beschränkte Herkunft und Vergangenheit loszukommen“

(ÜS 67). Unter Kritik gerät bei Rumpf v. a. das bürokratische Schulreglement

sowie das konforme Verhalten der Lehrkörper. Die auf wissenschaftliche Verar-

beitung angelegte ‚Verinnerlichung’ von Lehrinhalten vernachlässigt infolgedes-

sen auch das sinnliche Lernen mit dem eigenen Körper.

Dieser Wandel vom sinnlichen Menschen zum rationalisierten Subjekt führt zu

einem Verlust an körperlichen Wahrnehmungen. Für diese Veränderungen wird

die Metapher der ‚übergangenen Sinnlichkeit’ verwendet. Sobald der Mensch in

die Schule tritt, wird seine motorisch-affektive Aufnahmefähigkeit ‚ausgeblendet’.

Die zahlreichen in der Gesellschaft vorherrschenden Normen, Gesetze und Kon-

trollmechanismen zeigen sich auch im Lehrerverhalten, im Lehrplan und in nor-

mierten zeitlichen Gesetzlichkeiten. Die Freiheit des Individuums, sich Erfahrun-

gen durch Bewegen, Fühlen, Schmecken und Hören anzueignen, ist im Schulun-

terricht weitgehend nicht gefragt. Durch die Verdrängungen und Einengungen

seines natürlichen Bestrebens, spontan und aktiv auf die sich bietende Welt ausge-

richtet zu sein, wird das Individuum seiner subjektiven Entscheidungen und Emo-

tionen beraubt und ist sich seiner eigenen Wünsche und Bedürfnisse nicht mehr

bewusst. Der Schüler orientiert sich an einem Bewertungsprinzip, das durch No-

ten, Punkte und Einschätzungen von außen gekennzeichnet ist. Durch die Mono-

polstellung der Rationalität in der Gesellschaft und der damit verbundenen Inte-

gration des Körpers in eine durchzivilisierte Welt nimmt der Jugendliche die na-

türliche Beziehung zur Natur in ihrer Faszination und Gefährlichkeit nicht mehr

wahr und wird dazu genötigt, die unkontrollierbaren Mechanismen durch rationale

Wertmaßstäbe zu steuern. Unter Kritik gerät die Vergesellschaftung des Körpers,

die von Rumpf als Ursache für die Entsinnlichung des Lernens in der Schule ge-

sehen wird.

______________

23 Rumpf, H.: Die übergangene Sinnlichkeit. Drei Kapitel über die Schule, München 1981, 67; im Folgenden zit. als ‚ÜS’

Bestandsaufnahme · 41

Eine Instanz wird aufgebaut, welche bedeutenden Einzelgeschehnissen das

Unverhoffte nimmt und sie entziffert als Manifestation rational einsehbarer

Gesetzlichkeiten (ÜS 16).

Im Zuge des Heranwachsens zum Erwachsenen und der damit verbundenen Ver-

innerlichung zivilisatorischer Mechanismen, zu der auch die Vorherrschaft der

Rationalität in der Schule gehört, kann der Mensch die Natur in ihrer Ursprüng-

lichkeit nicht mehr wahrnehmen und muss lernen, Situationen gedanklich zu zer-

legen, angemessene Reaktionen abzuwägen, Folgewirkungen abzuschätzen und

Gegenaktionen zu kalkulieren. Als Grundpräsenz des Menschen erscheint nicht

mehr die spontane Affektivität, sondern eine innere wirksame Zensur und Kon-

trolle.

Zu lernen ist also in jedem Fall, die sinnlich manifest werdenden Medien

der Äußerung (Körperbewegungen, animalistische Körperfunktionen,

Sprache) so in die Gewalt zu bekommen, dass sie möglichst wenig von in-

neren Regungen, Reaktionen, Ausdrücken „verraten“ (ÜS 21).

Während Kinder noch in der Lage sind, Situationen als ursprünglich aufzufassen,

und sich über ein Motorengeräusch erschrecken oder ihren Körper einsetzen, um

sich auszudrücken, ist den Erwachsenen im Laufe ihrer Entwicklung diese Art der

Äußerung vielfach abhanden gekommen. Der Makroprozess der Zivilisationsent-

fremdung mit all den Verdrängungsmechanismen wiederholt sich somit im

Mikroprozess der einzelnen Lebensgeschichte des Kindes, das sich den jeweils

herrschenden Verhaltensregeln anpassen muss.24 Rumpf bezieht sich auch auf

soziologische Forschungsansätze, um

nach der zivilisatorischen Funktion der Schule als der offiziellen und im

19. Jahrhundert obligat gewordenen Erziehungsinstitution zu fragen. Was

tut sie, um die Kinderkörper zu zivilisieren? Was tut sie zur Errichtung von

inneren Kontrollen, die bestimmte Grenzziehungen durchzusetzen haben:

die zwischen Phantasie und Realität, die zwischen Triebwunsch und Ratio-

nalität, die zwischen einer verschwiegen bleibenden Innerlichkeit und von

außen zu beobachtendem Verhalten (ÜS 23)?

______________

24 Elias nennt dieses Phänomen das „soziogenetische Grundgesetz“. Es besagt, dass sich „gleichgerichtete Prozesse noch heute bei jedem einzelnen Kinde beobachten“ lassen (Elias 1969, Bd. 2, 390).

42 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Diese Fragen führen zu einer Kritik an „zwei Arten der Verinnerlichung“ (ÜS 7),

welche die Entsinnlichung des Lernens in der Schule begründen und auf das Pos-

tulat eines unvergesellschafteten Imperativs hindeuten. Die erste Verinnerlichung

betrifft die Kontrolle des sinnlich-affektiven Körpers, der mit kalkulierbaren Mit-

teln und nach Vorschriften eines Lehrplanes beobachtbar sein soll. Die Kritik

betrifft den „Aufbau einer kognitiven Operationsbasis in den sterblich-sinnlichen

Menschen“ (ÜS 8). Die zweite Form der Verinnerlichung bezieht sich auf den

Kampf um Leistung und Anerkennung durch Noten und Punkte, die mit persönli-

chen Wünschen nichts zu tun haben. Die Zukunft wird durch die primär auf opti-

male Leistung kalkulierbare Laufbahn unschlüssig und unsicher. Diese zweite

Verinnerlichung verdeutlicht somit „die Arbeit an der eigenen gestaltlosen Zu-

kunft“ (ÜS 8).

Aus der Konstatierung der zwei Innerlichkeiten Rumpfs resultiert die Forderung

nach einem gesellschaftlichen Umbruch. Die Schule als Ort stillgelegter Sinnlich-

keit wird verurteilt und die Integration des Körpers in den Lernprozess gefordert.

Der Imperativ verlangt eine Wiederbeschäftigung mit vielfältigen Ausdrucksmög-

lichkeiten des Körpers in der Schule, richtet sich gegen die Rationalisierung des

Schullebens und postuliert einen natürlichen Umgang mit Wahrnehmungen. Es

entsteht ein ideologisches Konzept, das ausgehend von einer Kritik an der Verin-

nerlichung sich auf einen Naturzustand rückbesinnt, wo Lernen noch Aneignung

körperlicher Fähigkeiten bedeutete und nicht auf Formeln lernen, Punkte sammeln

und Organisation des Schulalltags beschränkt war. Nur wenn der Körper in den

Lernprozess integriert wird, können Lebendigkeit, Spontaneität und Kreativität in

den Unterricht zurückkehren. In Form einer ausführlichen historischen Quellener-

schließung von Schulbüchern, Schulgeschehnissen, Schulinhalten und Verwal-

tungspraktiken schildert Rumpf, wie das bürokratische Schulreglement im 19.

Jahrhundert vornehmlich die Aufgabe besaß, den Körper durch Kleidungsordnun-

gen und Verhaltensregeln anzupassen. Hierbei stellt er fest, dass sich die veralte-

ten Methoden des Lernens, bei denen die Schüler vornehmlich still sitzen bis in

die heutige Zeit gehalten haben.25

______________

25 Rumpf untersucht verschiedene Schulbücher. In einem Physiklehrbuch geht er z. B. der Frage nach, „wie die Menschen den Übergang von der sinntragenden menschlichen Bewegung zu der von aller Bedeutung entblößten physikalischen Bewegung gedanklich bewältigen sollen“ (ÜS 9).

Bestandsaufnahme · 43

Neben der schulischen Entsinnlichung des Lernens hat sich auch im sozialen Be-

reich ein Wandel im Körperbild vollzogen. Aus der Kritik an der mangelnden

sinnlichen Erfahrung in der Schule leitet sich eine allgemein negative Einschät-

zung der elektronischen Medien und des Bedarfs an Bildung in der Informations-

gesellschaft ab. Angesichts der Geschwindigkeit in der Mikrotechnologie wird der

Mensch im Erfassen komplexer Prozesse zwar leistungsfähiger, aber aus körperli-

chen Arbeitsprozessen immer mehr verdrängt.26

Auch Klaus Haefner stellt eine Entsinnlichung im Lernen fest. Allerdings sieht er,

im Gegensatz zu Rumpf, in den elektronischen Medien eine Möglichkeit, den

Menschen von der körperlichen Arbeit zu entlasten. Die Gesellschaft ist eine „hu-

man computerisierte Gesellschaft“ (Haefner 1984, 245), in der das Individuum

und der Computer eine Symbiose eingehen. Wie Rumpf fordert er, dass der

Mensch mehr Freiraum zum Ausleben seiner sinnlichen Qualitäten erhalten muss.

Schule und Erziehung müsse daher die Aufgabe zukommen, Jugendliche gerade in

den Bereichen zu qualifizieren, die „jenseits der Leistung der Informationsgesell-

schaft“ liegen (Haefner 1984, 245). Haefner empfiehlt, „die Arbeitsteilung zwi-

schen Mensch und Maschine so zu organisieren, dass das Mechanisch-Rationale

von der Maschine und das Irrational-Kreativ-Sinnliche vom Menschen getan

wird“ (Haefner 1982, 202). Durch die Prämisse einer Entlastung kognitiver Pro-

zesse durch den Computer wird eine größere Präsenz an Körpererleben in der

Schule gefordert.

Auch Ursula Fritsch bezieht sich in ihrer Dissertation ‚Tanz, Bewegungskultur,

Gesellschaft’ auf die Kritik von Rumpf. Sie summiert wesentliche Aspekte der

‚übergangenen Sinnlichkeit‘ und zeigt, dass körperliche Betätigungsfelder ledig-

lich eine Randstellung im Schulalltag erhalten.27 Sie fordert die Aufwertung des

Unterrichtsfaches Sport hinsichtlich seiner Relevanz in der Alltagswelt Jugendli-

cher.

______________

26 Rumpf verwendet hierzu den Terminus „Lernbeschleunigung“ (ÜS 172). 27 Vgl. Fritsch 31992; ihre Dissertation ist von Rumpf betreut worden.

44 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Eine boomartig sich entwickelnde Freizeitkultur betont in verschiedenen

Facetten gerade jene aus den Lehr/Lernanstalten und dem Sport bisher

ausgesparten Körper- und Bewegungsanteile. In Theater-, Spiel-, Meditati-

ons-, Körpererfahrungsgruppen, in der Disco- und der Subkulturszene

scheinen Menschen ein ‚alternatives’ Körpergefühl erleben zu wollen.

Rauschhafte und expressive Momente werden bedeutsam (Fritsch 31992, 9).

Joachim Th. Geiger greift ebenfalls die Ergebnisse Rumpfs auf, um sie für eine

Instrumentaldidaktik auszuwerten. In seiner Studie ‚Körperbewusstsein und In-

strumentalpraxis’ befasst er sich ausführlich mit Problemen der Körperentfrem-

dung und -distanzierung in der Gesellschaft.28 Dabei zeigt er, wie „Umweltbege-

benheiten, insbesondere verschiedene soziokulturelle Modernisierungsschübe der

letzten beiden Jahrzehnte, Prozesse der Entfremdung und Distanzierung vom

Körper bewirken“ (Geiger 1996, 132). Im Zuge der Pluralität und Urbanisierung

werden Einsamkeit, soziale Entfremdung und Kontaktarmut konstatiert, die chro-

nische Krankheiten nach sich ziehen. Triebhafte Bedürfnisse können nicht ausge-

lebt werden und führen zu Entzugserscheinungen und Verlustgefühlen. Auch

Institutionen und Solidarverbände wie Ehen, Familien, Dorfgemeinschaften, Ver-

eine und Kirchen sind nach Meinung von Geiger von der Sinnentleerung betroffen

und lösen sich im Zuge der Globalisierung immer mehr auf. Vor dem Hintergrund

steigenden Qualifikationsdrucks und Innovationszwangs sind in zahlreichen Beru-

fen ständige Wissenserweiterungen und Spezialisierungen gefordert. Dabei wird

wenig Wert auf körperliche Entlastungsmöglichkeiten gelegt. Hinzu treten Per-

spektivlosigkeit in der Bewältigung wirtschaftlicher Krisen und Ungewissheit für

die Zukunft. Geigers Analysen zeigen die ‚Identitätsstörungen’ des modernen

Subjekts auf und beanstanden ganz im Sinne der ‚Verlustdiagnose’ die Funktiona-

lisierung des Körpers. Der Mensch entspricht einem „kontrollierbaren, in seinen

Reaktionen und Empfindungen planbaren physikalischen Instrumentarium“ (Gei-

ger 1996, 145).

Diese Funktionalisierung findet sich auch in der gegenwärtigen Musizier-, Unter-

richts- und Übepraxis wieder. Im Umgang mit dem Instrument wird der Schwer-

punkt auf die technische Beherrschung des musikalischen Materials gelegt und das

ganzheitliche Erleben von ‚Körper und Geist’ vernachlässigt. Aus der einseitigen

Umsetzung rationaler Instruktionen in Form starrer Bewegungsmechanismen und

-regeln erfolgen physische Spielschäden. Der Musiker wird zu einer funktionalen ______________

28 Vgl. Geiger 1996

Bestandsaufnahme · 45

„Körpermaschine“ konditioniert (Geiger 1996, 24). In Kritik gerät dabei v. a. die

Rolle der Instrumentallehrer. Diese gehen zu wenig auf Haltungs- und Bewe-

gungsprobleme ihrer Schüler ein und verdrängen deren schwerwiegende physische

Schäden. Mangelnde Kenntnisse im psychophysischen und mentalen Bereich

erschweren eine konkrete Diagnose. Der Lehrer muss sich nach Geiger immer

auch als Therapeut verstehen, der eine „körperbewußte Instrumentalpraxis“ (Gei-

ger 1996, 19) mit allen Sinnen vermittelt. Hierzu muss der Körper als eigenständi-

ges ‚Erkenntnisinstrument’ betrachtet werden, der aus verschiedenen Integrations-

prozessen von Physis, Geist und Wahrnehmung ein eigenständiges ‚Körperbe-

wusstsein’ entwickelt. Dieses erfolgt auf der Wechselwirkung zwischen Handlung

(‚Motorik’), Wahrnehmung (‚Kinästhesie’), Empfindung (‚Befindlichkeit’) und

Reflexion (‚Nachdenken über diese drei Bereiche im eigenen Tun’). In radikaler

Weise wird letztlich das „Erleben des musizierenden Körpers als Erkenntnisin-

strument für sämtliche Spielvorgänge“ gefordert (Geiger 1996, XIII). Da sich

Geiger allerdings weitestgehend mit theoretischen und technischen Fragen aus

dem Bereich der Kinästhesie und Psychomotorik auseinandersetzt, bleiben seine

Vorstellungen für ein ‚körperbewusstes Instrumentalspiel’ vorläufig abstrakt und

geben auch wenige Anregungen für die Instrumentalpraxis. Ähnlich wie in der

Verlustdiagnose von Rumpf kritisiert Geiger vielmehr grundsätzlich die Entsinnli-

chung des Menschen und fordert eine reflektierte Wahrnehmungsdifferenzierung

(Sinnenbewusstsein) als Grundlegung einer somato-motorischen Erziehung.

Im Rahmen der Kritik an der Entsinnlichung von Rumpf und den abgeleiteten

Forderungen für andere Bereiche, wie z. B. Musikpädagogik, ist es lohnenswert,

auch das Körperverständnis von Chr. Kamper und Wulf hinzuzuziehen. Die bei-

den Autoren haben mehrere Sammelbände herausgegeben, in denen sie aus ver-

schiedenen Wissenschaften, wie Soziologie, Pädagogik und Psychologie, unter

kritischen Gesichtspunkten sich der Frage nach dem ‚Schwinden der Sinne’ und

der ‚Wiederkehr des Körpers’ widmen.29 Im Rahmen eines Überblicks über die

europäische Kulturgeschichte werden Körperauffassungen der westlichen Zivilisa-

tion mit denen fremder Kulturen verglichen und Bezüge zu gesellschaftsbedingten

Faktoren hergestellt, wie z. B. Krankheit oder Einfluss der Medien.

Eine besondere Stellung erhält dabei der von Kamper und Wulf im Sammelband

‚Der andere Körper‘ einleitend veröffentlichte Beitrag ,Zwischen Archäologie und ______________

29 Vgl. Kamper/Wulf 1982 und 1984b

46 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Pathographie: Körper-Subjekt, Körper-Objekt’, da hier die Konkurrenz der Kör-

perinteressen mit den Begriffen ‚Körpersprache’ und ‚Körperschrift’ festgehalten

wird.30 Sie symbolisieren die Zerrissenheit des Menschen zwischen Ursprünglich-

keit (Körpersprache) und Entfremdung (Körperschrift).31

Die ‚Körpersprache’ ist von Natürlichkeit und Aktivität geprägt. Der ‚sprechende

Körper’ besitzt eine Neigung, sich mitzuteilen und darzustellen, ohne dass „Kon-

trollapparaturen des Blicks“ (Kamper/Wulf 1984a, 5) ihn beschatten und zur reg-

lementierten Einordnung zwingen. Die individuelle Aura ist das Zeichen seiner

Vollkommenheit, in die der Verstand und weitere feindliche Mächte keinen Zutritt

haben. Dieser ‚sprechende Körper’ wird von Kamper/Wulf zum Leitbild dekla-

riert: „Die ihm unterstellte souveräne Kompetenz rückt ihn in die Nähe der Göt-

ter“ (Kamper/Wulf 1984a, 5).

Der ‚beschriftete Körper’ steht dagegen für den Eingriff von Institutionen in die

individuelle Verfügungsgewalt des Subjekts. Der Mensch als Naturwesen ist be-

herrschbar geworden. Nach Kamper/Wulf zeigen sich Kontrollmechanismen gera-

de dort, wo sich heutzutage der Mensch seiner Natürlichkeit und Freiheit bewusst

wird.

Gerade dort, wo er [der beschriftete Körper, LO] nur noch seiner Wahr-

heit folgt, steht er unter strengen Gesetzen, wie die Entschleierungen zei-

gen: Sportstadion, Pornoschuppen und Intensivstation sind Orte der vor-

letzten Erniedrigung (obszöner ist nur der Tod!), sind zugleich Kriegs-

schauplätze, auf denen der alte Gott des Opfers noch einmal seine puren

Zwänge spielen lässt. (Kamper/Wulf 1984a, 5).

Während sich die ‚Körpersprache’ als unüberholbare Form von Authentizität noch

Formen des Geheimen hingeben kann, unterliegt die ‚Körperschrift’ jedoch uni-

versellen Abstraktionen und Kodierungen sozialer Institutionen. Der Körper wird

von der Gesellschaft „überholt“ (Kamper/Wulf 1984a, 7). Er muss sich anpassen

und kann sich nicht frei entfalten.

Aus der Dominanz der Körperschrift, im Sinne des Machtmonopols der Gesell-

schaft, folgt zwangsläufig ein Verstummen des sprechenden Körpers. Die ständi-______________

30 Kamper/Wulf 1984a; Die Begriffe ‚Körpersprache’/’sprechender Körper’ bzw. ‚Körper-schrift’/’beschrifteter Körper’ werden synonym verwendet.

31 Kritiker unterstellen den Autoren, dass die Differenzierung in ‚Sprache’ und ‚Schrift’ des Körpers im Laufe der Argumentation „überbetont“ und „einseitig“ sei (Küchenhoff 2000, 169).

Bestandsaufnahme · 47

gen Überholungen thematisieren zwar sein Bedürfnis nach Eigenständigkeit, dif-

famieren aber andererseits dessen natürliche Selbstgegenwart. Aus der „universel-

le[n] Tätowierung“ (Kamper/Wulf 1984a, 5) resultiert ein Zwangsmechanismus,

der dem ehemals sprechenden Körper durch ständige Beobachtung und Aufmerk-

samkeit sowie durch massive Strategien der Überholung ‚das Wort abschneidet’.

Ihm bleibt lediglich ‚Sprachlosigkeit’, da eine universale Gegenwärtigkeit des

Individuellen nicht mehr gegeben ist. Der Körper verwandelt sich zur „materielo-

sen Marionette“ (Kamper/Wulf 1984a, 6), die eine Geschichte von Verletzungen

und Narben mit sich trägt und den Weg zu ihrer ursprünglichen Natürlichkeit nicht

mehr zurückfinden kann. Der Weg von der ‚Körpersprache’ zur ‚Körperschrift’

endet somit im Schweigen und verdeutlicht die Unmündigkeit des Subjekts, sich

frei auszudrücken und zu bewegen.

1.2.2 Zur theorieabstinenten Akzeptanz von Körperlichkeit

Befürworter gegenwärtiger Körperkultur sehen im derzeitigen Umgang mit dem

Körper die Möglichkeit einer neuerlichen Beschäftigung mit vernachlässigten

sinnlichen Erlebnissen. Die Kontrollierung des Körpers wird durch eine neue

Sinnlichkeit in der Gesellschaft überwunden. Der Verlustdiagnose der Körperkri-

tiker wird die These von der „Ästhetisierung der Lebenswelt“ entgegengesetzt

(Schultheis 1998, 23).32 Über Medien, Werbung, Politik und Sport entsteht in

dieser Sicht eine durchgeformte Wirklichkeit, die Leitbilder und Orientierungs-

muster vermittelt, mit denen man sich über Äußerlichkeiten unmittelbar identifi-

zieren kann. Die Ästhetisierung übersteigt den Bereich der Verhübschung und

begreift das körperliche Stylen von Lebensformen als tieferes Eindringen in die

Schichten des Wahrnehmens und Erlebens.33 „Der homo aestheticus ist zur neuen

Leitfigur geworden“ (Welsch 1996, 142). Die Ästhetisierung der Lebenswelt führt

zu einer Entlastung von den Ansprüchen in der Arbeitswelt. Der Mensch besitzt

die Möglichkeit, seine Freizeit individuell zu gestalten und seinen persönlichen

Wünschen nachzugehen. Dabei hat der Körper sich erfolgreich gegenüber Formen

der Verdrängung oder Rationalisierung hinweggesetzt.

Die heutige Kulturaneignung ist aus Sicht der Befürworter körpernah. In der der-

zeitigen Kultur hat sich der Körper von dem Zwang befreit, bestimmten Verhal-

tensnormen zu unterstehen, wie z. B. in der höfischen Aristokratie oder dem mili-______________

32 Auch Gernot Böhme und Wolfgang Welsch verwenden den Terminus einer „Ästhetisierung der Lebenswelt“ (Böhme 2001, 18). Vgl. Welsch 51998

33 Welsch spricht von „Tiefenästhetisierung“ (Welsch 1996, 14).

48 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

tärischen Drill. In dieser positiven Einstellung hat er seine ursprüngliche Natür-

lichkeit zurückgewonnen und zeigt seine Freiheit, die er nach außen transportieren

kann. Der Wegfall von der Abhängigkeit anderer Sinnstiftungen sowie die Loslö-

sung von gesellschaftlich determinierten Produktionszwängen führt nach Ulf

Preuss-Lausitz zur Konzentration auf das eigene Selbst und zu einem umfassenden

Individualisierungsprozess.34

Geist und Seele sind nicht mehr Gegensatz zu Körper und Trieb, Kultur

entsteht nicht mehr als Sublimation. Der Theoretiker, dem seine Gedanken

wichtig sind und der seine Körperlichkeit davon abspaltet, stirbt aus. […]

Und die Leitfiguren der Jugendkulturen demonstrieren mit ihrer Körper-

lichkeit, was sie denken (Preuss-Lausitz 1993, 176).

Gerade Jugendliche sind sich ihrer Körpersprache bewusst und durchaus offen für

andere Lebensstile.

Sie lieben ihren Körper. Sie bewegen sich in den Discos individualistisch

und expressiv narzisstisch, ganz Rhythmus (Preuss-Lausitz 1993, 176).

Die Integration des Körpers in die Lebensumwelt drückt sich in einer theorieabsti-

nenten Sichtweise aus, die mit dem Begriff ‚Akzeptanz’ bezeichnet wird und sich

auf die Befürwortung gegenwärtiger Körperkultur ohne Zunahme eines kritischen

Konzeptes bezieht. Derzeit besteht ein Körperinteresse, das jegliche Art sinnlicher

Erfahrungen in den Bereichen Gesundheit, Mode, Sport oder Musik Jugendlicher

positiv bewertet. Dieser Allgemeinplatz gegenwärtiger Körpererfahrung negiert

Postulate einer Veränderung des Verhaltens oder die Suche nach Auswegen aus

der Vergesellschaftung. Der Körper erscheint im sozialen Umfeld immer schon als

aktiver Ausdruck von Individualität und erhält unabhängig von Machtinteressen

eine Aufwertung. Vertreter dieser Auffassung befürworten, dass die Konsumge-

sellschaft, die den Körper als Gegenstand des Marktes entdeckt hat, neue Zugänge

zur Sinnlichkeit schafft. Es entsteht eine neue Individualität, die sich als sichtbarer

Ausdruck eines positiven Lebensgefühls in die Öffentlichkeit verlagert hat.

Die ‚theorieabstinente Akzeptanz’ bildet einen beabsichtigten Kontrast zu her-

kömmlichen Körperkonzepten, weil sie bewusst gegen eine Vergesellschaftungs-

theorie argumentiert. Eine positive Integration des Körpers in die Gesellschaft

benötigt keinen Imperativ, weil sie nicht von der Prämisse einer Entfremdung

______________

34 Vgl. auch Schultheis 1998, 24

Bestandsaufnahme · 49

ausgeht. Die Akzeptanz zeigt sich in einer positiven Bewertung eines „konsumo-

rientierten Hedonismus“ (Preuss-Lausitz 1993, 176), der zu einem neuen indivi-

dualistischen, sich selbst liebenden und gerade deshalb auch unaggressiven Leit-

typ führt, der frei für vielfältige soziale Bezüge ist.

Der trainierte, gebräunte, zugleich offene und empfindungsfähige Körper

wird zum Leitbild beider Geschlechter (Preuss-Lausitz 1993, 177).

Die allgemeine Offenheit der Menschen für die Vielfalt des Körpermarktes führt

zu umwälzenden Folgen für die Pädagogik, die an drei Thesen verdeutlicht wer-

den können: „Erstens ist heutzutage der Individualisierungsprozess massenhaft

körperlich und affektiv abgesichert“ (Preuss-Lausitz 1993, 176). Zweitens führt

dies in westlichen Demokratien zur Konzentration auf das eigene Selbst, zu einer

zunehmenden subjektiven Bedeutung des Körpers als letzter Gewissheit. Drittens

bewirkt die Zentrierung der Sinnstiftung auf die eigene Körperlichkeit ein Gesell-

schafts- und Politikverständnis, das immer „weniger von Utopien und Theorien als

vielmehr von konkret erfahrenen Körperbezügen bestimmt ist“ (Preuss-Lausitz

1993, 176). Die Kehrseite der Körperorientierung existiert nur in den Krankheiten

des Körpers, die z. B. aus unreflektiertem Genuss resultieren. Solche Probleme

können durch „Ausbalancieren zwischen dem Ausagieren befreiter Körperlust

einerseits und der Selbsteinschränkung aus Einsicht andererseits“ behoben werden

(Preuss-Lausitz 1993, 176). Skepsis gegenüber ethisch-moralischen Konsequen-

zen werden durch öffentliche Diskurse und Gesetzeserlasse umgangen.

Die theorieabstinente Akzeptanz von Körpererfahrung geht davon aus, dass Ler-

nen eigentlich nur über die Verbindung mit sinnlich-körperlichem Bezug gegeben

ist. Auch systematisches Verstehen wie im Fremdsprachenunterricht ist nach

Preuss-Lausitz an körperliche Affekte gebunden. Die Sinne sind als integrativer

Bestandteil des Unterrichts nicht mehr wegzudenken. Das führt zu neuen Auffas-

sungen ganzheitlichen Lernens, das nicht nur sinnvolle Forderung, sondern Vor-

aussetzung für Lernprozesse ist. In letzter Konsequenz wird eine Ganzheit der

Körpererfahrung als Bildungsprozess gefordert.

50 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Die Sinne gehören in ihrer Untrennbarkeit voneinander zum Leben, also

auch zum Lernen und zur Entwicklung. Die Sinne und der gesamte Körper

sind Teil moderner Bildung – Bildung als Verfeinerung, aber auch als

Selbsterfahrung und Sinnstiftung. Es gibt kein zurück hinter die Freiset-

zungsprozesse der Konsumgesellschaft. Schulpädagogik für die und mit

den Konsum- und Krisenkindern der 90er Jahre sollte die Chancen dieser

Freisetzung – die individuellen wie die politischen […] – stärken und die

Gefahren erkennen und bekämpfen (Preuss-Lausitz 1993, 183).

Im Optimismus dieser Einstellung, die im aktuellen Umgang mit unserem Körper

eine neue Möglichkeit von Individualismus, politischem Interesse und sozialem

Engagement sieht, liegt die Wendung gegen Auffassungen einer unterdrückten

und organisierten Lebenswelt, die menschliche Sinnlichkeit kontrolliert und für

den Markt ausnutzt.

1.3 Konkurrierende Bezüge zur Musik Jugendlicher

Bei der Untersuchung des Körperverständnisses in der Gesellschaft zeigte sich

eine Konkurrenz von Kritikern und Befürwortern derzeitigen Körperinteresses. Im

Folgenden wird hinterfragt, ob diese Konkurrenz auch für das Verhältnis von

Körper und Musik relevant erscheint und ähnliche Gegensätze angenommen wer-

den können.

Hierfür werden v. a. Forschungen der ‚Musiksoziologie’ aufgegriffen, in denen

sich Untersuchungen zum Verhältnis Jugendlicher zur zunehmenden Medialisie-

rung des Alltags finden. Dabei sind v. a. die gesellschaftlichen Analysen von The-

odor W. Adorno bedeutsam. Seine schon in den Zwanziger Jahren des 20. Jahr-

hunderts entstandenen Arbeiten legten den Grundstein für eine sozialkritische

Musikforschung. Obwohl seine Ergebnisse heute durchaus distanziert und diffe-

renziert betrachtet werden müssen, weil sie sich nicht konkret auf die derzeitige

Gesellschaftssituation beziehen, finden sich in ihnen schon Verweise auf den

Einfluss der Medien und einer globalisierten Musikkultur, die das Subjekt immer

mehr von ursprünglichen Interessen entfremdet. 1962 kritisierte Adorno in der

‚Einführung in die Musiksoziologie’ die ‚Lautsprechermusik’, weil diese sich der

Live-Aufführung widersetzt und keinen „Ausnahmezustand“ mehr bildet (Adorno

1997c, 320).35 Demnach erreicht v. a. die U-Musik eine eminente Präsenz, da sie

______________

35 „Es unterliegt keinem Zweifel: Lautsprechermusik hat den Ausnahmezustand in Sachen Musik aufgehoben“ (Rösing 1992, 312).

Bestandsaufnahme · 51

Bestandteil der Alltagserfahrungen und kein besonderes sinnliches oder emotiona-

les Erlebnis mehr ist. Helmut Rösing führt die Gedanken Adornos fort und be-

hauptet, dass selbst „die Vermittlung von Eigenschaften wie Ernst, Trauer, Freude,

Erhebung, Wahrheit“ in der Live-Aufführung nicht mehr gegeben ist und die

derzeitige Musik „dem eigentlichen Wesen von Musik kaum noch gerecht wird“

(Rösing 1992, 311).36 Sie wird als „Klangtapete“ (Rösing 1992, 314) universell

wahrgenommen und kann auch jederzeit über den Walkman oder in verschiedenen

Alltagssituationen gehört werden.

In vielen musiksoziologischen Forschungen, die das Verhältnis von Musik und

Gesellschaft behandeln, taucht ein Verweis auf Bedeutung und Funktion des Kör-

pers nicht explizit auf. Es wird zwar ein gesellschaftlicher Wandel der Funktion

von Musik konstatiert, aber ein Bezug auf die Körperlichkeit bleibt im Hinter-

grund. Positive Sichtweisen auf derzeitiges Körperinteresse in der Jugendmusik-

kultur sind selten und betonen zumeist die Freiheit des Ausdrucks im Tanz.37 Der

Körper wird als Randerscheinung behandelt oder steht abseits zivilisationstheore-

tischer Untersuchungen, wenn Fragen der musikalischen Gestaltung im techni-

schen ‚Zeitalter der Weltfremdheit’ und der Vermarktung thematisiert werden.38

Obwohl die „Erfolgsformel aus Sound und Lautstärke, sexualisierter Bewegung

(bei Musikgruppen und tanzendem Publikum) und ekstatischem Schreien“ (Hett-

lage 1992, 355) untersucht wird, bleibt ein Verweis auf die soziale Dimension des

Körpers aus.

Zu einem großen Teil stehen musiksoziologische Analysen im Spannungsfeld des

Wandels vom aktiv-produzierenden zum passiv-aufnehmenden Körper, also im

Blickfeld des Medienzeitalters und im Wandel vom ‚homo ludens’ zum ‚homo

‚oeconomicus’ bzw. ‚homo sedens’.39 Der ‚homo ludens’ sieht den Menschen als

ein aktiv-naturverbundenes Wesen, das sich spielerisch über seinen Körper der

Musik nähert. Der Ursprung der Gestaltung von Musik liegt in der Imitation von

Naturlauten.40 Die Musikausübung beruht auf körperlichen Tätigkeiten, um Klän-

ge allererst hervorzubringen. Der ‚homo oeconomicus’ verweist auf den Verlauf

______________

36 Vgl. auch Rösing 1993 37 Vgl. Müller 1990; Jerrentrup 1995 38 Vgl. Marquard 1986; Inhetveen 1997 39 Vgl. Huizinga 1956; Geiger 1996 40 Vgl. Wörner 61975, 25

52 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

der Zivilisationsgeschichte, die durch zunehmende Technisierung das Subjekt

immer mehr in die Abhängigkeit vom Industrialisierungsprozess geraten ließ.

Musik wurde zunehmend technisiert, formalisiert und rationalisiert. Das betrifft

sowohl die theoretische Erfassung (Formenlehre) als auch die Praxis (Virtuosen-

tum) und die Instrumentalkunde selbst (Keyboards). Der Körper geriet immer

mehr ins Abseits und ist im derzeitigen gesellschaftlichen Kontext nicht mehr

Instrument der Ausübung. Die Definition des Menschen als ‚homo sedens’ im

Sinne eines nur noch fühlenden Wesens verdeutlicht, dass der kreative Umgang

mit musikalischen Erscheinungsformen zu einer Randerscheinung geworden ist.

Die hedonistische Reizüberflutung gewinnt durch schneller und lauter werdende

‚Beats’ immer mehr an Dominanz. Die Vielfalt unterschiedlicher Musikrichtungen

auf dem Musikmarkt repräsentiert die Offenheit der Konsumenten für neue Ein-

flüsse und die Freiheit, sich für einen eigenen Musikgeschmack individuell ent-

scheiden zu können.

Zur Kennzeichnung der Jugendmusikkultur hat man von den „drei M“ –

Medien, Mode, Musik – gesprochen. Das ist sicher treffend. Musik steht

heute als „Text“ nicht alleine, sondern ist eingebettet in ein Ensemble, das

Sehen und Hören, Mode, Ausstattung und Gesehen werden, Gefühlsaus-

druck in Sprache, Tönen und Bewegung, Expertenschaft, Gruppenzugehö-

rigkeit und industrielle Ausrüstung, Lautstärke, Visualisierung, Show und

Techniken der Massenbeeinflussung miteinander verknüpft (Hettlage 1992,

350).

Innerhalb musiksoziologischer Studien kann die Konkurrenz von Befürwortern

und Kritikern gegenwärtiger Körperkultur entweder als „Zugänglichkeit“ oder als

„Zudringlichkeit“ klassifiziert werden (Casimir 1991, 14). T. Casimir verwendet

diese beiden Begriffe, um damit positiv und negativ die jeweilige Verfügbarkeit

von Musik zu thematisieren. ‚Zugänglichkeit’ verweist dabei auf die positive Be-

wertung der derzeitigen Musikkultur hinsichtlich des vorhandenen Körperinteres-

ses. Gerade die Bewegungen in Tanztrends verdeutlichen die Bedeutung des Kör-

pers als Kommunikationsinstrument.41

Über Tonträger kann zu jeder Zeit und an jedem Ort Musik konsumiert werden.

‚Zudringlichkeit’ leitet sich von der Allgegenwart der Musik ab, so dass man sich

______________

41 Vgl. Müller 1992; von Schoenebeck 1995

Bestandsaufnahme · 53

gegen ihr permanentes Erscheinen, z. B. die ständige Musik in Kaufhäusern, nicht

wehren kann und sie als zudringlich empfindet.

1.3.1 Zum Imperativ musikkritisch fundierter Körpererfahrung

Der Imperativ musikkritisch fundierter Körpererfahrung besagt, dass der derzeiti-

ge Umgang des Menschen mit Musik entweder unkörperlich oder zu oberflächlich

ist.42 Obwohl die Musikkultur Jugendlicher stark von Körperbildern geprägt ist,

sind diese nicht authentisch. Besonders die Medien entwerfen einen planmäßigen

Verhaltenskodex, um individuelles Ausdrucksverhalten zu kontrollieren. Forde-

rungen nach einer Entlastung aus der Zudringlichkeit der Mediengesellschaft und

einem bewussteren Umgang mit unserem Körper betreffen auch die Hörgewohn-

heiten. Innerhalb der Musikszenen Jugendlicher wird dabei ein Wandel in der

Musikpraxis und Kritikfähigkeit festgestellt.43

Im übrigen sind die Musik-Szenen gar nicht so sehr Gegenbild, sondern

Abbild der überkommenen, nekrophilen Überflusskultur (Hettlage 1992,

364).

Robert Hettlage untersucht die Musikszenen unter dem Aspekt der Dynamik der

modernen Lebensweise Jugendlicher, vergleicht diese mit neuen Wissensformen

in der Moderne und stellt einen nicht näher explizierten „doppelten Drang zur

Selbst-Thematisierung“ fest (Hettlage 1992, 335). Seine Ergebnisse basieren auf

einer skeptischen Sichtweise der aktuellen Gesellschaftslage. Ironisch stellt er die

Musik Jugendlicher dar:

______________

42 Der Begriff ‚Körpererfahrung’ verdeutlicht die Dimension ‚ästhetischer Erfahrungen’, die in musikalischen Prozessen hervortreten. Dagegen impliziert der Terminus ‚Körperlichkeit’ vielmehr eine grundlegende Kategorie, die den Menschen als ein sinnliches Wesen be-schreibt, das sich handelnd über den Körper ausdrückt. Als dritte Instanz beinhaltet ‚Körper-auffassung’ die theoretische Fundierung bestimmter Rollen und Funktionen.

43 Vgl. Jerrentrup 1995; Rathgeber 1996

54 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Alles ist wieder offen. Die Jagdsaison beginnt von vorne. Der Charakter

von Zerstörung und Neuaufbau, von Entwurf und Totalrevision kommt am

besten in der Einrichtung von Leser-Charts zum Ausdruck. Wer mehr als

einige wenige Wochen ununterbrochen in den Hitlisten figuriert, wird vom

Hörerpublikum durch Zuruf an den DJ abgewählt. Dauererfolg langweilt.

Man gönnt auch den Helden keine Atempause und verweist sie mit diktato-

rischer Gebärde in ihre Schranken. Was bleibt den „Ikonen“ anderes, als

nach neuen Reizwerten Ausschau zu halten (Hettlage 1992, 363).

Dem Autor geht es um eine generelle Kritik an der Priorität der Technik in der

Moderne, weil die permanente Gegenwart von Musik zur Isolation und Ent-

menschlichung führt. Im Fokus der Kritik steht die ‚Kälte’ elektronischer Geräte,

die sich dem emotionalen Ausdruck in der von den Menschen geschaffenen Kul-

turwelt entgegenstellen.

Neben den Massenmedien und der Technikkritik ist die spezifische Lebensweise

in der heutigen Gesellschaft Thema der musiksoziologischen Literatur. Kennzei-

chen der pluralistischen Massengesellschaft ist die Mobilität, die nicht im Sinne

einer neuen Form von Bewegung und Körperlichkeit verstanden wird, sondern

sich im Musikleben durch das soziale Eingreifen der Massenmedien in den Alltag

zeigt. Sie macht sich v. a. durch einen Hörerzuwachs aus allen Gesellschafts-

schichten bemerkbar. Auch der großstädtische Alltag und die Reklame stehen im

Zentrum von Untersuchungen zur Reizinflation, des immer schnelleren Verschlei-

ßes immer größerer Eindrücke.44 Diese Sinnesüberflutung ist Teil eines zudringli-

chen Empfindens von Musik im derzeitigen sozialen Kontext. Den Jugendlichen

wird ein Trend zur körperlichen Passivität zugeschrieben, wobei deutlich zwi-

schen selbständigem Musizieren und unkörperlicher Musikrezeption unterschie-

den wird. Bereits Ende der 1960er Jahre stellte Ulrich Günther kritisch fest:

Die gesellschaftliche Prestigenorm des Hausmusik-‚Konzertes’ wird heute

zuweilen durch eine möglichst vollkommene Stereoanlage, die reichhaltige

Sammlung hochgezüchteter Einspielungen ersetzt. […] An Stelle des Tuns

als Kennzeichen der Muße […] tritt in diesem Prozeß das Haben, das Be-

sitzen, der Geltungskonsum (Günther 1967, 301).

______________

44 Vgl. Hettlage 1992

Bestandsaufnahme · 55

Kennzeichnend für das Image Jugendlicher ist der Besitz der neuesten CD, ein

neues Effektgerät für das Instrument oder Software-Updates und nicht mehr das

körperliche Beherrschen des Musikinstruments selbst. Auch das Tanzen in Discos

ist nur Ausdruck einer universal gewordenen „Normierung über den Musikmarkt“

(Hettlage 1992, 334) und kein Zeichen von persönlichem Körperausdruck. Somit

ist ein Wandel in der Musikrezeption und -produktion durch zunehmende Mediali-

sierung des Alltags zu verzeichnen, indem die Umwelt von einem „‚Zuviel’ an

äußeren Eindrücken und von einem ‚Zuwenig’ an unmittelbaren sinnlichen Ein-

drücken“ lebt (Bruns 2000, 12).

Solche Einstellungen zur derzeitigen Musikwelt Jugendlicher werden negativ

bewertet, um Forderungen nach bewusster Körpererfahrung aufzustellen. Kritiker

gegenwärtiger Musikkultur verfassen daher ‚Konzepte’, die individuelle Aus-

drucksmöglichkeiten über den Körper berücksichtigen und eine bewusste Wende

seiner derzeitigen Vermarktung in der Musikindustrie verlangen. Diese Abkehr

von der Unterhaltungsindustrie fordert musikkritische Einstellungen und beschäf-

tigt sich entweder auf theoretisch-historischer Ebene mit der Rolle des Körpers in

der Musik oder sucht neue Formen der Expressivität, um Stimmungen in einem

Musikstück ausdrücken zu können. Der musikkritische Imperativ bezieht sich auf

eine individuelle, bewusste und zunehmend kontrollierte Gestaltung körperlicher

Bewegungen.

So wird in der Musikpädagogik das gegenwärtige körperbetonte Musikinteresse in

der U-Musik oftmals funktionalisiert. Ausgehend von einer musikalischen Stim-

mung und dem Versuch, diese „in direkt-spontaner Reaktion in Bewegung“ umzu-

setzen, wird auf das Ziel hingelenkt, „unterschiedliche Bauweisen der Musikarten

aufzuzeigen“, wie „Figurenspiel“, „Walzermelodie“ oder „Sequenzgänge“. Damit

soll „die Aufmerksamkeit auf das Material“ erreicht werden (Richter 1995, 10).

Andere didaktische Konzepte gehen von den alltäglichen Musikerfahrungen Ju-

gendlicher mit ihrem Körper aus, um auf Vermarktungsstrategien der Musikin-

dustrie oder das Verhältnis von Mensch und Maschine hinzulenken.

Die Schüler mögen prüfen, inwieweit Rhythmen von Menschenhand durch

Maschinenrhythmen ersetzt werden können, bzw. worin die Unterschiede

bestehen (Jerrentrup 1995, 27).

Weiteres Ziel ist, das Expressive und Unkontrollierbare im Umgang mit dem

Körper rational zu strukturieren. Manche Vorschläge besitzen kuriose Züge: „Eine

kleine Polonaise zu Techno-Musik mit allen Schülern – z. B. als Auflockerung

durch den Klassenraum“ (Jerrentrup 1995, 27). Das Verhältnis von Körper und

56 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Musik soll nicht auf „Rumschlenkern“, „Disco-Rumgehampele“ beschränkt sein,

sondern „es muss Stil dabei sein“ (Fritsch 31992, 23).

Bekanntester Vertreter einer zudringlichen Auffassung des Körpers in der Musik-

industrie und -pädagogik ist Adorno, der seine Kritik im Zusammenhang mit der

geistigen und politischen Situation vor und nach dem Ende des Zweiten Welt-

kriegs formulierte. Der Körper in der Musik war demnach schon damals Teil eines

kommerziell ausgerichteten kapitalistischen Systems, das auch im Bereich der

Massenmedien auf Profitmaximierung abzielte und ihn als sexuelles Objekt, Er-

satzreligion oder in Form regressiven Hörens als hedonistisches Befriedigungsmit-

tel betrachtete. Nach Adorno werden die Menschen durch die ständige Beriese-

lung mit Musik ihres kritisch-reflexiven Bewusstseins beraubt und durch die

Gesellschaft manipuliert. Besonders die Jugendmusikbewegung am Beginn des

20. Jahrhunderts verhielt sich durch Wandern, Fiedeln und Singen von

Volksliedern unkritisch zur Gesellschaftssituation.

Wandervogel, Reformkostler und Jugendbewegung wagen den Ausbruch:

Hinaus in die Natur! […] Gesucht wird das Einfache, Elementare, Natürli-

che. Und was wäre natürlicher als der eigene Körper (Gerdes 1997, 86)?

Die rhythmische Gymnastik richtete sich gegen die Eindimensionalität des

menschlichen Daseins und wollte eine neue Balance zwischen Körper und Geist

herstellen, die durch die zunehmende Rationalisierung und Technisierung der

Lebenswelt verloren gegangen war. Adorno wehrte sich gegen solche Profanisie-

rung der Musik und versuchte das autonome musikalische Kunstwerk, das er in

den formalen Kompositionsprozessen der klassischen Musik und tendenziell in

Zwölftonkompositionen begründet sah, in den Unterricht zu integrieren. Aufgabe

der Musikpädagogik war es demnach, Partiturspiel, Gehörbildung sowie grundle-

gende Strukturprinzipien bedeutender Werke zu vermitteln, anstatt das Singen zu

kultivieren. Dennoch war Adornos Einstellung zu den Massenmedien gespalten,

weil z. B. der musikpädagogische Einsatz von Tonabnehmern eine Entlastung

vom ‚Selbstmusizieren’ gewährleistet und neue Möglichkeiten zum verinnerli-

chenden Hören bereitstellt.

Die Gleichsetzung von Musikalität als aktiven Vollzug mit praktischem

Selbstmusizieren ist zu simpel. […] Entbindet die Musik der Massenmedien

von der physischen Mühsal, so könnte die Energie, die dadurch frei wird,

geistiger, sublimer Tätigkeit zugute kommen (Adorno 1998c, 324).

Bestandsaufnahme · 57

Für ihn galt die soziologische Werkanalyse als eine ideale Methode, da in jeder

Musik und in ihrer strukturellen Zusammensetzung die antagonistische Gesell-

schaft als Ganzes erscheint. Adornos Hörertypologie etabliert kein Klassendenken,

sondern setzt sich davon unabhängig mit unterschiedlichen Hörweisen auseinan-

der, die er durch eine Kritik an der Popularmusik, v. a. des Jazz ableitet.45 Solche

Zielsetzungen einer musikkritisch fundierten Hörweise haben sich bis heute erhal-

ten. Die Einstellung Adornos findet sich in der Kritik an der Musikkultur wieder,

die Körpererfahrungen Jugendlicher im Bereich der Pop- und Rockmusik negiert

und ein musikkritisches Verständnis etablieren will, das sich nicht nur durch

„Freude an der Bewegung“ äußert (Trapp 1994, 189), sondern über den Körper

versucht, „wesentliche Bereiche der Kunstmusik zu erschließen. Über die Suite

führen Wege zur Sonate und Sinfonie, über Tanzlied und Ballett zu Oper und

Schauspielmusik“ (Trapp 1994, 189).

1.3.2 Zur Akzeptanz musiktheorieabstinenter Körpererfahrung

Der Aspekt der Akzeptanz von Körpererfahrung, der Vorwürfe einer ‚Entzaube-

rung’ kultureller Inhalte in der Gesellschaft zurückweist, findet sich z. B. in der

allseitigen Verfügbarkeit musikalischer Massenmedien und einer positiven Demo-

kratisierung der Struktur des Publikums wieder. Die Auswirkungen medialer

Vermittlung führen zu einer Ubiquität der Musik, da sie allen Menschen der tech-

nisch zivilisierten Welt an jedem beliebigen Ort zugänglich sein kann und nicht

auf soziale Schichten beschränkt ist. Der immense Einfluss der Unterhaltungsin-

dustrie zur Etablierung musikalischer Trends ist ein Indikator dafür, dass sich die

musikalische Sphäre und der Bereich der musikalischen Interaktionen von Funk

und Fernsehen verändert und erweitert haben. Durch das massenmediale Angebot

werden mehr Menschen als früher zu Musikhörern. Sie haben durch das breite

Angebot die Möglichkeit, ihre musikalischen Interessen zu verändern.

Das betrifft auch die große Anzahl an Körperkonzepten, die zu der jeweiligen

Musik über Fernsehen und Musikvideos etc. angeboten werden. Für die heutige

______________

45 Eine Vielzahl von Schriften in der Musiksoziologie kreist um die Untersuchung von Musik-szenen und Hörertypologien. Es wäre eine Aufgabe, sich auch dem Körperverhalten Jugend-licher zu nähern. In derzeitigen demographischen Untersuchungen besitzt der Körper keine Untersuchungskonstante. Dabei ist eine Berücksichtigung physischer Variablen wegen ihres empirischen Ansatzes gängig und keineswegs überraschend. Im Hinblick auf die Kategorisie-rung und Klasseneinteilung bestehen allerdings Zweifel, wie erkenntnisreich eine demogra-phische Analyse sein kann. Sie kann eine gute Grundlage bieten, um sich eine Übersicht über eine mögliche Verbindung von Körper und Hörgewohnheiten zu verschaffen.

58 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Struktur des Publikums ist v. a. das individuelle Ausdrucks- und Bewegungsmus-

ter bestimmend. Jugendliche sind demnach nicht mehr durch ihre soziale Herkunft

dazu gezwungen, ein festgeschriebenes musikalisches Verhalten anzunehmen,

sondern sie besitzen die Freiheit, sich ein individuelles Auftreten anzueignen. Die

Aufhebung ständischer und beruflicher Beschränkungen bedeutet eine umfassende

Pluralisierung der Konsumenten. Die Vielfalt des Musiklebens macht die Jugend-

lichen selbständig für Entscheidungen, bewusst für das äußere Auftreten und kri-

tikfähig für die getroffene Wahl.

Walter L. Bühl geht im Zusammenhang mit dem Musikleben in der Postmoderne

auf die Pluralisierung ein.46 Dabei wendet er deren negative Eigenschaften ins

Positive. Der Kritikpunkt der Heteromorphie verweist positiv gewendet auf die

Vielschichtigkeit und Globalisierung der Kultur. Diese ‚Polykultur’ „hängt auch

mit der verstärkten Mobilität von Musikerinnen und Musikern zusammen, für die

unter anderem Massenmedien […] zentrale Bedingungen darstellen“ (Inhetveen

1997, 135). Die Kommerzialisierung des Musikbetriebs bringt als positiven Effekt

eine Differenzierung des Publikums und eine individuelle Programmgestaltung

mit sich.47 Bühl wertet den Vorwurf an der Oberflächenästhetik postmoderner

Kultur positiv. Er zeigt, wie eine Enthistorisierung musikalischer Stilistik und die

Konzentrierung auf den individuellen Musikgeschmack zu einer neuen Bedeutung

des Körperausdrucks in der Musik Jugendlicher beitragen können. Dazu vergleicht

er Formen in Minimal Music, Popmusik, Jazz und Neuer Musik. In diesen Sparten

tritt der Hörvorgang in den Vordergrund der Rezeption. Diese Entwicklung ver-

hindert eine weltanschauliche Vereinnahmung von Musik und überwindet spie-

lend die Distinktionen zwischen Unterhaltungsmusik und sogenannter Ernster

Musik, zwischen Romantik, Klassik und Neuer Musik.48 So wird der aktuellen

Musiklage sowohl Neuerung und Differenzierung als auch Überbrückung von

bestehenden regionalen wie stilistischen Grenzen zugesprochen. Dies kann als

Versuch gewertet werden, die klassischen Vorurteile gegenüber der aktuellen

Musikszene neu zu überdenken.

______________

46 Vgl. Bühl 1994 47 Vgl. Günther 1967

Bestandsaufnahme · 59

Auch Helmut Rösing geht auf die immensen technisch-musikalischen Entwick-

lungen im 20. Jahrhundert ein und sieht die Bedeutung des Körpers in der Musik

im Verhältnis von Kommunikation und Individuation. Durch die Verlagerung von

Livemusik zu Lautsprechermusik ist es zu einer Funktionsverschiebung der musi-

kalischen Darstellung gekommen. Sie trennt sich in einen gesellschaftlich-

kommunikativen und einen individuell-psychologischen Funktionsbereich. Zu

dem ersten Typ gehören z. B. sakrale, Repräsentations- und Festlichkeitsfunktio-

nen sowie Faktoren der Bewegungsaktivität und -koordination. Im Disco- und

Gesellschaftstanz und in der Marsch- und Parademusik besitzt der Körper einen

eigenständigen Darstellungsbereich. Die Verbindung von Musik und Bewegung

veranschaulicht in diesem Milieu eine gemeinschaftsbildende und gruppenstabili-

sierende Funktion, die „auf Aneignungs- und Vergegenwärtigungsstrategien von

Musik durch Objektivierung im Sinne vorgegebener Normen“ beruht (Rösing

1992, 316). Musik und Körper treten im gesellschaftlichen Kontext zumeist dann

auf, wenn traditionelle oder institutionelle Aspekte ins Spiel kommen, wie z. B.

Tanzstunde, Marschieren im Militär, Gymnastik im Sportunterricht, Musik im

Fitness-Studio und die Beanspruchung von Bildern in der Vermarktung von Mu-

sikvideos oder Stars.

Die Bedeutung des Körpers im individuell-psychischen Funktionsbereich dagegen

ist weit weniger kontextuell gebunden und viel stärker personenorientiert.49 Er ist

in diesem Falle abhängig von der eigenen psychischen Befindlichkeit. Dabei geht

es nicht um allgemein gültige Normen im musikalischen Verhalten, sondern

um das Auffinden des eigenen Wertmusters und Weltbildes durch die Musik

[…], so daß es kein „falsch“, „schlecht“ oder „wertlos“ mehr gibt, son-

dern nur noch ein ehrliches, offenes oder ein verstecktes So-Sein (Hegi 41993, 21).

Der Körper wird somit zum Medium, das dazu dient, Frustrationen über emotiona-

le Kompensationen zu regulieren. Er ist ein Mittel, um sich abzureagieren und

Konflikte zu bewältigen. Medizinische und empirische Untersuchungen bestäti-

48 Vgl. Bühl 1994; als weitere Verweise bietet sich auch die Musik des Barocks oder des Mittel-alters an. Minimalistische Strukturen sind keineswegs nur ein Phänomen der Postmoderne, wie es Bühl anführt.

49 „Die Aneignung und Vergegenständlichung erfolgt vornehmlich durch Subjektivierung, also z. B. durch Assoziation und Imaginationen im Hinblick auf die eigene psychische Bedürfnis-lage.“ (Rösing 1992, 316).

60 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

gen, dass Bewegungen zu lauter Musik als entlastend gegenüber schulischem

Stress empfunden werden.50 Sowohl in der Disco als auch im privaten Bereich

kommt der Musik die Funktion zu, sich ‚Luft zu machen’ und ‚Dampf abzulas-

sen’. Musikstile besitzen Bewegungsregeln, die mit dem dazugehörigen Charakter

der Musik eng verbunden sind. Im Heavy-Metal findet sich das Schütteln des

Kopfes (Headbanging) und in der Wave-Szene das monotone Vor- und Rück-

wärtsgehen, um die musikalische Stimmung über Bewegungen zu verdeutlichen.

Neben dem starken Drang nach Aktivität besitzt die Verbindung von Musik und

Körper gerade heute ein enormes Entspannungs- und Aktivierungspotenzial. Auf

den so genannten ‚Chill-Outs’ entspannen sich Jugendliche nach Techno-Events

zu sphärischer Musik, und in U-Bahnen von Großstädten läuft Hintergrundmusik,

um den Stressfaktor zu regulieren. In der Musiktherapie werden mit der Heilkraft

der Musik physisch und psychisch Kranke behandelt.51

In allen Formen der emotionalen Kompensation ist der Körper das Medium der

Wahrnehmung und sichtbarer Mittelpunkt des musikalischen Geschehens. Musik

als stressregulierendes, entspannendes oder aggressionsabbauendes Medium ver-

weist immer schon auf den Körper hinsichtlich seiner gesellschaftlich-sozialen

Stellung. Die Identifikationsangebote der Gesellschaft spiegeln die subjektiven

Stimmungen, Wünsche und Träume des Einzelnen. Die Flucht aus den Sachzwän-

gen des Alltags und die Versenkung in meditative Klänge stellen die wechselseiti-

ge Dependenz von individuellen Gefühlen und dem Angebot des Musikmarktes

dar.

Auch wenn sich musikdidaktische Konzepte unter zunehmendem Interesse mit

Themen wie Rock- und Poptanz, Szenische Interpretation oder Klassenmusizieren

beschäftigen, um die Unterrichtspraxis neu zu beleben, erscheint Musikunterricht

auch heute noch weitgehend als ein „theoretisches“ Fach, in dem der Ver-

balismus dominiert. Festzuhalten bleibt: Das eigene Musizieren spielt im

Unterricht unserer Schulen nicht die Rolle, die ihm als originärem Kern

eines Unterrichtsfachs Musik zukommen müsste (Nimczik 2001, 3).

Vereinzelte praxisnahe Konzepte behandeln den Körper als Erfahrungsgrundlage

jeglicher Musikwahrnehmung immer noch zu gering, beziehen sich oftmals auf

______________

50 Vgl. Hübner 1996 51 Vgl. Bruhn 2000; Hegi 41993

Bestandsaufnahme · 61

veraltete Konzepte und stellen im Bereich Tanz in der Regel keinen aktuellen

Verweis auf die Musikszene her.52 Vertreter einer Akzeptanz gegenwärtiger Kör-

pererfahrungen nehmen das derzeitige Interesse zum Anlass, um einen rein

praxisorientierten Unterricht zu fordern, der jegliche Formen von Körpererfahrung

Jugendlicher befürwortet.

Einen Schwerpunkt im musikpädagogischen Diskurs bildet die Frage nach dem

didaktischen Stellenwert der Popmusik und nach entsprechenden Methoden, wie

alltägliche ästhetische Musikerfahrungen Jugendlicher in den Unterricht integriert

werden können.53 Eine Beschäftigung mit der Unterhaltungsmusik muss heutzuta-

ge nicht mehr legitimiert und begründet werden, wie dies noch Anfang der Siebzi-

ger Jahre war. In den letzten Jahren sind praktische Gestaltungsmöglichkeiten, wie

z. B. das Musizieren mit Keyboards, das Arbeiten am Sequenzer und das Gestal-

ten von Popsongs in einer Band, in den Musikunterricht integriert worden. Indem

davon ausgegangen wird, dass musikalisches Lernen immer schon in der alltägli-

chen Umwelt stattfindet, soll der Unterricht die Hörpräferenzen und Umgehens-

weisen Jugendlicher mit Musik thematisieren. Bei diesen Befürwortern gegenwär-

tiger Körperkultur existieren zumeist keine Vorbehalte gegenüber ‚Unterhal-

tungsmusik’. Die Musik Jugendlicher mit ihrer Vorliebe für expressives Verhalten

bietet eine Möglichkeit zur „unkritischen Verlängerung der außermusikalischen

Musikerfahrung“ (Rösing 1992, 316), die sich nicht durch geplante ‚Bildungsof-

fensiven’ beeinflussen lässt. Musikunterricht besitzt damit die Möglichkeit, An-

knüpfungspunkte an derzeitige Interessen und dazugehörige Verhaltensformen zu

finden, um soziale Prozesse im Unterricht zu berücksichtigen. Durch diese Akzep-

tanz wird die so genannte U-Musik als gleichberechtigter Zugang neben anderen

musikalischen Formen gewährleistet und ein Niveaugefälle von unter- zu höher-

bewerteten Genres verhindert.

Als verbindendes Element zwischen den alltäglichen musikalischen Umgangsfor-

men und dem Unterricht steht z. B. Rock- und Poptanz zur Verfügung. Die didak-

tische Relevanz liegt in der Ausdifferenzierung der Motorik der Schüler begrün-

det. In einer deutlichen Erweiterung handlungsorientierter Methoden lassen sich

über Bewegungen musikalische Erfahrungen ausdrücken. Der Körper wird zu

einem eigenständigen Ausdrucksfeld. Schüler, die aus finanziellen oder sozialen

______________

52 Vgl. Schmidt-Joos 1995; Trapp 1997; Amrheim 1997 53 Vgl. Müller 1990

62 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Gründen keine Möglichkeit haben, ein Instrument zu erlernen, verfügen mittels

des Körpers über ein individuelles Medium, sich kreativ mit Musik auseinander zu

setzen. Der Körperbezug eröffnet Jugendlichen Zugänge zum handelnden Um-

gang mit Musik, der vielen von ihnen sonst verschlossen bleiben würde. Sie lernen

sich extensiv auf Musik einzulassen, die sie in ihrer Freizeit hören und setzen sich

kreativ damit auseinander. In Kritik gerät dabei das Lernen formaler Daten und

Fakten, die aufgesagt und abgefragt werden können. Ein solcher Unterricht führt

im Sinne eines „grammatikalischen Fundamentalismus“ (Ehrenforth 1993, 14) zu

einer „Verdummung des Denkens durch Stoff“ (Eggebrecht 1980, 98). In der

Etablierung einer normenfreien und theorieabstinenten Position, in der die verin-

nerlichte Erkenntnis nicht alleiniger Zweck sein soll, wird die Musik dagegen „als

vitaler Ausdruck“ (Gruhn 1993, 361) und als Teilbereich außerschulischen Lebens

zum Hauptgegenstand des Unterrichts deklariert.

2 Differenzierung des Körperbegriffs

Im Verlauf der Geschichte haben sich die Vorstellungen vom Körper verändert

und repräsentieren divergente Auffassungen der menschlichen Seinsweise.

Hinter ihnen stehen ganz unterschiedliche Vorstellungen vom

Menschsein – und damit verbunden unterschiedlich gelebte Daseinsweisen

(Fritsch 31992, 111).

In der deutschen Sprache findet sich eine begriffliche Besonderheit, die in anderen

europäischen Sprachen nicht vorzufinden ist: die Differenzierung zwischen ‚Kör-

per’ und ‚Leib’. Eine Unterscheidung scheint auf den ersten Blick irritierend, da

wir heutzutage entweder beide Begriffe synonym benutzen oder ausschließlich

vom ‚Körper’ sprechen. ‚Leib’ klingt antiquiert, „scheußlich und ist auch unge-

wohnt“ (Richter 1995, 5). In der Umgangssprache wird zumeist ‚Körper’ verwen-

det. Dem Begriff ‚Leib’ kommt dagegen kaum Relevanz im alltäglichen Kontext

zu. Allerdings ist der Gebrauch des Wortes ‚Leib’ noch gar nicht so veraltet, son-

dern vollzog sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Daher finden sich noch verein-

zelt Redewendungen wie z. B. ‚leibhaftig’, ‚auf den Leib geschrieben’, ‚am gan-

zen Leibe’, ‚Leibgericht’, ‚beileibe nicht’, ‚auf den Leib rücken’, ‚leibt und lebt’,

‚bleib mir vom Leibe’ oder ‚mit Leib und Seele’.54 Viele Begriffe wurden in den

letzten fünfzig Jahren durch Anglizismen ersetzt, wie z. B. Leibeserziehung durch

______________

54 Vgl. Konrad 1984, 152; Schatt 1995

Bestandsaufnahme · 63

Sport, Leibgarde durch Bodyguard, oder sind sprachlich reduziert worden wie

‚Leibarzt’ zu ‚Arzt’.

In der Geschichtswissenschaft findet sich eine Unterscheidung von Körper und

Leib wieder, wenn in Untersuchungen z. B. das Leib/Seele-Verhältnis in der Anti-

ke analysiert oder der ganzheitliche Aspekt des Menschseins verfolgt wird. In der

heutigen Welt der Technologie und Wissenschaft hat sich allerdings weitgehend

der Begriff ‚Körper’ durchgesetzt. Er erscheint objektivierbar, wissenschaftlich

analysierbar und kann z. B. im Bereich der Medizin kontrolliert oder im Sport

systematisch trainiert werden.

Neben vereinzelten medizinischen und psychologischen Untersuchungen hat v. a.

die Phänomenologie und Anthropologie in Deutschland bzw. Frankreich aufge-

zeigt, dass es sinnvoll erscheint, zwischen Körper und Leib zu differenzieren.

Ausgangsbasis ist die von Gabriel Marcel stammende französische Unterschei-

dung von „corps que j’ai/corps que je suis“ (Marcel 1985, 15), die am ehesten mit

‚Körper, den ich habe und Leib, der ich bin’ wiedergegeben werden kann.55 Zu

diesem Zitat finden sich unterschiedliche Interpretationen, weil das französische

Wort ‚corps’ sowohl mit Körper als auch mit Leib übersetzt werden kann. Auch

die Frage, ob das ‚Sein’ oder das ‚Haben’ das wichtigste Kriterium zur Bestim-

mung der menschlichen Existenz ist, wird unterschiedlich diskutiert. Gabriel Mar-

cel und Karlfried Graf Dürckheim interpretieren das Sein im Sinne des Daseins

(‚Ich bin mein Leib‘) als wesentliches Charakteristikum des Individuums, das sich

vom besitzanzeigenden Haben eines Körperobjekts unterscheidet.

Wenn aber hier vom Leibe gesprochen wird, so geht es nicht um den Kör-

per, den man hat, sondern um den Leib, der man ist und der sich nicht nur

in einer zuverlässigen Funktionstüchtigkeit bewährt, sondern als eine den

Menschen in seiner Gesamtheit offenbarende und in der Welt verwirkli-

chende Gestalt (Dürckheim 1981, 33).

Maurice Merleau-Ponty und Helmuth Plessner sehen dagegen im ‚Leib-Sein’ die

Vorhandenheit von Dingen und bezeichnen das ‚Leib-Haben’ als existenzielle

______________

55 Marcel schrieb seine Werke in französischer Sprache. Um einer Fehlinterpretation des Zitats vorzubeugen, autorisierte er kurz vor seinem Tod vereinzelte Aufsätze in deutscher Sprache. Dort übersetzte er ‚corps que j’ai/corps que je suis’ mit ‚Körper, den ich habe/Leib, der ich bin’. Vgl. Marcel 1985, 15

64 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Verfassung des Subjekts.56 Beide Auffassungen gehen dabei von einer Differenz

von ‚Haben‘ und ‚Sein‘ aus und schreiben dem Menschen eine ‚doppelte Anlage’

zu. Er kann sich einerseits selbst als ein Objekt betrachten, das mit den Dingen

und Lebewesen äußerlich vorhanden ist. Andererseits ist er eine einmalige Exis-

tenz und bestimmt sich durch seine Erlebnisse und sein individuelles Bewusstsein.

In diesen Deutungen findet sich die begriffliche Differenzierung von Körper oder

Leib wieder.

Oftmals werden die Begriffe Körper und Leib nicht genau voneinander unter-

schieden. In Übersetzungen fremdsprachiger Texte wird aus klanglichen Gründen

weitestgehend die einheitliche Bedeutung von ‚Körper’ verwendet. Gleichermaßen

wird in zahlreichen Forschungen zur Leib/Seele-Problematik bewusst der Begriff

‚Leib’ hervorgehoben, um sich von Körpertechnologien zu distanzieren. All dies

verdeutlicht eine Unsicherheit in der Begriffsverwendung, die offen lässt, welche

Deutung der Explikation des Menschen am nächsten kommt und ihn am treffends-

ten charakterisiert.

2.1 Etymologische Deutung: Körper/Leib

Eine etymologische Deutung zeigt auf, dass die Begriffe ‚Körper’ und ‚Leib’

jeweils ein andersartiges Verständnis der menschlichen Existenz beinhalten. Ihnen

liegen unterschiedliche Ursprungsquellen, abweichende Gehalte und divergieren-

de symbolische Deutungen zugrunde, die sich im Verlauf ihrer Begriffsgeschichte

in der Antike über das Mittelalter und der Neuzeit bis hin zur Moderne immer

wieder verändert haben.

Innerhalb der etymologischen Geschichte von ‚Körper’ und ‚Leib’ ist zwischen

zwei Ursprüngen zu unterscheiden. Der ‚Körper’ verweist auf den lateinischen

Begriff ‚corpus’ oder das mittelhochdeutsche ‚lîch’ und bezeichnet die physische

Beschaffenheit eines Körpers. Der ‚Leib’ leitet sich vom Wort ‚lîp’ ab, das Leben

bedeutet. Die Differenzierung beider Begriffe betrifft den Körper als analysierba-

res Objekt und den Leib als existenzielles Subjekt.

______________

56 Merleau-Ponty, M.: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, 207; im Folgenden zit. als ‚PhW’; vgl. auch Plessner 1980b, 414; Lindemann 1998

Bestandsaufnahme · 65

2.1.1 Körper/lîch

Das Wort Körper ist als deutsches Lehnwort ab dem 13. Jahrhundert gebräuchlich.

Es tritt an die Stelle des zuvor im Mittelhochdeutschen verwendeten ‚lîch(ame)’,

das im Althochdeutschen zunächst als Übersetzung für das lateinische ‚caro’ so-

wie ‚corpus’ diente und ‚Hülle’, ‚Fleisch’ bedeutete. Im Begriff ‚lîch(ame)’ ist das

noch heute verwendete Wort ‚Leiche’ enthalten, das „eigentlich Körperbedeckung

und dann mit Übergang von der Bezeichnung des Kleidungsstücks auf den Kör-

perteil auch Körper“ (Kluge 221989, 361) bedeutete. Im Mittelhochdeutschen

nahm ‚lich’ die Bedeutung ‚Leichnam’, ‚toter Leib’ an und verdrängte die altdeut-

sche Auffassung. Körper (auch ‚korper’, ‚corper’, ‚cörpel’) übernimmt dessen

Bedeutung und bezeichnet sowohl den lebendigen als auch den toten Körper.

Im 13. Jahrhundert differenziert der Kanoniker Hostiensis zwischen verschiedenen

Körperauffassungen, die das Verhältnis der Teile zu einem Ganzen betonen:

1.) Die Gemeinschaft aller Gläubigen, deren Kopf Christus ist und deren

Glieder wir bilden.

2.) Das Kollegium oder die universitas, deren Kopf der Prälat bildet und

deren Glieder die Mitglieder des Kollegs formieren.

3.) Der Körper ist dasjenige, das aufgrund einer Seele lebt.

4.) Der Körper ist dasjenige, dessen Teile zusammenhängen wie ein Haus.

5.) Der Körper ist dasjenige, dessen Teile voneinander entfernt sind wie

eine Herde oder ein Volk.

6.) Mann und Frau bilden einen gemeinsamen Körper

(Hostiensis, zit. nach Diehr 2000, 25).

In der Scholastik wurden einfache und zusammengesetzte Körper (‚corpora

simplica’, ‚corpora mixta’) sowie ein Körper in der Natur (‚corpus physicum’) und

ein von Menschenhand geschaffener Körper (‚corpus artificiale’) unterschieden.

Selbst Dörfer, Häuser und Flüsse werden als ‚corpora’ bezeichnet. Ein jedes Ding

kann als Körper erscheinen und benannt werden, falls es als ein in sich geschlos-

senes Ganzes erscheint und dadurch analysierbar wird. Diese Vorstellungen von

einer Ganzheit finden sich neben einer Gesamterfassung empirischer Daten auch

innerhalb der mystisch-religiösen Struktur wieder, wenn z. B. vom ‚corpus mysti-

cum’ oder ‚corpus Christi’ die Rede ist. Gemeint ist ein Zusammenschluss vieler

unter einer gemeinsamen Organisation, wie er in unserer Neuzeit noch im Termi-

nus des ‚politischen Körpers’ gebräuchlich ist. Eine Identität gewinnt das Subjekt

66 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

durch die Erfassung und Teilhabe am Ganzen. Eine Körperschaft oder eine Korpo-

ration ist daher ein Personalverband, der

in seiner jeweiligen Identität von einem Mitgliederwechsel […] unberührt

bleibt, weil die Rechte und Pflichten der Körperschaft als solche von denen

der Mitglieder streng unterschieden werden (Krawietz 1976, 1102).

Auch das griechische ‚soma’ kann für eine etymologische Klärung herangezogen

werden, weil es sich von ‚psyche’ abgrenzt und neben der Bedeutung ‚Körper’

auch ‚menschliches Sein’, manchmal sogar ‚Ich’ bedeuten kann.57 Die Somatomo-

torik oder Psychosomatik leitet sich von dieser Begriffsbestimmung ab. Sie betont,

dass Körper und Geist in einem ständigen Wechselverhältnis stehen und sich ge-

genseitig beeinflussen. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Körper in seiner

einheitsstiftenden Funktion von Soma und Motorik unzureichend beachtet worden

ist. Der Terminus ‚Psychosomatik‘ drückt bereits im Begriff die ganzheitliche

Verbindung von ‚psyche’ und ‚soma’ aus. Die sogenannte ‚Somatomotorik‘ etab-

lierte sich um 1920 als medizinische Wissenschaft und begann sich auch auf ande-

re Bereiche auszuweiten, so z. B. auf die Atem- und Bewegungstherapie und auch

auf die rhythmische Erziehung, Eutonie oder auch die Feldenkrais-Methode.

2.1.2 Leib/ lîp

Der Begriff Leib leitet sich von ‚lîp’ ab und ist streng von ‚lîch’ zu unterscheiden.

‚Lîp’, dessen Bedeutung für ‚Leben’ steht, ist ab dem 11. Jahrhundert allmählich

durch ‚Leib’ ersetzt worden. Bis zum 12. Jahrhundert stand für den alltäglichen

Gebrauch sowohl das Wort ‚lîp’ als auch das neuere Wort ‚leben’ zur Verfügung.

Verfolgt man den Begriff bis zu seinen Wurzeln, so ist das Wort ‚lipa’ in der Be-

deutung von ‚in etwas bleiben’ als Ursprung anzusehen.

In dieser individuellen Verfassung des Leibes wurde ‚lîp’ sehr oft in Umschrei-

bungen wie ‚min lîp’=ich und ‚din lîp’=du sowie ‚mines gastes lîp’=mein Gast

verwendet.58 Der Begriff deutet in seiner engen Verwandtschaft zum Leben auf

die einmalige Existenz des Menschen hin, wie sie heutzutage noch im Begriff

‚leibhaftig’ oder ‚leibt und lebt’ erkennbar ist.

______________

57 Vgl. Konrad 1984, 154 58 Vgl. Saran 61975, 168

Bestandsaufnahme · 67

Im Mittelalter entsteht das Kontrastpaar ‚lîp’ und ‚sele’, bekannt als Metapher von

‚Leib und Seele’, die sich aus dem Lateinischen ‚corpus’ und ‚animus’ ableitet.

Der Mensch teilt sich demnach in einen äußeren endlichen Körper und eine inner-

liche unendliche Seele. Besonders in der Philosophie von Platon (ca. 427-347 v.

Chr.) und René Descartes (1596-1650) findet sich dieser Dualismus von einer

doppelten Seinsweise der Welt (Platons Ideenlehre) oder des Menschen (Descartes

Methode des universellen Zweifels). Descartes verwendet in seinen ‚Meditatio-

nen’ durchweg den Begriff Körper (corpus) im Gegensatz zu Geist (animus) und

entwickelt so eine Differenz unter dem Aspekt der Unteilbarkeit des Geistes.

Hierdurch wird die Vernunft als grundlegendes Erkenntnisinstrument aufgewertet.

Nun bemerke ich hier erstlich, daß ein großer Unterschied zwischen Geist

und Körper insofern vorhanden ist, als der Körper seiner Natur stets teil-

bar, der Geist hingegen durchaus unteilbar ist (Descartes 1958, 74).

Die Entdeckung, den Körper als eine im Prinzip analysierbare und erkennbare

ausgedehnte Substanz (‚res extensa’) zu betrachten, die sich von einer denkenden

Schicht (‚res cogitans’) absetzt, ermöglichte die Entwicklung von Anatomie und

Physiologie. Durch diese Gegenüberstellung von Geist und Materie wird die Be-

deutung von Leib als Ausdruck von Leben allmählich verdrängt.

Der so entdeckte Körper ist nicht mein Leib, den ich spüre, als der ich lebe,

sondern eben das Körperding, das dem ärztlichen Blick sich preisgibt

(Böhme 1985, 114).

Obwohl in anderen Sprachen die begriffliche Unterscheidung von Körper und

Leib nicht vorzufinden ist, hat sich überall die Vorstellung von einem anatomi-

schen, wissenschaftlich zu untersuchenden Körper und einem eigenen empfinden-

den Körper etabliert. Im Englischen wird z. B. ‚body’ durch Adjektive wie ‚physi-

cal’ oder ‚material’ ergänzt, um zwischen einer menschlichen oder materiellen

Ebene differenzieren zu können. Auch symbolisch verweisen einige zusammenge-

setzte Bedeutungen wie ‚heart and soul’ im Englischen auf die Einheit von Leib

und Seele. In diversen afrikanischen Sprachen lässt sich im Sinne der Trennung

von ‚Körper und Leib’ ein Unterscheidung von ‚Körper und Bauch’ feststellen.

„Dazu einige afrikanische Redewendungen: der Bauch wird Meister über

den Kopf, der Bauch erzählt keine Geschichte, […] wir sind alle aus dem

gleichen Dorf, nur die Bäuche sind anders (Ries 1969, 178).

68 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

In fernöstlichen Meditationspraktiken wird der Bauch als Zentrum angesehen, in

dem sich die Energien und Lebenskräfte sammeln, während das Körperliche eher

für die Befriedigung lebensnotwendiger Bedürfnisse steht. Dem Bauch entspricht

die Subjektivität des Menschen, wie im Wort Leib der „existenzielle Grund“

(Konrad 1984, 152) angesprochen wird, nämlich seine eigentliche Weise zu sein.

Zusammenfassend lassen sich zwei unterschiedliche Herkunftsschienen feststel-

len: ‚Körper’ leitet sich vom lateinischen ‚corpus’ ab, das im Mittelalter durch

‚lîch’ ersetzt wird und sich auf den lebendigen oder toten Körper bezieht. Dieses

Verständnis hat sich bis heute erhalten, wenn der Körper als ein zu analysierendes

Objekt betrachtet wird, das als konstante stofflich-räumliche Größe in Mathema-

tik, Physik, Biologie, in den bildenden Künsten und in der Anatomie und Physio-

logie erforscht werden kann. Die Bedeutung des Wortes ist demnach eine mehr

instrumentelle. Der Begriff ‚Leib’ leitet sich von ‚lîp’ ab und betont in seiner

ursprünglichen Bedeutung von ‚Leben’ den kreativ-schöpferischen Aspekt der

menschlichen Existenz. Hierdurch entsteht ein Hinweis auf die individuelle Seins-

verfassung des Menschen, die dem Begriff Körper fehlt. Trotz der klanglichen

Nähe von ‚lîch’ und ‚lîp’ besitzen die beiden Begriffe entgegengesetzte Bedeutun-

gen. Es scheint, als ob sich die begriffsgeschichtlichen Wurzeln deutlich vonein-

ander abgrenzen und nicht einheitlich zusammengefasst werden können.

Eine etymologische Bestimmung der Begriffe Körper und Leib zeigt eine dualisti-

sche Auffassung der menschlichen Existenz. In dieser konträren Deutung wird die

menschliche Verfassung einseitig festgelegt und determiniert. In dieser Gegen-

sätzlichkeit kehren die Argumentationsmuster der Körperbefürworter oder Kör-

perkritiker wieder, die dem Körper jeweils unterschiedliche Funktionen zuschrei-

ben. Der Leib symbolisiert das Lebendige, Spontane und Schöpferische und der

Körper das Statische, Definierte und Kalkulierte. Die Annahme einer ‚Konkur-

renz’ von Körperauffassungen ist deshalb nicht nur im derzeitigen gesellschaftli-

chen Kontext, sondern auch auf begriffsgeschichtlicher Ebene festzustellen.

2.2 Historische Entwicklung der Körperauffassung

Neben einer etymologischen Analyse lassen sich auch historisch verschiedene

Körperauffassungen feststellen, die sich je nach Funktion im alltäglichen Mitein-

ander wandeln. Das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper ändert sich nicht

willkürlich, sondern erscheint abhängig von sozialen, religiösen oder politischen

Einflüssen. Ausschlaggebend sind dabei die unterschiedlichen Bewertungen von

Bestandsaufnahme · 69

der Sinnlichkeit und Schamhaftigkeit des Körpers sowie das Verhältnis des Men-

schen zur Natur.

2.2.1 Wandel vom homerischen zum platonischen Menschenbild

Nach Hermann Schmitz gab es einen fundamentalen Wechsel in der Erschei-

nungsweise des menschlichen Körpers, der ca. im 5. Jahrhundert v. Chr. im Wan-

del vom homerischen zum platonischen Menschenbild stattfand. Das homerische

Menschenbild zeichnet sich durch ein sinnliches Erleben aus, das ‚am eigenen

Leibe gespürt‘ wurde.59 Emotionen wurden nicht in Form von Schmerz oder

Angst subjektiv empfunden, sondern als ‚Schicksalsschläge’ am ganzen Leib

wahrgenommen. So heißt es in der Ilias z. B.: „Mich naget der Schmerz“, „denn

sie hat schon oft ihm herbe Schmerzen erreget“ oder „Fürchterlich war er rund

umher mit Schrecken bekränzet“ (Homer 1960, 702). Die Worte von Paris, mit

denen er sich in der Ilias leidenschaftlich Helena zuwendet, werden in der bekann-

ten deutschen Übersetzung von Graf zu Stolberg folgendermaßen wiedergegeben:

„Wie ich dich jetzt begehre, von süßem Verlangen getrieben“ (Homer 1960, 446).

Hier wird das Verlangen, die Erfahrung des Eros, als Trieberfahrung geschildert,

die rein emotional empfunden wird und als Begehren zu verstehen ist. Wörtlich

übersetzt heißt dieselbe Zeile jedoch: „Wie ich dich nun liebe und mich der Lieb-

reiz ergreift“ (Böhme 1985, 254). Deutlich wird, dass Paris äußerlich vom Eros

erfasst wird, der in ihm Emotionen auslöst. Solche Ergriffenheit, im wörtlichen

Sinne, ist heute durch die ‚Ich-Zentrierung’ des Menschen nicht mehr nachvoll-

ziehbar, da seelische Empfindungen ‚innerlich’ gefühlt werden.

Bei einem Blick in die griechische Mythologie fällt auf, dass sämtliche Helden,

wie Achill, Hektor oder Odysseus, ihre Taten niemals aus eigener Initiative oder

Verantwortung vollbringen, sondern immer von göttlichen Vorsehungen oder

Mächten geleitet werden, die ihr Handeln bestimmen. Ihr Tun war von den Wir-

kungen der Götter abhängig. Homer unterscheidet z. B. drei verschiedene Namen

für das Wort ‚Herz’: Etor (ήτορ), Kradie (χραδίη) und Ker (κήρ), die jeweils

bestimmte Erlebnisweisen besitzen. ‚Etor’ symbolisiert die Reaktion, ‚Kradie’ gilt

als Initiative und ‚Ker’ bedeutet soviel wie düstere Regung.60 Es gibt auch keinen

einheitlichen Begriff für ‚Seele’, denn das Wort ‚psyche’ bedeutet sowohl „Hauch, ______________

59 Vgl. Schmitz 1965; Böhme 1989; Böhme 1995; ausführlich hierzu auch Kap. V.2.1.2 und V.3.1.1

60 Vgl. Schmitz 1965, 432 ff.

70 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Atem als Lebensprinzip“, den man sterbend aushaucht, als auch „Denkvermögen,

Verstand, Klugheit“, „Gemüt, Herz Mut“ und damit die „Umschreibung der gan-

zen Person“ (Hörmann 1991, 11).

Der gespürte Körper ist im homerischen Menschenbild ein unangenehmes Gefühl,

weil er sich beschreiben, besehen und betasten lässt. Dagegen werden leibliche

Wahrnehmungen unmittelbar und als ein in sich geschlossenes Ganzes gespürt,

das die Durchlässigkeit und Resonanzfähigkeit der Menschen für die Mächte der

Götter ermöglicht. Die Eigenständigkeit des Leibes führt soweit, dass die Bewe-

gungen bestimmter Glieder personifiziert werden: Knie regen sich, Arme stürmen

von den Schultern. In der griechischen und römischen Mythologie wurden sämtli-

che Tugenden durch Götter versinnbildlicht, um zu verdeutlichen, dass sie als

Personifikationen auf Menschen leiblichen Einfluss ausüben können. Justitia, die

Göttin mit der Waage als Symbol der Gerechtigkeit, verdeutlicht z. B., dass

Wahrheit und Schuld abgewogen werden können. Der Leib ist kein Werkzeug

eines Subjektes, das ihn steuert und über ihn herrscht, sondern wirkt als ein

‚Membran’ oder ‚Filter’. Er ist offen für Einflüsse, die von außen auf ihn einströ-

men.

Schmitz nennt dieses Phänomen das ‚eigenleibliche Spüren’.61 In manchen Rede-

wendungen der Umgangssprache, wie z. B. ‚Jemand hat etwas am eigenen Leibe

erfahren’, ‚Furcht, die im Nacken sitzt’ oder ‚Aufregung, die auf den Magen

schlägt’, ist diese Vorstellung noch erhalten geblieben. Die Hebräer benennen

auch heutzutage in der alltäglichen Redeweise einzelne Körperglieder, um auf

eine persönliche Tätigkeit aufmerksam zu machen: „‚Meine Hand hat mir gehol-

fen’ bedeutet demnach so viel wie ‚Ich habe es aus eigener Kraft geschafft’“ (von

Rad 1970, 75). Das ‚eigenleibliche Spüren’ betrifft das sinnliche Wahrnehmen

von Empfindungen, die dem Menschen leiblich zugefügt werden. Jede Empfin-

dung hat eine eigene Bedeutung, die Schmitz ‚Leibesinseln’ nennt. An bestimmten

‚Körperregionen’ lässt sich das ‚eigenleibliche Spüren’ festmachen.

‚Leibesinseln’ bei Schmitz sind die gespürten Leibesgegenden, die nicht

identisch mit spezifischen Organen oder Teilen des Körpers sein müssen

(Fritsch 31992, 114).

______________

61 Vgl. Schmitz 1965

Bestandsaufnahme · 71

Auch wenn diese Begrifflichkeiten vielleicht abstrakt klingen, liegt ihnen ein

vergessenes Charakteristikum zu Grunde, das heutzutage am ehesten bei Gefühlen

nachzuvollziehen ist. Ein Gefühl wird so intensiv wahrgenommen, dass es in einer

Körperregion spürbar wird. Im Denken sind solche Empfindungen heute nicht

mehr vorstellbar, weil sie zu sehr von der rationalen Sichtweise verdrängt worden

sind. Im homerischen Menschenbild erschien selbst das Denken noch konkret

spürbar. Es war kein Akt der individuellen Vernunft, sondern stand in enger Ver-

bindung zur göttlichen Gewalt, die als äußeres Geschehen auf den Leib eintraf und

dort als sinnlich-objektive Atmosphäre wahrgenommen wurde. Diese Tendenz

lässt sich bereits in der antiken Poesie vor Homer feststellen. Der Dichter Archilo-

chos beschreibt im 7. Jahrhundert v. Chr. die physische Abhängigkeit des Men-

schen von den Göttern:

Die götter haben das letzte wort sie heben dich in die höhe wenn

Du auf der dunklen erde liegst sie werfen dich auf den rücken

Hast du erst einmal fuß gefasst bleibst du nicht nur ohne brot

sondern weißt auch nicht mehr woran du dich noch halten sollst

(Archilochos, zit. nach Schrott 1999, 93).

Bei der Prinzessin und Priesterin Enheduanna, deren lyrische Werke im 24. Jahr-

hundert v. Chr. entstanden und als erste Anzeichen von Poesie anzusehen sind,

wird die Sprache zum Teil einer äußerlich sichtbaren und handelnden Kraft.

Sein wort für sich

geht ruhigen schrittes

doch den aufständischen brennt es die häuser nieder

(Enheduanna, Ilummiya, zit. nach Schrott 1999, 59).

Somit leben auch die Menschen im Zeitalter vor Homer in einer äußerst belebten

Welt, die sich in der Vielfalt der leiblichen Regungen spiegelt. Ein einheitliches

Gestimmtsein von Mensch, Natur und Kosmos dient als Grundlage dieser Welt-

sicht, in welcher der Mensch sein Schicksal von außen auferlegt bekommt und

ihm nicht entgehen kann.

Die Beispiele aus der ‚Ilias’ verdeutlichen, dass Emotionen mit einem entspre-

chenden leiblichen Gefühl zusammenhängen und nicht voneinander zu trennen

sind. Diese Form des ‚eigenleiblichen Spürens’ besitzt ihre Wurzel im Leben

selbst, da Gefühle nicht von einem vereinzelten Ego empfunden wurden, sondern

Ausdruck des Menschen als Teil des Kosmos sind. In der homerischen Lebensein-

72 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

stellung sind Emotionen auf das Vorhandensein eines Leibes rückführbar, der sie

wahrnimmt und als Medium spürbar werden lässt. Sinnliche Erfahrungen stehen

in unmittelbarer Verbindung mit der Vorstellung eines „leiblich-göttlichen Durch-

stimmtseins“ (Fritsch 31992, 113). Die gelebte Welt ist direkt, unmittelbar und

wirklich spürend in jeweils charakteristischen Erlebnisweisen erfahrbar. Der Leib

ist als sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand in die Natur integriert und der Macht

der Götter ausgesetzt. Der homerische Mensch versteht sich als „Gefäß der Götter,

als Schauplatz ihrer Auseinandersetzungen“ (Böhme 1985, 253). Er ist als Natur-

wesen ein Teil des Kosmos, der von den Göttern beherrscht wird. Ein ‚Ich’ im

Sinne eines autonomen Subjekts, das sich hinsichtlich seines individuellen Be-

wusstseins auf die Welt richtet und diese innerlich bewertet, hat sich erst wesent-

lich später entwickelt.

In Homers ‚Odyssee’ wandelt sich diese Vorstellung von einer Verschmelzung der

Welt mit dem Leib hin zu einer Emanzipation der Persönlichkeit, die sich in Kör-

per und Geist teilt. Es entsteht eine Individualität der Person, die selbständig Ent-

scheidungen trifft und handelnd in die Umwelt eingreifen kann anstatt auf göttli-

che Mächte angewiesen zu sein. Dadurch teilt sich der Mensch in einen persönli-

chen und einen göttlichen Bereich. Er beherrscht sich selbst und seine Sinne. Die

‚Person’ stellt sich den Göttern entgegen und kalkuliert Entscheidungen nach

eigenem Maß. Hieraus resultiert eine Distanzierung zur Macht der Natur und des

Göttlichen. Gefühle werden nun kontrolliert, systematisch erfasst und innerlich

verarbeitet. Die Kohärenz zwischen subjektiver Empfindung und leiblichem Ge-

fühl wird aufgehoben. Die Rede vom ‚inneren Menschen’, eine Metapher, die die

Autonomie des Seelischen gegenüber sinnlichen Empfindungen betont, beginnt

sich immer mehr durchzusetzen. In der ‚Odyssee’ sagt Odysseus zu einer Frau:

„Freu dich im Herzen, Alte, und hüte dich laut zu frohlocken“ (Homer 1960, 450).

Die wörtliche Übersetzung von ‚Freu dich im Herzen’ lautet allerdings: „Halte

deine Freude drinnen fest.“62 Die Freude soll sich nicht äußerlich zeigen, sondern

bewusst innerlich wahrgenommen werden. Durch die Entdeckung der

Empfindsamkeit als einer Vorherrschaft der unsichtbaren Seele distanziert sich der

Mensch immer mehr von Mächten, die ihn umgeben. Intimität, Sensibilität und

Rationalität sind Auswirkungen, die sich aus der Rückgezogenheit des Menschen

in seine Subjektivität ergeben.

______________

62 Vgl. Schmitz 1965, 450; Fritsch 31992, 119

Bestandsaufnahme · 73

Die Präsenz und Dominanz des Leiblichen ist dann im weiteren historischen Ver-

lauf v. a. durch die Philosophie Platons zurückgedrängt worden. Er konstruierte

eine Welt der Ideen, die sich dem natürlichen Kosmos-Mensch-Verhältnis entge-

gensetzt. Durch den Wandel vom ‚mythos’ zum ‚logos’ entsteht die Dominanz des

Denkens und die Individualität der Person gegenüber einer direkten Beeinflussung

göttlicher Mächte. Im Höhlengleichnis wird von einer intelligiblen Welt ausge-

gangen, in der den sinnlich erscheinenden Dingen eine transzendente ‚Idee’ ge-

genübergestellt wird. Zur wahren Erkenntnis gelangen die Menschen nur, wenn

sie ihren Blick von den weltlichen Schatten erheben und in das übersinnliche

Reich der Ideen schauen. Folglich nimmt Platon einen vergänglichen Körper und

eine unsterbliche Seele an.

Die Seele ist im Körper, wie die Muschel in der Schale; und der Körper ist

bloßes Kleid der Seele (Platon 1973, 76).

Durch die Wende vom homerischen zum platonischen Menschenbild wird die

Dominanz des eigenleiblichen Spürens reduziert und das seelische Empfinden und

willentliche Agieren aufgewertet. Es entwickelte sich eine Vorstellung vom Men-

schen als ein Wesen, das sich aus einem vergänglichen Körper und einer ewigen

Seele zusammensetzt. Mit der unhintergehbaren Instanz des Ichs, das einzige

Sicherheit der Erkenntnis bereitstellt, vollzog sich ein Wandel zur Vorherrschaft

der Vernunft, die den Leib als Medium der Wahrnehmung verdrängt.

Die Deutungen von Schmitz sind von der zeitgenössischen Ästhetik um Gernot

Böhme wieder aufgegriffen und aktualisiert worden, um die traditionelle Werkäs-

thetik zu kritisieren, die sich an formalen Beurteilungskriterien orientiert.63 Es

finden sich aber auch Einwände gegenüber seiner Theorie der spürenden Leiber-

fahrung zur Zeit Homers. Zum einen verleitet die Sprache von Schmitz zu Miss-

verständnissen, weil sie stark subjektiv geprägt ist, Übersetzungsfragen nicht ge-

nau nimmt und eine mystische Ausdrucksweise verwendet. Das betrifft auch die

Erfahrung des ‚eigenleiblichen Spürens’, das sich „nicht als beharrlich in fester

Form stetig ausgedehntes Gebilde […], sondern als Gewoge verschwommener

Inseln“ darstellt (Schmitz 1965, 443). Fragwürdig bleibt ferner, inwieweit der

Ansatz bei den zwei Epen des Homers Aufschluss über den Realitätsgehalt dieser

Mythen geben kann und ob sich die Analysen mit einer zeitgemäßen Literaturkri-

______________

63 Ausführlich hierzu vgl. Kap. V.3.1.1

74 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

tik messen lassen. Verschiedene Autoren bezweifeln, ob sich ein Wandel von der

Ilias zur Odyssee abgezeichnet hat. So konstatiert A. Schmitt eine Einheit der

Seele bei Homer, und R. Gaskin behauptet, dass es auch in der ‚Ilias’ ein Selbst

oder eine Seele gegeben hat, ohne dass sie eigens von Homer sprachlich erwähnt

wurde.64

2.2.2 Triebhaftigkeit des Leibes und Entkörperlichung der Musik

Die Ansätze einer Dualität von Leib und Seele und die dadurch bedingte Herab-

setzung sinnlicher Erfahrungen zu Gunsten der Transzendenz des Geistes finden

sich auch im religiösen Kontext wieder. Der Körper erscheint defizitär und bildet

als ein vergängliches Gebilde das „Grab der Seele“ (Meyer-Drawe 32000, 145).65

In der irdischen Existenz ist der Mensch an körperliche Leidenschaften gebunden,

die erst nach dem Tod durch eine ewige Seele überwunden werden können. Die

Vorstellung von einer Triebhaftigkeit des menschlichen Leibes entstammt der

biblischen Darstellung des Sündenfalls, bei dem sich der Mensch durch Missach-

tung der göttlichen Gebote seiner Sexualität bewusst wird.

Im Leben gilt es daher, die bösen Leidenschaften des Körpers, die ihn seit

dem Sündenfall von seinem göttlichen Ursprung entfernt haben, zu be-

kämpfen und zu überwinden (Diehr 2000, 24).

Eine Differenzierung zwischen Himmel und Hölle, Geist und Fleisch, Glauben

und Wissen sowie Leib und Seele zeigt die Verabsolutierung eines transzendenten

Wesens und die Abwertung der menschlichen Sinne an. Besonders unter dem

Einfluss von Augustinus wurde ab dem 4. Jahrhundert nach Chr. ein System aske-

tischer Praktiken entwickelt, um die Dominanz des Geistigen über das Sinnliche

aufzuzeigen. Der Glaube ermöglichte es, die körperlich-vergängliche Realität zu

überwinden. Gleichzeitig regte sich aber auch in zahlreichen heidnischen Bräu-

chen und Kulten ein Widerstand gegen die Dominanz der Kirche, bei denen das

Ausleben körperlicher Exzesse in Fruchtbarkeitskulten als Kompensationsmittel

diente. Schon ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. wird dem Leib eine negative Rolle

zugeschrieben, da er mit dem Triebhaften des irdischen Lebens und der Verbun-

denheit an die Vergänglichkeit allen irdischen Seins in Zusammenhang gebracht

______________

64 Vgl. Schmitt 1990; Gaskin 1990 65 Meyer-Drawe vertritt hier eine spezielle Leibauffassung, die sich v.a. im dualistischen Men-

schenbild des Neuplatonismus findet. Die Vorstellungen von einer ganzheitlichen Kör-per/Leib-Einheit ist auch in der theologischen Tradition durchaus gängig und weit verbreitet.

Bestandsaufnahme · 75

wird. Eine Einheit von Leib und Seele wird einerseits durch irdische Schuld und

andererseits durch Hoffnung auf Erlösung dualistisch interpretiert.

In der Bibel besitzt der Leib dann im Wesentlichen drei symbolische Funktionen.

Erstens wird die Vergebung der Sünden und der Bund mit Christus im Abendmahl

symbolisiert.

Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; dieses tut zu meinem Ge-

dächtnis. (1. Korinther 11:24).66

Zweitens wird angedeutet, dass Jesus seinen Leib opfern will, um durch die Auf-

erstehung einen größeren Leib, nämlich die Gemeinde, hervorzubringen.

Und alles hat er unter seine Füße getan und hat ihn gesetzt der Gemeinde

zum Haupt über alles, welches sein Leib ist, nämlich die Fülle dessen, der

alles in allem erfüllt (Epheser 1:22-23).

Drittens soll im Begriff ‚Leib’ auch die praktische Erfahrung und die Lebenswirk-

lichkeit leben hervorgehoben werden. Demnach kann es nur einen Leib geben, der

niemals gespalten sein darf.

Nun aber sind es viele Glieder, aber der Leib ist einer. [...] Aber Gott hat

den Leib zusammengefügt und dem geringeren Glied höhere Ehre gegeben,

damit im Leib keine Spaltung sei, sondern die Glieder in gleicher Weise

füreinander sorgen (1. Korinther 12:20; 24-25).

Die christliche Tradition setzt somit der homerischen Verbindung von Leib und

Kosmos eine ‚ewige Seele’ und einen ‚sterblichen Leib’ entgegen. Taylor be-

zeichnet diesen Wandel als Wechsel von einer „Schamkultur“ zu einer „Schuld-

kultur“ (Taylor 1957, 210). Die Scham ist dem Menschen angeboren und natürli-

cher Ausdruck seiner Existenz. Nach der Vertreibung aus dem Paradies wird sich

der Mensch seiner Triebhaftigkeit bewusst, indem er symbolisch die Schamberei-

che mit einem Feigenblatt bedeckt und seine Schuld anerkennt. Der Glaube an ein

Leben nach dem Tod und die damit verbundene Vorstellung der Erlösung von der

Sünde prägen die wesentlichen Kerngedanken des Christentums.

Die negative Einschätzung der menschlichen Sinnlichkeit findet sich auch in der

griechischen Bedeutung des Begriffs ‚soma’, der in der Umgangssprache so viel ______________

66 Ich zitiere im Folgenden aus der Luther-Bibel in der revidierten Fassung von 1984.

76 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

wie ‚toter Leib’ bedeutet und mit dem deutschen ‚Körper’ vergleichbar ist. Eine

Ausnahme bildet die Leibauffassung des Apostels Paulus, der in ‚soma’ nicht die

Bedeutung ‚toter Leib’ sieht, wie sie im profanen Griechischen üblich ist, sondern

„ein Verhältnis, wir würden heute sagen eine Beziehung, in der der Mensch zu

sich selbst tritt“ (Konrad 1984, 154). Damit ist der Mensch soma. Auch nach der

‚Auferstehung’ bleibt er an das Soma gebunden, da er sonst seine Identität und

sein unverwechselbares Wesen verlieren würde. Dennoch ist in der christlichen

Geschichte die Tendenz einer Entsinnlichung des Leibes und eine Entwicklung

von der Weltzugehörigkeit zur Weltverneinung unverkennbar.

Durch diese skeptische Betrachtung des Körpers wurde auch die künstlerische

Tätigkeit abgewertet. Jegliche ästhetische Erfahrung, die nicht der Kontemplation

diente, sondern sinnliche Lust in der kreativen Gestaltung bereitete, besaß dem-

nach die Gefahr, von der eigentlichen Gotteserfahrung abzulenken. Malerei, Poe-

sie und Musik sollten vielmehr zur Religiösität erziehen. In diesem Rahmen wurde

v.a das Musikalisch-Sinnliche auf die Seite der verwerflichen Lüste gestellt. Das

betraf neben einer grundsätzlich skeptischen Haltung gegenüber ekstatischen

Körperbewegungen im Tanz auch allgemeine expressive instrumentale oder voka-

le Aufführungen. Charakteristisch sind in diesem Zusammenhang die Schriften

von Augustinus, der in seiner Bekehrung zum Christentum einen Wandel in der

Auffassung des Schönen erlebte und die sinnfälligen Erscheinungen, wie Musik,

Tanz oder Poesie, dem religiösen Erlebnis unterordnete.67

Ursprünglich besaß die Kirche eine Form von liturgischer Körperlichkeit im Tanz.

Dieser wurde als „die vornehmste Beschäftigung der Engel“ (Peters 1991, 13)

angesehen, bis Augustinus dagegen den sonntäglichen Reigen mit dem Chor an

den Gräbern der Märtyrer verbot. Demnach gilt „das Singen mit Begleitung see-

lenloser Instrumente und Tanzen und Stampfen“ (Augustinus, zit. nach Blaukopf

1982, 206) als kindlich und primitiv. In diesem Zusammenhang wird bei Augusti-

nus auch die Frage nach der musikalischen Gestaltung des Gottesdienstes behan-

delt. Die Gemeinde soll die sinnlichen Freuden beim liturgischen Gesang nicht

übertreiben, sondern mit „gelindem Auf und Ab der Stimme“ zum Ausdruck brin-

gen (Augustinus, zit. nach Blaukopf 1982, 207), so dass der Vortrag eher einem

andächtigen Lesen als einem Singen gleicht. Die Gebete werden mit einheitlicher

______________

67 Vgl. Augustinus 1963 sowie ‚Choreae’ – Zeitschrift für Tanz, Bewegung und Leiblichkeit in Liturgie und Spiritualität

Bestandsaufnahme · 77

Stimme vorgetragen, wobei der Sprechgesang allein vom Herzen gelenkt werden

soll.68 Musik dient somit der geistigen Andacht und soll das Wort Gottes unter-

stützen. Durch innerliche Versenkung und Muße „sollen die Freuden des Gehörs

dem unstarken Gemüt zur höheren Seelenbewegung und Andacht verhelfen“ (Au-

gustinus 1963, 183).

Neben der Vorstellung, dass Musik wertvoll ist, wenn sie zur Vertiefung des

christlichen Glaubens beiträgt, dient sie als entlastende Möglichkeit während der

körperlich-produktiven Arbeit. Der preisende Lobgesang galt hierbei weniger als

Motivation innerhalb der schweren körperlichen Anstrengung, sondern vielmehr

als ein Medium, um während der Tätigkeit über Gott zu reflektieren. Hierin zeigt

sich die bewusste Abkehr von einer alltäglichen Musikpraxis, von der es heißt,

„dass alle Arbeiter Herz und Mund voll leichter und sogar liederlicher Theater-

verschen haben“ (Augustinus, zit. nach Blaukopf 1982, 209).

All dies zielt auf eine Entsinnlichung der Musik ab, auf die Loslösung des

Gesangs von der körperlichen Bewegung, zum Teil auch von den Instru-

menten und tendenziell ganz gewiß auch vom ekstatischen Tanz (Blaukopf

1982, 210).

Die Entsinnlichung führt auch zu einer „Entkörperlichung, für die wir keine histo-

rische Parallele kennen“ (Blaukopf 1982, 210). Aus der Abwertung des Tanzes

und expressiver Erfahrungen im Musizieren resultiert eine Priorität des bewussten

Hörens, weil hier auch Zugänge gegeben sind, Musik analytisch zu ‚verstehen’.

Dagegen dienen ‚Bewegungen zur Musik’ weitestgehend der gemeinschaftlichen

Unterhaltung oder dem eigenen ästhetischen Genuss.

Diese Kritik an der Triebhaftigkeit des Leibes und die daraus resultierende ‚Ent-

körperlichung der Musik’ ist besonders stark im Christentum ausgeprägt. Musik

ist in dem Rahmen der religiösen Lehre eingebunden und unterstützt die asketi-

schen und kontemplativen Idealvorstellungen. Dagegen ist bei Naturvölkern Mu-

sik so sehr Bestandteil des Körpers, dass gewisse religiöse Zeremonien nur in

rhythmisch getanzter oder gesungener Form vermittelt werden können.

______________

68 Im Original spricht Augustinus von „una voce dicentes”; „un voce sed corde” (Augustinus 1963, 177).

78 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

2.2.3 Zur unterschiedlichen Rolle des Körpers im Lernprozess

In der Epoche der Griechen waren die Eltern in jedem Stand verpflichtet, ihre

Kinder vom 7. Lebensjahr an musisch und gymnastisch (d. h. geistig und körper-

lich) ausbilden zu lassen. Der Staat stellte für die körperliche Ertüchtigung

Übungsstätten bereit, wozu auch das so genannte ‚gymnasion’ gehörte, aus dem

sich die heutige Schulform Gymnasium ableitet.69 Lernen vollzog sich in der Öf-

fentlichkeit, wo Fünfkampf, Schwimmen, Tanz und andere körperliche Übungen

sehr beliebt waren und in Wettkämpfen gepflegt wurden. Das Besondere an der

griechischen Vorstellung von Erziehung ist die völlige Durchdringung von Kör-

per/Geist im politisch-öffentlichen und ethisch-moralischen Leben, die mit dem

Begriff der ‚Kalokagathie’ umschrieben wird.

Ziel aller Erziehung ist die Kalokagathie: Schönheit und Ebenmaß des

Körpers und der Seele (Reble 1960, 22).

Bereits im römischen Zeitalter jedoch wurde der Körper nicht mehr als schöne

Gestalt in seiner Einheit von Körper und Seele in der Schule gepflegt, sondern

nach seinem praktischen Nutzen geschätzt. Nachdem er innerhalb der Renaissance

und des Barocks durch Forschungen und standesspezifische und religiöse Einflüs-

se ins Abseits geriet, vollzieht sich merklich, v. a. bei Locke und Rousseau, eine

starke Aufwertung der sinnlichen Erfahrung im Erziehungsprozess. Zeigt sich bei

Locke die Möglichkeit zum Lernen in einer Vermittlung zwischen äußerer Erfah-

rung (‚sensation’) und innerer Erfahrung (‚reflexion’), also zwischen sinnlicher

Wahrnehmung und Vernunft, so tritt bei Rousseau der Mensch als Naturwesen in

den Vordergrund. In seinem Erziehungsroman ‚Emile ou l’éducation’ (1762)

erhält der Körper im Rahmen einer natürlichen Erziehung eine zentrale Stellung.70

Rousseau kritisiert den Sittenverfall, die Verschwendungssucht und Verweichli-

chung seiner Epoche und fordert, dass ein Jugendlicher bis zu seinem 12. Lebens-

jahr nur ein Minimum von intellektuellen und moralischen Belehrungen erfahren

soll, damit er sich in dieser Zeit fast ausschließlich auf die Ausbildung des Kör-

pers und der Sinne konzentrieren kann. In diesem Zusammenhang stehen auch

Johann Heinrich Pestalozzis Hauptgedanken, der im Anschluss an Rousseau eine

allgemeine Erziehungsmethode auf psychologischer Basis aufzubauen versucht.

______________

69 Das ‚gymnasion’ war anfangs eine rein gymnastische Übungsstätte und entwickelte sich im Hellenismus zu einer höheren Bildungsanstalt mit Sporthallen, Turnplätzen, Bad, aber auch mit Unterrichtsräumen, mit Schularchiv, Bibliothek und manchmal auch mit Schultheater.

70 Vgl. Rousseau 1978

Bestandsaufnahme · 79

Er unterscheidet dabei drei Seiten der Menschenausbildung: Ausbildung des Kop-

fes (intellektuelle Bildung), des Herzens (sittliche Bildung) und der Hand (Kör-

perkultur, sinnliche Wahrnehmung). In der Erziehung soll der Mensch „Körpers

halber stark und gewandt, Geistes halber einsichtsvoll und Herzens halber sittlich

werden“ (Pestalozzi 2002, 98).

Im 19. Jahrhundert zeichnet sich durch die Industrialisierung und das Aufkommen

maschineller Produktionsprozesse auch eine grundlegende neue Bewertung des

Körpers ab. Er wird hinsichtlich seiner Funktionalität und Effizienz geschätzt. In

diesem Zusammenhang wird auch das Ideal der Ganzheit von Körper und Geist

vernachlässigt oder für ‚staatspolitische Zwecke’ im Sinne der Etablierung eines

neuen Menschenbildes ausgenutzt. Ziel der Erziehung wird nun das Leitbild „des

gehorsamen Untertans, des patriotisch gesinnten Staatsbürgers und schließlich des

gesunden Soldaten“ (Gruhn 1993, 10). Mittels Drill, Reglementierungen und Stra-

fen wurde damals der Körper nach seinem Nutzen kalkuliert und hinsichtlich

seiner Funktionalität eingestuft. Im Dritten Reich haben solche Körperideologien

ein erneutes Interesse erhalten, da die so genannte Leibeserziehung zu den wich-

tigsten Schulfächern gehörte und sogar die Versetzung verhindern konnte. Unter

einem sittlichen Deckmantel wurde politisch-militärisches Gedankengut im Sinne

der ‚Zucht und Ordnung’ vermittelt. Neben der Idealvorstellung eines Körperbil-

des wurden diese Absichten auch auf Sport (Marschieren) und Musik (öffentliches

Singen von Volksliedern) übertragen. Am Anfang des Jahrhunderts betonte zwar

die Jugendbewegung das gemeinschaftliche Erleben durch Singen, Tanzen und

Turnen, wurde aber für nationalsozialistisches Gedankengut vereinnahmt. Der

Körper sollte ein funktionstüchtiges, repräsentationswürdiges, politisches Instru-

ment sein, das durch ‚völkische Erziehung’ geformt werden konnte. Wie sehr sich

solche Konzepte einer Kontrollierung des Körpers erhalten haben, zeigt z. B. die

Prügelstrafe, die bis Mitte dieses Jahrhunderts als Erziehungsmaßname angewandt

werden durfte.

Trotz einiger Ausnahmen, wie z. B. die Montessori-Pädagogik, in der über die

„Übung der einzelnen Sinnesorgane und Muskeln“ (Reble 1960, 285) die Selbsttä-

tigkeit im Lernen gefördert werden soll, oder in der Waldorfpädagogik, in der die

körperlich-seelische Ganzheit im Begriff der Eurythmie angesprochen wird, ist die

Vorstellung von Lernen als rationale Aneignung von Wissen ohne körperliche

Bezüge bis in unsere heutige Zeit erhalten geblieben. Trotz einer stärkeren Be-

rücksichtigung der Handlungsorientierung bilden die Erziehungseinrichtungen 13

Jahre lang das intellektuelle Verstehen aus und berücksichtigen unzureichend die

sinnlichen Wahrnehmungen, bei denen etwas getan, gestaltet oder hergestellt

80 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

wurde. Die Rolle des Körpers im Lernprozess hat sich somit im Laufe der Ge-

schichte von einer Körper/Geist-Einheit im Ideal der Kalokagathie zu einem sin-

nesfeindlichen und vernunftorientierten Objekt am Beginn des 21. Jahrhunderts

gewandelt.

3 Fragwürdigkeit und Fragestellung

Die im Vorfeld geleistete Darstellung konkurrierender und differenzierender Fest-

stellungen gewährleistet einen Überblick über die wesentlichen Positionen derzei-

tiger Körperauffassungen. Sie eröffnet aber auch die Frage nach der Eignung

dieses Bestandes. Damit impliziert sie sowohl die Aufgabe, etwas in seiner er-

scheinenden Struktur festzuhalten, als auch die Bestimmung, das Dargestellte

kritisch zu hinterfragen. Die Bestandsaufnahme beinhaltet demnach die Konstatie-

rung einer Vieldeutigkeit von Feststellungen, die letztlich auf die Vielschichtigkeit

pluralistischer Interessen verweist, und eröffnet gleichzeitig Fragen, die sich durch

kontingente und ambivalente Prozesse auszeichnen, die eben nicht verbindlich

sind. Im letzteren Falle gilt es ausfindig zu machen, inwieweit denn die Beschrei-

bung der Existenz divergierender Strukturen selbst schon zu einer Problemfeld-

skizzierung beiträgt, die noch einer zu leistenden Klärung bedarf.

Die anhand der Literatur geleistete Bestandsaufnahme beschreibt eine Typik, die

in ihrer inneren Anlage selber fragwürdig erscheint und den Blick für eigenständi-

ge Diagnosen abseits der Beschreibung von Positionen innerhalb des Körperdis-

kurses hin eröffnet. Die so aufgezeigte Konkurrenz und Differenz verdeutlicht

zwar Klassifizierungen und Orientierungen zum Körperverständnis, aber die Ver-

ankerung des Bestands selbst ist zweifelhaft geworden. Diese Ungewissheit ver-

weist weniger auf einen negativ zu klassifizierenden Fehlbestand als vielmehr auf

eine positiv-kritische Bewertung der Tauglichkeit der aufgezeigten unterschiedli-

chen Typen.

Wenn das Körperinteresse in vielfältige Richtungen zeigt, dann fordert seine

Struktur grundsätzlich zu einer Fragwürdigkeit seiner eigenen Zweckmäßigkeit,

Angemessenheit und Brauchbarkeit auf. Dies ermöglicht zum einen eine im weite-

ren Verlauf noch zu klärende Bestimmung solcher divergierender Körperkonzepte

und zum anderen die grundlegende Kritik des Bestands selbst als notwendige

Voraussetzung systematischer Forschungen zur Körper/Leib-Thematik und deren

Relevanz für die Musikpädagogik. Die durchgeführte Bestandsaufnahme dient

Bestandsaufnahme · 81

demnach zur Bestimmung eines durch Konkurrenz und Differenz geprägten Kör-

perinteresses unserer Zeit, das den Kern und Grund seiner vielschichtigen Struktur

unsicher und dessen potenzielle Eignung noch als eine bevorstehende Aufgabe

erscheinen lässt.

Das pluralistische Erscheinungsbild samt seiner heterogenen und ambivalenten

Strukturtypik lenkt den Blick also auf die Notwendigkeit einer eigenständigen

methodischen Erforschung des Körperphänomens, die allererst den Blick auf eine

noch zu leistende Dechiffrierung der im Bestand aufgezeigten Konkurrenz und

Differenz hin eröffnet.

Vorläufig wird in musikpädagogischer Absicht nach einer Körper/Leibauffassung

gefragt, die sich bezüglich der Konkurrenz einer Parteinahme enthält.

82 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

II METHODE

Ich weiß nicht warum

ich bin entzweigerissen.

(Sappho, zit. nach Schrott 1999, 116)

In der Bestandsaufnahme wurden verschiedene Beobachtungen, Wertungen und

Deutungen von Körperinteressen beschrieben und zwei konkurrierende Paradig-

men herausgearbeitet. Eine Seite fordert eine unvergesellschaftete Körperlichkeit,

die andere beschäftigt sich ohne kritische Absicht mit der Rolle des Körpers. In

Analogie zu dieser Unterscheidung wurden auch im Verhältnis von Körper und

Musik konkurrierende Verhältnisse aufgezeigt. Hierbei konnte die Unterschied-

lichkeit der Körperauffassungen anhand etymologischen und historischen Materi-

als dargestellt werden. Schließlich wurde im vorangegangenen Kapitel summie-

rend nach der Eignung des Bestands konkurrierender Körperauffassungen gefragt

und eine angemessene Forschungsmethode gefordert.

Zu Beginn dieses Kapitels wird die Wahl der Phänomenologie als triftige Unter-

suchungsmethode begründet. Die deskriptive Typik ermöglicht es, das Körper-

phänomen abseits traditioneller Deutungsschemata unvoreingenommen zu be-

schreiben. In dem methodischen Anspruch der Phänomenologie, „die vorausset-

zungslose Grundlage all unseres Wissens zu sein“ (Hügli/Lübcke 31998, Bd. 1,

77), zeigt sie sich als triftige Methode, um die in der Bestandsaufnahme aufge-

zeigte vorurteilshafte Konkurrenz zu unterlaufen (1.1-1.2). Eine anschließende

Charakteristik gibt einen Überblick über die Geschichte und die zentralen Aufga-

benbereiche der Phänomenologie. Neben einer kurzen Darstellung ihrer histori-

schen Entwicklung werden zudem die elementaren Bestandteile der Methode

vorgestellt (2.1-2.2). Abschließend lassen sich die Potenziale für die Untersuchung

verorten. Zum einen findet sich in der phänomenologischen Literatur eine spezifi-

sche Leibbedeutung, die sich klar von einem vorurteilshaften Körper/Leib-

Dualismus absetzt, und zum anderen greift auch die Musikpädagogik immer wie-

der auf phänomenologische Begriffe, Ansätze und Ergebnisse zurück, um die

Vieldeutigkeit ästhetischer Erfahrungen in der Lebenswelt der Schüler aufzuzei-

gen (3.1-3.2).

Methode · 83

1 Wahl

1.1 Vorurteilshaftigkeit im Körperverständnis

Allen Teilen der Bestandsaufnahme ist gemeinsam, dass sie implizit oder explizit

ein dualistisches Körperbild beinhalten. Der Körper ist innerhalb der gesellschaft-

lichen Konkurrenz (Imperativ/Akzeptanz), der etymologischen Differenz (Kör-

per/Leib) und des damit verbundenen historischen Wandels von Menschenbildern

(homerisch/platonisch) nicht einheitlich zu bestimmen, sondern zeichnet sich

durch eine Gegensätzlichkeit aus, die ihn entweder als individuell-kreatives Sub-

jekt oder als statisch-normiertes Objekt klassifiziert.

Der Grund dieses Dualismus liegt innerhalb einer Denktradition begründet, die

den Menschen in ein Körper/Geist- bzw. Leib/Seele-Wesen einteilt und ihn so als

ein Zusammengesetztes bestimmt. In der weitläufigen Literatur zur Körper/Geist-

Interaktion dokumentiert sich immer wieder die Forderung, einen wissenschaft-

lich-rationalen Bereich, der gesicherte objektive Erkenntnisse gewährleistet, von

einer affektiv-emotionalen Ebene zu trennen, die eher für subjektive Wahrneh-

mungen zuständig erscheint.71

Diese dualistische Sicht resultiert aus zwei Gründen. Zum einen werden Vorstel-

lungen vorgefertigt übernommen, die den Körper/Leib innerhalb einer normierten

Traditionslinie klassifizieren und als ‚statische Hülle’ zur Etablierung gesicherter

Erkenntnisse betrachten. Zum anderen fungiert der Körper als wesentlicher Be-

standteil individuellen Handelns und Agierens. Hieraus wird ersichtlich, dass

verbindliche Körpervorstellungen nicht nur determiniert erscheinen, sondern zur

Etablierung zweier völlig disparater Strukturen führen, die sich ausschließen.

Innerhalb der Forderung, ein einheitliches Körperverständnis im derzeitigen ge-

sellschaftlichen Kontext zu bilden, kann diese widersprüchliche Argumentations-

struktur nicht aufrecht erhalten werden.

Die Folgen des Leib/Seele-Dualismus’ sind für wissenschaftliche Implikationen

eklatant. Hieraus resultiert z. B. ein divergenter Forschungsansatz zwischen Empi-

rismus oder Intellektualismus mit damit verbundener Auf- bzw. Abwertung all-

gemein menschlicher Erfahrungen. Erkenntnis entsteht entweder aus Akzeptanz

einer faktisch vorhandenen Außenwelt, in der das Subjekt handelt und wahr-______________

71 Vgl. Schlosser 2001

84 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

nimmt, oder aber aus Negation sinnlicher Erfahrungen, wobei die Erkenntnisquel-

le in der Kraft des Geistes, des reflektierenden Bewusstseins oder der urteilenden

Vernunft liegt. Ein Großteil der abendländischen Philosophiegeschichte setzt

beide Seiten in Relation zueinander.72 Hieraus ergeben sich dualistische Annah-

men, wie z. B. Aktivität/Passivität, Handeln/Denken, Subjekt/Objekt, Handeln/

Verstehen, Theorie/Praxis, Sein/Bewusstsein oder Produktion/Rezeption, die letzt-

lich alle für das derzeitige Weltbild gegenwärtig erscheinen und nicht eigens hin-

terfragt werden. Diese Trennung ist sicherlich für verschiedene Wissenschaften

von Vorteil, da solche Gegensatzpaare zur Orientierung und Strukturierung eines

Systems mittels deduktiver oder induktiver Methoden führen, ein Dualismus ist

jedoch innerhalb dieser Wissenssysteme selbst nicht begründbar.

Trotz des Interesses ist es nicht die ‚ursprüngliche Erscheinungsform’ und ‚Ver-

fassung’ des Körpers, sondern vielmehr ein vorher abgestecktes Diskussionsfeld,

das auf ein Zwei-Seiten-Modell angelegt ist und um die einseitige Etablierung von

Funktionsmechanismen, Argumentationsstrategien und Deutungsmustern bemüht

ist.

Der Körper unterliegt in seiner Voreingenommenheit spezifischen Sichtweisen,

die ihn für eine determinierte Weltsicht einnehmen und ausdeuten. Hieraus resul-

tiert eine Vorurteilshaftigkeit, die einen verbindlichen Diskurs und eine systemati-

sche Erfassung eines einheitlichen Körperbegriffs im derzeitigen gesellschaftli-

chen Kontext nicht möglich erscheinen lässt. Daher bedarf es einer spezifischen

Methode, die das Phänomen Körper vorurteilsfrei analysiert und die ihm eigenen

Anzeichen ausweist, wie sie dann für die Musikpädagogik relevant werden könn-

ten.

1.2 Triftigkeit der phänomenologischen Methode

Innerhalb der Überlegungen, welche Methode geeignet erscheint, die Vorurteils-

haftigkeit im Körperverständnis zu unterlaufen, ist es erforderlich, einen Weg zu

finden, der nicht voreilig dualistische Deutungssysteme übernimmt, sondern nach

dem Ursprung fragt, mit dem Erkenntnis ‚von etwas als etwas’ allererst beginnt.73

______________

72 Während z. B. David Hume durch seinen Leitspruch ‚Esse est percipi‘ die Bedeutung sinnli-cher Wahrnehmungen betont, sieht René Descartes im universellen Zweifel ‚Cogito ergo sum‘ die Negation alles sinnlich Gegebenen, um die Vernunft aufzuwerten.

73 Der Terminus ‚unterlaufen’ betont die Aufgabe, nicht von dualistischen Prämissen auszuge-hen. Dagegen setzt z. B. ‚umgehen von etwas’ immer schon die Akzeptanz dualistischer Denkweisen voraus.

Methode · 85

Die Vorurteilshaftigkeit kann demnach nur durch eine Methode ‚unterlaufen’

werden, die kritisch hinterfragt, welche Potenziale sinnliche Wahrnehmungen und

körperliche Ausdrucksmöglichkeiten grundsätzlich besitzen. Die Vielschichtigkeit

dieser Erfahrungspotenziale lässt sich dann musikpädagogisch konkretisieren.

Der Begriff der ‚Triftigkeit’ verdeutlicht die Suche nach einer geeigneten Metho-

de, die in der Lage ist, die Konkurrenz im Körperverständnis zu unterbinden.74 So

lassen sich ursprüngliche Strukturen aufweisen, in denen sich der Körper ‚immer

schon’ bewegt, ohne gesellschaftliche, begriffsgeschichtliche oder historische

Prämissen zu übernehmen, die ihn bereits im Vorfeld in eine konkurrierende

Denktradition von Körperbefürwortung oder -kritik klassifizieren. Als Methode,

die nach der ursprünglichen Erscheinungsweise des Körpers fragt, bietet sich die

Phänomenologie an.

2 Charakteristik

2.1 Zur Geschichte der Phänomenologie

Die Phänomenologie ist eine Forschungsmethode, die aus vielschichtigen geisti-

gen Bewegungen am Anfang des 20. Jahrhunderts entstand und sich bis in unsere

heutige Zeit in immer neuen Abwandlungen weiter entwickelt hat.75 Sie ist nicht

auf ein spezifisch festgelegtes Untersuchungsfeld angewiesen, sondern wird in

unterschiedlichen Wissenschaftsgebieten und auch zur Deutung alltäglicher Erfah-

rungen angewendet. Im Folgenden werden Positionen herangezogen, die das Ver-

hältnis des Menschen zu seinem Leib thematisieren.

Der Begriff Phänomenologie, der sich aus den griechischen Wörtern ‚phainome-

non’ (‚Erscheinung’) und ‚logia’ (‚Sammlung’) zusammensetzt, taucht bereits

1764 im ‚Neuen Organon’ von Johann Heinrich Lambert auf, der damit eine The-

orie der Erscheinungen bezeichnete, die zwischen Wahrheit und Schein unter-

schied.76 Einen breiteren Bekanntheitsgrad erfährt die Phänomenologie im ______________

74 Mit dem Begriff ‚Triftigkeit’ wird indirekt bereits auf den Wahrheitsbegriff Merleau-Pontys Bezug genommen. So behauptet z. B. Bernhard Waldenfels, dass Wahrheit nicht mehr in „ei-ner bloßen Richtigkeit oder Stimmigkeit, sondern in einer Art von Triftigkeit“ (Waldenfels 21998, 134) begründet liegt.

75 Ein zusammenfassender Überblick über die Geschichte und Methode der Phänomenologie findet sich z. B. in Hügli/Lübcke 31998, Bd. II

76 Vgl. Lambert 121983

86 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

19. Jahrhundert durch Georg W. F. Hegels Schrift ‚Phänomenologie des Geistes‘,

in der ein „Stufengang der Wissensbildung von der naiven Gewissheit bis hin zu

absoluten Formen des Wissens“ gekennzeichnet wird (Landgrebe 1980, 495). Der

Begriff wird heutzutage auch außerphilosophisch verwendet, so z. B. als wissen-

schaftliche Praxis, die sich auf empirische Verfahren stützt, oder als eine Konzen-

tration auf sonst eher alltägliche Aspekte oder Gegenstände.76

Die grundlegende systematische phänomenologische Forschung etablierte sich

Anfang des 20. Jahrhunderts durch Edmund Husserl. Er begründete eine Methode,

die als ein wesentliches und wirkungsträchtiges Moment mit der Geistesgeschich-

te unseres Jahrhunderts verbunden ist. Mit ihr wird die Ablehnung eines rein rati-

onal-positivistischen oder subjektiv-psychologischen Denkens und der Rückgang

auf die zugrunde liegenden Phänomene im Vorfeld der Wissenschaften assoziiert.

Die Phänomenologie Husserlscher Prägung ist eine vielschichtige Bewegung, die

nicht nur auf die Philosophie einen großen Einfluss ausübte, sondern sich auch auf

andere wissenschaftliche Teilgebiete erstreckte, wie z. B. Geschichte oder Litera-

turwissenschaft.77

Besonders Husserls ‚Logische Untersuchungen’ wurden als ‚Hammerschlag’

gegenüber herkömmlichen philosophischen und wissenschaftlichen Fragestellun-

gen empfunden.78 Vor allem der Kampf gegen den Psychologismus und die vorur-

teilslose Hinwendung ‚zu den Sachen selbst’ übten eine immense Wirkung aus. Im

Zuge unterschiedlicher Forschungsschwerpunkte und divergierender wissenschaft-

licher Interessen entstanden verschiedene Ausrichtungen, die sich alle als phäno-

menologisch bezeichneten, wie z. B. die ‚Münchener’ oder ‚Göttinger Schule’.

Mit Husserls Berufung nach Freiburg fand die frühe phänomenologische Phase ihr

Ende. Die Wirkung blieb aber erhalten, da andere Philosophen wie Martin Hei-

degger, Jean-Paul Sartre oder Maurice Merleau-Ponty sich den Grundlagen des

Husserlschen Denkens anschlossen, diese aufnahmen, modifizierten und entwi-______________

76 Vgl. die medizinische Anamnese, phänomenologische Psychologie, phänomenologische Theorie in der Makrophysik oder sprachliche Rekonstruktion des Materials literarischer Ge-genstände, auch bekannt als linguistischer Phänomenalismus, deren Hauptvertreter John L. Austin ist. In der Literatur untersucht z. B. Peter Handtke quasi phänomenologisch die Mü-digkeit. Vgl. Handtke 1991

77 Es existieren auch kuriose Forschungsansätze. In einer Marburger Vorlesung wurde mehrere Semester lang ein gelber Postkasten untersucht. Villem Flusser analysiert z. B. verschiedene Gesten und thematisiert eine Phänomenologie des Rasierens. Vgl. Flusser 1995

78 Vgl. Husserl 1992, Bd. 2

Methode · 87

ckelten. Derzeitig hat sich der Schwerpunkt der Phänomenologie durch Vertreter

wie Paul Ricoeur, Emmanuel Lévinas, Jean-Francois Lyotard oder Jacques Derri-

da nach Frankreich verlagert.79

2.2 Grundzüge der phänomenologischen Methode

Die Phänomenologie ist eine deskriptive Wissenschaft, die davon ausgeht, dass

sich der zu untersuchende Gegenstand durch zahlreiche Beschreibungen in seinem

ganzen ‚Wesen’ zeigt.80 Das mag utopisch erscheinen, weil z. B. unzählige Anga-

ben nötig sein müssen, um einen Gegenstand in seiner Vollständigkeit zu erfassen,

denn dazu gehören unterschiedliche Wahrnehmungsweisen, wie Perspektive,

Größe, Klang oder Farbe. Husserl selbst verfertigte dazu eine immense Anzahl

schriftlicher Analysen.81

Die Phänomenologie reiht sich nicht in den Kreis der positiven Wissenschaften

ein, sondern will Kraft ihres universellen deskriptiven Anspruchs selbst Grundlage

sein. Die Welt, wie sie in anderen Wissenschaften, wie z. B. in Biologie, Mathe-

matik oder Physik, hinsichtlich ihrer Formeln und Regeln nur Voraussetzung ist

und sich begrenzt, wird in den Beschreibungen der Gegenstände ausdrücklich zum

Thema gemacht. Im Rahmen der deskriptiven Methodik schließt sich der Husserl

zugeschriebene Leitspruch ‚Zu den Dingen selbst’ an, der zu einer Beschreibung

der Phänomene und der Erscheinungsweise der zu untersuchenden Gegenstände

auffordert.82 Dieses Motto galt auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen als

Appell, sich wieder dem eigentlichen Forschungsgegenstand zuzuwenden. Hieraus

entstand eine Neuorientierung an den Grundlagen wissenschaftlicher Disziplinen,

die durch ihre Komplexität nur noch Experten zugänglich waren. Durch die erneu-

te Besinnung auf grundsätzliche Untersuchungsaufgaben sollten Kriterien für die

Bestimmungen und Begrenzungen des Forschungsgebietes gefunden werden,

welche die neuen Zielsetzungen der Forschung bestimmen. Die Kritik betrifft vor

______________

79 Vgl. Waldenfels 21998 80 Der Begriff ‚Wesen’ hat innerhalb der Geschichte der Phänomenologie immer wieder zu

Missverständnissen geführt, die sich v. a. durch unterschiedliche Interpretationen des Begriffs ‚eidos’ ergeben. In der vorliegenden Arbeit sind weniger absolute Ideen als vielmehr neue Formen des Sehens, Beobachtens und Hörens gemeint, die immer auch neue ästhetische Er-fahrungen bereitstellen.

81 „Sein philosophischer Nachlass umfasst etwa 40000 (meist stenographische) Manuskriptsei-ten” (Prechtl 1991, 15).

82 Es ist unklar, ob dieser Leitspruch wirklich von Husserl verwendet wurde. In seinen Schriften ist er nicht vorzufinden.

88 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

allem den ‚Logischen Positivismus‘, der von einer alleinigen Vormachtstellung

der Rationalität ausgeht, ohne sich an die Erscheinung der Gegenstände und die

Wahrnehmungsformen des Bewusstseins zu halten.83

Der Begriff ‚Phänomenologie‘ verleitet zu Missdeutungen und Missverständnis-

sen, wenn in ihm eine Form ‚geistiger Schau’ von Ideen gesehen wird. Eine solche

Klassifizierung beinhaltet ‚mystisches Gedankengut’, von dem sich die Phänome-

nologie letztlich distanzieren will.84 Kritiker behaupten, dass sie zu unwissen-

schaftlich an den Untersuchungsgegenstand herangeht und ihm ein zugrunde lie-

gendes Wesen unterstellt, das aus einer rein logischen oder empirisch-

wissenschaftlichen Methode nicht abgeleitet werden kann. Husserl hat aber Zeit

seines Lebens versucht, Philosophie als ‚strenge Wissenschaft’ zu etablieren, und

wandte sich besonders gegen Vieldeutigkeiten und Unklarheiten wie z. B. im

Psychologismus, der die Realität mit einem übergeordneten ‚seelischen’ Prinzip

zu deuten versuchte.

Philosophie gilt mir, der Idee nach, als die universale und im radikalen

Sinne strenge Wissenschaft. Als das ist sie Wissenschaft aus letzter Selbst-

verantwortung“ (Husserl 1992, Bd. 5, 139).

Husserl lehnt sich somit an das Idealbild einer strengen, in sich schlüssigen und

apodiktischen Wissenschaft an, kritisiert aber gleichzeitig ihre Unvollkommen-

heit, weil sie grundsätzliche Fragen und Probleme ungelöst lässt. Was die Forde-

rung nach Wissenschaftlichkeit betrifft, so ist die Philosophie nicht nur unvoll-

kommen, sondern „überhaupt noch keine Wissenschaft“ (Hügli/Lübke 31998,

Bd. 2, 71).

Die Phänomenologie begründet ihren Anspruch auf Universalität über das

menschliche Bewusstsein, das unterschiedliche Wahrnehmungen systematisiert

und dann in eine übergreifende Struktur bringt. Der Betrachter gelangt schließlich

durch ‚Addition’ seiner subjektiven Reflexionen zu einer Synthese oder Synthesis

______________

83 An dieser Stelle sei daran erinnert, dass Husserl aufgrund seiner Ablehnung des ‚Logischen Positivismus’ zu den Vorvätern der ‚Analytischen Philosophie’ gehört.

84 „Phänomenologie: die Lehre vom Wesen der Dinge, das durch eine geistige Schau aus den ‚Phänomenen’ (Erscheinungen) heraus erkannt wird” (Aster 1951, 188). Solche missver-ständlichen Definitionen erinnern an die platonische Ideenlehre.

Methode · 89

als Ergebnis der gesammelten Betrachtungsweisen im Bewusstsein.85 Somit ent-

steht ein Verhältnis von objektiver Betrachtung und subjektiver Anschauung.

Verschiedene phänomenologische Strömungen betonen unterschiedlich stark die

Verbindung vom erscheinenden Gegenstand und reflektierenden Bewusstsein.

Während die Anfänge der Phänomenologie noch in idealistischer Tradition stehen,

an der transzendentalen Dominanz des Bewusstseins festhalten und so den metho-

dischen Zweifel von Descartes fortführen, entwickelt sich im Laufe der Zeit eine

immer größere Konzentrierung auf die faktischen Existenz- und Vollzugsweisen

des Menschen in seiner Lebenswelt.

Um beobachtende Deskriptionen wissenschaftlich zu nutzen, bedarf es einer be-

stimmten Haltung, die der Beobachter einnehmen muss, um Gegenstände wahrzu-

nehmen. Diese wird als ‚Intentionalität’ bezeichnet.86 Im alltäglichen Sprach-

gebrauch wird der Begriff ‚Intention’ verwendet, wenn eine Handlung mit einer

bestimmten Absicht ausgeführt wird. So ist auch ‚Intentionalität’ kein Akzeptieren

des Gegenstandes in seinem Vorkommen, sondern eine bewusst eingenommene

Erkenntnishaltung. Hierdurch können die allgemeinen Strukturen eines Wahrneh-

mungsaktes aufgezeigt werden. In Beschreibungen wird ein Untersuchungsfeld

mit einer bestimmten Intention betrachtet, um seine Wesenszüge und charakteris-

tischen Merkmale von allen Seiten zu durchleuchten. Die Phänomenologie ver-

sucht durch eine bewusste Haltung von den faktischen Erlebnissen und den Zufäl-

ligkeiten eines empirischen Bewusstseins abzusehen, um das spezifische Wesen

der Intentionalität zu begreifen.

Durch bewusste ‚Konzentration’ auf den Gegenstand setzt sich dieser aus immer

neuen Wahrnehmungserlebnissen zusammen, wie z. B. Härte, Farbe oder Klang.

In Form einer ‚Konstitution’ bildet sich ein Bestand an ‚Empfindungen’, wie sie

vom Subjekt wahrgenommen werden und für die innere Verarbeitung der Erleb-

nisse bestimmend sind.87 Sinnliche Elemente, wie Geruchs- Berührungs- oder

Hörempfindungen, korrelieren mit der inneren Wahrnehmung und stehen in Bezug

zur Außenwelt. Die Empfindungsinhalte dienen als ‚Bausteine’, ohne selbst reale

______________

85 ‚Gegenstand’ darf nicht wörtlich aufgefasst werden, als ob sich die Phänomenologie einzig objektivierbaren Dingen zuwendet, sondern deutet auf das jeweilige Untersuchungsfeld hin, das auch abstrakt sein kann.

86 Der Begriff findet sich zuerst bei Franz Brentano, der das Wesen der psychischen Phänomene so bestimmt, dass sie immer in Beziehung zu einem Inhalt stehen.

87 ‚Konstitution’ leitet sich von dem lateinischen Verb ‚constituere’ ab, das ‚festsetzen’ oder ‚bestimmen’ bedeutet.

90 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Entsprechung zu erlangen. Sie sind wirkliche Bewusstseinsinhalte, in denen sich

Gegenstände intentional konstituieren.

3 Potenzial

3.1 Spezifität des Leibbegriffs in phänomenologischen Forschungen

Die phänomenologische Methode greift aus verschiedenen Gründen auf den Leib-

begriff zurück. Erstens findet sich auf etymologischer Basis eine Bestimmung des

Begriffs ‚Leib’, die sich von einem positivistisch wissenschaftlichen Anspruch

absetzt und in der Bedeutung von ‚Leben’ eine Gültigkeit für den alltäglichen

Lebensvollzug erhält. Diese Deutung des Leibes als Teil der menschlichen Exis-

tenz macht sich die Phänomenologie zu Nutzen, um einen eigenständigen Leib-

begriff herauszuarbeiten, der unabhängig vom Begriff der Ganzheit oder eines

Leib/Seele-Dualismus besteht und einen Rückfall in die positivistische Tradition

verhindert.

Der phänomenologische Leibbegriff unterläuft eine unklare Vermischung von

objektiver und subjektiver Erfahrung, wie sie sich in verschiedenen Modellen der

Körper/Geist-Interaktion findet. Die dortige Verwendung des Begriffs Leib ist

zumeist auf eine ‚transzendente Wahrnehmung’ ausgerichtet, welche die Zweitei-

lung des Menschen zu Gunsten einer mystisch ganzheitlichen Verschmelzung

‚aufzulösen‘ versucht. Sie findet sich oftmals in der Musiktherapie, Heilpädagogik

oder Psychologie, wenn das individuelle Erleben hervorgehoben werden soll.88

Der dortige Leibbegriff ist hinsichtlich dieses Anspruchs auf Reflexionslosigkeit

wiederum stark vorurteilsbehaftet, weil er sich vom objektivierbaren Körper ab-

setzt.

Zweitens bezieht sich die folgende Darstellung einer Phänomenologie des Leibes

auf zwei Vertreter unterschiedlicher Generation und Nationalität: Edmund Husserl

und Maurice Merleau-Ponty. Husserl etabliert in seinen phänomenologischen

Schriften zur Intersubjektivität einen eigenständigen terminologisch fundierten

‚Leibbegriff’.89 Merleau-Ponty unterscheidet in Anlehnung an Husserl zwischen ______________

88 Die ‚Integrative Leib- und Bewegungstherapie’ (LBT) wendet sich als psychotherapeutische Methode auch an Pädagogen und versucht über Bewegungen unbewusste Konflikte, Störun-gen und Traumate zu behandeln. Vgl. Hausmann/Neddermeyer 1995; Hegi 41993; Straus 21978

89 Es gibt Ausnahmen, in denen Husserl von ‚Leibkörper’ spricht. Vgl. Husserl 31995, 113 ff.

Methode · 91

den Begriffen ‚corps phénomenal’ und ‚corps propre’, die in der deutschen Spra-

che mit ‚Leib’ und ‚Körper’ wiedergegeben werden können.

Drittens existiert eine philosophische Tradition, die sich mit dem ‚Leib/Seele-

Verhältnis’ auseinander setzt und bis auf Platon, Descartes, Kant oder Nietzsche

zurückreicht.90 Ein Vergleich mit dem Leibbegriff der Phänomenologie ist jedoch

problematisch, da die Ansätze in keinem direkten entwicklungs- und wirkungsge-

schichtlichen Kontext stehen, sondern in andere philosophische Disziplinen wie

Ethik (Nietzsche), Metaphysik (Descartes, Platon) oder Erkenntnistheorie (Kant)

eingebunden sind. Der Leib ist zwar bei Kant oder Fichte ein Teil ihres philoso-

phischen Systems, aber für die Philosophie nicht zwingend mitbestimmend und

auch nicht philosophiegeschichtlich fundiert.91 Die einzelnen Denker entwerfen

weder eine Philosophie des Leibes noch beziehen sie sich durch ihre vereinzelten

Leibverweise aufeinander. Ihre Auffassungen berücksichtigen zwar, dass der

Mensch eine ‚Leib-Seele-Einheit’ bildet und die Erfahrung der Wirklichkeit ohne

den Leib undenkbar ist, aber ihre Untersuchungen befassen sich weitestgehend mit

dem aus dem Anspruch an die Vernunft entstandenen Interesse der Erforschung

der Bedingungen der Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis und verfolgen keine

eigenständige Analyse des Leibes. Erst bei Husserl und Merleau-Ponty erhält der

Leib als streng terminologisches und konstitutives Moment zur systematischen

Entfaltung der Philosophie seine eigentliche Relevanz.

Wenn daher Joachim Th. Geiger innerhalb seiner Untersuchung zu philosophi-

schen und anthropologischen Bestimmungen von Geist, Seele, Leib und Körper

eine Genese des Leibbegriffs zu skizzieren versucht, dann wird eine historische

Entwicklung konstruiert, die es letztlich nicht gegeben hat. Es ist daher nicht mög-

lich, Kant, Fichte und Hegel als Vertreter „idealistischer Leibkonzeptionen“ zu

bezeichnen (Geiger 1996, 83). Folglich entwerfen auch Schopenhauer, Marx,

Nietzsche, Husserl und Merleau-Ponty keine „nachidealistischen Leibkonzeptio-

nen“ (Geiger 1996, 85). Durch die Annahme, dass Kant „das menschliche Dasein

aus der Ambiguität des Leibes heraus“ interpretiert (Geiger 1996, 83), werden

idealistische und nachidealistische (phänomenologische) Leibkonzeptionen ver-

mischt. Es ist zwar möglich, eine Verlagerung des Prinzips der Vernunft zuguns-

______________

90 Vgl. Schmitz 1965; Grätzel 1989 91 Am ehesten ließe sich von Nietzsche sagen, dass er eine explizite Philosophie des Leibes

entwirft. So v. a. im Kapitel ‚Von den Verächtern des Leibes’ in ‚Also sprach Zarathustra’. Vgl. Nietzsche 1990, Bd. 3, 34 ff.

92 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

ten des Leibes anzunehmen, aber sie als Folge philosophiegeschichtlicher, anthro-

pologischer und religiöser Positionen zu interpretieren, wäre zu weit gegriffen.

Geiger verwendet den Begriff ‚Körper’, weil das Wort ‚Leib’ als „Beigeschmack

des Altmodischen und Reaktionären […] einem dem modernen Zeitgeist ‚ver-

staubt’ dünkenden Wirkungsbereich von Theologen (‚Leib Christi‘) oder konser-

vativen Pädagogen (‚Leibesübungen‘, ‚Leibeserziehungen‘)“ entspricht (Geiger

1996, 73). Weil zusätzlich der Terminus ‚Körper’ heute zweideutig als Synonym

für die körperliche und leibliche Dimension des Menschen verwendet wird,

schlägt Geiger vor, die Ambivalenzen durch die Hinzunahme des Begriffs ‚Phy-

sis’ zu umgehen, der die materielle Seite des Körpers symbolisiert. Dabei ver-

schärft er allerdings die schon etymologisch begründeten Unschärferelationen

zwischen Körper/Leib und potenziert die komplexe Terminologie durch die Er-

gänzung der dritten Instanz ‚Physis’. Seine Begriffsdefinitionen führen oftmals zu

paradox klingenden Sachverhalten:

‚Körper’, ‚Körperlichkeit’ und ‚körperlich’ werden zur Beschreibung oder

Charakterisierung der leiblichen Dimension verwendet […]. Um eigens die

stofflich-materielle Ebene bzw. biologisch-physiologische Seite des

menschlichen Körpers anzusprechen, gebrauche ich die Begriffe ‚Physis’

und ‚physisch’ (Geiger 1996, 73).

Ergänzend kann hinzugefügt werden, dass auch im Rahmen musikpädagogischer

Forschungen ein spezifischer Leibbegriff vorherrschend ist. Allerdings findet sich

weder eine strenge Trennung zwischen Körper und Leib noch gibt es konkrete

phänomenologische Anknüpfungspunkte. Dennoch lassen sich drei Typen in der

Begriffsverwendung verorten.92

1.) ‚Körper’ wird implizit im Sinne von ‚Leib’ verwendet und umgekehrt. Wei-

testgehend dominiert also der Körperbegriff, obwohl für die oben genannte Leib-

bedeutung plädiert wird. Immer wieder finden sich Aufsätze, die anstatt des

Körperbegriffs durchaus terminologisch ‚Leib’ verwenden könnten.93 Eher selten

wird Leib im Sinne von Körper gebraucht. Meistens wird hierbei das „Gegenteil

von ‚Innerlichkeit’“ (zur Lippe 1990, 44) oder „Vorstellungen von unseren

Organerfahrungen“ verstanden (zur Lippe, 1990, 53), was ein eher objektives ______________

92 Ausführlich hierzu vgl. Oberhaus 2004, 360-363 93 So v. a. im AMPF-Band ‚Musik und Körper’ bei den Autoren Pütz und Grimmer; vgl. Pütz

1990

Methode · 93

fahrungen“ verstanden (zur Lippe, 1990, 53), was ein eher objektives Körperver-

ständnis beinhaltet.

2.) Die Übersetzung der auf Gabriel Marcel zurückführenden Differenz zwischen

‚corps que je suis und corps que j’ai’ ist uneinheitlich. Während Marcel und

Dürckheim von ‚Körper-Haben und Leib-Sein’ sprechen, unterscheiden Plessner

und Merleau-Ponty dagegen ‚Körper-Sein’ und Leib-Haben’. Der Grund hierfür

liegt innerhalb einer divergierenden Auffassung des Begriffs ‚Sein’, der entweder

existenziell oder materiell verstanden wird. Innerhalb der Musikpädagogik ist

diese Verwechslung auch vorhanden. So bezieht sich z. B. Barbara Haselbach auf

das ‚Leib sein’, während Klaus Mollenhauer das ‚Leib haben’ hervorhebt.94

3.) Es existieren Konzepte, die sich zwar explizit auf eine anthropologische Leib-

definition berufen, dann aber in ein analytisches Körperverständnis zurückfallen,

wie dies z. B. in Richters Verkörperungskonzept der Fall ist. Trotz der Bemühung,

‚Körper’ und ‚Leib’ zu unterscheiden, ist deren Verwendung inkonsistent. An

einigen Stellen werden sie sogar synonym verwendet. So spricht Richter z. B. von

den „gegenseitigen Beziehungen zwischen Körper (Leib), Seele und Geist“.95 An

anderer Stelle lehnt Richter den Begriff Leib aus Gründen der Klanglichkeit ab,

denn er klingt „scheußlich und ist auch ungewohnt“ (Richter 1995, 5).

3.2 Relevanz phänomenologischer Forschung für die Musikpädagogik

Der Eingang der Phänomenologie in den musikpädagogischen Diskurs vollzog

sich über das Konzept der ‚Didaktischen Interpretation von Musik’. Anfang der

1970er Jahre entwickelte Karl Heinrich Ehrenforth in seiner Schrift ‚Verstehen

und Auslegen’ eine Form musikalischen Verstehens, das den wechselseitigen

Austausch zwischen der Erfahrungsgrundlage der Schüler und der Erlebnisqualität

der Musik berücksichtigt.96 Hierbei stellt er zunächst verschiedene hermeneutische

Ansätze in Wissenschaften wie z. B. Philosophie, Theologie und Literaturwissen-

schaft vor, um anschließend deren Ergebnisse für die Musikpädagogik fruchtbar

zu machen. Im Rahmen einer Kritik des Erlebnisbegriffs Wilhelm Diltheys und ______________

94 Klaus Mollenhauer ist ursprünglich Erziehungswissenschaftler, beschäftigte sich aber in verschiedenen Einzeluntersuchungen immer wieder mit musikpädagogischen Fragestellun-gen. Vgl. Mollenhauer 1996

95 Richter, Chr.: Überlegungen zum anthropologischen Begriff der Verkörperung. Eine notwen-dige Ergänzung zum Konzept der didaktischen Interpretation von Musik, in: Anthropologie der Musik und Musikerziehung, hg. von R. Schneider, Regensburg 1987, S. 92 [=Musik im Diskurs Bd. 4]; im Folgenden zit. als ‚ÜaV’

96 Vgl. Ehrenforth 1971

94 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

der Inhaltsästhetik Hermann Kretschmars sieht Ehrenforth v. a. in Anlehnung an

die philosophische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers und Martin Heideggers

die Möglichkeit, die „unmittelbare Verknüpfung von Werkanspruch und

Höreinstellung, von ‚Sache und Mensch’“ (Ehrenforth 1971, 5) als die zentrale

Aufgabe der Didaktischen Interpretation von Musik herauszuarbeiten. Diese

‚Begegnung’ geschieht in Form eines zirkelhaften Dialogs, der nicht nur das

Wissen über das Musikobjekt berücksichtigt, sondern das hörende Subjekt und

seine individuellen Erfahrungen in den Unterricht mit einbezieht. Die Didaktische

Interpretation hat somit „den Hörer im Auge zu behalten und ihn dort ‚abzuholen’,

wo er nach Hörerwartung und Rezeptionsvermögen vermutet wird“ (Ehrenforth

1971, 5). Durch diese offenen Verstehens- und Auslegungsweisen soll die

Subjekt-Objekt-Spaltung von Schülerinteresse und Musikgegenstand umgangen

und das Kunstwerk in seiner Vieldeutigkeit erfahren werden.

Im Anschluss an Ehrenforths theoretische Überlegungen beschäftigt sich Chris-

toph Richter Mitte der 1970er Jahre mit der Frage, „wie didaktische Interpretation

praktisch durchgeführt und wie sie gelernt werden könne“ (Richter 1976, 8).

Nachdem zunächst der ‚Vorrang der Sache’ im Sinne rezeptionspsychologischer

Untersuchungen und werkbezogener Faktorenanalyse im Zentrum seiner Musik-

didaktik stand, werden Anfang der 1980er Jahre auch verstärkt die individuellen

Erfahrungen des Hörers und die Offenheit der Werkinterpretation berücksichtigt.97

Richter spricht hierbei von „Treffpunkten“ zwischen Mensch und Musik, unter

denen „Einverständnis, Vertrautheit, Sicherheit herrscht“ (ÜaV 80).

In den Konzeptionen Ehrenforths und Richters besitzt der Begriff ‚Horizont’ einen

wichtigen Stellenwert. Er veranschaulicht den wirkungsgeschichtlichen Wandel

eines Kunstwerks und dessen unterschiedliche Wahrnehmungs- und Interpretati-

onsweisen. In Form einer ‚Horizontverschmelzung’ bedingen sich die Erfahrun-

gen der Gegenwart und die Erkenntnisse der Vergangenheit gegenseitig und

durchbrechen eine einseitige Orientierung an einem determinierten Gehalt des

Kunstwerks.98 Der Begriff ‚Horizont’ führt auf die Phänomenologie Husserls

zurück. Er steht dort allerdings im Kontext der Konstitution von Gegenständen

und besitzt keine hermeneutische Relevanz.

______________

97 Werner Jank kritisiert, dass Richter trotz dieser verstärkten Berücksichtigung individueller ästhetischer Erfahrungen „am objektbezogenen Erfahrungsbegriff von 1976 festhält“ (Jank 1996, 243).

98 Vgl. Ehrenforth 1971, 34; Richter 1975, 7; zur Problemgeschichte des Begriffs ‚Horizont’ vgl. Jauß 1982

Methode · 95

Im Zuge der Weiterentwicklungen der ‚Didaktischen Interpretation von Musik’

wurde dann auch der von Husserl stammende Begriff der ‚Lebenswelt’ als eine

Perspektive für den Unterricht in den musikpädagogischen Diskurs eingeführt.

Hierbei wird weitestgehend auf die späte und unvollendet gebliebene ‚Krisis-

schrift’ Husserls rekurriert, wo eine subjektiv erlebte Lebenswelt in Kontrast zu

der formal rationalen Struktur der objektiven Wissenschaft steht.99 Die Dominanz

der Wissenschaft gründet in einer ‚Lebensweltvergessenheit‘, die die vielfältigen

vorreflexiven Erfahrungsweisen ausblendet. Auch im Bereich der Musikpädago-

gik wird eine ‚Krise’ durch zu große Theorielastigkeit konstatiert. Daher gilt es,

„die große artifizielle Musik der europäischen Tradition wieder stärker in die

Lebenswelt der Menschen hinein“ zu transportieren (Ehrenforth 1987, 67).

Eine Bündelung bestehender musikpädagogischer Ansichten fand dann 1993 in

einer Ausgabe der Zeitschrift ‚Musik & Bildung’ unter dem Motto ‚Lebenswelten’

statt.100 Ehrenforth kritisiert dort die derzeitige Situation des Unterrichts, der sich

weitgehend an der Vermittlung grundlegender musikalischer Fachtermini orientie-

re. Lernen gleiche einem „grammatikalischen Fundamentalismus“ (Ehrenforth

1993, 14), da die Theorie vor der eigentlichen ästhetisch-musikalischen Erfahrung

steht. Sein Konzept der ‚Toposdidaktik’ will dagegen den realen Ort (lat.: topos)

zwischenmenschlicher Gemeinschaft im Sinne eines Marktes, auf dem sich „die

‚Lebens- und Erfahrungswege’ der Vielen in der Stadt der Menschen begegnen

und kreuzen“ (Ehrenforth 1993, 18), als eigentliches Kerngebiet musikpädagogi-

schen Denkens und Handelns hervorheben. In einem weiteren Beitrag versteht

Ernst Klaus Schneider ‚Lebenswelt’ im weiten Sinne als ‚Lebensnähe’, da Musik

als Spiegel von Leben fungiert und Grunderfahrungen wie Kälte, Stille oder Chaos

und Ordnung ureigene Schnittpunkte zwischen Mensch und Kunst bilden. Das

beziehungsreiche Wechselspiel ermöglicht einen offenen Unterricht, der Alltags-

erfahrungen gleichsam als Kontaktstellen mit der Vieldeutigkeit von Musikwerken

verbindet. Aufgabe des Musikunterrichts ist es, in einer Lebensweltorientierung

der „selbstbezogenen Vereinzelung“ des Menschen entgegenzuwirken und ein

humanes „Miteinander bei gemeinsamer Arbeit und Betätigung“ (Schneider 1993,

7) in der Schule zu bewirken. Der Versuch, im Begriff der Lebenswelt sowohl die

Vorerfahrungen der Schüler als auch die Erlebnisqualität der Musik anderer Men-

______________

99 Vgl. Husserl 1954 100 Vgl. Musik & Bildung 6/1993

96 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

schen und anderer Zeiten in Verbindung zu setzen, ist in den letzten Jahren in

verschiedenen Unterrichtsreihen und musikpraktischen Beispielen erprobt wor-

den.101

Vor einiger Zeit erschienen zwei Publikationen, die sich erneut der Frage nach

einer Relevanz des Lebensweltbegriffs im Unterricht widmen. Der von Ehrenforth

herausgegebene Sammelband ‚Musik – Unsere Welt als Andere’ fasst verschiede-

ne philosophische und musikpädagogische Perspektiven zusammen und unter-

streicht die Aktualität eines lebensweltlich orientierten Unterrichts.102 Allerdings

plädiert Ehrenforth in einem Einzelbeitrag dafür, den „Begriff der Lebenswelt, wie

ihn Husserl geprägt hat, in der weiteren Diskussion unberücksichtigt zu lassen“

(Ehrenforth 2001b, 52), und auch Richter hebt an anderer Stelle hervor, dass das

Verstehen von Musik „vielleicht ohne philosophischen Rekurs einfacher zu for-

mulieren ist“ (Richter 1997, 45).103 Obwohl somit prinzipiell anerkannt wird, dass

die „einladende Offenheit des von Mode heimgesuchten Begriffs“ (Ehrenforth

2001b, 34) Lebenswelt zu einer umgangssprachlichen Verharmlosung geführt hat,

dient ein Rekurs auf die Phänomenologie Husserls weiterhin als Legitimation, um

auf verschiedene musikpädagogische Fragestellungen hinzulenken.

Im Zusammenhang dieser Diskussion um begriffliche Unschärfen fordert Jürgen

Vogt eine grundlegende kritische Revision bestehender lebensweltlicher Konzep-

tionen und ist um eine deutliche Differenzierung zwischen unterschiedlichen pä-

dagogischen und phänomenologischen Ansätzen bemüht. Die Grundfrage lautet,

ob erstens der Lebensweltbegriff für eine Transformation in musikpädagogische

Zusammenhänge zur Verfügung stehen darf und „schon klanglich eine Einheit“

(Schneider 1993, 7) von Mensch und Musik bildet oder zweitens als systematisch

phänomenologischer ‚Terminus technicus’ betrachtet werden soll, der konstitutive

wissenschaftstheoretische Implikationen beinhaltet, die von der Musikpädagogik

übernommen werden sollen. In seinem Buch ‚Der schwankende Boden der Le-

benswelt’, werden erziehungswissenschaftliche und musikdidaktische Konzeptio-

nen einer lebensweltlich orientierten Pädagogik ausführlich vorgestellt, kritisch

mit phänomenologisch-philosophischen Ansätzen verglichen und ihre unzulängli-

______________

101 Vgl. z. B. Bäßler 1996; Schneider 1996; Nimczik 1998a 102 Vgl. Ehrenforth 2001a 103 Vgl. die in der Zeitschrift ‚Musik und Unterricht’ dargestellte Diskussion zwischen Vogt und

Richter. Vogt 1997; Richter 1997

Methode · 97

che Übernahme für pädagogische Zwecke herausgestellt.104 Vogts Einwände ge-

gen die ‚Didaktische Interpretation von Musik’ sollen kurz skizziert werden.

Er kritisiert, dass sich die ‚Didaktische Interpretation von Musik’ auf „normative

musikpädagogische Ausrichtungen und implizite musikbezogene Wertungen“

(SBL 65) stützt, die nur als scheinbare Begründungen, Rechtfertigungen und un-

mittelbare Folgerungen aus einem lebensweltorientierten Musikunterricht legiti-

miert werden können. Demnach setzt die Musikpädagogik einen vermeintlichen

‚Sollensanspruch’ voraus, der nicht zwingend aus einem lebensweltlichen Ansatz

im Sinne Husserls resultiert. Die Aufgaben, ‚originale Begegnungen’ im Musikun-

terricht zu vermitteln oder der „selbstbezogenen Vereinzelung“ entgegenzuwirken

(Schneider 1993, 7), unterliegen nach Vogt keiner Zielbestimmung, die konkret

normative Ergebnisse anstreben. Vielmehr findet sich durch den Versuch, jegliche

Formen außerschulischer Grunderfahrungen in den Unterricht zu integrieren, eine

„normative Abstinenz“, „Neutralität“ (SBL 66) oder ein „normatives Vakuum“

(SBL 67) in der musikpädagogischen Forschung. Eine alltagssprachliche Deutung

des Lebensweltbegriffs führt zu einem „‚Anything goes’ der derzeitigen musikdi-

daktischen Praxis“ (SBL 66), die eine konkrete Transformation der phänomenolo-

gischen Methode in musikpädagogische Bereiche fragwürdig erscheinen lässt.

Vogts Arbeit leistet eine längst fällige Auseinandersetzung mit der Transformati-

onsproblematik spezifischer philosophischer Termini in musikpädagogische Zu-

sammenhänge. Das Aufgreifen der strengen Definition des Husserlschen Lebens-

weltbegriffs dient als Regulativ, um schablonenartig die Fehlentwicklungen päda-

gogischer Strömungen aufzuzeigen, und ermöglicht v. a. dessen Enttrivialisierung

für die Musikpädagogik auf dem Boden einer kritisch fundierten Differenzie-

rung.105 Aus der Ausgangsprämisse, dass Phänomenologie „auch in praktischer

Hinsicht“ (SBL, 39) etwas zu leisten vermag, resultiert letztlich eine „phänomeno-

logische Philosophie der Musikpädagogik“ (SBL, 13), die für Grundfragen musi-

kalisch ästhetischer Bildung relevant wird. Vogts Anliegen ist weniger eine unter-

richtspraktische Fundierung phänomenologischer Ergebnisse. In seiner Arbeit

______________

104 Vogt, J.: Der schwankende Boden der Lebenswelt. Phänomenologische Musikpädagogik zwischen Handlungstheorie und Ästhetik, Würzburg 2001; im Folgenden zit. als ‚SBL’; aus-führlich wird Vogts musikpädagogische Konzeption im Kap. V.1.2 behandelt.

105 Vogt unterscheidet in der ‚Krisis’ drei Arten von Wissen: 1.) Doxa (lebensweltliches All-tagswissen), 2.) Episteme 1 (methodisches Wissen der Wissenschaften) und Episteme 2 (uni-versales, philosophisch phänomenologisches Wissen). Vgl. SBL 19

98 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

verzichtet er daher auf Musikbeispiele oder didaktische Reflexionen. Seine Philo-

sophie der Musikpädagogik dient vielmehr zur fundamentalphilosophischen Klä-

rung des Begriffs ‚Lebenswelt’ und zur produktiven Etablierung dessen ästheti-

scher Dimensionen. Seine These des ‚Hörens als leibliches Register responsiver

Erfahrung’ ist den „Voraussetzungen, Bedingungen und Möglichkeiten des Mu-

sik-Lernens“ (Abel-Struth 1975, 18) verpflichtet und erscheint als eine doppelsei-

tig zwischen Musikpädagogik und Philosophie bzw. Handlungstheorie und Ästhe-

tik angelegte Typik, die systematisch den Verstrickungen des Begriffs der ‚Le-

benswelt’ nachgeht.

Gleichsam kann gefragt werden, inwiefern eine strenge Deutung des Husserlschen

Lebensweltbegriffs für eine Lösung der Kernfragen aktueller musikpädagogischer

und ästhetischer Probleme überhaupt gerechtfertigt erscheint. Als skeptische Ge-

genposition erscheint die Überlegung Richters, dass sich die Phänomenologie

Husserls „nicht aber in praktischer Hinsicht z. B. für pädagogische, moralische,

empirische Verwendungsinteressen“ verwenden lässt (Richter 1993, 24).106 Schon

kurz nach dem Erscheinen der Krisisschrift nehmen verschiedene phänomenologi-

sche Forschungen den Lebensweltbegriff Husserls auf, versuchen ihn aber gleich-

zeitig von dem strengen Wissenschaftsideal und der damit verbundenen Bewusst-

seinsphilosophie loszulösen. Derzeitig finden sich wieder verstärkt phänomenolo-

gisch intendierte Konzepte, wie z. B. das der ‚Aisthetik’ von Gernot Böhme, die

ausgehend von phänomenologischen Ansätzen konkrete Beiträge zu derzeitigen

ästhetischen Fragestellungen bereitstellen.107

Der Begriff Lebenswelt steht auch im Kontext der Sozialphänomenologie des

Husserl-Schülers Alfred Schütz.108 Allerdings führt dessen terminologische Ver-

wendung zu einer Entsprechung von Lebenswelt mit ‚Alltag’, ‚Alltagswelt’ oder

‚alltäglicher Lebenswelt’ und folglich zur pluralistischen Annahme von Lebens-

welten, die immer schon als vorausgesetzte Teilkulturen fungieren. Obwohl

______________

106 Die praxisnahe Ausweitung der Philosophie Husserls wird schon durch die ‚epoché’ deutlich erschwert, die die alltägliche Lebensumwelt außer Geltung setzt. Es bleibt das Verdienst von Heidegger (In-der-Welt-Sein) und v. a. Merleau-Ponty (Zur-Welt-Sein), diesen stark egologi-schen Ansatz relativiert zu haben.

107 Vgl. Böhme 2001; Böhme beruft sich ausdrücklich auf Autoren wie z. B. Hermann Schmitz, der explizit eine „Phänomenologie der Leiblichkeit“ verfasst hat (Schmitz 1965, XIV). Vgl. auch Kap. V.3.1.1

108 Vgl. Schütz/Luckmann 1984

Methode · 99

Schütz mit den Analysen Husserls vertraut war, ging es ihm primär um die Aufhe-

bung des transzendentalen Anspruchs und um die Lösung phänomenologischer

Probleme, wie z. B. die Intersubjektivitätstheorie. Aus seinen soziologischen Inte-

ressen eröffneten sich empirische Forschungsmethoden, die vornehmlich auf der

Basis der natürlichen Einstellung die gesellschaftliche Struktur der Wirklichkeit

aufzudecken versuchten.

Auffällig erscheint in diesem Zusammenhang, dass in empirisch-musikpädagogi-

schen Forschungen der 1980er Jahre eine begriffliche Etablierung des Lebens-

weltbegriffs im Rahmen der quantitativen Erfassung von Musikpräferenzen Ju-

gendlicher stattgefunden hat und hierbei im Sinne der Sozialphänomenologie von

einer soziologisch motivierten Verankerung ästhetischer Erfahrungen ausgegan-

gen wurde. Nach Klaus-Ernst Behne konstituieren sich musikalische Lebenswel-

ten aus „das, was wir überwiegend hören […] und wie wir mit dieser Musik um-

gehen, also WAS wir lieben und WIE wir es lieben“ (Behne 1993, 9). Eine trans-

zendentale phänomenologische Begründung im Sinne Husserls liegt hierbei nicht

im Interesse der quantitativen empirischen Musikpädagogik. Der Begriff Phäno-

menologie findet sich „im Kontext der Methodenfrage als Teil sog. qualitativer

Forschungsmethoden“ (SBL, 9), ohne auch hier die spezifische Methodik der

Phänomenologie für die musikpädagogische Forschungspraxis zu beanspruchen.

Allerdings ist durch die methodische Konzentration auf immanent subjektive

Sinnsetzungen, die sich durch Methoden wie z. B. ‚Teilnehmende Beobachtungen’

oder ‚Narrative Interviews’ erschließen, durchaus eine Nähe zu phänomenologi-

schen Fragen der Sinnkonstitution durch Beschreibung von Verstehenskontexten

und Handlungszusammenhängen gegeben.

Letztlich ist allen musikpädagogischen Ansätzen gemein, dass die beschreibende

Methode der Phänomenologie abseits traditioneller wissenschaftlicher Konzeptio-

nen als Anlass genommen wird, um unvoreingenommen auf Fragen der musikali-

schen Welterkenntnis zuzugehen und den Boden für eine neue Sicht auf ein zu

untersuchendes musikpädagogisches Themengebiet bereitzustellen. Musikpäda-

gogische Konzepte nutzen daher diese Freiheit im Beobachten und Beschreiben,

um ‚zu den Sachen selbst’ zu gelangen und so immer wieder neue Bezüge zwi-

schen Mensch und Musik zu suchen, welche die Vielfalt des Musikwerks und der

ästhetischen Erfahrung betonen.

100 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

III ANALYSE

Gelegentlich erzählte Husserl, daß er einst als Kind ein Taschenmesser zum Geschenk erhalten habe. Er fand jedoch, daß die Schneide nicht scharf genug sei und schliff sie immer wieder. Nur darauf bedacht, das Messer zu schärfen, bemerkte der Knabe Husserl nicht, daß die Klinge immer kleiner wurde und schwand. Levinas versichert, daß Husserl diese Kindheitserin-nerung in traurigem Ton erzählt habe, da er ihr eine symbolische Bedeu-tung beimaß. (Strasser, 1950, XXIX)

Die Analyse setzt sich mit zwei bedeutenden Vertretern der Phänomenologie

auseinander und stellt deren Untersuchungen und Ergebnisse zum ‚Leib’ vor.

Edmund Husserls ‚Cartesianische Meditationen’ und ‚Ideen zu einer reinen Phä-

nomenologie und phänomenologischen Philosophie II’ dienen dazu, grundlegende

Aspekte eines ‚phänomenologischen Leibbegriffs’ herauszuarbeiten.110 Während

in einzelnen Auszügen aus den ‚Cartesianischen Meditationen’ den Fragen nach

einer intersubjektiven Gemeinschaft von Individuen und der Fremderfahrung

anderer Menschen nachgegangen wird (1.1), soll in einigen Ausführungen zu den

‚Ideen II’ die Bedeutung des Leibes als Wahrnehmungsorgan und Orientierungs-

vermögen herausgearbeitet werden (1.2). Die ‚Phänomenologie der Wahrneh-

mung’ von Merleau-Ponty dient dazu, die Ergebnisse von Husserl auf erkenntnis-

kritischer und ästhetischer Basis zu vertiefen.111 In diesem Werk wird eine umfas-

sende Phänomenologie des Leibes entwickelt, die auch in der vorliegenden Analy-

se explizit vorgestellt wird. Dies beinhaltet zum einen die Überwindung eines

dualistischen Konzepts, wie es im Empirismus oder Intellektualismus angelegt ist

(2.1), und zum anderen die Herausstellung des Leibes als ein Bestandteil des indi-

viduellen Handelns und Vollzugs im ‚Zur-Welt-Sein’ (2.2). Der Leib wird als ein

grundlegendes Medium der Wahrnehmung verstanden, das in Form einer Ambigu-

______________

110 Husserl, E.: Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie, hg. von E. Ströker, Hamburg 31995; im Folgenden zitiert als ‚CM’

111 Husserl, E.: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, hg. von M. Biemel, Den Haag 1952 [=Husserliana IV]; im Folgenden zit. als ‚Id II’

Analyse · 101

ität sowohl im Subjekt als auch in der objektiven Welt verankert ist (2.3). Glei-

chermaßen führt Merleau-Ponty die Intersubjektivitätstheorie Husserls weiter und

sieht eine zwischenmenschliche Gemeinschaft im direkten leiblichen Vollzug

gewährleistet (2.4). Im Anschluss an diese grundlegenden erkenntniskritischen

Ausführungen wird auf die ästhetische Bedeutung des Leibes im Instrumentalspiel

und der Malerei hingewiesen, mit der sich Merleau-Ponty in seinem Werk ausein-

ander gesetzt hat (2.5).

102 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

1 Husserls phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution des Leibes

1.1 ‚Cartesianische Meditationen’: Der Leib als Intersubjektivitätsmedium

Husserl hielt die ‚Cartesianischen Meditationen’ 1929 in Form von Vorträgen an

der Sorbonne. In ihnen stellt er die wichtigsten Momente der Phänomenologie in

den Grundzügen vor. Er orientiert sich dabei an der Methode von Descartes, der in

seiner Schrift ‚Meditationes de prima philosophia’ (‚Meditationen über die Grund-

lagen der Philosophie’) die Idee der Philosophie aus rationaler Begründung forder-

te und sich dabei an den Erfolgen der exakten Naturwissenschaften und der Me-

thode der Mathematik orientierte.112 Mit dem skeptischen Rückgang auf das er-

kennende Subjekt durch den ‚methodischen Zweifel’ kann nur dem Denken end-

gültige Gewissheit zugesprochen werden. Jede Form der sinnlichen Wahrneh-

mung oder die Existenz einer äußeren Welt ist prinzipiell anzuzweifeln.

1.1.1 Apodiktizität des ‚Ego Cogito’

Husserls philosophische Ausgangsbasis geht vor allem mit der von Descartes

analog, der durch die methodische Annahme eines unhintergehbaren ‚Ego Cogito‘

die Begründung einer Wissenschaft gewährleistet sah, an deren Ergebnisse apo-

diktisch festgehalten werden kann.

Die unsere Meditationen leitende Idee sei wie für Descartes die einer in

radikaler Echtheit zu begründenden Wissenschaft und letztlich einer uni-

versalen Wissenschaft (CM 9).

Husserl fordert einen Neubau der Wissenschaften aus absolut rationaler Begrün-

dung. Die einzige Sicherheit bietet nur das Ego, das sich durch den Zweifel an der

objektiven Erscheinungsweise der Dinge auf das Bewusstsein stützt. Die Existenz

einer Außenwelt wird allerdings nicht geleugnet, sondern nur hinsichtlich ihrer

Wahrhaftigkeit angezweifelt. Sie besteht als Korrelat zum Bewusstsein, das sich

intentional auf ‚Dinge’ richtet und so Sinnesdaten ‚verinnerlicht‘. Im Rückgang

auf das Ego ist es daher völlig irrelevant, ob die Welt ist, sondern nur wie sie vom

Bewusstsein konstituiert wird. Hierdurch ist das Ego auf sich selbst allein gestellt

(solus ipse). So vollzieht das Subjekt „eine Art solipsistischen Philosophierens. Es ______________

112 Vgl. Descartes 1958

Analyse · 103

sucht apodiktisch gewisse Wege, durch die es sich in seiner Innerlichkeit eine

objektive Äußerlichkeit erschließen kann“ (CM 5).

Husserl vergleicht das Moment der ‚Versenkung in das Bewusstsein’ mit einem

„meditierenden Philosophen” (CM 20). Hierdurch erwächst der Anschein, als ob

es sich in der phänomenologischen Methode nicht nur um eine philosophische

Theorie, sondern um eine existenzielle Erfahrungsgrundlage handelt.

Das verdeutlicht ferner, wie sehr Husserls Philosophie ihm ein persönliches An-

liegen war:

Und nach alledem, wie weit bin ich zurück – Das Leben verrinnt, die Jahre

der Kraft rollen ab. Weh mir, wenn ich in diesen Arbeitsstudien und Ar-

beitsweisen steckenbliebe! Es wäre nicht viel weniger als ein Leben leiden-

schaftlichen Ringens, härtester Arbeit verloren zu haben. Umsonst gelebt:

nie und nimmer. Ich will und werde nicht ablassen (Husserl, zit. nach Sepp

1988, 225).

Am Beginn der ersten Cartesianischen Meditation wird deutlich, wie sehr Husserl

darum bemüht ist, den Leser in die Ernsthaftigkeit und Bedeutsamkeit seines Un-

tersuchungsvorhabens mit einzubeziehen. Als sprachliches Stilmittel verwendet er

einen kommunikativen Plural, um mittels direkter Ansprache eine persönliche

Beziehung zum Leser aufzubauen. Es erwächst der Anschein, als ob dieser die

Meditationen selber durchführen würde.

Wir fangen also neu an, jeder für sich und in sich mit dem Entschluss radi-

kal anfangender Philosophen, alle uns bisher geltenden Überzeugungen

und darunter auch alle unsere Wissenschaften zunächst außer Spiel zu set-

zen (CM 8).

1.1.2 Erste Reduktion

Husserl findet auf der Suche nach Gewissheit das ‚Ego cogito’ als Urteilsboden

einer umfassenden Philosophie, in der die Existenz der Welt als Geltungsphäno-

men zwar durchgängig weiter existiert, jedoch ihres „natürlichen Seinsglaubens”

beraubt wird (CM 21). Jenen Vorgang der ‚Einklammerung’ der Außenwelt be-

zeichnet Husserl mit dem aus dem Griechischen stammenden Begriff der εποχη

104 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

und nennt sie auch ‚transzendental-phänomenologische Reduktion’.113 Oftmals

wird ‚epoché’ als „Enthaltung”, „außer Geltung setzen” oder „inhibieren” über-

setzt (CM 22). Allerdings lassen diese Definitionen das Spezifische dieses Beg-

riffs nicht deutlich genug zum Vorschein kommen, weil nicht die Existenz der

Welt negiert wird, sondern nur das Vorwissen und die unreflektierten Annahmen

eingeklammert und durch das Bewusstsein überprüft werden.114

Die epoché ist, so kann gesagt werden, die radikale und universale Metho-

de, wodurch ich mich als Ich rein fasse, und mit dem eigenen reinen Be-

wusstseinsleben, in dem und durch das die gesamte objektive Welt für mich

ist, und so, wie sie eben für mich ist. Alles Weltliche, alles raum-zeitliche

Sein ist für mich – das heißt gilt für mich, und zwar dadurch, dass ich es

erfahre, wahrnehme, mich seiner erinnere, daran irgendwie denke, es be-

urteile, es bewerte, begehre usw. […] (CM 22 f.).

Diese Sichtweise ist mit der eines neutralen Zuschauers vergleichbar, der „den

Glauben an die Welt zunächst einmal nicht mit vollzieht, sondern diesen Seins-

glauben reflexiv betrachtet“ (Prechtl 1991, 59). Das gilt auch für sinnliche Wahr-

nehmungen wie Hören, Sehen oder Fühlen. Was in dieser Enthaltung hervortritt,

ist eine Aufklärung der Wesensmöglichkeiten von Erkenntnis aus den Quellen des

intentionalen Bewusstseins. Die epoché hat dabei den positiven Sinn, dass die

Erfahrungswelt in ihrem Bestand nicht angetastet und nicht einmal vorübergehend

der methodischen Funktion des Umsturzes unterworfen wird, sondern dass sie als

Bezugspunkt und richtungweisendes Kriterium für Bewusstseinsinhalte beständig

erhalten bleibt. Husserls Phänomenologie wird zur ‚Egologie’, wenn die einzig

annehmbare Welt diejenige ist, die das Ego konstituiert.

Sicherlich liegt im Sinne der transzendentalen Reduktion, dass sie zu An-

fang als seiend nichts anderes setzen kann als das Ego und was in ihm

selbst beschlossen ist […]. Sicherlich fängt sie also als reine Egologie an,

und als eine Wissenschaft, die uns, wie es scheint, zu einem, obschon trans-

zendentalen Solipsismus verurteilt (CM 31-32).

______________

113 Zum Verhältnis zwischen Reduktion und epoché vgl. Theunissen 21977, 27; Ber-net/Kern/Marbach 21996, 56.

114 Janssen behauptet, Husserl sei „von der Not getrieben, keine passenden sprachlichen Ausdrü-cke zur Verfügung zu haben” (Janssen 1977, 68).

Analyse · 105

1.1.3 Transzendentaler Solipsismus

Die εποχη basiert auf den Leistungen des Bewusstsein, das mittels der Intentiona-

lität Sinn konstituiert. In der Welt erscheinende und handelnde Lebewesen werden

ihrer Seinsgeltung beraubt.

Das betrifft auch die umweltliche Existenz aller anderen Iche, so dass wir

rechtmäßig eigentlich nicht mehr im kommunikativen Plural sprechen dür-

fen (CM 20).

Diese Voraussetzung führt zu dem berechtigten Vorwurf eines Solipsismus, der

zwischenmenschliche Kontakte, Sozialität, Geschichte oder Formen der Kultur

fragwürdig erscheinen lässt. Die Evidenz des Egos darf selbst die in ihr vorgefun-

denen Körper nicht als andere Egos bedenkenlos akzeptieren. Durch die Redukti-

on auf die Unhintergehbarkeit des Ichs und auf die Priorität des Bewusstseins

bleibt nur die eigene Subjektivität als absolute und alleinige Gewissheit übrig.

„Die Epoché schafft eine einzigartige philosophische Einsamkeit“ (Husserl 1954,

187), die das Ich auf seine alleinige, solipsistische Faktizität zurückwirft. Husserl

erkennt diese Problematik und befürchtet, dass seine Philosophie im transzenden-

talen Solipsismus enden könnte.

Wenn ich, das meditierende Ich, mich durch die phänomenologische εποχη

auf mein absolutes transzendentales Ego reduziere, bin ich dann nicht zum

solus ipse geworden, und bleibe ich es nicht, solange ich unter dem Titel

Phänomenologie konsequente Selbstauslegung betreibe (CM 91)?

Es stellt sich somit die Frage, wie Husserl den Weg von der Isolation der trans-

zendentalen Subjektivität zu einer Welt anderer Egos und somit zu einer gemein-

schaftlichen Welt findet, in der die Subjekte intersubjektiv miteinander umgehen.

In dieser Intersubjektivität müsste sich ‚zwischen’ der eigenen Subjektivität und

der anderer Menschen eine Verbindung ergeben. Durch den Solipsismus ist auch

Husserls strenges Wissenschaftsideal betroffen. Er muss, um die Geschlossenheit

seines Systems garantieren zu können, die Fremderfahrung in seine Methodik

integrieren.

1.1.4 Zweite Reduktion

Neben der epoché führt Husserl im Lauf der Cartesianischen Meditationen eine

zweite Reduktion durch, welche auf die primordiale „Eigenheitssphäre” verweist

106 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

(CM 95). Ihr Ziel ist, explizit das Thema der Anderen zu behandeln.115 Im Unter-

schied zur ersten Reduktion, in der die Welt weiterhin als Korrelat zur Verfügung

steht, ist die zweite, primordiale Reduktion jedoch eine Abstraktion. In ihrer Funk-

tion klammert sie eine bestimmte Schicht der Erfahrung nicht nur ein, sondern

schaltet sie ganz bewusst aus. Als eine „eigentümliche Art thematischer εποχη”

(CM 95) filtert sie aus der reduzierten Welt eine bestimmte abstrakte Schicht

heraus, die von jeglicher Form der Erfahrung anderer Menschen absieht. Das

beinhaltet nicht nur den konkreten Verlust des äußeren Körpers anderer Men-

schen, der als Ding wie jeder andere Naturgegenstand wahrgenommen wird, son-

dern das Verschwinden jeder Form von fremder Subjektivität.

Wir schalten alles jetzt Fragliche vorerst aus dem thematischen Felde aus,

das ist, wir sehen von allen konstitutiven Leistungen der auf fremde Subjek-

tivität unmittelbar oder mittelbar bezogenen Intentionalität ab und um-

grenzen zunächst den Gesamtzusammenhang derjenigen Intentionalität,

der aktuellen und potentiellen, in der sich das Ego in seiner Eigenheit kon-

stituiert und in der es von ihr unabtrennbare, also selbst ihrer Eigenheit

zuzurechnende synthetische Einheiten konstituiert (CM 95).

Die primordiale Reduktion ist die konsequente Weiterführung der Problematik des

Solipsismus, weil von jeglichem „Sinn von Fremdsubjekten” (CM 124) abstrahiert

wird und eine Eigenheit der Naturwelt des Egos erscheint, in welcher der Andere

faktisch nicht mehr vorhanden ist.

Die zweite Reduktion Husserls ist ein Kunstgriff, weil sie durch Ausschaltung

jeglicher Fremderfahrung das wirklich Eigentümliche des Anderen zu erfassen

versucht. Nur durch Distanzierung von der Erfahrung anderer Individuen kann der

Meditierende das Fremde des Anderen erst erfahren. Weil es kennzeichnend für

den Anderen ist, wirklich anders zu sein, abstrahiert Husserl von der Fremderfah-

rung und untersucht, wie das Ego fremdes Sein überhaupt konstituieren kann. Die

Sphäre der Primordialität charakterisiert somit den Ausgangspunkt, von dem aus

der Bezug zum Anderen allererst hergestellt und begründet wird.

______________

115 Husserl spricht sowohl von ‚primordial’ als auch von ‚primordinal’. Beide Begriffe leiten sich vom Lateinischen ‚primordium’ (lat.: Uranfang, Ursprung) ab.

Analyse · 107

So gewinnt Husserl eine Erfahrungsschicht, die das Fundament für die Be-

stimmung des Fremden abgibt. Alles, was diese Eigenheitssphäre über-

schreitet, stellt etwas Ich-Fremdes dar (Prechtl 1991, 85).

Die primordiale Welt ist demnach eine bloße Natur als eine Welt von Dingen. Die

Radikalisierung betrifft auch das Ego in der Isolation des Bewusstseins, das jede

Form von fremder Subjektivität systematisch negiert. Während in der ersten Re-

duktion die Welt für jedermann erfahrbar ist und auch dann nicht verloren geht,

„wenn eine universale Pest mich allein übrig gelassen hätte” (CM 96), bleibt dem

Meditierenden in seiner primordialen Eigenheitssphäre nur „eine einheitlich zu-

sammenhängende Schicht des Phänomens Welt” (CM 98).

1.1.5 Appräsentation des Anderen durch den Leib

In der Konstitution von Naturkörpern nimmt ein Körper eine besondere Stellung

ein. Das ist derjenige, den der Meditierende selbst besitzt: sein Leib. Dieser wird

wie andere Naturkörper wahrgenommen, indem er gesehen und betastet werden

kann, und er bildet gleichsam eine unmittelbare Verbindung zu der Subjektivität

des Egos. Er ist somit nicht ein bloßes Ding, das in der Natur vorhanden ist, son-

dern Bestandteil der Wahrnehmungserlebnisse des Bewusstseins.

Unter den eigentlich gefassten Körpern dieser Natur finde ich dann in ein-

ziger Auszeichnung meinen Leib, nämlich als den einzigen, der nicht bloß

Körper ist, sondern eben Leib, als das einzige Objekt innerhalb meiner

abstraktiven Weltschicht, dem ich erfahrungsgemäß Empfindungsfelder zu-

rechne, […], das einzige „in” dem ich unmittelbar „schalte und walte”,

und insonderheit walte in jedem seiner „Organe” (CM 99).

Husserl etabliert folglich ein vermittelndes Korrelat zwischen verinnerlichtem Ego

und äußerlicher Welt über den Leib. Dessen ambivalente Struktur resultiert aus

der beidseitigen Teilhabe an einer objektiven abstraktiven Weltschicht und einer

subjektiven Erfahrungsschicht des Bewusstseins. Der Leib gehört sowohl zur Welt

der Naturdinge als auch zur individuellen Welt der Wahrnehmung.116 Er steht in

einer Objektivierbarkeit, die ihm den Status eines Dinges verleiht, besitzt aber

______________

116 Husserl benutzt in diesem Zusammenhang den Begriff der ‚Kinästhesie‘, der darauf hinweist, dass sich der Leib mittels seiner Organe (wie z. B. der Hände oder der Augen) in der Welt o-rientiert und die Wahrnehmungen individuell strukturiert. ‚Kinästhesie‘ oder ‚psychophysi-sche Einheit‘ sind Begriffe, die mehrdeutig sind, weil sie den deskriptiven Ansatz der Phä-nomenologie verlassen und sich in die psychologische Wissenschaft einreihen.

108 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

gleichzeitig das Potenzial, Wahrnehmungen individuell zu erfahren. Äußere und

innere Erfahrung bilden zwei Seiten eines einheitlichen Phänomens. Das Ego ist

durch seinen Leib nicht mehr ‚eingeschlossen’, sondern erfährt sich tastend, se-

hend, fühlend und hörend als weltliches Wesen. Durch diese Möglichkeit der

Weltaneignung mittels äußerer Sinne kommt dem Leib ein individuelles Können

zu, das ihn von anderen dinglichen Körpern in der Umwelt unterscheidet.

Ich nehme mit den Händen kinästhetisch tastend, mit den Augen ebenso se-

hend usw., wahr und kann jederzeit so wahrnehmen, wobei diese Kinästhe-

sen der Organe im „Ich tue” verlaufen und meinem „Ich kann” unterste-

hen (CM 99).

Der Leib ist weder ein statisches Ding noch eine funktionierende Maschine, son-

dern eine lebendige Vollzugsmöglichkeit mit der Außenwelt, die in ständiger

Vermittlung zum Bewusstsein durch individuelle Erfahrungsakte gegeben ist und

erhalten bleibt. Das Ego eignet sich handelnd die sinnliche Welt durch Bewegung

sowohl subjektiv als auch objektiv an. Während sich der Leib als Objekt in die

Außenwelt eingliedert und Erfahrungen über diverse Vollzugsformen sammelt,

gliedert und strukturiert er diese Wahrnehmungen innerlich. Er ist eine doppelsei-

tige Einheit, in der Bewusstsein und Sein in einem korrelierenden unmittelbaren

Verhältnis stehen. Das Subjekt ist sowohl Bestandteil der Außenwelt als auch

innerliches Bewusstsein. Da ein der Subjektivität zugehöriger Leib angenommen

wird, gibt das Ego seine Verinnerlichungstendenz auf und integriert sich über die

Durchkreuzung (Chiasma) von Wahrnehmungsobjekt und Wahrnehmungssubjekt

als leiblicher Teil in die Außenwelt. Dieses wechselseitige Korrelat etabliert ein

Leibbewusstsein, das im Zuge der Fremderfahrung und Bildung einer Intersubjek-

tivität eine konstitutive Rolle spielt.

In der Sphäre der Primordialität, in der alle fremde Subjektivität ausgeblendet ist,

entdeckt der Meditierende einen besonderen, fremden Körper, der mehr ist als ein

Naturding, weil er dem eigenen Leib gleicht. Das ist der Leib des Anderen, der

nicht nur körperlich als Naturding vorhanden ist, sondern sich als ein verbinden-

des Glied von der eigenen zur fremden Subjektivität ausweist. Über die verglei-

chende Ähnlichkeit des eigenen Leibes mit denen der Anderen ist eine ‚Intersub-

jektivität‘ gewährleistet. Diesen Vorgang des Vergleichens und den Rückschluss

auf eine fremde Subjektivität nennt Husserl ‚Appräsentation’. Ein Gegenstand

kann durch die Intentionalität zur vollständigen Präsentation gelangen, weil er

gesehen, berührt oder gehört werden kann und er in einem eindeutigen Korrelat

Analyse · 109

zum eigenen Bewusstsein existiert. Um von dem anderen Körper auf eine ihm

zugehörige fremde Subjektivität schließen zu können, ist eine weitere Schlussfol-

gerung nötig. Entgegen der Eigenschaft von Gegenständen kann das fremde Ich

nicht in eine totale Präsentation überführt werden. Es zeigt sich nicht vollständig,

da seine fremde Subjektivität appräsent und nicht wie Gegenstände erfahrbar ist.

Die Ähnlichkeit verschiedener Körper und der folgende Schluss auf einen fremden

Leib benötigen Assoziationen, welche die Fremderfahrung erst möglich machen.

In diesem Sinne unterscheidet Husserl zwischen einer unmittelbaren Intentionali-

tät, die Gegenstände präsentiert, und einer mittelbaren Intentionalität, die die

Fremderfahrung appräsentiert.

Primordial gegeben ist mir die Wahrnehmung eines Körpers (außerhalb

meines eigenen). Gleichzeitig mit der Körperwahrnehmung appräsentiere

ich zu diesem Körper den Leibcharakter (Prechtl 1991, 86).

Es ist nicht mehr der eigene Leib, sondern ein anderer, der mit dem eigenen zu-

sammen ein Paar bildet und sich durch die Aufnahme weiterer Glieder zu einer

intersubjektiven Mehrheit erweitert.

Tritt nun ein Körper in meiner primordialen Sphäre abgehoben auf, der

dem meinen ähnlich ist, d. h. so beschaffen ist, dass er mit dem meinen eine

phänomenale Paarung eingehen muss, so scheint nun ohne weiteres klar,

dass er in der Sinnenüberschiebung alsbald den Sinn Leib von dem meinen

her übernehmen muss (CM 116).

Durch die Ähnlichkeit der Körper, die ‚ich’ als Meditierender und der Andere

besitzen, ist es möglich, von einer „Verkörperung meines Leibes zu sprechen“

(Theunissen 21977, 65). Husserls Philosophie bleibt dabei weiterhin Bewusst-

seinsphilosophie, da sich die Fremderfahrung durch die Vermittlungsinstanz des

Leibes als eine spezielle Art der Intentionalität vollzieht. Er verwendet auch den

Begriff ,Einfühlung’, der verdeutlichen soll, dass über die Ähnlichkeit des Frem-

den mit dem Eigenen überhaupt die Erfahrung des anderen Leibes gewährleistet

werden kann, die wiederum die Apodiktizität des ‚Alter Egos’ garantiert.

Der Vergleich des Anderen mit dem eigenen Leib macht die objektive Welt mit-

samt ihren kulturellen Prädikaten wieder zugänglich. Aus der isolierten Eigen-

heitssphäre, in der nur eine besondere Schicht Natur wahrgenommen wird, kristal-

lisiert sich die Welt mit ihren Bezügen zu anderen Menschen mitsamt ihren Hand-

lungsvollzügen und Kommunikationsformen heraus. Erst durch die Art und Wei-

110 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

se, wie der Andere sich bewegt, handelt, sich darstellt oder mimisch-gestisch

äußert, kann davon ausgegangen werden, dass es sich um ein anderes Ich handelt,

welches eine intersubjektive Gemeinschaft wieder zugänglich werden lässt.

1.1.6 Zur spezifischen Funktion des Leibes

Es ist oft gegen Husserl argumentiert worden, dass das andere Ich durch die Ähn-

lichkeit mit dem eigenen Leib nicht wirklich anders, sondern nur eine Kopie des

eigenen Leibes ist.117 Eine wirkliche Andersartigkeit lässt sich letztlich durch eine

Appräsentation nicht beweisen. Grund hierfür ist der Ansatz bei der Unhintergeh-

barkeit des intentionalen Bewusstseins und die daraus folgende Negierung der

Faktizität der Lebenswelt. Im Zuge dieser Argumentation wird immer deutlicher

ersichtlich, wie sehr die Rolle der Reduktion und die dadurch bedingte Ausklam-

merung einer Gemeinschaft mit anderen Subjekten eine problematische Stellung

erhält. Nur durch den Rückgriff auf eine Intersubjektivitätstheorie, die über die

spezifische Funktion des Leibes erfolgt, kann Husserls Vorstellung von einer

Wissenschaft aus letzter Begründung weiter Bestand haben. Husserls Phänomeno-

logie setzt also bei der Priorität eines verinnerlichten Egos an und mündet in die

intersubjektiven Vollzugsformen des Leibes.

Zusammenfassend zeigt die geleistete Darstellung der ‚Cartesianischen Meditatio-

nen’ deutlich, dass der Leib eine bestimmte systematische Funktion in der Phäno-

menologie Husserls besitzt. Er ist primär dafür zuständig, Intersubjektivität zu

gewährleisten, die auch in der intentionalen Einstellung des Bewusstseins erhalten

bleibt. Obwohl in der Lebenswelt der Andere auch als physisches Objekt wahrge-

nommen wird, verweist der Leib auf eine in ihm enthaltene Subjektivität. Der

Andere zeigt sich als Individuum nicht über sein unterschiedliches Denkvermögen

oder seine sprachlichen Fähigkeiten, sondern über leibliche Handlungen, die im-

mer schon im sozialen Kontext stattfinden.

1.2 ‚Ideen II’: Der Leib als Wahrnehmungsmedium

In dem zweiten Band der ‚Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomeno-

logischen Philosophie’ wird der Leib als Wahrnehmungssubjekt verstanden, das

Gegenstände sinnlich empfindet und subjektiv bewertet. Husserl erweitert somit

sein Konzept der Intentionalität, indem das Bewusstsein sich nicht mehr nur pas-

______________

117 Vgl. Theunissen 21977, 64; Meyer-Drawe 32001, 91 ff.

Analyse · 111

siv auf Gegenstände richtet und diese konstituiert, sondern in aktiven Verwei-

sungszusammenhängen eingebunden erscheint und so handelnd mit der objektiven

Welt korreliert. Letztlich wird die radikale Verinnerlichungstendenz des Egos

aufgehoben und die Empfindungsfähigkeit des Leibes als Teilbereich immer neuer

Wahrnehmungssynthesen hervorgehoben. Gleichsam verlässt Husserl den syste-

matischen Anspruch einer epoché, so dass die Ideen II durchaus als Erweiterung

und grundlegende Öffnung des methodisch-strengen Anspruchs der Phänomeno-

logie verstanden werden können und zu seinem Spätwerk gehören.

Für das Verständnis dieses schwer zugänglichen Werks ist ein kurzer Verweis auf

die biografischen Umstände hilfreich. Die ‚Ideen I’ erschienen 1913 im ‚Jahrbuch

für Philosophie und phänomenologische Forschung’. 1916 nahm Husserl seine

Arbeit erneut auf, um fehlende Sachverhalte zu ergänzen und den systematischen

Anspruch der Phänomenologie aufrecht zu erhalten. Allerdings wurde die weitere

Arbeit an diesem unvollendet gebliebenen Werk immer wieder durch Schreibblo-

ckaden und private Schicksalsschläge gestört.118 Es scheint, als ob das ständige

Bemühen zur systematischen Erfassung der Phänomenologie und zur Etablierung

einer strenger Wissenschaft relativiert wird. Das Werk ließe sich durchaus als

Versuch einer existenziellen Auslegung der Phänomenologie verstehen.119 Ob-

wohl die so genannten ‚Ideen II’ nur in Manuskriptform erhalten sind und post-

hum veröffentlicht wurden, übten sie eine immense Wirkung auf andere Denker

aus. Die Adaption dieser Schrift reicht von einem kleinen Kreis von Schülern und

Kollegen, denen Husserl noch zu Lebzeiten das Manuskript zugänglich gemacht

hat, bis hin zu Merleau-Ponty, der die in den ‚Ideen II’ enthaltenen Auffassungen

zum Leib konsequent weiterentwickelt hat.

1.2.1 Orientierungsvermögen

Während die Intentionalität in den ‚Cartesianischen Meditationen’ mit dem Mo-

ment des Betrachtens und Beobachtens verbunden ist, hebt sie in den ‚Ideen II’

das eigenständige Orientierungsvermögen des Subjekts hervor. Der aktiv handeln-

de Leib gehört konstitutiv mit zum Betrachter, der hierdurch die Fähigkeit besitzt,

______________

118 Husserls Sohn Wolfgang fiel im ersten Weltkrieg. Ferner sah sich Husserl ab 1930 verstärkt antisemitischen Verleumdungen ausgesetzt.

119 Husserl sah sein Konzept als strenge Wissenschaft in ‚existenzielle Strömungen’ entgleiten. Das gilt v. a. für Martin Heideggers ‚Sein und Zeit’, in dem Phänomenologie als Existenzial-ontologie zur Klärung des ‚Sinn von Seins’ wird. Vgl. Heidegger 171993

112 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Perspektiven über Bewegungen frei zu wählen und je nach Belieben auch zu ver-

ändern. Der vielfach in der Phänomenologie verwendete Begriff des ‚Horizonts’

erhält hier seine ursprüngliche Bedeutung. Zur Wahrnehmung eines Gegenstands

gehören neben einer aktuell sichtbaren Perspektive auch solche, die bereits voll-

zogen sind und weiterhin gegenwärtig bleiben. Die Horizonthaftigkeit der Wahr-

nehmung verweist darauf, dass die optischen Eindrücke des Betrachters durch

Tast- und Greifbewegungen ergänzt oder überprüft werden können. Unterschiedli-

che Beobachtungen in einer Umgebung von verschiedenen Sinnhorizonten werden

alle erst über den Leib realisiert. Die vollständige Bedeutung der Lebenswelt zeigt

sich in dieser Form der Intentionalität, die nicht mehr passiv vom Bewusstsein

aufgefasst, sondern aktiv vollzogen wird. Grundlegend für den Vollzug von

Wahrnehmungen ist nicht nur die intellektuelle Konstitution eines Bewusstseins-

aktes, sondern die konkrete Empfindung, die der Leib dabei macht. Die Sinnes-

eindrücke resultieren aus Gesten der Arme, des Kopfes und der Positionierung der

Ohren oder Augen. Im Verlauf von Wahrnehmungsketten besitzt der Leib das

Potenzial, zielgerichtet Sinneseindrücke zu ergänzen, um sich eine Vorstellung

von seiner jeweiligen Situiertheit zu bilden. Er wird zur Bedingung der Möglich-

keit von Wahrnehmung überhaupt und ist kein funktionierendes Ding innerhalb

einer festgelegten Raumstruktur. Die sinnlichen Erfahrungen von Objekten, ob sie

getastet, gesehen oder gehört werden, verweisen darauf, „dass der Leib als Wahr-

nehmungsorgan des erfahrenden Subjektes ‚mit dabei ist’” (Id II 144).

Das Subjekt, das sich als Gegenglied der materiellen Natur konstituiert, ist

[…] ein Ich, dem als Lokalisationsfeld seiner Empfindungen ein Leib zuge-

hört; es hat das „Vermögen” („ich kann”) diesen Leib, bzw. die Organe,

in die er sich gliedert, frei zu bewegen, und mittels ihrer eine Außenwelt

wahrzunehmen (Id II 152).

Husserl thematisiert ferner, dass materielle Dinge „nur mechanisch beweglich und

nur mittelbar spontan beweglich” (Id II 152) sind. Dazu gehört auch der Körper

als physisches Objekt. Dagegen sind Menschen in ihrem Leib „unmittelbar spon-

tan frei beweglich, und zwar durch das zu ihnen gehörende freie Ich und seinen

Willen” (Id II 152). Hierdurch wird der Leib zum „Willensorgan” (Id II 151). Das

‚Orientierungsvermögen’ des Leibes ermöglicht dem Subjekt, die Welt durch

bestimmte Intentionen, wie z. B. ‚neugierig sein’, ‚abwesend sein’, ‚interessiert

sein’, ‚gelangweilt sein’, ‚traurig sein’ oder ‚müde sein’, zu erkunden. Diese Teil-

habe am weltlichen Geschehen und das Vermögen, die Dinge nicht nur zu klassi-

fizieren, sondern unter einem bestimmten Horizont allererst zu entdecken und zu

empfinden, macht die Eigentümlichkeit des Leibes innerhalb der Wahrnehmung

Analyse · 113

aus. Diese aktiv vollzogenen Bewegungen sind selber zielgerichtet und durch ein

bestimmtes Erkenntnisinteresse motiviert. Es bekundet sich ein Bewusstsein von

unserem Körper als Wahrnehmungs- und Empfindungsorgan, das von uns willent-

lich bewegt wird. Husserl bezeichnet dieses Vermögen als ‚Leibbewusstsein’. Der

Begriff verdeutlicht, dass Sinn nicht nur verbal über die Sprache oder das verstan-

desmäßige Nachvollziehen von Daten gegeben ist, sondern zu einem großen Teil

davon abhängt, in welcher Art und Weise sich Subjekte leiblich ausdrücken und

welche Wahrnehmungserlebnisse sie dabei besitzen.

1.2.2 Leibesempfindung/Doppelempfindung

Für Sinneseindrücke gilt grundsätzlich, dass sie auf eine doppelte Weise wahrge-

nommen werden. Wenn z. B. ein Gegenstand berührt wird, so ist der Leib einer-

seits ein Objekt, ein funktionales Mittel, um dingliche Eigenschaften wie Härte,

Wärme oder Glätte zu empfinden. Es ist aber auch möglich, sich andererseits auf

die wahrgenommenen Tastempfindungen zu konzentrieren, die durch Bewegun-

gen auf den Gegenstand hin erfahren werden. Beide Wahrnehmungsmodi gehören

mit zur spezifischen Charakteristik des Leibbegriffs in den Ideen II. Husserl ver-

anschaulicht diese doppelten Wahrnehmungsmöglichkeiten an den Empfindungen

einer auf dem Tisch liegenden Hand.

Die Hand liegt auf dem Tisch. Ich erfahre den Tisch als ein Festes, Kaltes,

Glattes. Sie über den Tisch bewegend erfahre ich von ihm und seinen ding-

lichen Bestimmungen. Zugleich aber kann ich jederzeit auf die Hand ach-

ten und finde auf ihr vor Tastempfindungen, Glätte- und Kälteempfindun-

gen usw., im Innern der Hand, der erfahrenen Bewegung parallel laufend,

Bewegungsempfindungen usw. Ein Ding hebend erfahre ich seine Schwere,

aber ich habe zugleich Schwereempfindungen, die ihre Lokalisation im

Leibe haben (Id II 146).

Jedem Organ korrespondieren bestimmte Sinnfelder mit individuellen Leibesemp-

findungen, wodurch sich die visuellen, taktuellen oder akustischen Sinnfelder

durch Bewegungen verändern.120 Der Leib ist wahrnehmend sowohl auf die äußer-

lichen Eigenschaften eines Objekts als auch auf die dabei zugehörigen Empfin-

dungen gerichtet und konstituiert sich so auf doppelte Weise:

______________

120 Hier finden sich deutliche Bezüge zu den Termini ‚Leibesinseln’ und ‚eigenleibliches Spüren’ von Hermann Schmitz. Vgl. Schmitz 1965 sowie die Kapitel I.2.2.1 und V.2.1.2

114 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Einerseits ist er physisches Ding, Materie, er hat seine Extension, in die

seine realen Eigenschaften, die Farbigkeit, Glätte, Härte, Wärme und was

dergleichen materielle Eigenschaften mehr sind, eingehen; andererseits

finde ich auf ihm und empfinde ich „auf” ihm und „in” ihm: die Wärme

auf den Handrücken, die Kälte in den Füßen, die Berührungsempfindungen

an den Fingerspitzen (Id II 145).

Diese Leibesempfindungen sind bei jeder körperlichen Erfahrung ‚mit dabei’,

werden aber oft nicht bewusst wahrgenommen, weil das Bewusstsein eher intenti-

onal auf die materiellen Eigenschaften der Dinge gerichtet ist.121

Als eine besondere Form der Doppelwahrnehmung fungiert das Ertasten des eige-

nen Leibes. Während z. B. die linke Hand von der rechten abgetastet wird, emp-

findet das Subjekt in beiden Händen Empfindungen. Nach Husserl ist es möglich,

vom physischen Körperding ‚linke Hand’ die dazugehörigen Empfindungen zu

abstrahieren und sich rein auf die Wahrnehmungserlebnisse der rechten Hand zu

konzentrieren. Die ertastete Hand wird nach ihren Eigenschaften und Merkmalen

hin erkundet. Achtet man aber auf die Wahrnehmungen in der ertasteten Hand, so

„bereichert sich nicht das physische Ding, sondern es wird Leib, es empfindet” (Id

II 145). Sowohl das objektive Erforschen materieller Eigenschaften als auch das

individuelle Erspüren der jeweiligen Empfindungen sind zwei eigenständige Wei-

sen der Leibwahrnehmung. Es ist dem Subjekt möglich, sich unterschiedlich auf

die Dinge und die Möglichkeiten ihrer Sinnesinformation zu richten. Obwohl

beide Formen zusammengehören und sich gegenseitig bedingen, ist hier weder

von einem dualistischen Modell im Sinne von ‚Leib-Sein’ und ‚Körper-Haben’

noch von einer Verschmelzung zweier Wahrnehmungsweisen zu einer leiblichen

Ganzheit auszugehen. Die Doppelempfindung verdeutlicht vielmehr, dass eine

Einheit des Leibes nur in einer Berücksichtigung der Eigenständigkeit beider

Wahrnehmungsmodi von ‚Betasten’ und ‚Betastet-Werden’ möglich erscheint.

Durch das Ineinandergreifen von innerer und äußerer Wahrnehmung besitzt das

Subjekt ferner das Vermögen, Empfindungen auszudrücken. Stimmungen und

Gefühle können demnach über den Leib sichtbar vermittelt und anderen Subjekten

überhaupt erst zugänglich gemacht werden. So entsteht ein ständiger intersubjek-

______________

121 In der Form des Schmerzes lässt sich die Doppelempfindung des Leibes veranschaulichen, da ein Körperteil hinsichtlich seiner Funktion eingeschränkt ist und bewusster wahrgenommen wird.

Analyse · 115

tiver Vollzug dort, wo Menschen miteinander umgehen und sich darstellen. Ein

sich bewegender Mensch ist mehr als nur ein Körperding, das auf mechanische

Gesetzmäßigkeiten reagiert, weil seine Gestik und Mimik auf Stimmungen ver-

weisen, die von Anderen verstanden werden können. Die Doppelempfindung

besitzt folglich zwei Funktionen. Einerseits ist es dem Subjekt möglich, sich durch

den Leib in der Welt zu objektivieren, um sich den Dingen und Erscheinungen

tastend, sehend, schmeckend oder hörend zuzuwenden und sie zu entdecken. An-

dererseits kann sich das Individuum über den Leib darstellen und ausdrücken, weil

dieser Träger von Empfindungen ist, die subjektiv erfahren und durch Gesten

dargestellt werden können.

1.2.3 Zur Priorität des Tastsinns in der Doppelempfindung

Husserl betont im Phänomen der Doppelwahrnehmung die Priorität der taktuellen

gegenüber der visuellen oder akustischen Wahrnehmung, da der Tastsinn (hapti-

scher Sinn) eine Verflechtung von äußerem Objekt und gleichzeitiger innerer

Wahrnehmung gewährleistet. Zwar besteht die Möglichkeit, Blicke und Geräusche

innerlich zu empfinden, aber ein physischer Bezug bleibt aus. Dort, wo sich Be-

rührungen am Körper lokalisieren lassen und als Leibesempfindungen eine inner-

liche Entsprechung finden, besitzt das Auge oder das Gehör selbst nicht diese

doppelten Wahrnehmungsmöglichkeiten. Es ist nicht möglich, bestimmte Farben

oder Töne am Körper zu lokalisieren, wie es der Tastsinn vermag. Die Verflech-

tung eines äußerlich sichtbaren physischen Objektes und der darin enthaltenen

Empfindungen ist nur im Bereich des leiblichen Tastens und Betastet-Werdens

gegeben. Im Tastsinn kommt dem Subjekt die Fähigkeit zu, sich expressiv darzu-

stellen, individuelle Stimmungen über den Körper auszudrücken oder intersubjek-

tiv zu erleben. Streng genommen können somit akustische oder visuelle Reize

nicht zu den Leibesempfindungen gerechnet werden, weil sie nicht objektivierbar

sind.

Durch die Priorität der taktuellen Wahrnehmung entsteht daher eine Abwertung

der Relevanz der anderen Sinne. Husserl disqualifiziert nacheinander zuerst den

visuellen und dann den akustischen Sinn:

116 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Ich sehe mich selbst, meinen Leib, nicht, wie ich mich selbst taste. Das, was

ich gesehenen Leib nenne, ist nicht gesehenes Sehendes, wie mein Leib als

getasteter Leib getastetes Tastendes ist. […] Ebenso verhält es sich mit

dem Hören. Das Ohr ist „mit dabei”, aber der empfundene Ton ist nicht im

Ohr lokalisiert. […]. Sie [die Töne, L.O.] liegen im Ohr wie Geigentöne

draußen im Raume liegen, sie haben aber darum noch nicht den eigentüm-

lichen Charakter von Empfindnissen und die diesen eigentümliche Lokali-

sation (Id II 148 ff.).

Das Auge oder das Ohr sind berührbar und geben dem Subjekt Wahrnehmungen

von der objektiven Welt. Sie bleiben dabei reine Tastobjekte, denen kein Lokalisa-

tionsfeld auf dem Körper entspricht. Im Sehen oder Hören ist das Subjekt einzig

auf Empfindungen angewiesen, die nicht äußerlich verkörpert werden können. In

diesen Wahrnehmungsformen bleibt das Individuum auf eine Innerlichkeit fokus-

siert, die keine objektivierbare Entsprechung hat. Die physische Präsenz und

gleichzeitige Spürbarkeit des Leibes im Tastsinn bleibt für Husserl wichtigstes

Kriterium zur Darstellung der Doppelempfindung.

Es ließe sich überlegen, ob in akustischen und optischen Sinneseindrücken nicht

ebenso Formen der Doppelwahrnehmung vorhanden sind. Schließlich ermöglicht

der Leib allererst ihre Vorhandenheit. Gerade die Kunst zeigt, dass Bilder oder

Töne durch den Leib produziert werden müssen, um wahrgenommen zu werden

Es bleibt hier der Verdienst von Merleau-Ponty, die Doppelempfindung für viel-

fältige Bereiche menschlicher Vollzugsformen ausgeweitet zu haben.

Analyse · 117

2 Merleau-Pontys Grundlegung einer Phänomenologie des Leibes

Maurice Merleau-Ponty zählt als einer der Hauptvertreter der französischen Phä-

nomenologie zu den produktivsten Denkern im Ausgang der Tradition Edmund

Husserls. Seine Forschungen beinhalten sowohl erkenntniskritische Vorgehens-

weisen als auch Anlehnungen an Wissenschaften wie Physiologie, Pathologie,

Gestalttheorie, Entwicklungspsychologie und Verhaltenspsychologie. Dennoch

bleibt der deskriptive Grundzug der Phänomenologie weiterhin erhalten. Der Be-

zug zu den positiven Wissenschaften dient oftmals dazu, einseitige Erklärungsmo-

delle nachzuweisen.122 Der Anspruch Husserls, sich abseits der empirischen Wis-

senschaften zu orientieren, wird bei Merleau-Ponty somit relativiert.

Merleau-Pontys Denken zeichnet sich weniger durch die strenge Systematik der

Philosophie Husserls aus als vielmehr durch ein „behutsames Umkreisen und

Abtasten der Phänomene in ihrer Vieldeutigkeit“ (Waldenfels 21998, 146). Zeit

seines Lebens setzte er sich immer wieder intensiv mit Husserl auseinander, sah

unveröffentlichtes Material ein und beruft sich deutlich auf dessen deskriptive

Methode.123 Dabei steht er offensichtlich in der Denktradition Husserls, wenn er

behauptet, dass die Hauptaufgabe der Phänomenologie darin besteht, „zu be-

schreiben, nicht zu analysieren“, und dass sie selbst „noch nicht zu abgeschlosse-

nem Bewusstsein“ gelangt ist (PhW 4). Gleichzeitig nimmt er dessen Ergebnisse

zum Anlass, um sie für eigene Untersuchungszwecke auszuweiten.124

Merleau-Ponty hat sich v. a. die Untersuchungen zum menschlichen Leib und die

damit zusammenhängende Doppelempfindung für eine eigenständige Theoriebil-

dung zu Nutzen gemacht. In seiner 1945 entstandenen Schrift ‚Phänomenologie

der Wahrnehmung’ kennzeichnet er den ‚Leib’ als Medium der Welterfahrung und

Grundphänomen des menschlichen Seins schlechthin. Zur Beschreibung des Un-

terschieds zwischen Körper und Leib im Sinne der dinglichen oder existenziellen

______________

122 Vgl. Good 1998, 33-50 123 Merleau-Ponty verwendete für die Ausarbeitung der ‚Phänomenologie der Wahrnehmung’

verschiedene unveröffentlichte Manuskripte von Husserl, die er im Husserl-Archiv in Löwen einsah, darunter auch die ‚Ideen II’. Vgl. PhW 523

124 So behauptet z. B. Good, dass Merleau-Pontys „Abhängigkeit von Husserl und seine Ausein-andersetzung mit ihm eine eigene Untersuchung wert” wären (Good 1998, 15).

118 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Seite verwendet Merleau-Ponty die Begriffe ‚corps physical’ oder ‚corps objectif’

bzw. ‚corps vivant’, ‚corps propre’ oder ‚corps phénoménal’.125

Nie ist es unser objektiver Körper, den wir bewegen, sondern stets unser

phänomenaler Leib […] (PhW 131).

Ein Diskurs über die Philosophie Merleau-Pontys legt nahe, sich auch mit der

Philosophie Sartres zu beschäftigen, in dessen Theorie der Körper- bzw. Leibbe-

griff eine eigenständige Stellung innehat.126 Auf Sartres Wahrnehmungsphiloso-

phie wird innerhalb der vorliegenden Analyse jedoch nicht näher eingegangen,

weil er die Doppelempfindung Husserls, das „Sowohl-als-Auch von berührender

und berührter Hand im Leib“ (Bermes 1998, 68), in einen Dualismus von entwe-

der ‚Leib für mich’ oder ‚Leib für andere’ auflöst. Die Doppelempfindung ist für

Sartre „nicht wesentlich“, sondern eine bloße „Kuriosität” (Sartre 1993, 629). In

der vorliegenden Analyse zeigt sich allerdings, dass gerade dieses Phänomen eine

der verbindenden Schnittstellen der Lehren von Husserl und Merleau-Ponty bildet.

Die Phänomenologie erhält hierdurch einen praktischen Sinn, da sie Möglichkei-

ten bietet, die Vollzugsformen individuellen Handelns stärker zu betonen.127

2.1 Zwischen Empirismus und Intellektualismus, Bewusstsein und Sein

Eine Grundvoraussetzung für das Verständnis der Phänomenologie Merleau-

Pontys ist die Einschränkung der Erkenntnisgewissheit des ‚Ego Cogito’, das im

Husserlschen Denksystem den Ausgangspunkt seines strengen Wissenschaftssys-

tems bildet. Das Hauptziel einer reinen Bewusstseinsphilosophie wird zu Gunsten

einer Phänomenologie der Erfahrung aufgegeben. Dadurch braucht die konkrete ______________

125 Der ‚Leib’ besitzt in der Phänomenologie Merleau-Pontys eine eigenständige Bedeutung und ist keinesfalls mit der etymologischen Definition gleichzusetzen. Erschwert wird eine termi-nologische Fundierung durch die deutsche Übersetzung von R. Boehm, die zwar zusammen mit Merleau-Ponty einige Wochen vor dessen Tod begonnen wurde, aber nicht immer ein-deutig zwischen ‚objektivem Körper’ und ‚ phänomenalem Leib’ unterscheidet. An einigen Stellen kommt es dabei zu Missverständnissen, wie z. B. im Kapitel ‚Die Anderen und die menschliche Welt’ (PhW 400 ff). Im Zuge seiner späteren Selbstkritik distanziert sich Mer-leau-Ponty von seiner Leibdefinition und ersetzt den ‚corps vivant’ durch ‚chair’ (Fleisch), um in radikaler Weise die Distanz zu einer Bewusstseinsphilosophie anzuzeigen. ‚Chair’ wird das ontologische Prinzip von Welt und Zur-Welt-Sein. Vgl. Merleau-Ponty 1964, 302 ff.

126 Vgl. Sartre 1994; Merleau-Ponty 1947; Sartre und Merleau-Ponty waren befreundet und 1945 gemeinsam an der redaktionellen Verantwortung der Zeitschrift ‚Les Temps Modernes’ betei-ligt bis es aufgrund von politischen Differenzen zu einem Zerwürfnis kam, weil sich Merleau-Ponty immer mehr vom Marxismus distanzierte.

127 Vgl. Taylor 1986

Analyse · 119

Lebenswelt nicht durch eine transzendentale Reduktion hinsichtlich ihrer Geltung

‚eingeklammert’ zu werden. Um die Priorität der Wahrnehmung und der Sinnes-

eindrücke hervorzuheben, modifiziert Merleau-Ponty einige phänomenologische

Grundfunktionen, welche sich an der erkenntniskritischen Dominanz des Be-

wusstseins orientieren.128

- Phänomenologische Beschreibung bedeutet, direkt bei der Faktizität,

also mitten im weltlichen Geschehen, im Lebensvollzug des Subjektes

anzusetzen. Eine reflexive Analyse kommt zu spät und verstellt eine Er-

fassung weltlicher Phänomene. Beschreibung beinhaltet ferner die

Hinzunahme und Bewertung weiterer deskriptiver Disziplinen, v. a. der

Psychologie.

- Reduktion bedeutet eine Infragestellung der vertrauten Welt. „Die

wichtigste Lehre dieser Reduktion ist so die Unmöglichkeit der voll-

ständigen Reduktion” (PhW 11). Hierbei bleibt die „Faktizität der

Welt” (PhW 14), in der das Subjekt handelt, weiterhin erhalten. Ein

idealistischer Standpunkt im Sinne Husserls wird somit im positiven

Sinne aufgehoben und eine existenzielle Position eingenommen: „Die

Welt ist das, was wir wahrnehmen” (PhW 13).

- Die Intentionalität ist eine Intentionalität des Leibes, d.i. ein aktives

‚Zur-Welt-Sein’ des Leibes samt seinen Wahrnehmungserlebnissen. In-

tentionalität vollzieht sich direkt und unmittelbar in der Zuwendung

auf Innerweltliches. Merleau-Ponty bezeichnet sie auch als „fungie-

rende Intentionalität, in der die natürliche, vorprädikative Einheit der

Welt und unseres Erlebens gründet” (PhW 15).

- ‚Sinn’ liegt in der Erfahrung selbst begründet. Philosophie bedeutet,

die Welt neu sehen zu lernen, in ihr einen Sinn zu entziffern und stau-

nend die Welt ‚in statu nascendi’, d.i. in ihren offenen Verweisungszu-

sammenhängen und vielfältigen Erfahrungsmöglichkeiten zu verstehen.

______________

128 Ich beziehe mich hier auf die summarische Darstellung wesentlicher Merkmale der Phäno-menologie Merleau-Pontys durch Waldenfels. Vgl. Waldenfels 21998, 164 ff.

120 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

- Intersubjektivität versteht sich als ‚Koexistenz’, wodurch eine Gemein-

schaft von Individuen durch ihr leibliches Erscheinen in der Welt ge-

geben ist und keinen Umweg über die Konstitution eines ‚alter Ego‘

braucht. Die Existenz Anderer ist durch die Faktizität der Lebenswelt

immer schon gewiss.

Für Merleau-Ponty ist Phänomenologie im Sinne des Lebensweltbegriffs des spä-

ten Husserls eine „Absage an die Wissenschaft” (PhW 4). Er distanziert sich so-

wohl von der rational erklärenden als auch von der objektiv beobachtenden Me-

thode und betont die Beschreibung ursprünglicher Welterfahrungen, d. h. primär

das Erfahren von leiblichen Wahrnehmungen und Handlungsvollzügen. Bis zu

seinen letzten Werken richtet sich seine Kritik gegen den naiven Seinsglauben und

gegen die positivistische Akzeptanz von Wissenschaft. Er sucht dagegen die „pri-

märe Begegnung“ (Good 1998, 23) mit der erscheinenden Welt und wendet sich

gegen die Reflexion auf einen ‚inneren Menschen’.129 „Die Welt ist da, vor aller

Analyse” und „Die Wirklichkeit ist zu beschreiben, nicht zu konstruieren oder zu

konstituieren” (PhW 6) lauten grundlegende Maxime der Phänomenologie Mer-

leau-Pontys. Sie verweisen darauf, dass eine dualistische Trennung von verinner-

lichtem Denken und äußerem Wahrnehmen zur Erfassung des menschlichen Ver-

haltens unvereinbar ist.

Merleau-Ponty bewegt sich in einem Zwischenbereich von Objektivität und Sub-

jektivität, da seine Methode sowohl unvoreingenommen bei der Beschreibung

weltlicher Erscheinungen ansetzt als auch der individuellen Wahrnehmung unter-

schiedliche Erkenntnismöglichkeiten zuschreiben will. In Bezugnahme auf die in

der Wahl der Methode begründete Vorurteilshaftigkeit, die aus konträren Kör-

per/Leibauffassungen resultiert, wird gerade in der Philosophie Merleau-Pontys

deutlich, dass sie mit „dem alten metaphysischen Dualismus von Actio und Passio

gebrochen hat“ (Good 1998, 88) und zu einer grundlegenden Kritik an empiri-

schen und intellektualistischen Denkschemata führt. In einer empirischen Einstel-

lung wird Wahrnehmung als Empfindung verstanden. Diese einfache Form des

bloßen Gefühls ist zu wenig, um Sinn ausfindig zu machen, da eine Wahrnehmung

______________

129 Der Ausdruck vom ‚inneren Menschen’ erinnert an ein Zitat von Augustinus, mit dem Hus-serl seine ‚Cartesianischen Meditationen‘ beendet: „Noli foras ire, sagt Augustinus, in te redi, in interiore hominis habitat veritas” (CM, 161).

Analyse · 121

im Kontext weiterer Eindrücke steht, die eine selbständige höhere Einheit bilden.

Eine Melodie erschließt sich z. B. nicht nur durch die Aneinanderreihung von

Tönen, sondern entfaltet erst auf einer Metaebene ihre vollständige Gestalt. Das-

selbe lässt sich auch von der Bewegung behaupten, die nicht auf einzelne motori-

sche Bausteine beschränkt ist, sondern immer in einem größeren Formzusammen-

hang eingebunden erscheint.130 Die Kritik an einer intellektualistischen Wahrneh-

mungsweise richtet sich gegen den einseitigen Rückgang auf rationale Synthesen

im inneren Bewusstsein, die keinen Bezug mehr zur Realität besitzen. Der Intel-

lekt versucht durch Wahrnehmungsbündelungen ein Repertoire endgültiger Wahr-

heiten zu konstatieren, die vollständig kategorisierbar sind. Die alltägliche Le-

benswelt ist aber vor aller Analyse immer schon ‚vorhanden’ und kann nicht durch

Vorstellungen, die durch Verallgemeinerungen von Wahrnehmungen im Subjekt

eine Art absoluten Geist zu erkennen glauben, abgewertet werden. Das ‚Ego’

besitzt die Freiheit zu handeln und ist „verurteilt zum Sinn“ (PhW 16). Die Wahr-

nehmung unterliegt nicht intellektualistischen Synthesen, sondern bleibt eine stän-

dig neue, erfahrungsbildende Vollzugsleistung.

Die Einleitung zur ‚Phänomenologie der Wahrnehmung‘ kritisiert beide einseiti-

gen Standpunkte des Empirismus bzw. Intellektualismus und „gipfelt in der An-

nahme eines gemeinsamen Weltvorurteils, nämlich der Annahme einer Welt, die

fertig vorliegt, sei es in Form von äußeren und inneren Tatsachen, sei es in der

Form von Ideen“ (Waldenfels 21998, 161). Beide Sichtweisen vergessen den ur-

sprünglich konstitutiven Status der Wahrnehmung, die immer mit offenen Hori-

zonten durchsetzt bleibt. Sinn und Bedeutung entstehen im Prozess ständig neuer

und spontaner Wahrnehmungsakte. Die Welt wird nicht reflexiv konstituiert und

ist nicht Auslegung eines vorhandenen Seins, sondern „der Kunst gleich, Realisie-

rung von Wahrheit” (PhW 17). Merleau-Ponty liegt daran, diese einseitige Beto-

nung eines Subjektivismus oder Objektivismus zu überwinden. Aufgabe der Phä-

nomenologie ist es, sich zwischen Natur und Denken, Individualität und Objekti-

vität zu behaupten, „um das Geheimnis der Welt und das Geheimnis der Vernunft

zu enthüllen” (PhW 18).

2.2 ‚Zur Welt Sein’

Die vermittelnde Position zwischen einer rein physisch-objektiven und einer psy-

chologisch-subjektiven Auffassung der Wahrnehmung ermöglicht dem Menschen ______________

130 Die Gestaltpsychologie spricht in diesem Zusammenhang von ‚Übersummativität’ und ‚Transponierbarkeit’ von Gestalt. Vgl. z. B. Fitzek/Salber 1996, 18 ff.

122 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

eine besondere, eigenständige Existenzweise: „Der Mensch ist zur Welt, er kennt

sich allein in der Welt” (PhW 7). Der Übersetzer der ‚Phänomenologie der Wahr-

nehmung’ R. Boehm verdeutlicht, dass das französische ‚être au monde’ eine

‚Hingebung’ des Subjekts an die Welt bedeutet, die sich aus dem Dativ ‚au’ bzw.

der deutschen Präposition ‚zu’ ergibt. Der Mensch wendet sich der Welt zu. Der

Ausdruck ‚est au monde’ kann bei Merleau-Ponty in der Regel mit ‚ist zur Welt’

übersetzt werden, wenngleich er ohne Zweifel dem ‚In-der-Welt-sein’ Heideggers

entlehnt ist.131 Die Welt ist dem Menschen stets zugänglich, weil er sich ihr zu-

wenden kann. Diese Zuwendung wird dem Menschen über seinen Leib ermög-

licht, der die grundlegende Bedingung bereitstellt, Wahrnehmungen zu erhalten

und sich die Welt anzueignen. Er „bewohnt” die Welt und ist ihr „zugeeignet”

(PhW 7). Im Begriff der Zueignung lassen sich beide integrativen Momente des

‚Zur Welt Seins’ veranschaulichen. Einerseits ist ein ‚Auftritt’ in der Welt ein

objektivierbarer und darstellbarer Vorgang, wenn Handlungen vollzogen werden.

Der Mensch geht auf etwas zu und macht sich etwas zu eigen. Andererseits zeigt

sich im Begriff Zueignung durch den Wortbestandteil ‚zu’ eine subjektive, verin-

nerlichende Tendenz, die auf die Individualität hinsichtlich des eigenen Erlebens

verweist. Die Wahrnehmungserlebnisse sind nur der eigenen Subjektivität zugäng-

lich und anderen Menschen verschlossen. Der Leib ermöglicht somit im ‚Zur

Welt-Sein’ die Auflösung einer dualistischen Interpretationsweise des Menschen

und hebt dagegen die aktiven Vollzugsformen lebensweltlichen Handelns und

Wahrnehmens hervor.

Indem Merleau-Ponty die Vollzugsweise des menschlichen Existierens als

Zur-Welt bezeichnet, vermeidet er die Bevorzugung einer bestimmten Mo-

dalität (Meyer-Drawe 32001, 137).

Das Zur-Welt-Sein des Leibes verbindet Natur und Geist miteinander und setzt

sich über einseitige rationalistische oder intellektualistische Interpretationen hin-

weg. Entgegen einer Trennung von zwei sich ausschließenden Konkurrenzen wird

die Phänomenologie um eine dritte Dimension erweitert, „aus der sich traditionel-

le Dichotomien wie Subjekt/Objekt, Geist/Natur, Bewusstsein/Körper, Vergan-

genheit/Zukunft, Individualität/Sozialität allererst durch den Bruch mit der Leben-

digkeit ihres Vollzugs ergeben“ (Meyer-Drawe 32001, 137). Diese dritte Dimensi-

on, die zwischen Subjekt und Objekt im Zur-Welt-Sein des Menschen verankert

ist, ermöglicht eine lebendige Dialektik von Wahrnehmen und Denken. Der Leib ______________

131 Vgl. PhW 7, Heidegger 1993, 17 ff.

Analyse · 123

ist durch das Verstehen von einer Negativität und Differenz gekennzeichnet, weil

durch die vielfältigen Handlungsvollzüge die Kontingenz von Sinn bewusst wird.

Das Zur-Welt-Sein „ist erlebt als „offene Situation“ (PhW 102).

‚Handeln und Verstehen’ entstehen in einem gleich ursprünglichen Umfeld. Jede

rationale Analyse kommt zu spät, um die Struktur der Lebenswelt zu erfassen, in

der sich der Mensch aktiv gestaltend immer schon orientiert. „Die Welt ist kein

Gegenstand, dessen Konstitutionsgesetz sich im voraus in meinem Besitz befän-

de” (PhW 7). Das Subjekt verhält sich mittels seines Leibes immer schon zu einer

vorhandenen und zuhandenen Umwelt.

Merleau-Ponty ruft zu „wachem Erleben” (PhW 10) auf und bezieht sich hierbei

auf die epoché von Husserl. Die Reduktion zeigt sich bei Merleau-Ponty aller-

dings nicht als ‚Einklammerung’ oder ‚Verschließung’, sondern als Öffnung. Sie

ermöglicht das „Erstaunen angesichts einer Welt” (PhW 10), die für eine Vielfalt

unterschiedlicher Wahrnehmungsmodi offen ist und immer neue Horizonte bereit-

stellt. Auch die Intentionalität wird durch das Zur-Welt-Sein des Leibes nicht

mehr wie im Sinne Husserls eine Ausrichtung des Bewusstseins auf den Gegen-

stand, sondern verkörpert sich in der Öffnung des gesamten menschlichen Sinnen-

spektrums wie Sehen, Hören, Bewegen oder Sprechen. Merleau-Ponty konkreti-

siert eine ‚Intentionalität des Leibes’ und erweitert das Bewusstsein von einem

‚Ich denke’ hin zu einem „Ich kann” (PhW 166). Situationen sind offene Spiel-

räume, die bestimmte Verhaltensweisen und Vermögen voraussetzen „wie etwa

die ersten Töne einer Melodie einen gewissen Schluss verlangen, ohne dass damit

dieser schon bekannt wäre” (PhW 103).

Der Leib kennzeichnet sich daher nicht mehr wie bei Husserl durch den Rückgang

auf ein absolutes Bewusstsein oder die Priorität der Tasterfahrung in der Doppel-

empfindung, sondern entwickelt sich zu einem mit allen Sinnen lebendig wahr-

nehmenden und handelnden Subjekt. Er ist „das Vehikel des Zur-Welt-Seins”

(PhW 106) und bestimmt sich durch ein individuell formgebendes Verhalten, das

sich der ganzen Umwelt mit ihrem Potenzial von taktuellen, visuellen und akusti-

schen Sinnerfahrungen zueignet. Er wird zum Darstellungsvermögen des Subjekts

und sichtbaren Ausdruck eines wahrnehmenden Ichs.

2.3 Ambiguität

Die ‚Phänomenologie der Wahrnehmung’ etabliert den Leib als ein ständig im

offenen Vollzug stehendes Wesen, das zugleich Erfahrungen sinnlich wahrnimmt

und diese subjektiv empfindet. Hierdurch wird eine ‚Zweideutigkeit’ erkennbar,

124 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

die den Leib einerseits als einen Teilbereich der objektiven erscheinenden Welt

und andererseits auch als Träger subjektiver Empfindungen kennzeichnet. Mer-

leau-Ponty nennt diese Zweideutigkeit ‚Ambiguität’ (ambiguité). Ähnlich wie das

Wort ‚Ambivalenz’ verweist dieser Begriff auf zwei jeweils unabhängige Wahr-

nehmungsmöglichkeiten, die sich im Unterschied zu einer Zweiteilung oder einem

Dualismus aber auch überlagern, ergänzen oder durchkreuzen können.132 Durch

diese Zweideutigkeit des Leibes kann „nicht mehr zwischen Innen und Außen,

Zeichen und Bedeutung unterschieden werden“ (Bermes 1998, 79).

Die ‚Ambiguität’ lässt sich besonders anschaulich an der Motorik beschreiben. Sie

verdeutlicht, dass sich das Subjekt auf den Raum hin entwirft. Der Leib ist nicht

nur als Vorhandenes im Raum, sondern „er wohnt ihm ein” (PhW 169). Das

‚Wohnen’ verweist auf einen Aspekt der Vertrautheit, des Wissens um die Struk-

tur des Raumes und der Umgebung. Die leibliche Existenz beinhaltet eine „Bewe-

gung des Seins zur Welt” (PhW 102), in welcher ‚Welt haben’ und ‚Welt sein’

synonyme Begriffe bilden. So ist das Greifen nach einem Gegenstand kein blindes

Nehmen, sondern beinhaltet ein Wissen von der Entfernung, der Lage, den sicht-

baren und nicht sichtbaren Perspektiven sowie den physischen Möglichkeiten des

Leibes. Der Gegenstand ist keine abstrakte Vorstellung, sondern ein bestimmtes

Ding, „bei dem wir vorgreifend schon sind” (PhW 167) und das mit dem nötigen

Verhalten, einer Intention und mit einem bestimmten Vorhaben ergriffen und

verstanden wird. Diesen Vorgang bezeichnet Merleau-Ponty auch als ‚Einverlei-

bung’.

Erlernt ist eine Bewegung, wenn der Leib sie verstanden hat, d. h. wenn er

sie seiner ‚Welt’ einverleibt hat, und seinen Leib bewegen heißt immer,

durch ihn hindurch auf Dinge abzielen […]. Die Motorik steht also nicht

solcherart im Dienste des Bewusstseins, als transportiere sie den Leib an

einen Raumpunkt, den wir uns zuvor vorgestellt hätten (PhW 168).

______________

132 Dennoch unterscheiden sich Ambivalenz und Ambiguität. Während ein Sachverhalt in einer ambivalenten Struktur unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden kann, so „deutet die Charakterisierung ‚ambiguos‘ darauf hin, dass eine angeblich identische Sache im Erfah-rungsprozess selbst etwas anderes wird“ (Meyer-Drawe 32001, 18) und sich somit über ihre jeweilige mögliche Andersartigkeit (Kontingenz) auszeichnet. Einzelne Autoren bezeichnen die Phänomenologie Merleau-Pontys als eine „Philosophie der Ambiguität“ (Meyer-Drawe 32001, 17). Merleau-Ponty selbst entlehnt den Begriff von Kierkegaard, um eine vom „mora-lischen Standpunkt aus als defizitär zu beurteilende Zweideutigkeit“ zu unterlaufen (Meyer-Drawe 32001, 17).

Analyse · 125

Dieses ‚Orientierungsvermögen’ steht wie schon bei Husserl in einem ständig

neuen Prozess von unbestimmten Horizonten, die neue Wahrnehmungen und

Handlungsvollzüge bereitstellen und offen lassen. Waldenfels spricht hier vom

„Spielraum leiblicher Bewegung“ (Waldenfels 1983, 167). Die Motorik als ur-

sprüngliche Intentionalität erhält eine neue Dimension. Sie ist nicht nur der Er-

werb körperlicher Fähigkeiten, die einmal erlernt abgerufen werden können, son-

dern repräsentiert einen Ausdruck der Seinsweise des Subjekts. Eine Geste ist

mehr als eine abstrakte Muskelbewegung. Sie verweist auf die Befindlichkeit des

Subjekts selbst.

Auch innerhalb der Untersuchungen zu Wahrnehmungsstörungen und verhaltens-

psychologischen Krankheiten, die in der ‚Phänomenologie der Wahrnehmung‘

thematisiert werden, lässt sich die ‚Ambiguität’ des Leibes veranschaulichen.

Merleau-Ponty untersucht z. B. Krankheiten wie ‚Apraxie’ oder ‚Agnosie’, um

ihre einseitig physiologische oder psychologische Deutung zu kritisieren.133 Eine

besondere Bedeutung erhält dabei das Phänomen des Phantomglieds. Trotz einer

Amputation eines Körperteils besitzt der Mensch weiterhin eine Vorstellung von

seinem Leib, als wäre er weiterhin als Ganzes vorhanden. Der ‚Kranke’ bewegt

sich so, als besäße er weiterhin ein vollständiges ‚Körperschema’.134 Der Leib

zeigt sich somit als ein „Vermögen einer Anzahl vertrauter Handlungen” (PhW

130), durch die er sich trotz physischen Mangels weiterhin in der Lebenswelt

integriert.

Um die Offenheit und Bereitschaft aller Arten von Wahrnehmungsmöglichkeiten

zu erfahren, konstituiert sich kein reines Bewusstsein, keine transzendentale Sub-

jektivität, sondern ein ‚inkarniertes Ich’, das ‚in die Welt geworfen’ und auf die

ständigen Wahrnehmungserlebnisse des Leibes angewiesen ist.135 Diese sind un-

abgeschlossen und stehen im direkten Bezug zu neuen Wahrnehmungsketten. Die

Inkarnation besagt, dass sich der Leib nicht vor meinem Blick entfalten kann,

______________

133 „Apraxie: Unfähigkeit, Gegenstände ihrer Bedeutung gemäß verwenden zu können” (Dre-ver/Fröhlich 51971, 51); „Agnosie: Unfähigkeit, Sinneseindrücke in ihrer Bedeutung zu erfas-sen” (Drever/Fröhlich 51971, 42).

134 Das ‚Körperschema’ ist ein schematisches Struktur- und Funktionsbild vom eigenen Körper. Es kommt aufgrund eines sich im Laufe der Entwicklung ständig vergrößernden Erfahrungs-schatzes an kinästhetischen Wahrnehmungen zustande.

135 Auch Gabriel Marcel und Ernst Cassirer verwenden diesen Begriff als „Synthese vom Leibli-chen und Seelischen” (Cassirer 91990, 109). Vgl. Marcel 1991

126 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

vielmehr am Rand meiner Wahrnehmung bleibt und dergestalt mit mir ist” (PhW

115). Er ist somit „niemals ‚völlig konstituiert’“ (PhW 117), sondern eröffnet

Perspektiven, Horizonte und Spielräume, die es überhaupt erst ermöglichen, von

Gegenständen zu sprechen. Die ‚Inkarnation’ gründet in den vorpersonalen, vor-

prädikativen und vorrationalen Bezügen unserer leiblichen Wahrnehmung, in

denen noch keine konkreten Sinnbezüge gegeben sind, vergleichbar mit dem Er-

ahnen einer Gestalt im Dunklen, deren Umrisse sich erst beim genaueren Beachten

bilden. Diese besondere Form der Wahrnehmung in „statu nascendi” (PhW 232)

ist ein noch vages und ungenau Gemeintes, das weder Subjektives noch Objekti-

ves beinhaltet. Die Wahrnehmung ist der „Fehler im Edelstein” (PhW 244) und

verweist auf etwas, das erahnt werden kann, aber selber noch keine eindeutige

Struktur besitzt. Die Erfahrung des Leibes muss als solche allererst noch entdeckt

werden. Sie findet ihre wahre Entsprechung in der Zweideutigkeit der menschli-

chen Existenz.

Mit dem Phänomen der Ambiguität etabliert sich ein ‚Pakt’ von leiblichem Emp-

finden und handelndem Vollzug, ohne in eine Trennung in empirische oder intel-

lektualistische Körperkonzepte zurückzufallen. In der Durchkreuzung dualisti-

scher Denkmodelle und der Verankerung des Leibes findet der Leib seine Stellung

zwischen der Exaktheit wissenschaftlicher Erkenntnis und Offenheit individueller

Erlebnisweisen.

2.4 Zwischenleiblichkeit

Merleau-Ponty nimmt dem Husserlschen Solipsismus „seinen Stachel“ (Walden-

fels 21998, 169), da er von einer natürlichen Umwelt ausgeht, in der auch der

Andere durch seinen Leib ‚verankert’ ist. Die Konstitution des Anderen leistet

nicht das transzendentale Bewusstsein, sondern die Wahrnehmungsweise des

Leibes.

Nichts verbirgt sich hinter einem Gesicht oder einer Geste, keine mir un-

zugängliche Landschaft, gerade nur eben ein wenig Schatten, der nur dem

Licht entstammt. Für Husserl hingegen gibt es bekanntlich sehr wohl ein

Problem des Anderen, ist das alter ego ein beunruhigendes Paradox

(PhW 9).

Durch den Leib zeigt sich der Andere in seinem ‚Zur-Welt-Sein’. Zwar bleibt eine

Nähe zu Husserls Appräsentation erhalten, wenn die eigene leibliche Existenz auf

den Anderen ‚übertragen’ wird. Dessen Anerkennung wird aber nicht reflexiv von

Analyse · 127

einem isolierten Ego hinsichtlich der Lösung des solipsistischen Problems geleis-

tet, sondern vollzieht sich durch den individuell handelnden Leib. Innerhalb des

Zur-Welt-Seins sind zwischenmenschliche Verflechtungen immer schon gegeben

und bilden eine „wunderbare Fortsetzung seiner eigenen Intentionen, eine vertrau-

te Weise des Umgangs mit der Welt“ (PhW 405). Die konstitutive Bedeutung des

Leibes im intersubjektiven Umgang drückt Merleau-Ponty mit dem Begriff ‚Zwi-

schenleiblichkeit’ (intercorporeité) aus. In der Vorsilbe ‚inter’ findet sich der zwi-

schenmenschliche Bezug und der Verweis auf eine faktisch vorhandene und ge-

meinsam gestaltbare Welt wieder. Merleau-Ponty spricht hierbei auch von ‚Ko-

existenz’ (coexistence). Unterschiedliche menschliche Verhaltensweisen greifen

ineinander und etablieren eine intersubjektive Kulturwelt, wo sich Eigenes und

Fremdes wie in einem Gewebe (un tissu) miteinander verknüpfen. Sie prägen eine

eigene Form von Sozialität.136 Verhaltensformen sind nicht eindeutig klassifizier-

bar oder deutbar. Vielmehr bildet sich eine anonyme Kollektivität, eine ‚Zwi-

schenwelt’ (intermonde), in der sich Sozialisierung und Individualisierung als ein-

und dasselbe Phänomen wiederfinden lassen. Durch diese Sichtweise sind „Ein-

samkeit und Kommunikation […] nicht Gegensätze, sondern nur zwei Momente

eines einzigen Phänomens” (PhW 411). Einsam ist das Subjekt nie, weil der An-

dere faktisch vorhanden ist wie die eigene Existenz, aber andererseits sind es die

je individuellen Erfahrungen, die eine Existenz auszeichnen. Merleau-Ponty „ret-

tet gleichsam den Anderen, indem er zeigt, wie der Andere als Anderer in einer

gemeinsamen Situation zugänglich wird und zugleich abwesend bleibt“ (Bermes

1998, 92). Die Ambiguität der An- und Abwesenheit Anderer verweist auf die

„Komödie eines Solipsismus unter vielen” (PhW 411).

2.5 Ästhetische Verweise

Bei Merleau-Ponty besitzt der Leib einen hohen Stellenwert für die ästhetische

Erfahrung. Im Unterschied zu Husserl hat er sich Zeit seines Lebens intensiv mit

Fragestellungen zur Kunst auseinander gesetzt, wobei die Malerei den Schwer-

punkt seiner Untersuchungen bildete.

Ein Verweis auf die Ästhetik in der Phänomenologie Merleau-Pontys liegt nahe,

da das griechische Wort ‚aisthesis’ „zumeist mit ‚Wahrnehmung’ übersetzt wird“

(Stoller 1995, 11). Innerhalb einer geschichtlichen Darstellung der Ästhetik würde

deutlich werden, wie unterschiedlich der Bereich der Wahrnehmung für den

______________

136 Ausführlich hierzu Meyer-Drawe 32001, S. 175-192

128 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

künstlerischen Bereich bewertet worden ist. Während Alexander Gottlieb Baum-

garten im 18. Jahrhundert noch um eine Überwindung der einseitigen Verstandes-

kultur und um die Aufwertung der Sinnlichkeit bemüht ist, wurde die ‚aisthesis’

v. a. bei Kant und Hegel immer mehr als ein Bewertungskriterium für das Schöne

angesehen, das für die Herausbildung eines erkenntniskritischen Systems zustän-

dig war. Erst neuere Forschungen betonen wieder die Ästhetik als ‚allgemeine

Wahrnehmungslehre’, in der die künstlerische Erfahrung selbst schon im alltägli-

chen lebensweltlichen Vollzug fundiert ist.137

2.5.1 Ausdruck des Leibes und Verstehen von Sinn

Für Merleau-Ponty erhält die Wahrnehmung durch den Bezug auf das leibliche

Handeln des Menschen und die damit verbundenen kreativen Tätigkeiten eine

ästhetische Fundierung. Der Leib besitzt das Potenzial, Empfindungen wahrzu-

nehmen und sie gleichsam symbolisch über Bewegungen, Gesten oder Mimik

darzustellen. Expressive Bewegungen bilden einen „Ausdrucksraum“ (PhW 176),

in dem sich das Subjekt darstellen kann. Die im alltäglichen Umgang gesammel-

ten Erfahrungen können dabei auf ästhetischer Ebene transformiert werden. Kunst

spiegelt somit die lebensweltlichen, über den Leib angeeigneten sinnlichen Erfah-

rungen auf abstrakter Basis wieder. Sie wird zum Symbol individueller Erlebnisse,

die ästhetisch fundiert werden können.

Hieraus resultiert ein Verstehensbegriff, der sich nicht einseitig am Verstand ori-

entiert, sondern im leiblichen Verhalten immer schon ‚verankert’ ist. Verstehens-

strukturen werden entworfen und handelnd vollzogen.

Verstehen heißt, die Übereinstimmung erfahren zwischen Intention und

Vollzug, zwischen dem, worauf wir abzielen, und dem, was gegeben ist

(PhW 174).138

Auch das Wort Sinn erhält eine neue Bedeutung. Wahrnehmung vollzieht sich

über die Sinne, gibt Sinn und ist sinnvoll. Während die idealistische Philosophie

darum bemüht war, Sinn in Form von Denkkategorien und Verinnerlichungen zu

definieren, blendet sie die ganze Mannigfaltigkeit der Sinnlichkeit und damit auch

______________

137 Ausführlich hierzu vgl. Kap. V.3.1.1 138 Merleau-Ponty betont ausdrücklich, dass der Leib die Bewegung ‚versteht’. Er verwendet

hierfür das französische Wort ‚attrapé’, das in der deutschen Sprache soviel wie ‚erfasst’ be-deutet. Im Originalmanuskript fügt er ergänzend in deutscher Sprache den Begriff ‚kapiert’ in Klammern hinzu. Vgl. PhW 172

Analyse · 129

den dazugehörigen „Un-Sinn“ und die „Kontingenz der Inhalte“ (PhW 177) im

individuellen Verstehen aus. Die Erfahrung des Leibes widersetzt sich der An-

nahme eines universal konstituierten Bewusstseins, weil sie ein Grundvermögen

des Menschen kennzeichnet, sich der alltäglich erfahrbaren Lebenswelt offen

verstehend zuzuwenden und das ganze Spektrum ihrer ‚Sinnhaftigkeit’ zu erfah-

ren.

2.5.2 Gewohnheit und Erweiterung des Leibes

Mit dem Begriff der ‚Gewohnheit’ verdeutlicht Merleau-Ponty, dass der Leib

Sinnbezüge entwirft und hierdurch sein Körperschema ständig verwandelt und

erneuert. Gewohnheiten werden im positiven Sinne durch unabgeschlossene Voll-

züge eines leiblich handelnden Wesens prozessartig erworben. Durch das Zur-

Welt-Sein lassen sich vielfältige Erfahrungen aneignen, die dem Subjekt weiterhin

zur Verfügung stehen und je nach Situation angewendet werden können.

Merleau-Ponty unterscheidet zwischen einem ‚motorischen’ und ‚perzeptiven

Erwerb’ der Gewohnheit. Diese Differenzierung erinnert an die Doppelempfin-

dung Husserls und vertieft die Ambiguität des Leibes. Die erste Form der „Ge-

wohnheit als motorischer Erwerb einer neuen Bedeutung“ (PhW 172) expliziert

das ständige physische Erlernen neuer Fertigkeiten und Verhaltensweisen. Das

Subjekt erwirbt somit ein Repertoire an Gesten, die je nach Situation angeeignet

werden und zur Verfügung stehen, um sich auszudrücken und mitzuteilen. Die

„perzeptive Gewohnheit als Erwerb einer Welt“ (PhW 182) hebt dagegen die

individuellen Empfindungen hervor, die über das leibliche Handeln wahrgenom-

men werden. Beide Momente durchdringen sich gegenseitig und bilden zugleich

die Einheit des Leibes.

Diese zweifache Struktur der Gewohnheit verdeutlicht Merleau-Ponty am Beispiel

des Verhaltens eines Blinden, der sich mit der Hilfe eines Stocks orientiert. Dieser

ist „kein Gegenstand mehr, den der Blinde wahrnähme, sondern ein Instrument,

mit dem er wahrnimmt“ (PhW 182). Er ist Bestandteil des vertrauten Orientie-

rungssystems, mit dem die Welt erkundet wird.139 Gleichzeitig wird der Stock zu

einem Empfindungslieferanten, der als Instrument zur Erfahrung von Tasteigen-

schaften dient. Der gewohnte Umgang mit dem Stock besteht also aus einer Er-

______________

139 Heidegger unterscheidet zwischen ‚Vorhandenheit’ und ‚Zuhandenheit’. Vgl. Heidegger 171993, 71 ff.

130 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

weiterung des Leibes, wodurch eine einseitig rationale Bewertung von Raumab-

ständen und Druckeigenschaften ausgeschlossen wird. Die Gewohnheit repräsen-

tiert den „Ausdruck unseres Vermögens, unser Sein zur Welt zu erweitern“ (PhW

173). Im ständigen Erwerb neuer Handlungsspielräume in einer den Menschen

vertrauten Lebenswelt liegt auch eine Erweiterung des Verhaltens und eine Ver-

änderung der Existenz begründet. Der Mensch lebt nicht nur ‚in’, sondern auch

‚mit’ einer Welt, die er im Zur-Welt-Sein erfasst und beständig gestaltend verän-

dern kann.

2.5.3 Instrument als Ausdrucksraum

Die Gewohnheit und die damit zusammenhängende Erweiterung des Ausdrucks-

vermögens kann sich fruchtbar auf künstlerische Bereiche ausweiten. Das betrifft

v. a. das Musizieren, wo das Instrument in einem direkten Kontakt mit dem Spie-

ler steht und auch hier eine Verlängerung des Leibes und eine doppelseitige Ver-

flechtung von Tonerzeugung und Musikgestaltung aufgezeigt werden kann.140

Anhand der instrumentalen Spielpraxis veranschaulicht Merleau-Ponty, wie Ge-

wohnheit „weder im Denken noch im objektiven Leib, sondern im Leib als welt-

vermittelndem sich gründet” (PhW 175).141 Ein Organist kann auf einer ihm unbe-

kannten Orgel, die mehr Register oder Manuale besitzt, genauso spielen als wäre

es sein gewohntes Instrument. Er braucht nur eine kurze Gewöhnungszeit, um

dieselbe qualitative Leistung auf dem ‚neuen’ Instrument zu erbringen. Merleau-

Ponty folgert daraus, dass hierdurch keine intellektualistische Übertragung von

einem auf das andere Instrument stattfindet. Der Organist analysiert nicht die

Orgel, indem er sich von Registern und ihren räumlichen Verhältnissen eine Vor-

stellung bildet. Vielmehr nimmt er „mit seinem Leibe Maß, verleibt sich Richtun-

gen und Dimensionen ein, richtet in der Orgel sich ein wie man in einem Hause

sich einrichtet” (PhW 175). Die Gewohnheit dient dabei dem Musiker als Vermö-

gen, sich über seinen Leib dem fremden Instrument hinzuwenden. Durch dieses

Beispiel kritisiert Merleau-Ponty die Vorstellung, dass allgemein gültige Spiel-

techniken in kürzester Zeit auf ein fremdes Instrument transformiert werden kön-

nen. Es gibt weder einen objektiven Raum noch einen reproduzierenden Körper,

der die Bewegungen so erlernt hätte, dass er sie im Gedächtnis behielte. Musikali-

______________

140 Zur ästhetischen Qualität der Extension vgl. Kap. IV.3.1.4 141 In diesem Zitat wird die ungenaue Übersetzung von ‚objektiver Leib’ (corps objectif) und

‚phänomenaler Leib’ (corps phénoménal) deutlich, die eher im Sinne von ‚objektiver Körper’ und ‚phänomenaler Leib’ verstanden werden könnte.

Analyse · 131

scher Vollzug resultiert weniger aus der geplanten Ausübung von Gesten als viel-

mehr aus einer offenen Verbindung zwischen dem Akt des Musizierens und der

erklingenden Musik. Die Gesten des Organisten stehen mit den Ausdrucksmög-

lichkeiten in einem direkten Zusammenhang.

Zwischen dem musikalischen Wesen des Stücks, wie es die Partitur

vorzeichnet, und der wirklich um die Orgel herum erklingenden Musik

stiftet sich ein so unmittelbarer Bezug, dass der Leib des Organisten und

das Instrument nur mehr Durchgangsorte dieses Bezuges sind (PhW 175).

Der Begriff ‚Durchgangsort’ betont die wechselseitige Verflechtung von motori-

scher Technik und künstlerischem Ausdruck.142 Zugleich wird die Unabgeschlos-

senheit der Wahrnehmung hervorgehoben und die leibliche Fundierung ästheti-

scher Erfahrung angedeutet. Das Instrument ist als solches nicht nur Mittel zur

musikalischen Realisierung, sondern wird zur Ergänzung der eigenen musikali-

schen Intentionen und letztlich auch zu einer Erweiterung des Leibes. Der Musiker

beginnt, „das Instrument sich einzuverleiben“ (Good 1998, 81). Der Organist legt

die „musikalischen Bedeutungen in den Raum der Orgel” (PhW 176), wodurch

der Leib diese realisiert. Er ist das Vollzugsorgan und wird selber zum Instrument,

indem durch ihn und mit ihm musiziert wird. Der Ausdrucksraum umfasst mehr

als die Realisation der musikalischen Struktur, die der Komposition innewohnt,

weil die Bewegungen des Ausdrückens, der selbständige Entwurf von Bedeutun-

gen und die Räumlichkeit einen Teil des musikalischen Prozesses bilden.

Durch die Verbindung von motorischer und perzeptiver Gewohnheit entsteht ein

einmaliger musikalischer ‚Ausdrucksraum’, der Tasten, Sehen und Hören mit

Spontaneität, Kreativität und Phantasie aneinander koppelt und hierdurch auf die

Unmittelbarkeit und Unwiederholbarkeit eines musikalischen Akts hinweist. Der

Leib ist verankert im Prozess der musikalisch-praktischen Ausübung in Raum und

Zeit als unabgeschlossenes, zweideutiges und sich ständig erneuerndes Medium

zur musikalischen Gestaltung und Wahrnehmung.

______________

142 ‚Durchgangsort’ klingt fremd und unpersönlich. Im Original spricht Merleau-Ponty von „lieu de passage“ (Merleau-Ponty 1945, 170). Der darin vorkommende Begriff der Passage ver-deutlicht das Durchkreuzen. Er ist ferner ein zentraler Begriff bei Walter Benjamin und ge-winnt auch für den erweiterten Kunstbegriff im 20. Jahrhundert eine bedeutende Stellung. Vgl. Benjamin 1982; Rautmann/Schalz 1998

132 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

2.5.4 Malerei als stummer Ausdruck des Leibes

Während der Leib ein Bestandteil der objektiv erfahrbaren Lebenswelt ist, die er

individuell durch Handlungsvollzüge erfährt, erfasst er auch visuell eine besonde-

re Struktur der Welt, die der Maler künstlerisch ausdrücken kann. Das traditionell

eher passiv verstandene Moment des Sehens ist nach Merleau-Ponty ein aktiver

Orientierungs- und Wahrnehmungsakt, der für das Erfassen und Verstehen von

Sinn zuständig ist. Der Blick setzt sich aus unterschiedlichen Sichtweisen und

Perspektiven zusammen, die für das Subjekt immer neue Sinnhorizonte bereit

stellen und ästhetisch verwertet werden können. Die Malerei besitzt daher eine

eigene Form von Wahrheit, in der sich die Welt so darstellt, wie sie vom Subjekt

individuell erblickt wird. Sie liefert kein abbildendes, die Welt reproduzierendes

Foto, sondern vermittelt über vielschichtige Farbkombinationen, sich überlagernde

Perspektiven und die Aufhebung von Raum/Zeitkonstanten eine eigene Weltsicht.

Der Maler verfremdet die Welt der Erscheinungen, indem er sie deutet. Er entwirft

eine „magische Theorie des Sehens“ (Merleau-Ponty 1984, 19).143

In seinen Bezugnahmen auf die Malerei bezieht sich Merleau-Ponty vornehmlich

auf die Kunst von Paul Cézanne. Immer wieder sind seine phänomenologischen

Beschreibungen von Auseinandersetzungen mit dessen Maltheorie durchsetzt. Die

Bewunderung für den Maler und dessen Werk sowie Parallelen seiner eigenen

Wahrnehmungstheorie mit der von Cézanne lassen sich an zahlreichen Stellen in

der ‚Phänomenologie der Wahrnehmung’ dokumentieren.144 Merleau-Pontys Es-

say ‚Der Zweifel Cézannes‘ liest sich als eine „Phänomenologie des Malens“

(Johnson 1993, 3), in der die Schwierigkeit thematisiert wird, die erscheinende

Welt so wiederzugeben wie sie im eigenen Bewusstsein erscheint und empfunden

wird.145

______________

143 In dieser positiven Deutung des Sehens wird der Unterschied zur Phänomenologie Sartres deutlich, der im Blick zwar eine Form der Intersubjektivität im Für-Andere-Sein sieht, aber hieraus dann eine Degradierung des Subjekts zu einem Objekt durch einen Masochismus bzw. Sadismus annimmt.

144 Vgl. z. B. PhW 18, 160, 181, 373-374 145 Vgl. Merleau-Ponty 2000, 11 ff.; der Essay lässt sich auch als Psychogramm Cézannes ver-

stehen. Vgl. auch Jamme 1991, 113 ff.; Bach 2000, 64 ff.

Analyse · 133

Der Maler kümmert sich gerade um das, macht gerade das zu einem sicht-

baren Gegenstand, was ohne ihn im je einzelnen Bewußtsein eingeschlos-

sen bliebe: die Vibration der Erscheinungen, die die Wiege der Dinge ist

(Merleau-Ponty 2000, 23).

Einerseits sieht Merleau-Ponty in der Malerei Cézannes die Überwindung einer

naturhaften Imitation der erscheinenden Welt. Klassifizierende, wissenschaftliche

Ordnungsschemata, wie z. B. die Zentralperspektive, werden zu Gunsten der ge-

genwärtigen Wahrnehmungsweise des Gegenstands umgangen.

Betrachte ich das schimmernde Grün einer Vase von Cézanne, so lässt es

mich nicht denken an die Keramik, sondern macht sie mir gegenwärtig

(PhW 381).

In den Werken Cézannes überlagern sich verschiedene räumliche Perspektiven

gleichzeitig und verzerren die Realität. Das gilt für die Farbgebung der Dinge, die

nicht authentisch, sondern je nach individueller Empfindung wiedergegeben wird.

Wenn Dinge in einem Stillleben in einer besonderen Form- oder Farbgebung er-

scheinen, die einer alltäglichen Erfahrung widerspricht, versucht Cézanne dennoch

diese spezifische Wahrnehmungsweise auszudrücken.146 Er will neben der Form

auch die Tiefe, die Festigkeit, die Weichheit und den Geruch der Gegenstände

festhalten. Ein Motiv muss erst eine Bedeutung erlangen, die in der Struktur selber

erschlossen liegt, bevor sie gemalt werden kann. Eine Landschaft zeigt sich daher

bei ihm erst nach Stunden der Meditation.147

Andererseits setzt Cézanne in den Bildern vom Berg ‚Mont Sainte-Victoire’ flä-

chige Farbwerte nur nach einer systematisch logischen Abstufung nebeneinander.

Die Farbe tritt an die Stelle der Linie, die dem Gegenstand seine abstrakte Kontur

verleiht. Fläche und Raum werden zu konstitutiven Momenten des Bildaufbaus.

Cézanne versucht gleichzeitig die Realität zu beachten, ohne die Empfindung

aufzugeben. Er will die Natur darstellen, ohne vom unmittelbaren Eindruck zu

abstrahieren. Das konkrete Objekt soll sich trotz der Atmosphäre im Bild wieder

finden.

______________

146 So malt Cézanne z. B. Äpfel in seinen Stilleben mit einer zusätzlichen blauen Umrandung. Die Erscheinung, die sich im Bild ausdrückt, wird um die impressionistische Sinnesempfin-dung bereichert.

147 „Wir keimen” oder „alles im Lot“ (Gasquet 1926, 81 ff.) nannte Cézanne diesen Vorgang. Vgl. auch PhW 160

134 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Seine Malerei wäre demnach ein Paradox: Sie sucht nach der Realität, oh-

ne die Empfindung zu verlassen, ohne sich an etwas anderem zu orientie-

ren als an der Natur in der unmittelbaren Impression […] (Merleau-Ponty

2000, 16).

Dieses Paradox, sowohl die individuelle Empfindung und gleichzeitig die abbil-

dende Realität darzustellen, ist vergleichbar mit Merleau-Pontys Bemühen, tradi-

tionelle Subjekt/Objekt-Dualismen zu überwinden, um die Ambiguität der Wahr-

nehmung als potenzielles künstlerisches Ausdrucksmittel anzuerkennen. Das Ge-

mälde ist für Merleau-Ponty zwischen faktischer Objektivierbarkeit und reiner

Impression angesiedelt. Es ist materielos, weil es sich fiktiv mit dem Spiel von

Form, Licht, Perspektive, Raum und Zeit auseinander setzt. Gleichzeitig ist es

aber auch ein über den Leib Gesehenes und Vorhandenes. In dieser Zweideutig-

keit konstituiert sich das malerische Kunstwerk. Die Ambiguität des Malens wird

besonders in Cézannes ‚Gesprächen mit Bernard’ deutlich, in denen er sich gegen

einseitige Alternativen von Sinnlichkeit oder Intelligenz wehrt und die Grenze

zwischen den Sinnen und dem Verstand durch eine neue Optik, das Paradox einer

‚vision logique’, überwinden will.148

Obwohl öfters kritisiert worden ist, dass Merleau-Ponty eine Philosophie im „Vor-

recht des Sehens“ entwirft (Tilliette/Métraux 31991, 189), verdrängt die visuelle

Wahrnehmung aber die anderen Sinne nicht, sondern stellt Synästhesien zu den

akustischen und taktilen Bereichen her. Der Mensch orientiert sich mit seinem

Leib im Raum und nimmt je nach seiner Stellung eine bestimmte Haltung ein. Er

appräsentiert verschiedene Sichtweisen und erfährt so einen individuellen Ge-

samteindruck von seiner Umwelt. Dieser Akt wird vom Maler ästhetisch ausge-

wertet. Die Handbewegungen und die Pinselführung dienen ihm dazu, die über

den Leib erhaltenen Wahrnehmungen auf das Bild zu übertragen. Die Leinwand

und der darstellende Akt des Malens verbinden sich. So wie sich der Organist im

Instrument verkörpert, so wird für den Maler die Leinwand zur Verlängerung des

Leibes und bildet die Fortsetzung seiner visuellen Wahrnehmung. Der Maler kann

so alle erlebten Wahrnehmungen auf ein Bild übertragen und künstlerisch ausdrü-

cken.

______________

148 „J’entends par optique une vision logique, c’est-à-dire sans rien d’absurde” (Cézanne, zit. nach Merleau-Ponty 1948, 22).

Analyse · 135

Malerei ist eine ‚Ausdruckshandlung’. Der „ursprüngliche, noch stumme Aus-

druck unseres Leibes“ (Good 1998, 179) vollbringt das Werk als ergon, als Herge-

stelltes, visuell Zugängliches und Dargestelltes allererst.149 Malen ist nicht nur ein

Darstellen von Erscheinungen, sondern ein existenzieller Akt, der die Welt zum

Vorschein bringt. Der Leib ist die zweideutige Bereitstellung von Seh- und Sicht-

barkeit.

Im Französischen zeigt sich dieser Doppelsinn der Malerei in den Ausdrücken

Sicht (vue) und Seher/Sehender (voyant) bzw. Gesicht/Sehen (vision) und Sicht-

barkeit (visibilité). Der Leib ist selbst ein ‚voyant visible‘, ein sichtbar Sehender.

Sehendes und Sichtbares stehen wie Empfindender und Empfundenes in wechsel-

seitiger Korrelation. Ausgehend von Ansätzen einer Theorie der Wahrnehmung

entwirft Merleau-Ponty eine Art Metaphysik der Malerei, die eine „metaphysisch

ontologische Auszeichnung der Tätigkeit des Malers“ herausarbeitet (SBL 201).

Malerei wird zu einer indirekten Ontologie, da sie selbst in einem Bereich zwi-

schen Wahrheit und Fiktion angesiedelt ist und sowohl das Darstellbare als auch

das Undarstellbare berücksichtigen will.

2.5.5 Leib und Kunstwerk

Das existenzielle Verstehens-, Ausdrucks- und Wahrnehmungspotenzial des Lei-

bes, die Bezüge zur Instrumentalmusik und zur Malerei sowie die daraus resultie-

rende Stellung des Leibes zwischen einem physischen Objekt und psychischen

Subjekt lassen den Vergleich des Leibes mit einem Kunstwerk zu.150 Die Analogie

ist durch die „Einheit des Leibes und die des Kunstwerks“ (PhW 179) gewährleis-

tet. Beide besitzen eine einmalige Ausdruckskraft. Eine abstrakte Analyse wider-

spräche dieser Einheit, weil sie ‚zu spät kommt’, um die aktuellen, sich ständig

weiterentwickelnden und gegenseitig ergänzenden Wahrnehmungen zu beschrei-

ben. Weder der Leib noch ein Kunstwerk können durch Gesetze kategorisiert

______________

149 Der von Husserl stammende Terminus der ‚stummen Erfahrung’ wird auch in der Musikpä-dagogik verwendet. Jürgen Vogt fragt nach der „stummen Erfahrung von Musik“ (SBL 141) und sucht einen Ausweg aus der ästhetischen Krisis der Musikpädagogik. Ausführlich hierzu vgl. Kap. V.1.2

150 Der Begriff ‚Kunstwerk’ umfasst bei Merleau-Ponty im traditionellen Sinne die Werke der Malerei, der Musik und Literatur. Während in den Beispielen für den Bereich der Malerei Paul Cézanne und für die Literatur Marcel Proust öfters erwähnt werden, nennt Merleau-Ponty für die Musik keine Komponisten oder Interpreten.

136 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

werden, sondern zeigen sich erst über die einheitsstiftende Funktion der Wahr-

nehmung. Trotz der Einheit sind sie beide offen und vieldeutig.

Merleau-Ponty sieht neben dem Tanz und der Musik auch in der Literatur eine

Bestätigung dieses Vergleichs. Besonders in der gesprochenen Sprache zeigt sich,

dass weniger der verbindliche semantische Gehalt oder einzelne Worte als viel-

mehr der Ton und die Gesten die Bedeutung des Textes ausmachen. Im Sprechen

teilt sich ein Ich mit und vollbringt sein Denken. Daher gehört zur Sprache ihre

Aussage und das zuhörende Verstehen der Anderen. So hat ein Gedicht zwar eine

erste Bedeutung durch die jeweilige Struktur der Zeichen, aber bestimmt sich im

Wesentlichen durch die Art und Weise des Vortrags. Dieser verweist wiederum

auf das Ausdrucksvermögen des Leibes. Er bildet die grundlegende Vorausset-

zung zum Sprechen, weil er den Worten eine zusätzliche Bedeutung gibt. Hier-

durch ist es möglich, „den Akt des Sprechens in seiner wahren Physiognomie zu

erblicken“ (PhW 215).

Diese eigenständige Sprachlichkeit des Leibes gilt auch für die Musik. Eine Sona-

te teilt sich nicht durch die einzelnen Töne, bzw. Zeichen mit, sondern entfaltet

ihren Sinn in der Bedeutung der Töne. Ein Notentext wird erst durch den handeln-

den Leib und dem damit verbundenen subjektiven Ausdrucksvermögen realisiert.

Besonders zeitgenössische Kunst ist auf kreativ handelnde Akte angewiesen, da

sie sich nicht mehr auf ‚das ästhetische Wohlgefallen’ beruft und allgemein ästhe-

tische Beurteilungskriterien voraussetzt, sondern die Tätigkeit selbst im Sinne des

erweiterten Kunstwerkbegriffs als Musik versteht.151

Neue Musik oder Malerei, die zunächst kein Verständnis findet, schafft sich

endlich ihre Gemeinde selbst, wenn sie nur wahrhaft etwas sagt, dadurch

m. a. W., daß sie selbst ihre Bedeutung kundtut (PhW 213).

Die sichtbaren Zeichen der Kunstwerke, also Leinwand, Text oder Partitur werden

ihrer empirischen Realität entrissen und in eine ‚andere Welt’ versetzt. Merleau-

Ponty verwendet hierfür den Begriff der ‚existenziellen Modulation’.152 Dabei

bildet ein Gedicht ein immaterielles Sein und löst sich „von jederlei materiellem

Grund“ und ist immer noch „eingeschlossen in die Worte auf einem Stück Papier“

(PhW 181). So wie der Leib sich sowohl über seine Motorik als auch über die

dazugehörigen Empfindungen bestimmt und in der Form der Ambiguität sein

______________

151 Ausführlich hierzu vgl. Kap. V.3 152 Vgl. PhW 181 ff.

Analyse · 137

charakteristisches Wesen findet, so liegt auch in den Kunstwerken diese zweideu-

tige Eigenschaft erschlossen. Während sich der Leib über individuelle Handlungs-

und Vollzugsmöglichkeiten ausdrückt und gleichzeitig physisch erfahrbar ist, so

besitzt auch das Kunstwerk einen materiellen Grund und ein zweites Sein durch

den Verweis auf eine ‚transzendente’ Aussage. Da Kunstwerke sowohl als vor-

handenes Ding als auch individueller Ausdruck existieren, können sie personifi-

ziert werden.

Ein Roman, ein Gedicht, ein Bild, ein Musikstück sind Individuen, d. h. We-

sen, in denen Ausdruck und Ausgedrücktes nicht zu unterscheiden sind

[…]. In diesem Sinn ist unser Leib dem Kunstwerk vergleichbar (PhW

181 f.).

Das Zitat verdeutlicht den hohen Stellenwert der Ästhetik in der Phänomenologie

Merleau-Pontys. Die ästhetische Erfahrung eines Kunstgegenstandes, also auch

die eines Musikstücks, verweist immer auch auf den grundlegenden Produktions-

prozess des Leibes. Das Zur-Welt-Sein, die Ambiguität und die Zwischenleiblich-

keit bilden mögliche Ansatzpunkte, um ästhetische Erfahrungen von einem einsei-

tig objektiven oder rein subjektiven Status zu befreien.

138 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

IV ERGEBNISSE

Ein jeder, der mich sieht, spürt, daß das schwache Haus, der Leib, wird

brechen ein noch inner wenig Stunden.

(Andreas Gryphius 1961, 251)

Die durchgeführte Analyse konzentrierte sich auf Husserls und Merleau-Pontys

phänomenologische Untersuchungen zur Bedeutung des Leibes. Im vorliegenden

Kapitel werden nun diese Aspekte in Form eines ‚phänomenologischen Leibbe-

griffs’ summiert und anhand von vier verbindlichen Topoi fokussiert (1.1-1.4).

Eine zentrale Aufgabe besteht darin, deren Potenziale für ästhetisch-musikalische

Zusammenhänge zu explizieren (3.1-3.4).153 Durch diese Transformation soll

ersichtlich werden, dass die Topoi als Qualitäten auch für musikalisches Handeln

bedeutsam sind, so dass sich der ‚phänomenologische Leibbegriff’ nicht nur auf

ein erkenntnistheoretisches Teilgebiet der Phänomenologie beschränkt, sondern

als ‚Leiblichkeit’ auf musikalisch praktischer Vollzugsebene zur Geltung gelangt.

______________

153 In den Ergebnissen wird ansatzweise den Forderungen Ehrenforths Rechnung getragen, dass eine „Auseinandersetzung mit Merleau-Ponty (‚Phänomenologie der Wahrnehmung’) für den Bereich der Musikpädagogik eine wichtige Aufgabe“ ist (Ehrenforth 2001b, 52). Schon 1987 äußerte Ehrenforth in Überlegungen zum Verhältnis von Anthropologie und Musikpädagogik, dass eine Beschäftigung mit der ‚Phänomenologie der Wahrnehmung‘ von Merleau-Ponty „lohnenswert zu bedenken wäre“ (Ehrenforth 1987, 68). Das gilt v. a. für die „leibhaften und damit nicht gegenständlichen Wahrnehmungsformen“ (Ehrenforth 1987, 68).

Ergebnisse · 139

1 Positionierung des ‚phänomenologischen Leibbegriffs’

Um den in der Analyse gewonnenen Leibbegriff von der etymologischen Bedeu-

tung ‚Leben’ und vom Kontrastpaar ‚Leib/Körper’ bzw. ‚Leib/Seele’ zu unter-

scheiden, wird hierfür der Begriff ‚phänomenologischer Leibbegriff’ gewählt.154

Vier Topoi umschreiben seine eigentümliche Struktur. Sie sind als eigenständige

Kategorien zu verstehen, die Regulativfunktion besitzen und Dimensionen um-

schreiben, deren ausführliche Darstellung innerhalb der Analyse erfolgte.

1.1 Zweideutigkeit

Der Leib zeichnet sich durch eine ‚Ambiguität’ aus, die ihm eine zweideutige und

doppelseitige Struktur zuschreibt.155 Die traditionsgebundene und wissenschaftlich

verankerte Option, die menschliche Seinsweise dualistisch einzuteilen, ist unzu-

reichend. Trennungen wie Körper/Geist, Leib/Seele, Objekt/Subjekt, Sein/Be-

wusstsein oder Aktivität/Passivität resultieren aus dem Versuch, menschliche

Grundeigenschaften so zu strukturieren, dass ein Ungleichgewicht der Teile zum

Ganzen feststellbar erscheint. Modelle, die diese Dualismen in Form einer Ganz-

heit zu überwinden versuchen, stellen zumeist einen Kompromiss dar, um ein

Gleichgewicht wieder herzustellen. Sie bieten aber keinen selbständigen Lösungs-

vorschlag an und fragen auch nicht nach dem Grund der Trennung.156 Der phäno-

menologische Leibbegriff versucht dagegen beide Seiten in ihren eigenständigen

Funktionen zu akzeptieren, um in ihrer wechselseitigen Ergänzung eine kontin-

gente Einheit festzumachen. Der Mensch findet sich nicht in einer Trennung von

‚Körper haben‘ und ‚Leib sein‘, sondern steht zwischen Präsentation und Apprä-

sentation und ist sowohl objektiver Bestandteil der Welt als auch subjektive Exis-

______________

154 Zur Begriffsverwendung von ‚Körper’, ‚Leib’, ‚phänomenologischer Leibbegriff’ und ‚Leib-lichkeit’ vgl. Kap. I.2.1 und Kap. IV.1-IV.3

155 Waldenfels bezeichnet die Zweideutigkeit (‚équivoque’) des Leibes bei Merleau-Ponty als eine „schlechte Ambiguität“ (Waldenfels 1987, 174). In späteren Ausführungen relativiert er seine negative Sichtweise. Merleau-Ponty selbst verwendet den Begriff für die zahlreichen Beschreibungen der lebensweltlichen Situiertheit des Leibes. So existiert ein zweideutiges Milieu (‚milieu équivoque’) oder ein Ort der Zweideutigkeit (‚lieu d’équivoque’). Vgl. Mer-leau-Ponty 1945, 194

156 Auch die Gestaltpsychologie verdeutlicht, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile sei. Im Unterschied zu einer Ganzheit ist eine Gestalt durch ihre Struktur gekennzeichnet, die diskontinuierlich verlaufen kann. „Insofern kann mit dem Ganzheitsbegriff auch der zentrale Gedanke der pädagogischen Relevanz der Andersheit des Anderen nicht berücksichtigt wer-den“ (Schaller 1995, 38).

140 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

tenz. Mit Begriffen wie ‚Durchkreuzung’ ‚Scharnier’, ‚Konstellation’ arbeitet

Merleau-Ponty das zweideutige Verhältnis des Leibes heraus.

Der Mensch kann sich folglich weder auf sein innerliches Bewusstsein zurückzie-

hen noch sich vollständig äußerlich darstellen. Sein Leib repräsentiert vielmehr

eine ‚Verflechtung’ (Chiasma) von Denken und Handeln und begründet hierbei

die Vielschichtigkeit der Handlungsvollzüge. Er wird zu einer Schnittstelle zwi-

schen innerer und äußerer Erfahrung, die gerade die präreflexiven und präsubjek-

tiven Potenziale bereitstellt, um hieraus dann die Offenheit menschlichen Han-

delns und Verstehens freizulegen.157 Der Leib ist, wie Meyer-Drawe bemerkt,

durch eine Sichtweise auf die Erfahrung gekennzeichnet, welche „die Ambiguität

[…] unserer sozialen Existenz nicht zugunsten vollständiger Transparenz, eindeu-

tiger Klarheit, universeller Geltung, abgeschlossener Aufklärung und gesicherter

Erkenntnis übersteigt“ (Meyer-Drawe 32001, 17). Er zeichnet sich durch eine

mögliche Andersartigkeit (‚Opazität’, ‚Kontingenz’) von Erfahrung aus, die nicht

Dualität oder Einheit unterscheidet, sondern gerade die Zwischenstellung des

Leibes als Gewebe (‚un tissu’) oder Geflecht (‚un entrelacs’) berücksichtigt.

Bei Husserl beginnt sich die Zweideutigkeit bereits in der Intentionalität des Be-

wusstseins abzuzeichnen. Innere Einstellung des Subjets und faktische Vorhan-

denheit der Außenwelt korrelieren miteinander. Die Welt der Erscheinungen wird

nicht negiert, sondern die kulturelle Welt bleibt bis zur primordialen Reduktion

beständig erhalten. Bei Merleau-Ponty findet sich dann eine Intentionalität des

Leibes, die das Bewusstsein aus seiner Isolation ‚befreit’ und das Subjekt direkt in

seiner Lebenswelt verankert. Im ‚Zur-Welt-Sein’ zeigt sich der Mensch im ständi-

gen Vollzug mit Menschen und Dingen, um Erlebnisse und Erfahrungen zu sam-

meln, die er so auch zu verstehen lernt.

Der Leib ist hinsichtlich seiner Doppelempfindung, die Husserl und Merleau-

Ponty gleichermaßen hervorheben, zugleich darstellend als auch empfindend.

Diese beiden Erkenntnisweisen überlagern sich, so dass Handlung und Gestaltung

nicht als rein expressive oder mechanische Darstellungsweisen zu begreifen sind,

sondern zwischen individuellem Ausdruck und kontrollierter Rationalität liegen.

______________

157 Es ist wichtig, zwischen Schnittstelle und Schnittmenge zu unterscheiden. Während eine Schnittmenge nach einer Übereinstimmung zweier disparater Elemente sucht, betont eine Schnittstelle gerade ihre jeweilige Eigenständigkeit.

Ergebnisse · 141

Die Zwischenstellung des Leibes wird als konstitutive Möglichkeit begriffen, neue

Horizonte von Handeln und Wahrnehmen zu erfassen. Die Offenheit und Vieldeu-

tigkeit der Welt zu verstehen lernen, heißt, die wechselseitige Durchdringung von

Positivem und Negativem, von Ego und Alter, von Körper und Geist anzuerken-

nen. Der Leib bildet somit ein Vakuum, das auf seine Undurchdringlichkeit ange-

wiesen bleibt, um die Unabgeschlossenheit menschlicher Vollzugsformen und die

Mehrdeutigkeit des Sinns zu entfalten. Die Zweideutigkeit des Leibes bestimmt

sich über eine Differenz, die ihn letztlich unfassbar macht und wo jede Form der

Beschreibung oder systematischen Erfassung zu spät kommt. Sie beinhaltet eine

produktive, nicht zu überwindende Negativität.

Hierdurch wird auf Möglichkeiten und Grenzen einer ‚schwankenden Lebenswelt’

hingewiesen, die eindeutige Fundamente für alltägliche Sinnsetzungen, wissen-

schaftliche Konstruktionen und institutionelle Regelungen negiert und eben nicht

auf Scheinaussagen zurückzuführen ist. Die ‚Zweideutigkeit’ verweist immer auch

auf einen Spielraum, eine Vielfalt von Verhaltensmuster, Regelungen, Interaktio-

nen, die nicht deterministisch zu bestimmen sind.158 Die damit verbundene Ambi-

guität des Leibes bestimmt den Menschen als eine Existenz, die nie ganz Objekt,

Physis, Sache oder Naturding und nie ganz Subjekt, Psyche, Bewusstsein oder

geistiges Wesen ist. In der radikalisierten Zwischenstellung zerspringt und zer-

splittert das Gewöhnliche und Alltägliche, das immer schon Gedeutete.159

1.2 Intersubjektivität

Der Leib begründet Formen von Sozialität. Das betrifft die Auflösung des Solip-

sismus, der den Menschen als alleiniges, einzig bewusstes Wesen in der Lebens-

welt deklariert. Dort bleibt die Existenz anderer Menschen zweifelhaft, da ihre

Subjektivität nicht zu erkennen ist. Sowohl Merleau-Ponty als auch Husserl plä-

dieren für eine Intersubjektivität, die sich allererst über den Leib realisiert. Husserl

begründet sie durch eine Spiegelung oder Analogisierung des eigenen mit dem des

anderen Leibes, woraus auf ein fremdes Ich geschlossen werden kann. Hier dient

der Leib als ‚Umschlagstelle’, an welcher die fremde Subjektivität bewusst, aber

niemals völlig zur Deckung mit dem eigenen Ego gebracht werden kann.160 Mer-______________

158 Zum Begriff des ‚Spielraums’ vgl. Waldenfels 1980 159 Vgl. Foucaults Begriff der ‚dispersion’ und Derridas Begriff der ‚dissémination’ 160 Vgl. Meyer-Drawe 32001, 95; Auch Waldenfels benutzt den Begriff ‚Umschlagstelle’ zur

Erklärung spezifisch musikalischer Sachverhalte. Vgl. Kap. V.1.1

142 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

leau-Ponty sieht den Leib immer schon in intersubjektive Handlungsvollzüge

eingebunden, so dass sich für ihn das Problem des Solipsismus erst gar nicht stellt.

Vielmehr gehört das Nicht-Verstehen des Anderen zur Charakterisierung seiner

einmaligen Daseinsweise. Diese Überkreuzung unterschiedlicher Erfahrungen und

Handlungen führt zu einem „erlebten Solipsismus, der unüberwindbar bleibt“

(PhW 409). Eine fremde Existenz ‚steht neben’ der eigenen und wird zur ‚Koexis-

tenz’.

Die Intersubjektivität zeigt den Menschen als Paradox einer anonymen Kollektivi-

tät, in welcher sich der Leib selbst individuelle Vorstellungen, Wünsche und Ziele

aneignet und gleichzeitig faktischer Bestandteil einer ‚immer schon’ gemeinsam

erfahrbaren Lebenswelt ist. Hierdurch erhält auch die Zweideutigkeit eine neue

Dimension, da sie „sowohl Ontologie als auch das Seelenleben der Mitgegenwart

und der Sozialität bedeutet“ (Lévinas 1981, 79). Der Leib kennzeichnet sich als

faktisch Handelnder in seinem Zur-Welt-Sein mittels seiner ihm einwohnenden

Subjektivität, in der er sich als Fremder zu verstehen gibt. Durch diese intersub-

jektive Andersartigkeit können auch weiterreichende Faktoren wie Kunst, Kultur,

Zivilisation und Sozialisation allererst entstehen.

1.3 Ausdruck

Eine Geste wird über den Leib dargestellt und besitzt einen dazugehörigen Aus-

druck, der wiederum mit einer bestimmten Intention oder Stimmung verbunden

ist. Trauer, Freude, Schmerz, Ärger oder Angst verweisen auf eine sichtbare oder

hörbare ‚Bedeutung‘. Dieses Verhältnis ist aber kein Analogieschluss oder eine

Erkenntnisleistung, so dass über die Ähnlichkeit einer Gebärde automatisch auf

die psychische Befindlichkeit geschlossen werden könnte. Es existiert kein deter-

miniertes Ausdruckssystem, das dazu geeignet erscheint, Stimmungen am Leib

‚abzulesen’. Konventionen sind an rituelle Kontexte und an historisch tradierte

Konventionen gebunden. Gesten unterliegen weniger physiologischen Vorausset-

zungen als kulturellen Habitualitäten.161 Sie können sich wie Konventionen inner-

halb der Sprache von der Situation ihrer Entstehung lösen und einen eigenständi-

gen leiblichen Sinn annehmen.

Ein Ausdruck entsteht durch eine direkte, spontane und gleichursprüngliche Ver-

mittlung von Intention und Geste. Denken und Tun durchdringen sich und führen

zu leiblichen Darstellungen, die von Anderen vielfach gedeutet und intersubjektiv

______________

161 Japaner lächeln z. B. im Zorn.

Ergebnisse · 143

verstanden werden können. So ist allein der Leib dazu imstande, den für das den-

kende Subjekt noch nicht greifbaren, emotionalen Zustand in einer sinnvollen

Geste zusammenzufassen und auszudrücken. Während Husserl Physisch-

Wahrgenommenes und Subjektiv-Empfundenes im Rahmen der Doppelempfin-

dung durch unterschiedliche Formen der Aufmerksamkeiten zu trennen versucht,

sieht Merleau-Ponty beide Momente im unaufhebbaren Zur-Welt-Sein des Leibes

integriert.

Der leibliche Ausdruck wird vornehmlich in der Kommunikation eingesetzt. Den

Gesten wohnt ein Bedeutungspotenzial inne, das intuitiv erfasst werden kann.162

Dabei zeichnen sich Ausdruckshandlungen durch ihre Mehrdeutigkeiten und

Missverständnisse aus. Entgegen Husserls Vorstellungen einer Analogiebildung

des Anderen in Form einer Einfühlung, welche den fremden Leib zum Duplikat

des eigenen Selbst modifiziert, hebt Merleau-Ponty geradezu die Differenz zwi-

schen eigener und fremder Ausdrucksgebärde hervor, um die Offenheit

intersubjektiver Gesten aufzuzeigen.163 Ein Ausdruck setzt nicht nur zwei Teile im

Sinne eines ‚sowohl als auch’ zusammen, sondern besteht aus einem permanenten

Ungleichgewicht, einem „Überschuss“ (Waldenfels 1994, 214), der zwei Seiten

niemals vollständig zur Deckung bringen kann. Da eine Ausdrucksgeste nicht

festgelegt ist, besteht das Bedürfnis, etwas Neues mitzuteilen oder zu verstehen.

Der kommunikative Prozess lebt gerade von einer Offenheit wechselseitigen

Reagierens und Antwortens.

Ein ‚Ausdruck’ basiert also auf Handlungen, die den verborgenen Sinn verdeutli-

chen und je nach Konkretion zur Verständigung mit dem Anderen führen. Gerade

die Missinterpretation verdeutlicht, dass Ausdruckshandlungen niemals als stati-

sches System erscheinen, sondern auf beständige Negativität angelegt sind, wo-

durch sie zur permanenten Erweiterung des individuellen Repertoires führen.

Demzufolge beinhalten sie nicht nur das grundlegende Potenzial zur Bildung von

Intersubjektivität, sondern zeigen das Subjekt in seiner individuellen Faktizität

und geschichtlichen Existenz.

______________

162 Nach Merleau-Ponty ist auch die gesprochene Sprache als leibliche Gebärde „unmittelbarer Ausdruck einer begrifflichen Bedeutung in statu nascendi“ (Grams 1978, 40). Vgl. PhW 219

163 Merleau-Ponty nimmt hier Jacques Derridas Kritik an der Einfühlungsthese Husserls vorweg. Demnach ist die Beziehung zum Anderen „als Nicht-Präsenz die Ureinheit des Ausdrucks“. Denn dann bedarf das Ich nicht länger „des Durchgangs durch die Physis oder irgendeiner Form von Appräsentation überhaupt“ (Derrida 1979, 94).

144 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

1.4 Erweiterung

Der Umgang mit Gegenständen ist nicht nur auf eine reine Benutzung oder Ver-

wendung für einen bestimmten Zweck beschränkt. Dinge stehen in einem größe-

ren Verweisungszusammenhang, haben einen vertrauten Platz im alltäglichen

Gebrauch und dienen zur Orientierung im Raum. Besonders deutlich zeigt sich die

Erweiterung im Zuge gewohnter Handlungen. In einem vertrauten Umgang mit

Gegenständen ist ihre dingliche Erscheinungsweise niemals fraglich.164 So reflek-

tiert ein Autofahrer nicht über die einzelnen auszuführenden Bewegungen, wie

auch einem Kranken beim Laufen mit einer Gipsschiene diese Einschränkung

nach einer Eingewöhnungszeit nicht mehr auffällt. Die Gegenstände werden durch

die Gewohnheit Bestandteile des ‚Zur-Welt-Seins’. Husserl sieht in der Bewegung

des Leibes auch die Bewegung eines ‚Willens’, der eng mit einem Vermögen und

Können verbunden erscheint. Im Gegensatz zu mechanisch bewegbaren materiel-

len Dingen steht der Leib in einer komplexen Wahrnehmungsreihe, da er sich in

seiner Räumlichkeit auskennt, im Raum eingebunden erscheint und diesen selbst

konstituiert. Durch den Leib vergrößert das Subjekt infolge von Appräsentationen

sein Orientierungsvermögen, und sein Wissen von erscheinenden Gegenständen

wird um eine pure aktuelle gegenwärtige Sichtbarkeit erweitert. Gleichermaßen

konstituiert der Leib Gegenstände nicht nur von der Jetzt-Situation, sondern voll-

bringt Synthesen, die durch aktuelle Präsenz mitgegenwärtig erscheinen. Diese

Gesamtheit von Anschauungen kann erst durch den Leib realisiert werden.

Die Fähigkeit des Menschen, sich Dinge anzueignen und sich in ihnen ‚einzurich-

ten’, kann als eine ‚Erweiterung’ des Leibes bezeichnet werden. Dieser erweitert

also nicht nur auf physiologischer Basis den Bewegungsumfang, sondern aktiviert

ein neues Wahrnehmungsbewusstsein. Diese zweigleisige Erweiterungsform des

traditionellen ‚Orientierungsvermögens’ beinhaltet zum einen eine Veränderung

des gewohnten Verhaltensspektrums und zum anderen eine Erweiterung individu-

ell-sinnlicher Erfahrungen, die das gewohnte räumliche Umfeld neu erleben las-

sen. Beide Momente bilden einen eigenständigen Aufgabenbereich, repräsentieren

aber, je nach Aufmerksamkeit, in ihrer wechselseitigen Verflechtung eine Einheit,

die nur zusammenhängend erfahren werden kann.

______________

164 Vgl. auch Heideggers Unterscheidung zwischen ‚Vorhandenheit’ und ‚Zuhandenheit’ in Heidegger 171993, S. 66-72

Ergebnisse · 145

2 Etablierung eines Begriffs von ‚Leiblichkeit’

In der vorliegenden Arbeit ist streng zwischen ‚Leib’, ‚phänomenologischer Leib-

begriff’ und ‚Leiblichkeit’ zu unterscheiden. Die unterschiedlichen Begriffe ste-

hen in Zusammenhang mit den Kapiteln ‚Bestandsaufnahme’, ‚Analyse’ und ‚Er-

gebnisse’.165 In der ‚Bestandsaufnahme’ wird ein vorurteilshafter Leibbegriff

herausgestellt, der aus einer dualistischen Differenz von ‚Körper’ und ‚Leib’ re-

sultiert. Im Anschluss an die ‚Analyse’ ergibt sich durch die Einbeziehung der

Untersuchungen von Husserl und Merleau-Ponty ein ‚phänomenologischer Leib-

begriff’, der deren unterschiedliche Aspekte auf vier Topoi fokussiert. Innerhalb

der ‚Ergebnisse’ gelangt nun eine ‚Leiblichkeit’ zur Geltung, die auf die konkret

praktische Ausrichtung des phänomenologischen Leibbegriffs für musikpädagogi-

sche Zusammenhänge verweist und ‚Musik als Vollzug von Leiblichkeit’ begrün-

______________

165 Sofern in der folgenden Darstellung der Terminus ‚Leib’ gewählt wird, handelt es sich um den in der phänomenologischen Analyse gewonnenen Leibbegriff. Da ‚Körper’ sich v. a. auf die mechanisch funktionelle Seite von Bewegungen bezieht, wird dieser Terminus vermieden. Nur in Zitaten und in der Darstellung von Sekundärliteratur wird im Rahmen der korrekten Quellenangaben auf den Begriff ‚Körper’ zurückgegriffen, wie z. B. in der Darstellung der Kompositionsästhetik Schnebels. Vgl. Kap. V.2.2.2

146 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

det. Dieser Begriff wird also im Rahmen dieser Arbeit als feststehender Terminus

beansprucht, dessen eigentümliche Typik im Folgenden dargelegt werden soll.166

Wie bereits in Kapitel II.3.2 gezeigt worden ist, findet zwar auch im musikpäda-

gogischen Diskurs eine Körperkritik statt, die vereinzelt ‚Leiblichkeit’ fordert oder

von ‚leiblich‘ oder ‚Leib‘ spricht, dennoch kann auch hier im strengen Sinne keine

eigenständige Begriffsbildung mit qualitativen Schwerpunkten entdeckt werden.

Eine Etablierung von ‚Leiblichkeit’ beinhaltet eine auf den ersten Blick ‚riskant’

erscheinende Transformation der aus der phänomenologischen Forschung resultie-

renden Topoi in musikpädagogische Zusammenhänge. Die damit verbundene

Zielsetzung, ‚etwas als etwas’ in praktische Verweisungszusammenhänge stellen

zu wollen, benötigt die Gewissheit und Adäquatheit dieser Operation, die nun

auch gerade für musikpädagogische Forschungen oftmals als unzulänglich und

unangemessen kritisiert worden ist.167 Paradigmatisch kann hier die Transforma-______________

166 Der Begriff ‚Leiblichkeit’ ist auch in verschiedenen pädagogischen, medizinischen oder theologischen Positionen vorherrschend, ohne hier eigens eine verbindliche terminologische Gültigkeit zu beanspruchen. Weitestgehend wird er synonym mit ‚leiblich‘ verwendet, um ganz im Sinne der etymologischen Deutung auf das individuelle Leibsubjekt hinzuweisen und sich von einem allgemeinen Körperobjekt abzusetzen. Innerhalb pädagogischer Forschungen hat sich v. a. Klaudia Schultheis ausführlich mit dem Verhältnis von ‚Leiblichkeit, Kultur und Erziehung’ auseinandergesetzt. Sie vertritt die Position, dass „das verbindende Glied zwi-schen kindlichem Lernen, elementarer Erziehung und Kultur in der Leiblichkeit zu finden ist“ (Schultheis 1998, 12). Der Leib dient dem Kind als ein „Fundament des Lernens“ (Schultheis 1998, 14), so dass es in Beziehung zur Welt treten und an der Kultur partizipieren kann. In der Medizin taucht der Begriff ‚Leiblichkeit’ v. a. innerhalb der ‚Integrativen Bewegungs- und Leibtherapie’ auf. Dort gilt der Mensch als ein ganzheitliches Körper-Seele-Geist-Subjekt, das in einem sozialen und ökologischen Umfeld steht. Mittels bewegungstherapeuti-scher und psychomotorischer Übungen kann diese Therapieform übungszentriert, funktional oder erlebniszentriert mit klinischem, heilpädagogischem, präventivem oder rehabilitativem Ziel eingesetzt werden. Vgl. hierzu v. a. Petzold 1985; in theologischen Untersuchungen wird Leiblichkeit als konstitutives Element von Schöpfung und Erlösung beschrieben. Die von Friedrich Christoph Oetinger aufgestellte These ‚Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes’ geht davon aus, dass sich die ‚Leiblichkeit Gottes’ in der Entwicklung der Welt verwirklicht. Käthe Meyer-Drawe beschäftigt sich in ihrem Buch ‚Leiblichkeit und Sozialität’ unter schwerpunktmäßiger Berücksichtigung der Phänomenologie Husserls und Merleau-Pontys mit Untersuchungen zur Leiblichkeit kindlicher Rationalität. Durch eine Kritik an der Ent-wicklungspsychologie Piagets versteht sie die kognitiven Potenziale kindlichen Erlebens und Verstehens in den präkommunikativen und „mehrdeutigen Vollzugsweisen eines leiblichen Zur-Welt-Seins“ (Meyer-Drawe 32001, 30). Sozialität ist durch Undifferenziertheit und Per-spektivenvielfalt ausgezeichnet und ermöglicht ganz im Sinne Merleau-Pontys eine „anony-me Kollektivität“ (Meyer-Drawe 32001, 30) oder eine „personale Inter-subjektivität, die je-dem ausdrücklichen Verstehen von Ich und Du bereits vorausliegt“ (Meyer-Drawe 32001, 179).

167 Ausführlich zu dieser Kritik vgl. SBL 46 ff. sowie Kap. V.1.2

Ergebnisse · 147

tion des Lebensweltbegriffs Husserls in musikpädagogische Zusammenhänge

angeführt werden, die zur Verstellung seiner ursprünglichen Implikationen führte.

Aufgrund des Assoziationsreichtums des Lebensweltbegriffs im Sinne von ‚Le-

benserfahrung’ oder ‚Lebensnähe’ wurde gerade der strenge formal methodische

Ansatz, den Husserl innerhalb seiner Krisis-Schrift vertrat, zu Gunsten einer anth-

ropologischen Dimension umgedeutet.168 Demzufolge können phänomenologische

Ansätze, Methoden oder Ergebnisse für pseudowissenschaftlich motivierte Inten-

tionen leicht missinterpretiert werden.

Unter Berücksichtigung dieser potenziellen Gewährleistung einer wie auch immer

verstandenen ‚Transformation’ phänomenologischer Ansätze in musikpädagogi-

sche Zusammenhänge stellt sich zunächst die Frage, ob auch hinsichtlich der vor-

liegenden Untersuchungen zur phänomenologischen Leibthematik ähnliche Be-

denken angebracht sind, denn bei einer Übertragung müssten demzufolge die vier

Topoi des phänomenologischen Leibbegriffs mit den auf musikpädagogischer

Basis zu konkretisierenden Qualitäten koinzidieren.

Ein wesentlicher Grund, der eine solche Zielsetzung erschwert, liegt neben der

oben erwähnten Differenz phänomenologischer und musikpädagogischer For-

schungsinteressen in der auf den ersten Blick erscheinenden mangelnden ästheti-

schen Fundierung des phänomenologischen Leibbegriffs begründet. Dieses v. a.

bei Husserl auftretende Defizit würde in jedem Fall zu einer Erweiterung und

Veränderung seiner ursprünglichen Implikationen führen. Auch wenn die vier

Topoi ‚Zweideutigkeit‘, ‚Intersubjektivität‘, ‚Ausdruck‘ und ‚Erweiterung‘ erste

ästhetische Bezugnahmen bereitstellen und sich für die musikpädagogische Praxis

konkretisieren ließen, darf auch hier eine aus Eigeninteresse geleitete Projektion

und Interpretation nicht über der spezifischen phänomenologischen Fragestellung

stehen. Ferner sei an dieser Stelle nochmals hervorgehoben, dass im Rahmen der

vorliegenden Arbeit eine Auswertung bereits konkretisierter Forschungen von

Husserl und Merleau-Ponty erfolgt, um deren ästhetisch-praktische Potenziale für

die Musikpädagogik zu fokussieren.

Im Bewusstsein einer phänomenologisch-musikpädagogischen Transformation

wird der Begriff ‚Leiblichkeit’ etabliert. Die Operation verlangt also nach einer

______________

168 Husserl verfolgte dagegen als Ziel eine Fundierung der Wissenschaft unter Überwindung sich immer mehr verselbständigender und spezialisierender Forschungsregionen. Die implizite Aufklärungsbedürftigkeit der Lebenswelt im Husserlschen Sinne dient nicht dazu, die Vorer-fahrungen der Schüler blind zu akzeptieren und in den Unterricht zu integrieren. Vgl. Kap. II.3.2

148 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

eigenen Begrifflichkeit, um nicht ‚etwas als etwas‘ zu interpretieren, was nicht

selbst als Gegenstand phänomenologischer Forschung erscheint. Der phänomeno-

logische Leibbegriff wird um spezifisch-ästhetische Qualitäten erweitert, die ihn

als Leiblichkeit kennzeichnen und für eine musikpädagogische Betrachtungsweise

geeignet erscheinen lassen. Ziel ist also eine Exponierung der phänomenologi-

schen Topoi in die ästhetischen Qualitäten der Leiblichkeit.

3 Explikation der Leiblichkeit als ästhetische Qualität

Die dargestellten unterschiedlichen Topoi des phänomenologischen Leibbegriffs

von Husserl und Merleau-Ponty lassen sich in vier ‚ästhetische Qualitäten’ trans-

formieren, die als inklusive Kategorien übergreifender Orientierungspunkte zu

verstehen sind und eine Explikation des in der Analyse Herausgearbeiteten ermög-

lichen.169

Ganz in diesem Sinne zeigen sich in den vier Topoi des phänomenologischen

Leibbegriffs spezifische ästhetische Qualitäten, die sich geschlossen unter dem

Terminus ‚Leiblichkeit‘ summieren lassen. Der durch eine Bezugnahme auf Hus-

serl und Merleau-Ponty gewonnene Leibbegriff wird also von seiner abstrakten

Begrifflichkeit befreit, um seine ihm einwohnenden Qualitäten fruchtbar zu ma-

chen. Dies beinhaltet auch die Konkretisierung des Gehalts in spezifisch-

praktische Verweisungszusammenhänge.

3.1 Zwischen

Ästhetische Erfahrungen können allererst nur über Leiblichkeit realisiert und

wahrgenommen werden. Sie werden zur allgemeinen Bedingung der Produktion

von Kunst und sind ein Zentrum künstlerischer Gestaltung und unabkömmliche

Medien künstlerischer Prozesse überhaupt. Angefangen von der Plastik über das

Gemälde bis hin zur Komposition ist das Werk als Hervorgebrachtes, als ‚ergon’,

nicht ohne Bewegungen zu denken. Das Bemalen der Leinwand, das Vortragen

eines Textes, die Schritte des Tänzers auf der Bühne oder das Musizieren auf

einem Instrument bringen das Kunstwerk allererst zum Vorschein. Die Perspekti-

ve, die ein Maler wählt, um sein Objekt zu entwerfen, die Körperhaltung eines ______________

169 ‚Qualität’ meint ganz im Sinne des lateinischen ‚qualitas’ die ‚Beschaffenheit’ und den ‚Wert’ eines erscheinenden Objekts oder Sachverhalts. Hierdurch wird etwas bezeichnet, und es weist sich als etwas Besonderes im Allgemeinen aus. Ferner kommt dem ‚Objekt’ ein spe-zifischer Nutzen zu, indem es als etwas erkannt wird und für jeweilige Zwecke beansprucht werden kann.

Ergebnisse · 149

Musikers oder die Bewegungskontrolle des Tänzers verweisen auf die Teilhabe

der Leiblichkeit am künstlerischen Vollzug.

Leiblichkeit beinhaltet einen Standpunkt „zwischen Psychischem und Physiologi-

schem“ (PhW 149). Sie kann als eine ‚dritte Dimension‘ gekennzeichnet werden,

um die genannten dualistischen Ansätze zu unterlaufen und eine lebendige Dialek-

tik zwischen Wahrnehmung und Denken zu etablieren.170

Das Zwischen […] übergreift die Gegensätze von Bewußtsein und Sein,

Subjekt und Objekt, ego und alter ego, weil die Glieder dieses Gegensatz-

paares vor dem Prozeß der Differenzierung keinen Sinn haben und weil die

Scheidung selbst nur struktural gedacht werden kann – wenn man nicht

fertige Differenzen unterschiebt (Merleau-Ponty 1984, 69).

Das ‚Zwischen’ wird zur Bedingung der Möglichkeit ästhetischer Erfahrungen. Es

verweist auf einen ‚Zwischenbereich’, der nicht rational erfasst werden kann und

einen Zustand repräsentiert, der prärational vor jeder dualistischen Körper/Geist-

Differenz gedacht werden muss.171 Gerade die Verflechtung musikalischer Voll-

zugsformen macht diese Erfahrung einer Differenz deutlich.172 Ein musikalisches

Ereignis fußt auf einer Produktionsweise, die ästhetisch fundiert erscheint, aber

auch gleichzeitig zur innerlichen Wahrnehmung und Bewertung herausfordert.

Beide Seiten sind nicht getrennt zu denken. Demnach ist v. a. das Hören auch kein

innerlicher Akt, wie es oftmals in der Geschichte der Ästhetik dargestellt wurde,

sondern eine aktive Zuwendung zur künstlerischen Gestaltung und Hinterfragung,

wie denn das Gehörte produziert worden ist.173

______________

170 Vgl. Waldenfels 21998, 176; Meyer-Drawe 32001, 137; auch Sartre thematisiert eine „dritte ontologische Dimension des Körpers“ (Sartre 1995, 619 ff.).

171 „Schon die Häufigkeit der Verwendung von ‚zwischen’ an zentraler Stelle in Merleau-Pontys Schriften fällt auf und unterstreicht so auch stilistisch, daß das ausgesprochene Anliegen sei-ner Phänomenologie den Zwischenbereichen gelten soll“ (Wiesing 1997, 225).

172 Auffallend ist, dass sich viele Musikpädagogen der Metapher des ‚Zwischen’ bedienen, um auf die wechselseitige Verflechtung und Produktion und Rezeption sowie der prärationalen Erfassung musikalischer Vorgänge aufmerksam zu machen. Vgl. v. a. Richter 1987; auch R. zur Lippe spricht in Bezug auf elementare musikalische Erlebnisse von einer „Einheit vor je-der Trennung, also auch vor einer Kombination“ (zur Lippe 1990, 54). Vgl. auch Böhme 1998, 12 ff. sowie J. Derridas Begriff der ‚Differance‘ in Derrida 1988, 29-52

173 Nicht umsonst ist selbst in unserer heutigen Zeit das Virtuosentum als Idealbild einer tech-nisch-musikalischen Perfektion immer noch der weit verbreitete Maßstab des traditionellen Konzertbetriebs, da das Hörerlebnis von akrobatischen Höchstleistungen begleitet wird.

150 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Die Produktion und Rezeption eines Kunstwerks ist dabei durchweg zweideutig.

Physis und Psyche überschneiden sich in einem einzigen Ausdrucksakt. Hier fin-

det sich die im phänomenologischen Leibbegriff angelegte ‚Zweideutigkeit’ wie-

der. Einerseits ist die Motorik die Voraussetzung zur ästhetischen Gestaltung und

besitzt ihre eigenen physiologischen Regeln. Andererseits werden Sinneseindrü-

cke individuell wahrgenommen und im Bewusstsein verarbeitet. Beide Seiten sind

konstitutiv für die künstlerische Gestaltung und können nicht in Form einer ganz-

heitlichen Verschmelzung umgangen werden.174 Der Leib ist in der künstlerischen

Gestaltung sowohl ein Bestandteil künstlerischer Tätigkeit als auch ein Wahrneh-

mungsorgan, das ästhetischen Sinn subjektiv wahrnimmt und individuell bewertet.

Ästhetische Erfahrungen sind offen, mehrdeutig und nicht objektivierbar, da sie

auf die individuelle Weise des Ausdrucks und die Expressivität des Leibes ange-

wiesen sind. Es gilt demnach auch, der „Mannigfaltigkeit unserer Erfahrungen,

dem, was in ihnen Un-sinn ist, und der Kontingenz der Inhalte Rechnung zu tra-

gen und gerecht zu werden“ (PhW 177).

3.2 Interkorporalität

Eine künstlerische Darstellung verweist auf eine Wahrnehmungsweise, die sicht-

bar oder hörbar vermittelt werden kann. Leiblichkeit beinhaltet eine Qualität, sich

Anderen mitzuteilen und von ihnen verstanden zu werden. Sie dient zur Bildung

einer ästhetischen Intersubjektivität, die letztlich nur über das zwischenmenschli-

che Interagieren und Kommunizieren zustande kommt. Diese ästhetische Qualität

wird als Interkorporalität gefasst.175 Menschen geben sich über individuelle Hand-

lungsvollzüge zu verstehen und bilden eine ‚Zwischenleiblichkeit’ (intercorporei-

té). Der in diesem Begriff ‚Zwischen’ verweist wiederum auf die oben erläuterte

grundlegende Ambiguität der menschlichen Existenz.

Auch hier ist eine vollständige Kongruenz zwischen Ausdruck und Bedeutung, die

über den Verstand zugänglich gemacht werden kann, nicht erreichbar. Vielmehr

überschneiden sich Wahrnehmungs- und Ausdrucksvermögen. Über den Leib

kann individueller Sinn im spontanen Vollzug vermittelt werden, ohne in einem

______________

174 In der Musikpädagogik finden sich derzeit verstärkt Forderungen, die konstitutiven Bereiche ‚Handeln, Wahrnehmen und Verstehen’ enger miteinander zu koppeln. Das gilt gerade für die musikalische Elementarlehre. So fordern Ortwin Nimczik und Hans Bäßler: „Handeln ist zugleich Wahrnehmen und Verstehen – beides kann nicht gegeneinander ausgespielt werden“ (Bäßler/Nimczik 2002, 7).

175 Vgl. auch Meyer-Drawe 32001, 133 ff.

Ergebnisse · 151

Schematismus zurückzufallen. Das Verhalten muss sich im intersubjektiven Voll-

zug immer wieder neu begründen und ist auf eine grundsätzliche Spontaneität

oder Kreativität angewiesen. Interkorporalität ruft die grundlegende Vermittlungs-

form ästhetischer Produktionsprozesse wieder verstärkt ins Bewusstsein und ver-

anschaulicht, dass Kunst immer auf ein wechselseitiges Vermitteln und Verstehen

angewiesen bleibt. Beide Prozesse verbinden das Ich und den Anderen und ermög-

lichen eine inhärente Sozialität, die letztlich auf Leiblichkeit rekurriert, da hier die

gelebten Erfahrungsvollzüge deutlich werden. Entgegen einer reinen Reflexions-

theorie, die sich auf die formale Vollständigkeit und Strukturierbarkeit ästheti-

scher Wahrnehmungen beschränkt, zeigt die Interkorporalität, dass sich Kunst

immer auch als Ereignis versteht, welches erst gar nicht nach der vollständigen

rationalen Durchdringung verlangt, sondern sich innerhalb seiner produktiven

Negativität erklärt. Ästhetische Erfahrung beinhaltet die Wahrnehmung des Ande-

ren als das Nicht-Identische, das der eigenen Erfahrung fremd und verschlossen

bleibt, aber gleichzeitig Teilhabe am Fremden ermöglicht. Hieraus ergibt sich die

Einfühlung in das Andere, an der man wiederum selber wächst und sich erweitert.

Die Interkorporalität erweist sich hier als Brücke, um zu verstehen, dass ein Pro-

dukt in seinen vielfältigen ästhetischen Erscheinungsformen immer auch als Ge-

machtes erscheint, d.i. als ein vom eigenen oder fremden Leib Vollzogenes und

Wahrgenommenes.

Das gilt auch für künstlerische Bereiche, deren dekodierbare Zeichensysteme nicht

abstrakt sind, sondern immer auch individuell vermittelt werden müssen. Wenn

Merleau-Ponty Kunstwerke personifiziert, will er hiermit hervorheben, dass sie

zwar auf einer materiellen Basis beruhen und im Bewusstsein existieren, aber vor

allem dazu dienen, von einem Subjekt wahrgenommen und für Andere dargestellt

zu werden. Sie sind Bindeglieder zwischen Menschen, da sie zwischenleiblich

reagieren. Während die Malerei und Literatur auf dem passiven Betrachten oder

Lesen basieren, zeigt sich besonders in der Musik der Verweis auf die leibliche

Darstellung, da hier ein Werk eines fremden Komponisten erst über den eigenen

Leib zum Erscheinen und Erklingen gelangt und über die Interkorporalität als

Zwischenleiblichkeit anderen verständlich gemacht werden kann, denn dem Voll-

zug von Intersubjektivität entspringen die Möglichkeiten musikalischer Gestal-

tungsarbeit. Gerade die vielfältigen Wahrnehmungsformen der Kunst des 20. Jahr-

hunderts verdeutlichen, dass sich die Ästhetik vom Werkbegriff befreit hat und

Handlungen selbst Teile des musikalischen Kunstwerks sind. Die Beherrschung

allgemein gültiger Spieltechniken ist kein Garant mehr, um individuellen Aus-

152 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

druck zu gewährleisten und ihn ästhetisch-intersubjektiv zu vermitteln. Interkor-

poralität dient als wesentliches Gestaltungskriterium innerhalb eines künstlerisch

sozialen Produktionsprozesses, der Kunst zugänglich werden lässt und so das

Werk als Erzeugtes Anderen vermittelt und zu verstehen gibt.

3.3 Expressivität

Der Ausdruck des phänomenologischen Leibbegriffs verweist auf den Bereich der

künstlerischen Gestaltung. Das Subjekt drückt seine Wahrnehmungen individuell

aus und verleiht ihnen darstellend einen dazugehörigen ästhetischen Sinn. Diese

‚Ausdrucksfähigkeit’ des Leibes wird als ‚Expressivität’ verstanden. Der Begriff

verdeutlicht, dass Ausdruck nicht nur willkürlich in der alltäglichen Kommunika-

tion mit Anderen zur Geltung gelangt, sondern dass dem Menschen eine grundle-

gende Fähigkeit zukommt, seinen Leib ästhetisch zu fundieren. Gerade in alltägli-

chen Situationen wird dieses Potenzial deutlich. Ein Mensch bewegt sich mit einer

gewissen Geschwindigkeit in einem bestimmten Rhythmus, nimmt den Raum ein,

stellt sich zu seinem Gegenüber und positioniert sich. Diese Darstellungsprozesse

sind unbewusst und werden präreflexiv ausgeführt.

Der Leib bewegt sich demnach immer schon in ästhetischen Strukturen und hin-

terfragt nicht, wie diese konstituiert worden sind. Die jeweiligen Positionierungen,

seine Perspektive und Akustik sowie die dazugehörigen Stimmungen begründen

eine unhintergehbare Expressivität. Sie beinhaltet ein überhöhtes Moment des

Ausdrucks, da bewusst gestalterische Mittel eingesetzt werden, um nicht nur ein

Können, sondern einen emotionalen Bezug zur Darstellung aufzuweisen. Daher

kommen gerade in künstlerischen Darstellungen diese präreflexiven ästhetischen

Bewegungsqualitäten wieder auf einer Metaebene zur Geltung. Es entsteht ein

‚Ausdrucksraum’, in dem ein unmittelbarer Bezug zwischen Leib und Kunstwerk

herrscht. Bewegungstempo, -dynamik oder -rhythmus können auf musikalische

oder malerische Ebenen transformiert werden. Ästhetische Expressivität greift auf

einen Bereich vor, der im Zur-Welt-Sein fundiert ist, aber im künstlerischen Voll-

zug zur vollen Bedeutung gelangt. Expressivität ist weniger die Darstellung von

‚abstrakten Ideen’, sondern vielmehr das Pulsieren gegenwärtiger Lebensvollzüge,

die bewusst, d.i. in einer bestimmten Situation, mit einer Intention zum Einsatz

gelangen. Hier wird deutlich, dass der Leib in ästhetischen Produktionsprozessen

auf elementare Ausdrucksformen zurückgreift und diese in die Darstellung integ-

riert. Nur über das gestaltende Tun mit allen verständlichen und missverständli-

chen Vollzügen offenbart sich eine individuelle Expressivität, die gerade in ästhe-

Ergebnisse · 153

tischen Akten evoziert wird und auch zur Überschreitung alltäglicher Sinnhorizon-

te auffordert. Expressivität fußt auf dem Gegebenen, um es ästhetisch zu entheben.

3.4 Extension

Die Erweiterung des leiblichen Handlungsspielraums lässt sich im Bereich des

Instrumentalspiels verdeutlichen. Zum einen erhält hierbei der Leib durch die

Hinzunahme eines Klangkörpers eine Vergrößerung seiner gewohnten Motorik.

Zum anderen wird auch sein Ausdrucksvermögen erweitert. Dieses spezielle äs-

thetische Phänomen wird als ‚Extension’ gefasst.176 Im Instrumentalspiel erhalten

Gebärden einen neuen Sinn, da Vorstellungen und Bedeutungen auf einen Ge-

genstand übertragen werden können. Das Instrument ist direkt mit dem Spieler

‚verbunden’, so dass die motorischen Gesten sowohl den jeweiligen Klang erzeu-

gen als auch die individuelle künstlerische Gestaltung bedingen. Hierdurch wird

eine Dualität von hervorbringendem Menschen und benutztem Material umgan-

gen. Das Instrumentarium ist dem ästhetisch Gestaltenden ‚auf den Leib geschrie-

ben‘ und permanenter Bestandteil der künstlerischen Gestaltung. Musizieren ist

somit ein ‚Handwerk’, weil es auf seine leibliche Produktion verweist, durch die

sich ein Subjekt ausdrückt.

Der Leib ‚weiß’ beim Musizieren schon im Vorfeld um die jeweiligen Bewe-

gungsabläufe Bescheid und prägt sie sich nicht jedes Mal neu ein. Der Griff einer

Oktave kann auch auf einer ‚stummen Klaviatur’ oder einem Tisch simuliert wer-

den, so wie eine Partitur vom ‚inneren Ohr’ gehört werden kann. Dennoch ist der

Leib keine Maschine, die per Knopfdruck die nötigen physischen Reflexe bereit-

stellt, wie es eine rein technisch virtuose Spielweise verlangt, und besitzt auch

keine angeborene Mechanik, die im Vorfeld bereitsteht und nur aktiviert werden

muss. Vielmehr bedingen sich Gewohnheit und Ausdruck. Über Übungen eignet

sich der Musiker ein Bewegungsrepertoire an, das gleichzeitig als kreativer Ent-

wurf immer neuer Ausdruckspotenziale und Darstellungsmodi dient. Beide Mo-

______________

176 „Das Instrument ist ein Körper – Erweiterung und Verlängerung menschlicher Organe“ (Rüdiger 21999, 9). Der Gedanke einer Extension des Leibes im Instrumentalspiel findet sich in verschiedenen Instrumental- und Gesangsdidaktiken. Problematisch ist hierbei die Tendenz einer einseitigen Ausrichtung auf den Bereich des Ausdrucks sowie eine Aufhebung der bei-den konstitutiven Seiten (Technik und Ausdruck) zu Gunsten einer ganzheitlichen Musik-wahrnehmung. Vielmehr müssen beide Seiten berücksichtigt werden, da sie sich jeweils über-lagern und so ihre eigentliche Einheit im Sinne einer Ambiguität des Leibes bilden.

154 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

mente werden durch die Expressivität und die Extension des Leibes im Musizieren

allererst möglich.

Die Verbindung zwischen physischer Produktion und individueller Gestaltung

zeigt sich besonders deutlich im Gesang, da hier der Atem gleichzeitig den Ton

hervorbringt und das Mittel zum musikalischen Ausdruck ist. Ein Ton wird so-

wohl innerlich produziert als auch äußerlich hörbar erfahren. Auch im Atmen der

Bläser wird dieser doppelseitige Prozess deutlich. Selbst Pianisten oder Streicher

verwenden den Leib als ein Medium, um sich auf dem jeweiligen Instrument aus-

drücken zu können und ihre Vorstellungen dorthin zu übertragen.177 Die Verlänge-

rung des Leibes und Verflechtung von Ausdruck und Gewohnheit findet die deut-

lichste Umsetzungsmöglichkeit im Bereich der Improvisation, die dem Musiker

den nötigen Freiraum lässt, um kreative Prozesse im leiblichen Umsetzen musika-

lischer Gedanken zu gestalten.

Der Leib und das Kunstwerk besitzen sowohl eine physische Materialität, die sie

auf eine ontologische Ebene reduziert, als auch ein transzendentes Sein, das über

das rein faktische Erscheinen hinausgeht. Ein Musikstück besteht gewöhnlich aus

einem sichtbaren Notenbild, der Partitur, die sich innerhalb der musikalischen

Gestaltung immaterialisiert. Gleichermaßen lassen sich Bewegungen in motori-

sche Einzelheiten gliedern und sind so sichtbarer Bestandteil einer komplexen

physiologischen Mechanik. In der Darstellung und der Verbindung einzelner Ges-

ten zu einer Tätigkeit werden Bewegungen deutbar. Durch diese Konnotationen

wird das Kunstwerk zu einer Form der individuellen Existenz und ferner der Leib

selbst zu einem Kunstwerk. Durch die Extension bedingen sich gegenseitig eine

Technik, die über Gewohnheit und Üben erreicht wird, und ein ständiger kreativer

Ausdruck im Entwerfen von Sinn über die Expressivität. Im Musizieren sind beide

Bereiche konstitutiv und prägen neue künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten.

Gerade die Ambiguität und Negativität im Entwerfen und Gestalten von Sinn

werden durch die permanente Unfassbarkeit und Unabgeschlossenheit von Exten-

sionen allererst erfahrbar.

______________

177 Eine Sonderstellung nimmt der Dirigent ein, der im Akt des Dirigierens die Extension als stumme Hervorbringung von Gesten verdeutlicht. Dieter Schnebel thematisiert in vielen sei-ner Kompositionen diese musikalisch-gestische Aktionsform. Die Komposition ‚visible mu-sic II, nostalgie (=Modelle-Ausarbeitungen 1) ist z. B. ein ‚Solo für ein Dirigenten’ und wird ohne Orchester aufgeführt. Die Darstellung der Gestik wird zur Musik ohne Klang. Ausführ-lich hierzu vgl. Kap. V.3.2.3

Bewährung · 155

V BEWÄHRUNG

Wissenschaftliche und praktische Musikpädagogik haben verschiedene

Funktionen. Doch beide zeigen Neigung, sich zu umarmen.

(Abel-Struth 1985, 73)

Das Ergebniskapitel veranschaulichte vier ästhetische Qualitäten des phänomeno-

logischen Leibbegriffs, die systematisch als Leiblichkeit gefasst wurden. Im nun

folgenden Kapitel wird überprüft, ob sich diese Ergebnisse in bestehende musik-

pädagogische Konzeptionen integrieren und als relevante Praxisfelder für den

Unterricht ausweisen lassen. Eine im Vorfeld angenommene Akzeptanz der bisher

geleisteten Ergebnisse würde nicht nur wieder in die Vagheit musikpädagogisch

konkurrierender Körper/Leibkonzepte zurückfallen, sondern auch die grundlegen-

de Praxisdimension außer Acht lassen.

Zur ‚Bewährung’ der Qualitäten der Leiblichkeit für den Musikunterricht werden

zwei methodische Strategien verfolgt. Zum einen wird Leiblichkeit mit bereits

bestehenden musikpädagogischen Konzeptionen in Bezug gesetzt, die sich impli-

zit oder explizit mit einer vergleichsweise ähnlichen Thematik auseinander setzen

(1.1-1.5). Die zentrale Aufgabe dieser ‚Integration’ besteht darin, kritisch zu hin-

terfragen, ob Gemeinsamkeiten, Abgrenzungen oder Ergänzungen zu entdecken

sind. Zum anderen müssen sich die theoretisch explizierten und über eine phäno-

menologische Bezugnahme gewonnenen Qualitäten der Leiblichkeit allererst in

musikpraktische Felder ‚ausweisen’. Exemplarisch wird der Bereich ‚Neue Mu-

sik’ (2.1-2.2) herangezogen, um konkrete Umsetzungsmöglichkeiten der Leiblich-

keit aufzuzeigen. Das Ziel liegt in einer praxisrelevanten Vertiefung der Ergebnis-

se, die eine Etablierung der Leiblichkeit im musikpädagogischen Diskurs ermög-

licht. Die vorgestellten Qualitäten bewähren sich nur dann, wenn sie sich auch im

Unterricht konkretisieren lassen und so ‚Musik als Vollzug von Leiblichkeit’

statuieren.

Die Bewährung fundiert Leiblichkeit als musikpädagogische Vollzugsformen in

exemplarischen Themenfeldern. Hierdurch zeigt sich seitens der Phänomenologie,

dass sie nicht nur ein Bereich theoretisch-erkenntniskritischer Forschung ist, son-

dern sich auf musikalischer Ebene anwenden lässt. Diese ‚Wende’ von der theore-

156 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

tisch-analytischen Explikation zur praktischen Realisierung wird als ‚Ausweisung’

bezeichnet. Der Begriff verdeutlicht, dass sich musikpädagogische Theorien, auch

wenn sie auf abstrakte philosophische Methoden rekurrieren, in konkreten Hand-

lungsfeldern ‚bewähren‘ müssen.178 Musikpädagogische Theoriebildungen können

noch so abstrakt formuliert werden, dürfen aber die Strukturierungs- und Gestal-

tungsdimensionen schulischer Praxisfelder nicht außer Acht lassen.

Die vorliegende Arbeit enthält eine Ausweisung, die sich mit Vollzugsmöglichkei-

ten im Bereich ‚Neuer Musik‘ auseinander setzt. Sie gliedert sich in eine ‚Hinfüh-

rung’ und eine ‚Durchführung’. Während die Hinführung einleitend einen Über-

blick über die Thematik gibt, dient die darauf folgende Durchführung dazu, mög-

liche musikpädagogische Vollzugsweisen zu erproben und verschiedene Praxisbe-

züge vorzustellen.

______________

178 ‚Ausweisung’ deutet auch auf die begriffsgeschichtliche Nähe zu ‚Ausweis’ und ‚Beweis’ hin.

Bewährung · 157

1 Integration der Leiblichkeit in musikpädagogische Konzeptionen

Die Integration versteht sich im Sinne der Bewährung als eine Konkretisierung

von musikpädagogischen Bezügen und Verweisen, welche die eigene Limitation

der Arbeit sowie deren potenzielle Weiterentwicklungen erkennbar machen und

das konzeptionelle Feld der spezifisch phänomenologischen Forschungen verdeut-

lichen. Diese explizite Bezugnahme versteht sich weniger als Versuch, die hier

gewonnenen Ergebnisse zu propagieren oder andere zu kritisieren. Vielmehr geht

es um die Aufgabe, die Position der Leiblichkeit zu bestimmen und ihre musikpä-

dagogische Verankerung zu verorten. Sie steht somit nicht isoliert als vereinzeltes

Ergebnis phänomenologischer Forschung, sondern positioniert sich im Verhältnis

zu bereits bestehenden Konzeptionen der Autoren Bernhard Waldenfels, Jürgen

Vogt, Klaus Mollenhauer, Christoph Khittl und Christoph Richter.179

In der Reihenfolge wurde zwischen eher philosophisch oder musikpädagogisch

orientierten Ansätzen differenziert. Waldenfels steht z. B. nicht im Kontext mu-

sikpädagogischer Fragestellungen, hat sich jedoch in einem instruktiven Einzel-

beitrag mit einer musikalischen Fundierung des Lebensweltbegriffs auseinander

gesetzt. Ferner ist er um eine Etablierung der Phänomenologie Merleau-Pontys im

philosophischen Diskurs bemüht.180 Seine Theorie der ‚responsiven Rationalität’,

die den Zusammenhang zwischen sprachlichem und leiblichem Verhalten themati-

siert, wird von Jürgen Vogt aufgenommen und für den Bereich musikalischer

Bildung konkretisiert.181 Während beide deutlich auf die phänomenologischen

Forschungen Husserls und Merleau-Pontys rekurrieren, schließen sich dagegen

Mollenhauer und Richter eher den anthropologischen Überlegungen Helmuth

Plessners an und sind um eine Neubestimmung des Verhältnisses von ‚Musik und

Bewegung’ bemüht. Mollenhauer greift dabei in seinen empirischen Studien zur ______________

179 Es wären weitere Bezugnahmen möglich gewesen. Die hier aufgezeigten Relationen veran-schaulichen zum einen eine konkrete Stellungnahme zu aktuellen musikpädagogischen For-schungsergebnissen und fokussieren auf der anderen Seite die deutlichsten Parallelen zur hier dargestellten Qualitäten der Leiblichkeit.

180 Dabei hat er sich auch immer wieder intensiv mit dem Leibbegriff Merleau-Pontys auseinan-dergesetzt. Vgl. Waldenfels 21998

181 Vgl. SBL 232 ff.; die Termini ‚Responsivität’, ‚Responsive Theorie’, ‚Responsive Rationali-tät’, ‚Responsive Erfahrung’ oder ‚Theorie der Responsivität’ basieren alle auf der Kenn-zeichnung des Handelns als Antwort, um Vorstellungen eines rein reagierenden Tuns zu um-gehen. Ursprünglich stammt der Begriff Response aus der Verhaltenspsychologie und be-zeichnet die Reaktion (response) auf einen Reiz (stimulus). Dies erklärt die Abkürzung des klassischen Konditionierens als S-R-Modell.

158 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

ästhetischen Erfahrung von Kindern Aspekte der Responsivität auf, die auch in

den Untersuchungen von Waldenfels und Vogt eine schwerpunktmäßige Berück-

sichtigung finden. Richter sieht hingegen im Begriff der ‚Verkörperung’, den er

der philosophischen Anthropologie Plessners entlehnt, eine Erweiterung der ‚Di-

daktischen Interpretation von Musik’. Ähnlich wie Richter geht es auch Christoph

Khittl um eine Kritik an der Entsinnlichung des Musikunterrichts, da sinnliche

Erlebnisse nicht ausreichend beachtet werden. Im Rahmen einer ‚leibbezogenen

Didaktik’ konzentriert er sich auf die Unterrichtspraxis, um den Menschen zwi-

schen musikalischer Produktion und Rezeption als Körper/Geist-Einheit zu begrei-

fen.

In diesen Andeutungen wird bereits ersichtlich, dass die in der Bewährung aufge-

nommenen Konzeptionen entweder durch eine eher theoretisch-wissenschaftliche

oder praktisch-didaktische Fundierung motiviert sind. Waldenfels und Vogt orien-

tieren sich weitestgehend auf abstrakter streng wissenschaftlicher und kritischer

Basis, während Khittl und Richter sich dagegen mit praktischen Fragen zum Ver-

hältnis von Musik und Bewegung beschäftigen und bemüht sind, den Körper als

Teilbereich musikalischer Erfahrung in den Unterricht zu integrieren. Klaus Mol-

lenhauer untersucht auf empirischer Basis die künstlerische ‚Tätigkeitskomponen-

te’ von Kindern und die damit verbundenen ästhetischen Erfahrungen während

musikalischer Improvisationen.

Alle Autoren haben sich unterschiedlich intensiv mit dem Thema Leib/Körper und

Musik auseinander gesetzt. Während sich v. a. Richter in zahlreichen Einzelbei-

trägen immer wieder mit dem Verhältnis von Musik und Bewegung beschäftigte,

thematisiert Mollenhauer schwerpunktmäßig ‚Grundfragen ästhetisch-

musikalischer Bildung’.182 Vogt geht es wie Waldenfels dabei auch um eine Neu-

etablierung des Hörens. Khittls Untersuchung muss eher als eine Skizze angese-

hen werden, die jedoch ansatzweise neue Integrationsmöglichkeiten von Bewe-

gung im Musikunterricht thematisiert. Der vielversprechende Untertitel einer

‚leibbezogenen Didaktik der Musik’ wird den Ansprüchen einer wissenschaftlich

fundierten Theoriebildung nur in Ansätzen gerecht.

______________

182 Vgl. Selle 1990

Bewährung · 159

Allen hier vorgestellten Modellen ist gemeinsam, dass sie implizit oder explizit

eine Bezugnahme auf die Leiblichkeit sowie deren Transformation in musikpäda-

gogische Bereiche ermöglichen. Die Forschungsansätze werden im folgenden

Kapitel ausführlich dargestellt und kritisch mit hier vorliegenden Ergebnissen

verglichen. Aus unterschiedlicher Perspektive wird so der Frage nachgegangen, ob

und wie Leiblichkeit eine eigenständige Konzeption musikalischen Lernens, Er-

fahrens und Verstehens bildet.

1.1 Waldenfels: Primat des Hörens im musikalischen Zwischengeschehen

Der für die Musikpädagogik maßgebliche Aufsatz von Waldenfels bezieht sich,

wie der Titel ‚Lebenswelt als Hörwelt’ verdeutlicht, auf Husserls ‚Krisis-

Schrift’.183 Musikalische Phänomene finden sich in einer „relativ undifferenzier-

te[n] konkreten Lebenswelt“ (Waldenfels 1999, 181), in der sich Menschen mit

Produkten der Kultur, Wissenschaft und Kunst umgeben.184 Ihre jeweilige Offen-

heit erläutert Waldenfels an den drei Begriffen des ‚Vormusikalischen’, ‚Nachmu-

sikalischen’ und ‚Übermusikalischen’.

Das ‚Vormusikalische’ stellt gewisse archetypische Muster bereit, an denen sich

Menschen immer schon orientieren, wie z. B. der Rhythmus des Herzschlags oder

der Kreislauf der Jahreszeiten. Das ‚Nachmusikalische’ findet sich in der ge-

räuschhaften Struktur unserer Umwelt wieder, mit der sich Menschen tagtäglich

umgeben. Das ‚Übermusikalische’ verweist auf die über Jahrhunderte andauernde

und in immer neuen Formen erprobte Beschäftigung mit Musik, wie z. B. ver-

schiedene Musiktechnologien oder die Entstehung neuer Kompositionstechniken.

Diese ‚undifferenziert konkrete Lebenswelt’ lässt sich wiederum in spezielle

„intrakulturelle Sonderwelten“ gliedern (Waldenfels 1999, 182), von denen eine

______________

183 Vgl. Husserl 1954; Der Artikel ‚Lebenswelt als Hörwelt’ wurde zunächst als Vortrag auf der 20. Bundesschulmusikwoche 1994 in Gütersloh gehalten. Als eigenständiger Artikel erschien er dann 1995 in dem von D. Zimmerschied herausgegebenen Sammelband ‚Lebenswelt. Chancen für Musikunterricht und Schule’. Er wurde dann von Waldenfels als Bestandteil sei-ner Schrift ‚Sinnesschwellen’ 1999 erneut abgedruckt. Dass er an Aktualität nichts eingebüßt hat, zeigt das erneute Erscheinen in K. H. Ehrenforths Sammelband ‚Musik – unsere Welt als andere. Phänomenologie und Musikpädagogik im Gespräch’ aus dem Jahre 2001. Eine Gene-se der Veröffentlichungsgeschichte findet sich in Waldenfels 1999, 243. Vgl. auch Zimmer-schied 1995; Ehrenforth 2001a

184 Die Lebenswelt als zugleich undifferenziert und konkret zu bezeichnen, ist kein Widerspruch. Sie ist undifferenziert, weil sich in ihr spezifische Gliederungen und Organisationsformen noch nicht abgezeichnet haben; sie ist konkret, weil sie den alltäglichen Umgang und die An-schaulichkeit von Situationen thematisiert.

160 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

auch die ‚Welt der Töne’ ist. In diesen Sonderwelten ergeben sich verschiedene

musikalische, historische, kulturelle oder funktionale Auffassungen von Musik,

die aber als Netz alle miteinander verflochten sind, wie z. B. Musik zum Tanzen,

Musik im Konzertsaal, Musik in Afrika oder Musik in der Kirche. Ihre Ordnungen

sind nicht determiniert oder vorstrukturiert, sondern beginnen allererst mit prärati-

onalen unkritischen Wahrnehmungen. Der Mensch lebt so in einem Feld von

Klängen, die er sich durch individuelle Erfahrungen aneignet.

Der Ansatz beim Lebensweltbegriff setzt auch die Bedingung einer Krise voraus,

in welche die Musik durch die schwindende Lebensbedeutsamkeit und die Auf-

wertung der Vernunft geraten ist. Ganz im Sinne Ehrenforths bezieht sich Walden-

fels hier auf den „grammatikalischen Fundamentalismus“ (Ehrenforth 1993, 14)

und konstatiert drei Bereiche, in denen sich die Krise verorten lässt. Die ‚Techni-

sierung’ beschränkt sich auf eine bloße funktionale Musiktechnik, eine ‚Pragmati-

sierung’ läuft auf eine einseitige Handlungsorientierung im Sinne eines ‚Do it

yourself’ hinaus und die ‚Kulturalisierung’ verwandelt Musik in ein Konzept, das

sich weitestgehend an der Vergangenheit orientiert. Im Unterricht verdrängt die

Hervorhebung rationaler Lerninhalte das Vor- und Übermusikalische und konzent-

riert sich einzig auf Klassifikationen des Übermusikalischen.

Den Zusammenhang aller drei Ebenen fasst Waldenfels unter dem Begriff ‚Hör-

welt’ zusammen. Sie reicht weiter „als die spezifische Welt der Klänge und Töne“

(Waldenfels 1999, 190). Durch sie sollen v. a. die lebensweltlich begegnenden

Klänge aufgewertet und als gleichberechtigter Zugang für ästhetische Wahrneh-

mungen in den Unterricht integriert werden. Die Hörwelt besteht nicht nur aus

festgelegten ‚künstlichen’ Tönen, sondern kann durch Geräusche, Klänge und

Laute ergänzt werden. Als Beispiele können hier die aleatorischen Verfahren und

der weite musikalische Materialbegriff von Cage angeführt werden. Auch die sog.

‚soundscapes’, die das musikalische Ereignis in die Natur verlegen und im Sinne

von Klanglandschaften die atmosphärische Akustik einer Stadt oder einer be-

stimmten Umwelt ausdrücken, verdeutlichen die Ausweitung der Töne in den

Bereich der Lebenswelt. Auch für die Instrumentalpraxis eröffnen sich über die

Entwicklung neuer Spieltechniken, die Entfremdung gewöhnlicher Klangerzeuger

und die Hinzunahme von Alltagsgegenständen vielfältige Möglichkeiten, um die

Klanglichkeit der ‚Hörwelt’ in die musikalische Gestaltung zu integrieren.

Innerhalb des Musizierens wird der ‚musizierende Leib’, der „mit Hand, Fuß und

Stimme an der Tonerzeugung beteiligt ist“, bedeutsam (Waldenfels 1999, 192):

Bewährung · 161

Der Leib, der als Leibkörper selbst der Natur angehört, bildet – mit den

Worten Husserls gesprochen – eine ‚Umschlagstelle’, wo Natur in Kultur

und Kultur in Natur übergeht. Auch die Musikinstrumente sind keine blo-

ßen Werkzeuge, die kulturell erzeugt und eingesetzt werden, sondern sie

zehren von einer Musikalität der Dinge (Waldenfels 1999, 192).

Der Begriff ‚Umschlagstelle’ verdeutlicht, dass durch die Präsenz des Leibes auch

der Musik ein Ereignischarakter zugesprochen wird.185 Neben der ontologischen

Fundierung, die musikalische Prozesse hierbei erhalten, lassen sich Aspekte der

Leiblichkeit erkennen, die zunächst auf die Qualität der ‚Extension’ hinweisen.

Wenn Musikinstrumente ‚keine bloßen Werkzeuge’ sind, dann wird der Leib, der

das Ausdrucksvermögen und den Produktionsspielraum des Instrumentalisten

erweitert, angesprochen. Auch Waldenfels sieht den Leib als Medium, als unver-

zichtbaren konkreten Bestandteil der Lebenswelt, der in Form von erscheinenden

‚Tonereignissen’ selbst in das praktische Geschehen integriert ist. Erst durch des-

sen Hinzunahme begründet sich das konkret faktische Geschehen der Musik. Im

Sinne einer Verflechtung zwischen Hören und Handeln wird die Musik somit zu

einer Substanz, die durch das Medium der Leiblichkeit den Dualismus von Kör-

per/Geist aufhebt.

Wenn etwas ertönt, so geschieht nicht bloß etwas im inneren Erlebnisraum

der Seele, sondern es geschieht etwas in der Welt (Waldenfels 1999, 194).

Dieses Wechselverhältnis, an dem mindestens zwei Faktoren beteiligt sind, wie

z. B. Aktion und Passion, bezeichnet Waldenfels auch als ein „Zwischengesche-

hen“ (Waldenfels 1999, 195). Dieser Begriff verweist auf das ‚Zwischen’ und

thematisiert gleichfalls eine wechselseitige Verflechtung von Produktion und

Rezeption, die immer schon aufeinander bezogen sind und eine intersubjektive

Gemeinschaft von Spieler und Hörer begründen. Während hierfür die beiden Be-

reiche Sprechen und Hören bzw. Tun und Mittun angegeben werden, zeichnet sich

im Verlauf der Argumentation eine Fokussierung auf ein „Primat des Hörens“ ab

(Waldenfels 1999, 196), das die konstitutive Rolle des ‚Zwischengeschehens’ des

Leibes im Sinne von individuell wahrgenommenen Hörerlebnissen thematisiert.

Waldenfels ist demnach um eine Neubewertung ästhetischer Erfahrungen im Be-

reich des Hörens bemüht, das sich immer auch ungewöhnlichen Umweltklängen

______________

185 Vgl. Husserl 1973, 351; ausführlich zum Begriff ‚Umschlagstelle’ vgl. auch Meyer-Drawe 32001, 93 ff.

162 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

öffnen soll. Leiblichkeit konzentriert sich dagegen auch auf optische Vollzugs-

formen und versteht jegliche Musizier- und Wahrnehmungsvorgänge als grund-

sätzlich leiblich fundiert. Um die von Waldenfels thematisierte ‚Umschlagstelle’

des Leibes zu verdeutlichen, ließe sich im Sinne des ‚Zwischen’ sowohl das ‚Pri-

mat des Hörens’ als auch das ‚Primat des gestaltenden Tuns’ anführen. Die Ziel-

perspektive, die Waldenfels innerhalb der verschiedenen Facetten von akustischen

Erscheinungen in der Hörwelt anvisiert, führt zu einer notwendigen „Rehabilitati-

on des Gehörs“ (Waldenfels 1999, 195), die sich auch fremden Klängen nicht

verschließen will, sondern offen auf Neues reagiert. Demnach ist das Musizieren

auf ein ‚Sich-Singen-Hören’ oder ein ‚Sich-Spielen-Hören’ angewiesen und kon-

zentriert sich auf eine verbale Ebene, wo das Sprechen nur dann möglich ist, wenn

das Gesprochene auch gehört wird. Gleichermaßen lässt sich auch im Sinne der

Leiblichkeit von offenen Reaktionen sprechen, die mechanische Bewegungen

negieren und nach neuen Formen von Expressivität suchen, in denen sich der

Musiker jeweils mitteilt und ausdrückt.

Waldenfels orientiert sich in seiner Darstellung wesentlich an der ‚Theorie des

responsiven Charakters des Gehörs’.186 Ausgangspunkt ist eine Kritik an der tradi-

tionellen Dominanz der ‚Frage’, die nur unter einem festgelegten Gesichtspunkt

gestellt wird und eindeutige Ergebnisse verlangt. Sie schränkt nicht nur das Blick-

feld auf eine determinierte Sichtweise ein, sondern blendet Ungewohntes und

Unkalkulierbares aus. Waldenfels setzt dagegen bei der Antwort an, unter der er

ein vielschichtiges Phänomen versteht, das sowohl mehrdeutig als auch offen ist

und auf vielfältige fremde ‚Ansprüche’ einzugehen weiß.

Antworten bedeutet dagegen ein Eingehen auf einen Anspruch, der sich er-

hebt und von anderswoher kommt. Das Antworten nutzt Möglichkeiten, die

ihm angeboten werden und auf bestimmte Weise abverlangt werden (Wal-

denfels 1994, 188).

Wo das alltagssprachliche Verständnis von ‚Antwort’ auf das passive Sprechen

oder die konkrete Lösung einer Frage verweist, kennzeichnet Waldenfels sie als

eine Form von Handeln, das eindeutige Zweck/Mittel-Relationen, Klassifizierun-

gen und Normierungen sowie Subjekt/Objekt-Dualismen zu umgehen versucht.

Antworten wird als ein reagierendes Tun auf einen Reiz im Sinne der Verhaltens-

______________

186 Vgl. Waldenfels 1994

Bewährung · 163

theorie verstanden, die hierfür den Begriff der ‚Response’ verwendet. Das Ver-

meiden eindeutiger Ableitungsverhältnisse durch ein offenes Reiz-Reaktions-

Muster will die Verflechtungen von Handlungsspielräumen herausstellen. Respon-

sivität versteht sich so als ein Dialog, der durch den Aufforderungscharakter von

Dingen und Situationen mit einer Frage entsteht und durch eine Vielzahl von

Handlungen ‚beantwortet’ werden kann.

Bedeutsam für die Qualitäten der Leiblichkeit ist die Hervorhebung von „Zwi-

schenereignissen“ (Waldenfels 1994, 242), die im Sinne eines dritten Weges die

Kontingenz von Verstehensprozessen ermöglichen. Demnach ist ein Handeln

immer auch von einer ‚responsiven Differenz’ her bestimmt, die andersartige

Deutungen mit einschließt. Waldenfels benennt verschiedene Topoi:

- Das Moment des ‚Hiatus’ verweist im Sinne von „Riß, Spalt, Sprung“

(Waldenfels 1994, 334) auf die Offenheit zwischen Anspruch und Ant-

wort.

- Die ‚Irreprozität’ besagt, „dass wir antwortend nicht auf beiden Sei-

ten des Grabens zugleich stehen“ (Waldenfels 1994, 335). Die Rollen-

verteilung ist nicht beliebig umkehrbar. Nur ein außenstehender Drit-

ter kann den jeweiligen Wechsel von Anspruch und Antwort feststellen.

- Die ‚Diastase’ bezeichnet ein Auseinandertreten von Instanzen. Das

Wechselspiel von Anspruch und Antwort liegt weder als zwei abge-

trennte Teile noch als zusammenhängende Einheit vor.

- Der ‚Überschuss’ im antwortenden Sagen hebt die Mehrdimensionali-

tät des rein Faktischen hervor.

- Die ‚Nachträglichkeit’ benennt den kreativen Aspekt der Antwort, die

im Prozess des verzögernden Dialogs erst entsteht.

- Die ‚Unausweichlichkeit’ der Antwort zeigt eine latente Anlage zur

ethischen Verpflichtung und deutet die stets vorhandene Abhängigkeit

von Frage und Antwort an, so dass sich selbst durch Weghören

responsive Zusammenhänge ergeben.

Der responsive Ansatz lässt sich auch für die Musik im Bereich des Hörens veran-

schaulichen, da durch die Wahrnehmung von Klängen und Geräuschen in der

bestehenden Lebenswelt zahlreiche Antworten bereitgestellt werden. Nach Wal-

164 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

denfels finden sich gerade in der Neuen Musik Tendenzen, die durch eine Aufhe-

bung einer reinen Werkästhetik auch Störendes und Außerordentliches als frem-

den Anspruch in die Musik transportieren und somit als ‚Unerhörtes’ und ‚Mitge-

hörtes’ über das rein ‚Übermusikalische’ hinausweisen.187

Waldenfels differenziert zwischen drei Formen eines responsiven Charakters des

Gehörs, die mit einer latenten Gesellschaftskritik einhergehen. Die erste Form, das

‚Unhörbare im Hörbaren,‘ betrifft das Moment der Stille, von der sich jeder Klang

absetzen muss. Das zweite Motiv thematisiert ‚das Unerhörte’ im Sinne neuer

Möglichkeiten musikalischer Erfahrung. Daran gekoppelt ist eine Kritik des Tradi-

tionalismus, der sich jedem Ungewöhnlichem verschließt. Drittens deutet das ‚Zu-

Hörende’ auf das Fremde, das den Menschen auffordert, auf das Andere der Mu-

sik hin zu hören, um nicht technischer Virtuosität zu verfallen.

Zusammenfassend lässt sich die musikpädagogische Relevanz der Theorie der

Responsivität als eine Schulung des ‚Hörens auf das Fremde’ verstehen, die an

Hand der Trias ‚Anspruch-Hören-Antworten’ leibliche Zwischenereignisse konsti-

tuiert und intersubjektiv fundiert:

Im Zu-Hörenden begegnet uns jenes radikal Fremde in Form eines fremden

Anspruchs, der nur laut wird, indem wir, als Musikausübende sowohl wie

als Musikhörer, hörend auf ihn antworten (Waldenfels 1999, 198 f.).

Wie in der Leiblichkeit geht es Waldenfels um eine Neubewertung der Wahrneh-

mung, die v. a. von ihrem normierten statischen Charakter befreit werden soll und

das Offene, Ungewohnte und Fremde im Blick behält. Die damit verbundene

Konzentration auf individuelle Hörvorgänge will v. a. die ästhetische Dimension

der Umweltklänge berücksichtigen, an denen der Leib immer beteiligt ist und in

Zwischenereignisse involviert erscheint. Die Konzentration auf die Wahrnehmung

des Alltäglichen als Bestandteil ästhetischer Erfahrung verdeutlicht das Festhalten

an „dem Unhörbaren dieser Welt“, wodurch dann nicht der Musik eine imaginäre

Existenz zugesprochen würde, sondern „die Welt der Kunst wäre diese unsere

Welt, aber als andere“ (Waldenfels 1999, 198). Auch die Leiblichkeit thematisiert

neue Wahrnehmungspotenziale innerhalb musikalischer Vollzugsformen, die

______________

187 Waldenfels bezieht sich konkret auf den Bereich der Neuen Musik unter Berücksichtigung des weiten Kunstwerkbegriffs von John Cage, was nicht bedeutet, dass solche fremden An-sprüche nicht auch in konventioneller klassischer Musik vorzufinden wären.

Bewährung · 165

einen Teilbestand ästhetischer Erfahrung bilden und als wesentliche Bestandteile

wiederum die Hörerlebnisse allererst ermöglichen. Das ‚musikalische Zwischen-

geschehen’, das den ontologischen Status der Musik etabliert, wird somit über die

leibliche Erfahrung selbst begründet. Die Ambiguität von Hören und Antworten

versteht sich immer auch als dritter Weg zwischen Hören und Handeln, wodurch

responsive Erfahrung auch im Sinne außersprachlicher Akte und Handlungen zu

begreifen ist. Leiblichkeit fokussiert diese kreativen Vollzugsformen im Zur-Welt-

Sein und umgeht innerhalb der Interkorporalität den Tendenzen einer Verinnerli-

chung und Passivität, die einen Solipsismus nahe legen.

Da Waldenfels sich methodisch auf die Frage nach dem Zusammenhang von

Sprache und leiblichem Verhalten konzentriert, sind seine Vorstellungen von einer

„leiblich verankerten Responsivität“ (Waldenfels 1994, 478) immer auch sprachli-

chen Kriterien verpflichtet:

Alles, was wir früher dem Ereignis des Sagens zuschrieben, würde sich al-

so mutatis mutandis in der Sphäre der Leiblichkeit wiederholen. Die

Responsivität würde auch hier darüber befinden, was responsive Leiblich-

keit besagen kann (Waldenfels 1994, 479).

Sprache wird selbst zur Vollzugsform, die sich einer traditionell verankerten De-

termination von ‚Musik machen’ und ‚über Musik sprechen’ entzieht. Wenn die

Stimme allein schon durch den zwiefachen Aspekt des ‚Sprechens’ und ‚Sich-

selber-Hörens’ die Aufhebung traditioneller Dualismen suggeriert, dann verweist

die gleichursprüngliche Annahme von musikalischer Produktion und Rezeption

immer auch auf einen Zwischenbereich, der gerade in Form der Leiblichkeit aus-

gewiesen wird. Dass Waldenfels ähnliche Aspekte im Bereich musikalisch-

ästhetischer Erfahrung sieht, mag abschließend das folgende Zitat aus dem Artikel

‚Lebenswelt als Hörwelt’ verdeutlichen: „Musik gleicht vielmehr der Sprache

darin, dass sie als multifunktionales und multivalentes Phänomen auftritt. Weltbe-

zug, Selbstbezug und Fremdbezug sind unlöslich miteinander verbunden […]“

(Waldenfels 1999, 191).

1.2 Vogt: Antwortendes Hören als leibliches Register der Wahrnehmung von Musik

Jürgen Vogt setzt sich in seiner Schrift ‚Der schwankende Boden der Lebenswelt’,

die er als Beitrag zu einer „phänomenologische[n] Philosophie der Musikpädago-

gik“ versteht (SBL 13), zunächst mit einer genauen Bestimmung des Husserlschen

Lebensweltbegriffs auseinander, um von hier aus die Krisis der Wissenschaften in

166 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

ihrer Lebensweltvergessenheit, aber auch die damit verbundene Forderung nach

einer methodisch-wissenschaftlichen Fundierung aufzuzeigen. Im Sinne einer

kritischen Bestandsaufnahme der erziehungswissenschaftlichen und musikpäda-

gogischen Konzeptionen lebensweltlich orientierter Pädagogik lässt sich eine

„normative Krisis“ verorten (SBL 68), da die Ansätze sich durch vermeintliche

Begründungen und Rechtfertigungen auszeichnen, die letztlich zur Trivialisierung

und Pragmatisierung einer wissenschaftlich motivierten Lebenswelt führen.188

Im Anschluss an eine ausgiebige Diskussion über die Lebensweltvergessenheit

pädagogischer und musikpädagogischer Handlungstheorien ist v. a. in der ‚indi-

rekten Ontologie’ Merleau-Pontys die Möglichkeit gegeben, „hinter die (mentalis-

tische) Subjekt-Objekt Spaltung zurückzugehen, ohne dabei hinter sie zurückzu-

fallen“ (SBL 110).189 Der Begriff des ‚wilden Seins’ besitzt eine vor-intentionale

Struktur, die eine „Nabelschnur unseres Wissens und die Quelle des Sinns“ bildet

(Merleau-Ponty 21994a, 206), so dass Sinnbezüge und Verhältnisse zu Objekten

nicht vorgegeben, sondern durch einen noch unartikulierten Bezug ermöglich

werden.190

Durch eine verstärkte Bezugnahme auf das Spätwerk von Merleau-Ponty themati-

siert Vogt zunächst nicht explizit die leiblichen Potenziale existenzieller Hand-

lungsvollzüge, sondern konzentriert sich auf ein Verständnis von Lebenswelt als

‚stumme Erfahrung’, in welcher der Leib als Vehikel des Zur-Welt-Seins aller-

dings im Verborgenen mitgegenwärtig bleibt. Die subjektzentrierte Phänomenolo-

gie Husserls wird hier deutlich verworfen und eine dialektische Sichtweise konzi-

piert, die die Lebenswelt von reduktiven Verfahren freisetzt und gerade die Wahr-

nehmung als offenes Erfahrungsfeld begreift, das in Form der Verflechtung sub-

jektiver und objektiver Sinnstrukturen allererst erschlossen werden kann. In die-

sem Sinne ist der Leib innerhalb seiner Ambiguität die Voraussetzung einer so

verstandenen nicht-identischen Struktur der Lebenswelt, zumal diese sich „als das

______________

188 Der Grund für dieses normative Vakuum der (Musik)Pädagogik liegt in der Annahme eines ‚naturalistischen Fehlschlusses’, der aus der reinen Beschreibung eines Sachverhalts für das Handeln bestimmte Folgerungen ableitet.

189 Vogt greift hier auf H. Schnädelbachs Struktur der Philosophiegeschichte als Folge von ontologischen, mentalistischen oder linguistischen Paradigmenwechseln zurück. Vgl. Schnä-delbach 1991

190 Dieser Ansatz erinnert stark an Adornos ‚Negative Dialektik’, in welcher der Wahrheitsan-spruch der Kunst durch das Erschließen des Nicht-Identischen erreicht werden soll.

Bewährung · 167

Geordnete und Ungeordnete, als das Normierte und das Unnormierte, als das Em-

pirische und das Transzendentale zugleich erweist“ (SBL 116).191 Begriffe wie

‚Scharnier’, ‚Konstellation’ und ‚Zwischen’ verdeutlichen diese prärationale

Struktur des wilden Seins, die zur Aufhebung der Gegensätze von Sein und Be-

wusstsein führt und den schwankenden Boden der Lebenswelt begründet. Um eine

dualistische Subjekt/Objekt-Spaltung zu umgehen, gilt es also, ganz im Sinne der

Leiblichkeit, nach einer dritten Dimension zu fragen, die eine determinierte vorge-

fertigte Ordnung umgeht.

Durch Überlegungen zur Funktion erzieherischer Verantwortung und der poten-

ziellen Kennzeichnung pädagogischen Handelns als ein Modus von ‚Antworten‘

ergeben sich Bezüge zur responsiven Theorie.192 Die von Waldenfels aufgestellten

sechs Topoi ‚Hiatus’, ‚Irreprozität’, ‚Diastase’, ‚Überschuss’, ‚Nachträglichkeit’,

‚Verzögerung’ und ‚Unausweichlichkeit’ werden in pädagogische Kontexte trans-

formiert. Vogt vermeidet dabei eine Theorie der ‚pädagogischen Responsivität’,

die wiederum in die absoluten Forderungen der pädagogischen Verantwortung

zurückfallen würde. Er betont vielmehr eine ‚pädagogische Differenz’, welche die

gleichwertige Behandlung von Fragen und Antworten im Sinne responsiver erzie-

herischer Prozesse hervorhebt und die offenen Beziehungen zwischen Erzieher

und Kind fokussiert.

Der ‚Hiatus’ begreift die noch stummen Erfahrungen des Kind-Seins als Anspruch

pädagogischen Handelns, die ‚Irreprozität’ entspricht den offenen Beziehungen

zwischen Kind und Erwachsenen, die ‚Diastase’ betont das Wechselverhältnis von

„pädagogischer Erfahrung und pädagogischer Situation“ (SBL 132) im Sinne

eines Prozesses und unplanbaren Geschehens, die ‚Nachträglichkeit’ und die

‚Verzögerung’ verweisen durch die Kritik an einer pädagogischen Antwortgram-

matik auf die Situationsbezogenheit des Handelns, das daher nicht verallgemeinert

werden kann und „immer zu spät“ erscheint (SBL 132). Die ‚Unausweichlichkeit’

pädagogischen Handelns impliziert den Anspruch der stummen Erfahrung des

Kindes auf Erziehung und Lernen.

Ein solches Verständnis von Handeln in Form der Bereitstellung vielfältiger Ant-

worten beinhaltet die Distanz von Reiz/Reaktionsmechanismen und hebt einen ______________

191 Zu Vogts Kritik an der ‚Didaktischen Interpretation von Musik’ vgl. Kap. V.1.2 192 Vgl. Waldenfels 1994; SBL 126 ff.

168 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

„passive[n] Charakter“ hervor (SBL 127). Dieser verdeutlicht, dass das Subjekt

weniger ein Objekt ist, das vorgefertigte Befehle ausführt, sondern ein Subjekt

verkörpert, das seine eigene Antwort auf eine Frage, sprich auf den Anspruch

eines spezifischen Wahrnehmungsfeldes hin, bildet. Wie im Zur-Welt-Sein richtet

sich Intentionalität hier nicht nur einseitig auf Gegenstände und konstituiert sie,

sondern fungiert gerade im Leib als Weltvermittelnden. Vogt ist sich in diesem

Zusammenhang der Nähe zum Leibbegriff Merleau-Pontys bewusst, wenn er auf

das offene Verhältnis zwischen Fragen und Antworten als „Austausch zwischen

mir und der Welt, zwischen dem phänomenalen Leib und dem objektiven Körper“

verweist (Merleau-Ponty 21994a, 274). Wie bereits oben erwähnt, geht es Vogt

weniger um die Etablierung einer eigenständigen Leibdefinition, die vielfältige

Vollzugsformen in der Lebenswelt ermöglicht, sondern um die Gewinnung eines

„phänomenologischen Handlungsbegriffs“ (SBL 128).

Handeln ist demnach weder als reine Aktion anzusehen, die von einem au-

tonomen Subjekt initiiert und gesteuert wird, noch als reine Passion, als

purer Reflex auf heteronome Außenreize, sondern als Resultat einer Ver-

schränkung von Innen und Außen, von Autonomie und Heteronomie (SBL

128).

Diese Deutung gewährleistet die Aufhebung normativer Ansprüche, welche Han-

deln auf ein ‚richtig’ oder ‚falsch’ beschränken, und hebt den Anforderungscha-

rakter von Ereignissen und Situationen hervor, die überhaupt erst zur Handlung

auffordern. Vogt gibt hierzu auch ein plausibles praktisches Beispiel.

Ideale Vorstellungen darüber, wie am besten ein Musikinstrument gespielt,

ein Baum erklettert oder ein Pferd geritten werden soll, bleibt sinnlos,

wenn ihnen kein Können korreliert, das der Beschaffenheit der Objekte ent-

spricht (SBL 128).

Deutlich konzentriert sich der Anspruch von außen als Aufforderungscharakter

von ‚Dingen’, die nach passenden und geeigneten Vollzugsformen fragen. Gerade

auch die in der Leiblichkeit angesprochene Extensionsqualität verdeutlicht, dass

Instrumente nach einer Handhabe verlangen und so das gewohnte Verhaltens-

spektrum erweitern. Ein so verstandener Handlungsbegriff relativiert Dichotomien

wie Sollen und Können, denn „zwischen ihnen öffnet sich ein Spalt, der durch

keine normative Regelung und durch keinen Zweck-Mittel-Pragmatismus ohne

weiteres geschlossen werden kann. Keine Norm deckt alle Möglichkeiten des

Handelns ab, und kein Zweck erlaubt nur ein einziges Mittel“ (SBL 129).

Bewährung · 169

Der Leib, so könnte ergänzend hinzugefügt werden, ist die Bedingung der Mög-

lichkeit responsiven Handelns, da er die Offenheit des Aufforderungscharakters

von Dingen und Situationen allererst gewährleistet. In der Annahme einer trans-

zendentalen Bewusstseinsphilosophie würde ein Dialog zwischen Subjekt und

Objekt, zwischen Ich und Gegenstand nicht möglich sein.

Ein so verstandener Handlungsbegriff ist auch für die Auffassung musikalisch

ästhetischer Erfahrung relevant, die immer als Verstrickungsprozess von bestimm-

ten Wahrnehmungsweisen und Eigenschaften der Gegenstände gesehen werden

muss. Thematisch muss hier zwischen zwei unterschiedlichen Verankerungen

innerhalb der Ästhetik differenziert werden. Entweder ist ‚Kunst’ durch ‚Interesse-

losigkeit’ bestimmt und spricht das Subjekt mittels ursprünglicher Erscheinungs-

formen an, wodurch letztlich die ganze Umwelt ästhetisch fundiert erscheint, oder

aber ihr wird ein eigenständiger Bereich zugesprochen, der als ästhetischer Ge-

genstand objektivierbar erscheint und innerhalb seines spezifischen Charakters

vermittelt werden kann. Diese beiden Sichtweisen kulminieren im Bereich der

Musikdidaktik als Differenz zwischen einem schüler- oder kunstwerkorientierten

Musikunterricht. Musikalisch-ästhetische Erfahrungen beinhalten entweder das

‚Klänge-Sein-Lassen’ oder aber die Konzentration auf das Werk als Hervorge-

brachtes samt seinem eigenständigen hermeneutischen Aufforderungscharakter.

Nicht unwichtig erscheint in diesem Zusammenhang das ‚Zwischen’ der Leiblich-

keit, das gerade auf der Basis der Aufhebung einer rein produktions- oder rezepti-

onsorientierten Didaktik ganz im Sinne der Responsivität die wechselseitige Ver-

ankerung der Frage/Antwort- Struktur sichert. Hierbei ist es v. a. die auf den Leib

zurückzuführende fungierende Intentionalität, die „‚vor’ aller Aktintention steht

und die Subjekt/Objekt-Relation in Frage stellt“ (SBL 156). Ästhetische Erfahrung

gilt als eine spezifische Form von Responsivität, da die intentionale Auseinander-

setzung mit dem Kunstwerk niemals vollständig zur Deckung gelangen kann und

„mit dem ästhetischen Objekt nicht ‚fertig’ wird“ (SBL 156).

Innerhalb dieser paradoxen aporetischen Struktur liegt stets auch ein Verweis auf

die doppelte Erscheinung von Kunstwerken, die materiell verstanden auf einen

produzierten Klang verweisen, aber immer auch immateriell als ‚tönend bewegte

Formen’ wahrnehmend erschlossen werden. Über die Leiblichkeit werden sie zu

faktisch Vorhandenem und verdeutlichen ihre gleich ursprüngliche Zweideutig-

170 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

keit, die wiederum auf die Doppelstruktur der Leiblichkeit zwischen Vollzugs-

und Wahrnehmungssinn zurückzuführen ist.

In Form eines Exkurses zur Ästhetik Merleau-Pontys wird nun auch dessen Leib-

begriff terminologisch aufgegriffen. In Bezug auf die Maltheorie von Cézanne ist

„die chiasmische Verflechtung von Leib und Welt“ (SBL 201) hervorzuheben, die

das Zur-Welt-Sein der künstlerischen Tätigkeit auszeichnet. Und auch die Musik

zeigt gleichsam innerhalb ihrer transzendenten Erscheinung als Idee die Gebun-

denheit an leibliche Erfahrungen. So verflochten wie das Verhältnis von Leib und

Welt sein mag, so undurchdringlich zeigt sich die Struktur des Kunstwerks als

Gegenstand und als Idee. Musik beinhaltet eine grundsätzliche Negativität im

Sinne einer Anwesenheit, die abwesend ist.193

Einen wichtigen Schritt bezüglich der konstitutiven Rolle des Leibes zur Bildung

ästhetischer Erfahrungen vollzieht Vogt innerhalb eines Rekurses auf die philoso-

phische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, der die historische Vermittlung

ästhetischer Erfahrungen betont und somit entgegen einer einseitigen Subjektivie-

rung der Ästhetik die fundamentale Gemeinsamkeit von Subjekt und Objekt her-

vorhebt. In Opposition zur Rezeption Gadamers versteht Vogt ästhetische Erfah-

rung als ‚negative Erfahrung’, die durchweg zweideutig und offen bleibt. In der

vielzitierten Metapher des ‚Gesprächs’ wird deutlich, dass die Frage sowohl vom

Subjekt als auch vom Objekt ausgehen muss und somit „ein komplexes Beispiel

für einen Chiasmus, eine Verschränkung und Verflechtung im Sinne Merleau-

Pontys“ ist, in dem „die Pole Subjekt-Objekt als Polaritäten ins Schwanken gera-

ten“ (SBL 213). Allerdings ist innerhalb Gadamers Dialogkonzeption trotz der

„logischen Struktur der Offenheit“ eine „Vorgängigkeit der Frage“ zu erkennen

(Gadamer 61990, 369), die vom historischen Kunstwerk an den Rezipienten ge-

stellt wird. Obwohl Hermeneutik ein Spiel zwischen Fremdheit und Vertrautheit

etabliert, kommt dem Kunstwerk ein ontologischer Vorsprung zu, der die ästheti-

sche Erfahrung fundiert.

Eine Lösung aus der Dominanz der Frage bietet die responsive Theorie, welche

die Offenheit der Antwort sucht und die Frage als einen vom Subjekt zu beantwor-______________

193 Vogt sieht in diesem Zusammenhang ganz im Sinne der oben angedeuteten Darstellung einer objekt- oder subjektgebundenen Ästhetik die Gefahr, dass der Gegenstandscharakter von Mu-sik entweder zum bloßen Klangereignis degradiert wird oder „den Referentenbezug überbie-tungstheoretisch hintergeht und übersteigt“ (SBL 203), so dass letztlich ein wie auch immer gefasster Bezug zum wahrnehmenden Subjekt nur schwer zu gewährleisten ist.

Bewährung · 171

tenden Anspruch begreift. Ein solches Verständnis müsste im Sinne einer

„Responsivität musikalisch-ästhetischer Erfahrung“ konkretisiert werden (SBL

218). Der Exkurs zu Gadamers Hermeneutik ist v. a. nötig, um den im weiteren

Verlauf hervortretenden besonderen Stellenwert des Hörens als ‚leibliches Regis-

ter’ zu verdeutlichen. Wenn die Frage des Kunstwerks immer verstanden werden

muss, wird das Hören zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Verstehenspro-

zesses. Dieser Ansatz enthält eine „physiologische Möglichkeitsbedingung von

Verstehen“, so dass das Gespräch nur durch das Verstehen der Rede möglich ist

und sich „auf eine konkret leibliche Ebene“ verlagert (SBL 219). Diese Wendung

der Hermeneutik Gadamers ist von großer Bedeutung, da hier die Metapher des

Gesprächs in ästhetisch-praktische Verweisungszusammenhänge abseits des rein

sprachlich passiven Charakters gestellt wird. Die Aufwertung zeigt das Subjekt

samt seiner Sinne in der Lage, hörend zu verstehen und auf fremde Ansprüche zu

reagieren. Das am Beginn der Argumentation versteckte Leibverständnis Merleau-

Pontys und die im weiteren Verlauf konkretisierte Funktion des Leibes zur Bil-

dung ästhetischer Erfahrung erhalten nun für Vogts Verständnis von ‚musikalisch-

ästhetischer Erfahrung als responsive Erfahrung’ eine zentrale konstitutive Größe

und werden auch für dessen Kernthese bedeutsam.

Die hier vertretene These ist nun, daß musikalisch-ästhetische Erfahrung

vor allem deshalb als responsive Erfahrung zu kennzeichnen ist, weil das

Hören, als leibliches Register der Wahrnehmung von Musik, immer auch

als antwortendes Hören zu begreifen ist (SBL 220).

Diese These umschreibt ästhetische Erfahrung als responsiv, um den einseitigen

Fragecharakter des Kunstwerks zu umgehen und die Offenheit der Antwort zu

etablieren, die wiederum als eine spezifische Form des Hörens an das leibliche

Register gebunden erscheint.

Das Hören versteht sich im Sinne der Responsivität als eine „auditive oder audito-

rische Differenz“ (SBL 220), die das Kunstwerk in einem Zwischenbereich positi-

oniert, der niemals vollständig erklärt werden kann und sich auf eine Subjekt- oder

Objektzentrierung hin verlagert. Wie schon Waldenfels bestimmt auch Vogt das

Hören als einen responsiven Akt, der als Differenz „zwischen Hören und Gehör-

te[m]“ (SBL 220) die Basis für die ästhetisch-responsiven Erfahrungen bildet. Das

„leibliche Register des Hörens“ führt zur „Geburt der Musik der Lebenswelt als

Hörwelt“ (SBL 231). Der deutliche Bezug zu Waldenfels findet sich durch das

Primat des Hörens gekennzeichnet, das eine offene Welt der Töne ermöglicht.

172 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Vogts Hinzunahme des leiblichen Registers verdeutlicht die Vorstellung von ei-

nem Subjekt, das hörend ‚zur Welt’ ist und sich den Klangereignissen offen zu-

wendet. Im Sinne der Leiblichkeit sei ergänzend hinzugefügt, dass solche ästheti-

sche Erfahrungen über den Vollzugssinn eines agierenden Subjekts ermöglicht

werden. Vogts Auffassung vom antwortenden Hören bricht mit den traditionell in

der Kunstmusik verankerten Hörerwartungen und verlangt grundsätzlich eine noch

vor dem eigentlichen ästhetischen Akt eingenommene Haltung. In Bezug zu Ga-

damer lässt sich sagen, dass die vom Kunstwerk gestellte Frage ohne die entspre-

chende vorgängige Höreinstellung nicht wahrgenommen werden kann.

Die Stimme gilt als das ausgezeichnete „leibliche Medium“ (SBL 237), das die

Verankerung des Subjekts zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit gewährleistet.

Sie etabliert sich als paradoxe „Indifferenz zwischen Subjekt und Objekt, zwi-

schen Ich und Welt“ (SBL 245), da sie innerhalb der Darstellung des ‚Sich-

sprechen-Hörens’ auf eine wechselseitige Verschränkung angewiesen bleibt, die

der objektiven Darlegung eines inneren Ausdrucks nahe kommt.194 Während ein

‚Phonozentrismus’ nur die Selbstbezüglichkeit des eigenen ‚Sich-Hörens’ berück-

sichtigt, gelangt eine „stimmliche Verleiblichung“ (SBL 237) zu einem untrennba-

ren Korrelat von Stimme und Gehör, aus dem durch die gleichsam subjektiven wie

objektiven Bestandteile eine „Leiblichkeit des Denkens, eine Verflechtung von

Physis und Psyche“ resultiert (SBL 239).

Trifft es zu, daß jede musikalische Erfahrung in einem leiblichen, inter-

subjektiven Feld des Sprechens/Singens und Hörens beginnt, so ist „Welt“

nicht der äußere Stoff der Subjektbildung, sondern Welt als „Lebenswelt“

(resp. Hörwelt) ist der Konstitutionsgrund von Subjekt und Objekt zugleich.

Musikalische Bildung verdankt sich einem hörenden „zur-Welt-Sein“

(SBL 253).

Die Fremderfahrung der eigenen Stimme deutet auf das Hören der Stimme des

Anderen, die zwar meiner ähnlich erscheint, aber doch eine Undurchdringlichkeit

beinhaltet, die niemals vollständig überwunden werden kann. Diese Undurch-

dringlichkeit stiftet aber eine intersubjektive Lebenswelt, die sich gerade durch

ihre Vielzahl unterschiedlicher Stimmen auszeichnet und auf das Paradox des

______________

194 Bereits Hegel begriff das Hören im Sinne einer „physischen Idealität“ (Hegel 1986, 101), welche „die reine Innerlichkeit des Körperlichen“ wahrnimmt (Hegel 1986, 104).

Bewährung · 173

Fremden im Eigenen verweist. Die andere Stimme ‚zeigt’ sich nicht unmittelbar,

sie ähnelt zwar der eigenen, aber ist sie nicht. In Bezug auf ästhetische Wahrneh-

mungsformen kann auch auf die Expressivität der Leiblichkeit aufmerksam ge-

macht werden, die der Stimme ein Ausdrucksvermögen verleiht, durch die sich ein

Ego expressiv mitteilen kann. Eine rein transzendental konstituierte Welt, in der

alle Stimmen gleich klängen, würde keine Fremdwahrnehmung ermöglichen und

eine intersubjektiv fundierte Hörwelt negieren. Erst das stimmlich/leibliche Zur-

Welt-Sein in der Aufforderung, das Andere verstehend nachzufragen, ermöglicht

eine intersubjektive ästhetische Erfahrung. Die Offenheit der musikalischen Le-

benswelt zeigt sich zwischen Selbst- und Fremderfahrung und damit zusammen-

hängend auch im ‚Zwischen’ der Leiblichkeit, d.i. in den zahlreichen musikali-

schen Interaktionsformen, also in konkreten Formen des Gestaltens, sich Ausdrü-

ckens und Experimentierens. Demnach ist ästhetische Erfahrung in einer leiblich-

intersubjektiven Hörwelt angesiedelt, die gleichsam allererst auf den aktiven Voll-

zugsformen der Leiblichkeit im praktischen Handeln der Hörwelt beruht.

Im Sinne der ‚Interkorporalität’ plädiert auch Vogt dafür, Intersubjektivität „als

eine Form der Zwischen-Leiblichkeit aufzufassen, die in erster Linie auf dem

Hören als leibliches Register ästhetischer Erfahrung basiert“ (SBL 252). Das Sub-

jekt befindet sich, wie die Stimme zeigt, in der „Dopplung von Selbst- und

Fremdbezug“ (SBL 252), so dass ästhetische Bildung erst in einem intersubjekti-

ven Rahmen etabliert wird, der zwar auch durch vielschichtige Hörerfahrungen

fundiert erscheint, aber erst durch die faktische Leiblichkeit als grundlegende

Basis aller Vollzugsformen gewährleistet sein kann. Zur handlungstheoretischen

Fundierung der responsiven Theorie sind leibliche Wahrnehmungen als Basis

ästhetischer Erfahrungen nötig, wobei ‚Hören’ bzw. ‚sich Hören‘ zentrale Kom-

ponenten darstellen. Musik ist in ästhetische Produktionsformen eingebunden, die

letztlich das Hören erst ermöglichen.

Leiblichkeit widmet sich dem intersubjektiven Feld des Handelns und Produzie-

rens in der Vorstellung, dass Formen des Hörens durch Vollzüge entstanden sind.

So ergänzt sich hier das Konzept des antwortenden Hörens mit der Leiblichkeit,

da Prozesse des antwortenden Hörens auf dem leiblichen Register aufbauen. Al-

lerdings versteht Leiblichkeit Formen ästhetischer Erfahrung in einem größeren

Kontext, der deutlich die Form des Hörens übersteigt und die vielfältigen Arten

ästhetischer Wahrnehmung aufgreift, worunter das ganze Subjekt in seiner Sinn-

lichkeit zu begreifen ist. Vogt konzentriert sich dagegen durch den Bezug auf

Gadamers Gesprächshermeneutik auf das antwortende Hören und einer damit

verbundenen Aufwertung der Stimme zwischen Selbst und Fremdbezug.

174 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Vogt ist bemüht, die These des Hörens als leibliches Register der Wahrnehmung

von Musik auch für die Kernfragen musikalischer Bildung auszudifferenzieren.

Deren Potenziale liegen demnach zwischen Selbst- und Fremderfahrungen. Diese

latente Negativität der Erfahrung eröffnet aber auch neue Erfahrungs- und Hand-

lungsmöglichkeiten, die die Produktivität musikalischen Lernens gerade „als Um-

strukturierung von Erfahrungshorizonten“ (SBL 143) begreift und Sinnverstehen

weniger als linearen Prozess, sondern als Umlernen versteht, so dass traditionelle

Hörerwartungen durch Formen des antwortenden Hörens revidiert und nicht als

statisch Gesichertes beibehalten werden. Für den Unterricht schließt nach Vogt

das antwortende Hören neben Hörpraxis und Diskurs auch die „Produktion von

(potentiell ästhetischen) musikalischen Objekten“ ein (SBL 252), welche auf äs-

thetische Formen der Interaktion verweisen und wiederum erst auf der Basis eines

ästhetisch fundierten leiblichen Registers ermöglicht werden.

Bedingt durch Vogts Intention, einen Beitrag zu einer ‚Philosophie der Musikpä-

dagogik’ zu leisten, geht es ihm weniger um Praxisbezüge noch anschauliche

Musikbeispiele, sondern ganz im Sinne von Abel-Struth um die grundlegenden

„Voraussetzungen, Bedingungen und Möglichkeiten des Musik-Lernens“ (Abel-

Struth 1975, 18).

Eine Kohärenz von Vogts Etablierung einer Responsivität ästhetisch musikali-

scher Erfahrung mit den Qualitäten der Leiblichkeit liegt darin begründet, traditi-

onelle Dichotomien zu unterlaufen und nach einer Zwischenstellung ästhetischer

Wahrnehmung zu suchen, die sich nicht verallgemeinern und in einen Normenka-

non zwängen lässt. Gerade die offene Dialektik des Leibes zwischen Sub-

jekt/Objekt-Bezug fundiert den schwankenden Boden der Lebenswelt. Auffällig

ist der sich erst im Verlauf der Argumentation herausstellende wichtige methodi-

sche Stellenwert des Leibes, der v. a. zur handlungstheoretischen Fundierung der

responsiven Erfahrung des Hörens dient. Vogt fordert ferner eine ‚abgesicherte’

lebensweltliche Musikpädagogik, die sich allerdings immer in den aporetischen

Strukturen des Nicht-Identischen bewegt, sich also gleichzeitig einer einmaligen

Fundierung entzieht und dagegen auf eine Ordnung vor der Ordnung setzt. Her-

vorzuheben bleibt die Bezugnahme auf eine Differenz in der ästhetischen Erfah-

rung, die er durch eine Transformation der spezifischen Topoi der responsiven

Merkmale gewährleistet sieht.

Ästhetische Erfahrung ist „ohne Berücksichtigung seiner Verwurzelung im Hören

kaum angemessen zu verstehen“ (SBL 220). Zwischen Hören und Gehörtem ent-

steht eine produktive Differenz von Aktion und Passion. Sie ist bestimmt durch

Bewährung · 175

eine Differenz, die zeigt, dass ein Kunstwerk gerade im Hinblick auf eine

kunstwerkorientierte Didaktik niemals völlig konstituiert werden kann, sondern

auf eine Fragilität angewiesen bleibt, wonach „Frage und Antwort gleichsam aufs

Spiel gesetzt werden“ (SBL 220). Diese Differenz verweist auch auf die in der

Leiblichkeit enthaltene Überschneidung von Produktion und Rezeption innerhalb

musikalischer Vollzüge. Die in der Leiblichkeit auftauchende Qualität der Expres-

sivität findet sich in einer Hörwelt, die in Form eines Aufforderungscharakters zur

Erkundung des Neuen und Ungewohnten als potenzielle ästhetische Wahrneh-

mungen auffordert. Responsive Erfahrung liegt, wie bereits Waldenfels angedeutet

hat, im Bereich der Neuen Musik speziell im erweiterten Kunstwerkbegriff von

Cage erschlossen, da hier das Schweigen und Lauschen als eigenständiger ästheti-

scher Prozess hervorgehoben werden. Die ästhetische Darstellung erhält durch den

Bezug zum musikalischen Theater oder zu Performances eine enorme Aufwer-

tung. Das derzeitige ‚postmoderne’ Kunstwerkverständnis hat sich von seiner

Immanenz des interesselosen Wohlgefallens und einer rein auf akustische Reize

beschränkten ästhetischen Wahrnehmung befreit. Längst ist das Bühnengeschehen

selbst zu einer Aktionsform geworden, die eine leibliche Beteiligung des Künst-

lers mit einschließt. Hier ließe sich überlegen, ob eine Orientierung der responsi-

ven Erfahrung am ‚Primat des Gehörs’ nicht zu kurz greift und um eine Leiblich-

keit als umfassender und unabdingbarer Bestandteil musikalisch ästhetischer Er-

fahrungs- und Produktionsprozesse erweitert werden muss.195

1.3 Mollenhauer: Kopplungen/Entkopplungen zwischen Werkzeug- und Sinnenleib

Klaus Mollenhauer setzt sich in seinen Arbeiten zur allgemeinen Pädagogik im-

mer wieder mit Methoden einzelner Fachdidaktiken auseinander. Hier sollen aber

weniger seine Ergebnisse im Bereich der ästhetischen Bildung vorgestellt als

vielmehr explizite Bezüge zur Wahrnehmung von Musik und zu Teilbereichen der

Musikpädagogik aufgesucht und mit den Qualitäten der Leiblichkeit verglichen

werden.196

In seinen ‚Annotationen zur Leiblichkeit kindlich musikalischer Gestaltung’ er-

öffnen sich durch den empirischen Ansatz der Untersuchung konkrete Perspekti-

______________

195 Ausführlich hierzu vgl. Kap. V.2 und V.3 196 Ausführlich hierzu vgl. Rolle 1999

176 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

ven für die Musizierpraxis.197 Mollenhauer setzt dazu im Bereich der elementaren

Musik an und analysiert ästhetische Erfahrungen, die Kinder im Prozess des Im-

provisierens machen. Hierbei werden systematisch sowohl die musikalisch klang-

lichen Ergebnisse als auch die Bedingungen ihrer Hervorbringung untersucht. In

den musikalischen Improvisationen finden sich einerseits Spielfiguren, die frei

erfunden sind und sich nur schwer unter einer musiktheoretischen Analyse subsu-

mieren lassen. Gleichermaßen werden in die Gestaltung immer wieder themati-

sche Gestalten und musikalische Ideen integriert, die in sich ‚geschlossen’ sind

und formale Kriterien, wie z. B. rhythmische oder melodische Motivik, beinhal-

ten.198 Improvisationen werden „erfunden und gleichzeitig aufgeführt“ (GäB 237),

so dass die musikalischen Ideen im Spielen entstehen und gleichzeitig realisiert

werden. Eine einseitige Beschränkung auf das Beziehungsgefüge der Töne und

Motive ist unzureichend, weil auch der Bewegungsvorgang zur Analyse der im-

provisatorischen Muster herangezogen werden muss.

Vielmehr ist anzunehmen, daß beim Improvisieren leiblich-motorische und

syntaktisch-formale „Operationen“ dicht miteinander verzahnt sind in der

Weise, daß beide zusammen musikalischen Sinn hervorbringen (GäB 237).

Wie auch das Zwischen der Leiblichkeit darauf verweist, dass ästhetische Erfah-

rungen in der wechselseitigen Bedingung von Wahrnehmung und Produktion

entstehen, so ist Mollenhauer um eine gleichursprüngliche Verzahnung von musi-

kalischer Erfindung und Produktion im Bereich improvisatorischer Prozesse be-

müht. Mollenhauer kritisiert demzufolge, dass die Vermittlungsinstanz von ‚Kör-

per sein’ und ‚Körper haben’ in der musikpädagogischen Diskussion nur unzurei-

chend aufgegriffen wurde und sich dagegen ein idealistisches Wunschdenken

einer Einheit von Körper und Geist durchsetzt, das der an rationalen Lerninhalten

______________

197 Mollenhauer, K.: Grundfragen ästhetischer Bildung. Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung von Kindern, Weinheim und München 1996; im Folgenden zit. als ‚GäB’; der vollständige Titel lautet ‚Tönend bewegte Formen – Annotationen zur Leiblich-keit kindlich-musikalischer Gestaltung’.; Mollenhauer geht es in Anlehnung an das Zitat von E. Hanslick weniger um eine Differenzierung zwischen Inhalts- und Formalästhetik als viel-mehr um die symbolische Bezugnahme im Sinne der Hervorbringung musikalischer Formen durch Bewegungen. Vgl. auch Seewald 2000

198 Der aus der Gestaltpsychologie stammende Begriff der ‚Geschlossenheit’ verdeutlicht, dass sich die musikalische Figur äußerlich hörbar durch Pausen, Veränderung der Klangfarbe oder des Tempos zusammensetzt und innerlich eine syntaktische Auseinandersetzung mit Phrasen-länge, Grundtonbezug oder Wiederholung entsteht.

Bewährung · 177

geprägten Schulwelt gegenübergestellt wird.199 Die Kritik wendet sich dabei an

die Grundgedanken der musischen Erziehung, deren ‚sentimentale Vorstellungen’

einer Verschmelzung von Körper und Geist sich bis heute erhalten haben. Ganz-

heitliche Einheitsvorstellungen in diesem Sinne werden von Mollenhauer grund-

sätzlich in Zweifel gezogen, da sie der Differenz von eigenem Tun und dem Hören

des Erklingenden sowie der kontrollierten Erfassung musikalischer Strukturen und

spontan kreativer Momente widersprechen.

Mollenhauer macht es sich dagegen zur Aufgabe, „verschiedene Aspekte des

leiblichen Beteiligtseins an musikalischer Sinnerzeugung zur Sprache zu bringen“

(GäB 238). Seine Grundfrage lautet, inwieweit gegenseitige Verflechtungen von

musikalischen und physischen Vorgängen eine sinnvolle Gestalt hervorbringen

können. Hierbei erfolgen Reaktionen auf einen vom Klang ausgehenden Impuls,

der während der Improvisation weder zufällig noch planbar erscheint und „auf die

responsive Verfasstheit unseres Organismus“ (GäB 240) hinweist. Demnach wer-

den zuerst die Klänge durch den Leib selbst produziert, dann über das Hören auf-

genommen und wiederum in eine neue Antwort transformiert. Der Bezug zur

Responsivität ist aber nicht wie bei Waldenfels oder Vogt primär durch das ant-

wortende Hören bestimmt, sondern ergibt sich aus der leiblichen Beteiligung an

der musikalischen Gestaltung und der damit verbundenen Hervorhebung musikali-

scher Vollzugsformen. Ähnlich wie die von Waldenfels und Vogt hervorgehobene

Option des ‚Sich-Selber-Hörens’ durch die Stimme gilt es, den aufeinander ange-

wiesenen Prozessen von Produktion und Wahrnehmung nachzugehen, die auf der

Basis der Leiblichkeit erst möglich erscheinen. Dieses Verständnis von Responsi-

vität ist „Voraussetzung dafür, daß überhaupt eine musikalische Figuration als

sinnvoll verstanden werden kann“ (GäB 240).

Bei der bewussten Beobachtung von Bewegungen während der Improvisation fällt

auf, dass der Spieler, um eine Melodie zu erzeugen, in einem konstanten Metrum

auf einem Schlaginstrument ungleichmäßige Armbewegungen von unterschiedli-

cher Schnelligkeit, Intensität und Größe ausführt. Die Entfernungen zwischen

Armbewegung und Instrument müssen asymmetrisch sein, um die Gleichmäßig-

keit des Rhythmus zu gewährleisten. Die vollzogenen Körperbewegungen und die

______________

199 Hier ist ein deutlicher Bezug zur Theorie der ‚Exzentrischen Positionalität’ von Plessner gegeben.

178 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

hörbaren Strukturen stimmen keineswegs überein, sondern „ihr Nicht-

Übereinstimmen macht musikalische Sinnerzeugung erst möglich“ (GäB 242).200

Zwischen der Bewegungs- und der Hörempfindung muss also ein Wider-

spruch, zumindest eine Verschiedenheit bestehen (GäB 247).

Während des Instrumentalspiels sind also Bewegungen erforderlich, die mit der

Gleichförmigkeit des klanglichen Resultats nicht übereinstimmen und abweichen.

Das Kind vollzieht nahezu selbstverständlich solche komplexen Bewegungsvor-

gänge, ohne sich ausschließlich auf die Komplexität der motorischen Vorgänge zu

konzentrieren.

Die elementare Erfahrung, dass musikalische Produktionsprozesse nicht als eine

bloße Vermehrung der bereits durch Gewöhnung bereitgestellten Fähigkeiten

aufzufassen sind, sondern geradezu eine „leibhafte Gegenläufigkeit von Körper-

impuls und ästhetischer Tätigkeit“ evozieren (GäB 255), greift gleichsam auf die

Extension der Leiblichkeit hinaus, die gerade im Umgang mit Instrumenten die

motorische und perzeptive Erweiterung des gewohnten Handlungsspektrums sieht.

Auch Mollenhauer beruft sich ähnlich wie Waldenfels auf „Zwischenereignisse

zwischen dem Begrifflichen und Vorbegrifflichen“, um zu verdeutlichen, dass

„Objekt und Subjekt […] hier noch nahe beieinander, syntaktisch noch nicht ge-

trennt sind, wie in den affirmativen Routinen des ästhetischen Marktes“ (GäB

260).

Dieses paradoxe Verhältnis von Produktion und Rezeption verweist auch auf den

Aspekt der Selbst- und Fremderfahrung musikalischer Tätigkeit, wie sie Walden-

fels und Vogt thematisieren. Hier ergeben sich deutliche Bezüge zur „responsiven

Differenz“ (Waldenfels 1994, 334), die vielfältige Antworten auf einen Aufforde-

rungscharakter berücksichtigt und auch für das Handeln begründet. Auch Mollen-

hauer spricht von „Differenzerfahrung“ (GäB 243). Das Zur-Welt-Sein bei Mer-

leau-Ponty hebt dagegen einseitige intentionale Strukturen auf. Ästhetische Erfah-

rungen müssen korrelativ betrachtet werden, so dass das ‚Was’ und ‚Wie’ unab-

dingbare Bestandteile musikalischer Gestaltungen sind, aber in ihrer gegenseitigen

Angewiesenheit niemals vollständig zur Deckung gelangen können. Von hier aus

ist es nur ein kleiner Schritt zu den Topoi des responsiven Handelns, wie sie Wal-

denfels hervorgehoben hat. Übertragen auf den Bereich der ästhetischen Erfahrung ______________

200 Hier ergeben sich deutliche Bezüge zur „responsiven Differenz“ (Waldenfels 1994, 334), die vielfältige Antworten auf einen Aufforderungscharakter berücksichtigt und auch für das Han-deln begründet. Mollenhauer spricht auch von „Differenzerfahrung“ (GäB, 243).

Bewährung · 179

ließe sich der offene Dialog zwischen Anspruch und Antwort im Sinne einer frei-

en Gestaltung zwischen Wahrnehmung und Produktion anführen. Hierbei zeigt

sich besonders der ‚Hiatus, der das Verhältnis von ‚Anspruch und Antwort’ als

offen und gebrochen kennzeichnet und das asymmetrische Verhältnis zwischen

dem Erklingenden und der Erzeugung begründet. Auch die ‚Diastase’ deutet an,

dass Anspruch und Antworten nicht vorgefertigt vorliegen, sondern eine Differenz

im Prozess des Dialogs erfolgt, also im Akt der Hervorbringung.

In Anlehnung an Günter Bittner unterscheidet Mollenhauer zwischen einem

„Werkzeugleib“ und einem „Sinnenleib“ (GäB 242), die beide unterschiedliche

Aufgaben in der musikalischen Gestaltung besitzen.201 Der ‚Werkzeugleib’ koor-

diniert Bewegungen, die wesentlich ungleichmäßig sind und zur Hervorbringung

spezifischer Klänge dienen. Der ‚Sinnenleib’ ist weitestgehend für die Gestaltung

musikalischen Sinns zuständig, wie z. B. das gleichmäßige Schlagen von Vierteln,

und steht gegenüber dem Werkzeugleib in einer „resonanten Beziehung“ (GäB

242).

Die beiden Leibbegriffe sind für die musikalische Formgebung relevant, weil sie

durch tonale Impulse sowohl kognitive Bezüge wie Wiederholung, Motivik etc.

als auch die Bewegungsimpulse der Tonerzeugung berücksichtigen. Die Ange-

sprochenheit des Leibes durch den Klang und die Aufforderung zu einer erneuten

Antwort bilden eine „leibliche Responsivität“ (GäB 243), welche Sinnenleib (Re-

agieren) und Werkzeugleib (Agieren) miteinander verbindet.202

Die gegenseitige Abhängigkeit von einer klanglichen Antwort und die Aufforde-

rung an die Entstehung neuer Musiziervorgänge entwickeln ein „Wechselspiel

zwischen Vertrautem und Fremdem, zwischen Geplantem und Überraschendem,

zwischen Klang und eigener Empfindung“ (GäB 244), das zur erneuten Experi-

mentierbereitschaft herausfordert und die Ausdrucksfähigkeit und Hörkompetenz

der Kinder entscheidend fördern kann. Im alltäglich musikalischen Umgang be-

steht größtenteils eine Analogisierung von Bewegungserleben mit musikalischen

Parametern wie Tempo, Tonhöhe und Lautstärke. So wird man beim Klatschen im

Konzertsaal automatisch schneller und lauter oder benutzt beim Schreien hekti-

______________

201 Vgl. Bittner 1990; Maurer 1992 202 In Anlehnung an Meyer-Drawe beschreibt Mollenhauer diese Erfahrungen auch als ‚wildes

Denken’, wo die noch stumme Erfahrung sich zu selbständigem Experimentieren mit neuen leiblichen Wahrnehmungen und gleichzeitigen klanglichen Ergebnissen entwickelt.

180 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

schere Körperbewegungen als beim leisen Flüstern. Diese teils anthropologisch

bedingten Verbindungen bezeichnet Mollenhauer als ‚Kopplungen’. Dagegen

bietet das Improvisieren die Möglichkeit, diese festgelegten Zusammenhänge

bewusst zu entkoppeln und neu zu verknüpfen. Die gewohnten Bewegungen um

ein Accelerando zu realisieren werden bewusst aufgelöst oder spielend erweitert.

Besonders nahe liegende musikalisch festgelegte Antworten werden umgangen

und durch „luxuriöse Erfindungen“ (GäB 250) ersetzt. Die Tendenz der ‚Entkopp-

lung’ gilt dabei auch für den Leib.

Der Leib, der solche Figuren spielt, hat sich in gesteigerter Weise von den

klanglichen Impulsen zu entfernen, um sie in der beschriebenen luxuriösen

Art zu überbieten (GäB 250).

Durch die Entkopplungen von klanglichen und leiblichen Zusammenhängen kön-

nen auch Autonomieerfahrungen bereitgestellt werden, die über alltägliche Selbst-

verständlichkeiten hinausgehen.

Mollenhauers Untersuchung bietet gute Möglichkeiten, auf quasi empirischer

Basis das Verhältnis von kognitiven und emotionalen Anteilen zu erklären. Seine

Arbeit beschränkt sich dabei allerdings auf den Bereich der Improvisation von

Kindern und lässt keine allgemein gültigen Aussagen über das Gruppenmusizie-

ren, das Spiel nach Noten oder die musikalischen Erfahrungen Erwachsener zu.

Die stark an Plessner erinnernde Differenzierung zwischen einem Werkzeug- und

einem Sinnenleib mit je unterschiedlichen Aufgabenbereichen deutet nicht nur auf

Möglichkeiten einer leiblichen Responsivität hin, sondern gewährleistet eine Auf-

fassung, die ganz im Sinne der Leiblichkeit sowohl über eine mystisch musikali-

sche Verschmelzung als auch über eine reine Funktionalisierung als instrumenta-

ler Körper hinausgeht.

Obwohl Mollenhauers Untersuchung empirisch ausgerichtet ist, sieht er selbst

einen Bezug zu „phänomenologischen Theorien und Beschreibungen“ gegeben

und hofft, dass seine Ergebnisse „im Hinblick auf eine Bildungsbedeutung genau-

er diskutiert werden. Gerade die Musik ist dafür ein ergiebiges Feld, ist doch die

Leibkomponente ästhetischer Ereignisse hier rascher spürbar“ (GäB 34). Demzu-

folge ergeben sich auch im Vergleich mit den Ergebnissen aus der Untersuchung

zum phänomenologischen Leibbegriff von Husserl und Merleau-Ponty deutliche

Querverbindungen. Der naheliegendste Bezug findet sich in der leiblichen Ambi-

guität (Merleau-Ponty) und der Doppelempfindung (Husserl), welche auf die

komplementär angelegte Verschränkung von Sinnenleib und Werkzeugleib hin-

Bewährung · 181

deuten. Aber auch der Hinweis auf die gleichförmigen akustischen Impulse und

ungleichmäßigen Körperbewegungen deutet die Expressivität des Leibes an, die

nicht erst speziell erlernt werden muss, sondern im Zur-Welt-Sein immer schon

bereitgestellt ist. Diese Asymmetrie innerhalb musikalischer Vollzugsformen

gewährleistet v. a. eine produktionsorientierte Auseinandersetzung mit Musik, wo

die Andersartigkeit von Hören und Bewegen auf den vorhandenen leiblichen Um-

gang mit Klängen hindeutet und auch zu einer Neubewertung für das Verständnis

ästhetischer Erfahrungen geführt hat.

Ästhetische Erfahrung heißt also in dieser Hinsicht: seine eigenen Symbo-

lisierungsfähigkeiten erfahren, als produktiven Umgang mit den bisher er-

worbenen Anteilen des Selbst, in Relation zu dem bildnerischen und musi-

kalischen Material, das kulturell überhaupt zur Verfügung steht (GäB 254).

Wie bereits oben angedeutet, ist demnach in Bezug auf die Konzeptionen von

Waldenfels und Vogt eine Verlagerung von einem ‚Primat des Hörens’ hin zu

einer „ästhetische[n] Produktivität“ als eine „tätige Weise der Weltzuwendung“

(GäB 254) im Sinne der Leiblichkeit zu erkennen.203

1.4 Khittl: Musikalisches Handeln zwischen Rezeption und Produktion

In einem Artikel der Zeitschrift ‚Musik in der Schule’ entwickelt Christoph Khittl

in Ansätzen das Konzept einer ‚leibbezogenen Didaktik der Musik’.204 Obwohl die

musikpädagogische Tragweite, methodisch-wissenschaftliche Fundiertheit und

detaillierte Ausarbeitung im Vergleich zu den anderen in diesem Kapitel vorge-

stellten Autoren eher gering ist, rechtfertigt die im Titel angekündigte thematische

Auseinandersetzung mit der Praxisrelevanz von Leiblichkeit im Musikunterricht

eine Bezugnahme.

Ausgehend von der Unterscheidung zwischen ‚Körper haben’ und ‚Leib sein’

sieht Khittl den Körper als biologischen Organismus des Menschen, während der

Leib das Subjekt als „psycho-physische Einheit und Gesamtheit“ (Khittl 1997, 22)

kennzeichnet. Im Sinne einer Verlustdiagnose wird die leibfeindliche Atmosphäre, ______________

203 Auch Christopher Wallbaum versteht in seiner historisch-systematischen Untersuchung zur Produktionsdidaktik den Terminus ‚Produzieren’ als „Kombination aus Erfindung und Ver-wirklichung bzw. Komposition und Realisation“ (Wallbaum 1998, 151). In auffälliger Nähe zu Mollenhauer rückt dabei das Verständnis von Improvisation als ein „Zwischenbereich“, der diesem Produktionsverständnis nur gerecht wird, „wenn der Aspekt des Selbst-Konzipierens betont wird“ (Wallbaum 1998, 151).

204 Vgl. Khittl 1997, 22

182 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

die Missachtung der musikalischen Vorerfahrungen und die Abprüfbarkeit von

Wissen kritisiert. Dagegen soll eine leibbezogene Didaktik ‚Begegnungen’ zwi-

schen Mensch und Musik mit allen Sinnen ermöglichen und hierbei besonders den

Bereich körperlicher Erfahrungen berücksichtigen mit allen durch Musik ausge-

lösten Empfindungen. Im Zentrum des Unterrichts stehen somit die über den Leib

gesammelten ästhetischen Erfahrungen, die für Dimensionen der Selbsterfahrung

und Selbstbegegnung relevant werden sollen.

Ausgehend von einer Differenzierung von ‚Körper haben‘ und ‚Leib sein‘ wird

zwischen zwei musikalischen Erlebnisweisen unterschieden. Die erste thematisiert

vorästhetische Erfahrungen wie Tanzen oder Singen, die primär leiblich empfun-

den werden. Die zweite hebt das musikalische Kunstwerk auf kultureller Ebene als

ein Artefakt hervor, das sich rational über festgelegte Formgesetze definiert. Nach

Khittl bezieht sich derzeitiger Musikunterricht zum größten Teil auf die zweite

Bestimmung und vernachlässigt die ‚leibliche Ebene’. Die Differenzierung spie-

gelt sich auch in den zwei Begriffen ‚Produktion’ und ‚Rezeption’. Während ‚Pro-

duktion‘ die kreative Auseinandersetzung mit musikalischen Erlebnissen bedeutet

und aktiv erfahren wird, betont die ‚Rezeption‘ das passive Hören der Musik und

ihr artifiziell historisches Erscheinen. Beide Begriffe ergänzen sich aber wechsel-

seitig, so dass auch das Aufnehmen von Musik mit allen Sinnen als ein aktiver

Prozess der Aneignung verstanden werden kann. Reflexion findet demnach auch

statt, wenn etwas produziert wird, wie z. B. im Zeichnen, Malen oder Modellieren

zur Musik. Im Oberbegriff des ‚musikalischen Handelns’ fasst Khittl sowohl die

produktive wie rezeptive Verhaltensweise in der Musikwahrnehmung zusammen.

Die beiden musikpädagogischen Begriffe „Rezeption“ und „Produktion“

werden hier einander angenähert und verlieren ihre Trennschärfe. […]

Musikalisches Handeln meint sowohl produktive wie rezeptive Verhaltens-

weisen […] (Khittl 1997, 34).

Um neue Erlebnisformen auf der Basis der Verschränkung von musikalischer

Produktion und Rezeption zu ermöglichen, werden konkrete Umsetzungsmöglich-

keiten des ‚musikalischen Handelns’ im Unterricht vorgestellt. Khittl nennt zuerst

grundlegende methodische Elemente, die sich in verschiedenen Unterrichtsse-

quenzen wiederholen, bestimmte Funktionen erfüllen und planmäßig mit Aktions-

formen wie Zeichnen, Malen, Modellieren etc. kombiniert werden.

Bewährung · 183

Am Beginn der Schulstunde aktivieren die Schüler in Einzel- oder Gruppenübun-

gen durch Konzentration „den inneren Spürsinn“, um die „Aufmerksamkeit und

Wachsamkeit nach Innen zu richten“ (Khittl 1997, 34).205 Diese einleitenden

Übungen werden auch als ‚Spürübungen’ bezeichnet. Mit geschlossenen oder

verbundenen Augen wird ein auf den Oberschenkel geklatschter Rhythmus im

Kreis der Teilnehmer weitergegeben. Dies erhöht die Erlebnisdimension und er-

öffnet den „Leibsinn“ (Khittl 1997, 35). Daraufhin lassen sich ‚Imaginationsrei-

sen’ zu entsprechender Musik anschließen, die durch verbale Stimmungsbeschrei-

bungen vorgegeben werden. Auch Atemübungen fördern das ‚Spürbewusstsein’.

Je nach Situation sind entweder beruhigendes oder schnelles Atmen mit einem

aktivierten Zwerchfell angebracht. Das Ausatmen kann mit der Stimme gekoppelt

werden und somit zu einem über längere Zeit andauernden „gemeinsamen Tönen“

führen (Khittl 1997, 35), durch das die Schüler ‚zu sich selbst’ gelangen können.

Im weiteren Verlauf können auch bioenergetische Grundübungen mit Musik kom-

biniert werden und das methodische Repertoire einer leibbezogenen Musikdidak-

tik erweitern. Zu Perkussionsmusik sollen sich die Schüler 5 bis 10 Minuten lang

schütteln. Sie stehen dazu mit leicht gespreizten Beinen und verbundenen Augen

im Kreis und breiten die Schüttelbewegungen langsam über den ganzen Körper

aus. Nach der aktiven Übung soll den Leiberlebnissen regungslos nachgespürt

werden. Innerhalb dieser Ruhephase erscheinen musikgeleitete Bewegungsimpro-

visationen als geeignete Fortsetzungsmöglichkeiten, um das sinnliche Erlebnis zu

vertiefen. Die in der Entspannungsphase wahrgenommene Musik „ist auch das

eigentliche spezifisch musikpädagogische Anliegen“ (Khittl 1997, 35), gleichgül-

tig ob es sich dabei um einen Popsong, ein barockes Werk oder eine Zwölfton-

komposition handelt.

In dieser Phase wird der leibhaftige Bezug zwischen Mensch und Musik

hergestellt. Was hier zumeist unreflektiert haften bleibt, ist eine solide, af-

fektiv und emotional abgesicherte Basis für spätere begriffliche Arbeit

(Khittl 1997, 35).

Solche ‚ästhetischen Selbsterfahrungen‘ können auch über das ‚musikgeleitete

Zeichnen’ gefördert werden. Mit verbundenen Augen wird ca. 8 bis 10 Minuten

lang mit beiden Händen zu geeigneter Musik gemalt. Es bietet sich an, einen gro-

ßen Papierbogen an die Wand zu befestigen und mit zwei verschiedenen Ölkrei-______________

205 Das Wort ‚Spüren’ erinnert an den phänomenologischen Begriff des ‚eigenleiblichen Spü-rens’ von H. Schmitz. Vgl. Kap. I.2.2.1

184 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

den sich in die Stimmung der Musik zu begeben, um dann symmetrisches Zeich-

nen durchzuführen. Während Gegenbewegungen der Hände beim Malen den Kör-

per zentrieren, führen Parallelbewegungen zum Schwingen und Pendeln des Kör-

pers. Eine dieser beiden Zeichenarten soll durchgehend beibehalten werden, um

„Zugänge zu den psychischen Tiefenschichten, die sonst verschlossen bleiben“ zu

ermöglichen (Khittl 1997, 35).

Im Anschluss an das musikgeleitete Malen soll bei erneutem Erklingen der Musik

eine möglichst musiknahe Graphik angefertigt werden. Rhythmus oder Melodik

sowie subjektive Klangeindrücke lassen sich anschließend auf die Bildstruktur

übertragen. Zu dem entstandenen Werk fertigen Schüler assoziativ Texte an, die

die Stimmung des Bildes und der Musik widerspiegeln. Khittl betont, dass es in

dieser Verlaufsplanung nicht allein um die Ebene des Erlebens geht, sondern dass

das „Aktivieren der musikalischen Erfahrung“ das Ziel eines leibbetonten Unter-

richts sei und daher den Ausgang von einer „assoziativ-globalen Repräsentation

von Musik“ rechtfertigt (Khittl 1997, 35). Erst in einem zweiten Schritt der Ver-

mittlung soll die Musik dann als strukturiertes Gebilde wahrgenommen werden.

Obwohl Khittls Überlegungen zu einer leibbezogenen Musikdidaktik weitestge-

hend ohne Voraussetzungen auskommen und ihren Ausgang beim individuellen

Musikerlebnis suchen, lassen sich vereinzelte Bezüge zu den hier dargestellten

Qualitäten der Leiblichkeit verorten. Selbst wenn ‚Spürübungen‘ oder ‚Schüttel-

bewegungen‘ nicht alltägliche Unterrichtsaktivitäten sind, sind Stimmungen, die

während des Hörens wahrgenommen werden, tendenziell eher verinnerlichend

und subjektzentriert zu verstehen. Der Begriff des ‚musikalischen Handelns’, der

die Auflösung der Grenzen von Rezeption und Produktion unterstreicht, ist nicht

nur zu oberflächig, sondern zielt auf einen Unterricht, der sich weitestgehend auf

passive Verinnerlichungen beruft.

Der Grund hierfür liegt in der Bezugnahme auf die Ganzheit des Menschen, die

sysonym für den Begriff ‚Leib’ steht. Khittl steht nicht in phänomenologischer

Tradition, sondern begreift Leiblichkeit als „spirituelle Einheit von geistiger und

körperlicher Beschaffenheit des Menschen“ (Khittl 1997, 38). Hieraus lässt sich

auch erklären, warum die Differenzierung von Produktion und Rezeption im mu-

sikalischen Handeln ihre ‚Trennschärfe’ in Form eines mystisch verschmelzenden

Erlebnisses von Körper und Musik bzw. Selbst- und Musikerfahrung verliert.

Begriffe wie ‚Selbsterfahrung’ und ‚Selbstbegegnung’ werden nicht näher be-

stimmt und unterstützen das spirituelle Moment der Leibwahrnehmung. Zum

Bewährung · 185

phänomenologischen Leibbegriff, der sich gerade durch die Ambiguität der sinnli-

chen Wahrnehmung bestimmt, finden sich somit keine Relationen.

Des weiteren sind die Überlegungen Khittls stark von psychologisch-

medizinischen Ansätzen geprägt. Leibliches Musikerleben bestimmt sich durch

eine Korrespondenz zwischen „organischen Rhythmen und Gehirnschwingungen“

(Khittl 1997, 34).206 Durch Erschließung emotionaler Tiefenschichten wird die

Musikwahrnehmung auf eine psychologische Ebene gehoben. Durch die starke

Hervorhebung subjektiver Musikerlebnisse können Verdrängungen hervorgerufen

werden, die dann nicht nur in die Intimsphäre Jugendlicher eingreifen, sondern zu

tief greifenden Störungen im Klassenverband führen. Das betrifft dann auch die

bioenergetischen Übungen, wie das Schütteln des Körpers, da durch ekstatische

Körperbewegungen intensive Erlebnisse bei den Schülern entstehen und Trance-

zustände hervorgerufen werden können. Gleichermaßen spielen Momente wie

Scham oder Schüchternheit eine große Rolle, die eine Realisierung im Unterricht

erschweren. Hinzu tritt die Problematik, dass der Musikunterricht durch meditati-

ve Vorübungen, Konzentrationsversuche und einen nach innen gerichteten Spür-

sinn den passiven Entspannungszustand im Musikhören betont. Von einer leibbe-

tonten Didaktik kann daher durch die Verlagerung der Musik in die innerliche

Befindlichkeit des Schülers keine Rede sein. Auch das Malen mit verbundenen

Augen hebt eher die passiven Stimmungen hervor, die während des Zeichnens

gemacht werden und bezieht nur die Armgesten in die Bewegung mit ein. Ein

wirklich leiblicher Vollzug tritt durch die meditativ spirituelle Orientierung nicht

ein. Die Musikbeispiele in den methodischen Überlegungen werden von der Ste-

reoanlage wiedergegeben und reflexiv von den Schülern gehört. Es bleibt zu über-

legen, ob sich eine leibbezogene Didaktik der Musik nicht auch mit Formen der

musikalischen Gestaltung auseinander zu setzen hätte.

Der Ansatz bei der voraussetzungsfreien musikalischen Erfahrung und den Spür-

erlebnissen ist allerdings nicht alleiniges Ziel des Musikunterrichts. Khittl will

diese Wahrnehmungen nutzen, um darauf aufbauend „musikalische Begriffe und

kognitive Schemata zu entwickeln“ (Khittl 1997, 34). Im Zentrum des Unterrichts

stehen demnach die Musiktheorie und das rationale Erfassen formal musikalischer

Kriterien, was auf die Vorurteilshaftigkeit im Sinne eines Imperativs musikkritisch

______________

206 Khittl bezieht sich hierbei auf die musikalischen Untersuchungen des Strukturalisten Claude Lévi-Strauss. Vgl. Lévi-Strauss 2004

186 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

fundierter Körperlichkeit verweist. Es werden keine Andeutungen gemacht, wie

denn vom leiblichen Spüren auf die kognitiven Schemata übergeleitet werden

kann. Wesentliche Ziele seiner leibbezogenen Didaktik sind

- Gehörbildung, Stimmbildung, physisch erfahrbare Musiklehre

- Rezeptionsdidaktischer Zugang für bestimmte modusbezogene Musik,

für gewisse Arten von Gregorianik ebenso wie für bestimmte außereu-

ropäische Musik, aber auch für Musik des 20. Jahrhunderts etc. […]

(Khittl 1997, 37).

Zusammenfassend muss sich der Versuch einer leibbezogenen Didaktik der Mu-

sik durch die ganzheitlichen Ausrichtungen, Tendenzen zur Verinnerlichung und

zu rationalistischen Zielsetzungen eher skeptisch bewertet werden. Khittls Leib-

begriff steht abseits einer phänomenologischen Methode und wird für die Ent-

wicklung einer gleichsam ‚spiritualistischen Musikdidaktik’ beansprucht.

1.5 Richter: Musikalische Verkörperung zwischen Bewegung und Bewegtheit

Im Rahmen der Entwicklung der Didaktischen Interpretation von Musik hat sich

Christoph Richter intensiv mit dem Verhältnis von Musik und Bewegung ausein-

ander gesetzt. Ausgangsbasis sind ‚musikalische Erfahrungen’ sowie die vielfa-

chen Verflechtungen und Auswirkungen im alltäglichen Umgang mit dem Körper.

Er stellt fest, dass im Unterricht die Darstellung von Musik mit körperlichen Mit-

teln vernachlässigt worden ist und die zunehmende Entsinnlichung zu einem

grundsätzlichen Mangel an Handlungsorientierung und einer Ausblendung der

über Bewegungen darstellbaren musikalischen Stimmungen führte. Richter ver-

sucht daher, „das Verhältnis zwischen Körper, Seele und Geist im Umgang mit

Musik“ (ÜaV 77) neu zu beleben. Er wendet sich sowohl gegen eine „utopisch

ideologische Wunschvorstellung“ von Ganzheitlichkeit als auch gegen eine einsei-

tige Hinwendung zum ‚Aktionismus’ in der Musikerziehung.207

Nicht um das Ziel einer friedlich harmonischen Ganzheit oder eines gesun-

den Ausgleichs geht es, wenn hier versuchsweise die volle Möglichkeit

menschlicher Vermögen und Verhaltensweisen im Umgang mit Musik erör-

tert wird (ÜaV 78).

______________

207 Der ‚ganze Mensch’ ist nach Richter ein „Phantom“ oder eine „hypertrophe Vorstellung“ (ÜaV 78).

Bewährung · 187

Die menschliche Existenz basiert auf diversen ‚Kräften’ und ‚Vermögen’, die

‚unstet’ und ‚disparat’ wirken. Richter spricht von einer ‚konstitutiven

Wurzellosigkeit’ des Subjekts, um das Verstehen als offenen unabschließbaren

Prozess zu deuten, der immer auch die Vielfältigkeit und Andersartigkeit

ästhetischer Erfahrungen mit einschließt.

Um diese Beziehungen zu verdeutlichen, bezieht sich Richter auch auf den Leib,

der als „ein beseelter Körper aus der Menge der übrigen Körper herausgehoben

wird“ (ÜaV 93).208 Dennoch ist es nicht Richters Ziel, Körper und Leib im Sinne

ihrer divergenten Begriffsgeschichte und konträren terminologischen Bedeutung

voneinander zu unterscheiden.209 Vielmehr geht es ihm um ein Verständnis der

menschlichen Seinsweise, die sich vom Körper als physisch vorhandenes, mate-

rielles Ding absetzt und seine ‚beseelten’ Eigenschaften hervorhebt. Die Gleich-

setzung führt dazu, dass auch im Begriff der Verkörperung Aspekte der obigen

Leibauffassung enthalten sind.210 Richter selbst setzt übrigens die Begriffserklä-

rung in Parenthese, was nochmals unterstreicht, dass eine strenge Differenzierung

im Verlauf der Arbeit nicht beibehalten wird und für das Verständnis der Argu-

mentation nicht zwingend nötig erscheint. Diese fehlende Trennschärfe ist also

kein Mangel, da die Argumentation nicht auf einer ausführlichen Begriffsdifferen-

zierung aufbaut. Das Hauptinteresse liegt vielmehr auf einer grundsätzlichen Neu-

bewertung von Bewegungserfahrungen, die dann im Terminus ‚Verkörperung’

festgemacht werden.

Richter schreibt dem Körper zwei Grundfunktionen zu: „Bewegung und Bewegt-

heit“ (Richter 1995, 5). Während die Bewegung den Menschen als ein physisch

sinnliches Wesen bestimmt, veranschaulich die Bewegtheit sein subjektives Aus-

drucksvermögen. Schon im alltäglichen Wortgebrauch besitzt der Terminus Be-

wegung sowohl eine transitive als auch eine reflexive Bedeutung. Ein Mensch

kann eine bestimmte Rolle annehmen und eine fremde Person darstellen. Gleich-

______________

208 Richter bezieht sich hier auf die Definition aus dem ‚Historischen Wörterbuch der Philoso-phie’. Vgl. Ritter/Gründer 1980, Bd. 5, Sp. 173-185

209 An einigen Stellen werden sie sogar synonym verwendet. So spricht Richter z. B. von den „gegenseitigen Beziehungen zwischen Körper (Leib), Seele und Geist“ (ÜaV 92).

210 In der folgenden Darstellung wird der Körperbegriff beibehalten, obwohl sicherlich ‚Leib’ bzw. ‚Verleiblichung’ den Gedanken Richters eher gerecht würden. Allerdings verfällt Rich-ter auch nicht in ein einseitig vorurteilshaftes Leibverständnis. Wie bereits in Kap. II.3.1 er-wähnt, lehnt er diese Begriffe v. a. aus Gründen der ‚Klanglichkeit’ ab.

188 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

zeitig ist es möglich, seine eigenen Stimmungen zum Ausdruck zu bringen. Dieses

‚Doppelspiel’ wird als „Verkörperung“ bezeichnet (Richter 1995, 5).211

Indem jemand etwas verkörpert, verkörpert er gleichzeitig sich selbst

( aV 94).

Als ideales Beispiel für die zweifache Auffassungsmöglichkeit des Körpers dient

die Tätigkeit eines Schauspielers, der jeweils eine bestimmte Rolle verkörpert und

darin gleichzeitig seine individuelle Persönlichkeit darstellen kann. Er agiert ei-

nerseits in einer vorgegebenen Rolle und andererseits als eigenständiger Regis-

seur. Der Körper ist dabei sowohl eine „Maske“ oder ein „Kunstmittel“ (ÜaV 95)

als auch Bestandteil der je individuell mitgebrachten Bewegungseigenschaften.

Aus der Intensität der Darstellung kann darauf gefolgert werden, ob der Schau-

spieler sich auf die Anforderungen der Rolle einlässt und in ihr ‚aufgeht‘. Je viel-

fältiger das Deutungspotenzial des Körpers ist, umso treffender kann ein fremder

Charakter dargestellt werden, und umso wahrscheinlicher ist die ‚Glaubhaftigkeit’

der Handlungen für die Zuschauer. Niemals aber, und das ist die Pointe der Ver-

körperung, kann ein Schauspieler eine fremde Rolle vollständig annehmen, da er

immer auch sich selbst spielt. Es ist eine Grunderfahrung des Menschen, dass er

als ‚Doppelgänger’ je nach Situation verschiedene Rollen annimmt, die seine

Identität ausmachen, so dass er „aus sich in ständigem Vollzug erst [eine] ‚Per-

son’“ wird (ÜaV 96). Es ist also wesentlich der Körper als Medium, der zum Ent-

wurf einer eigener Rolle und Etablierung eines eigenen Wesens dient.

Während Richter in früheren Arbeiten den philosophischen Lebensweltbegriff

Husserls und die hermeneutische Spieltheorie Gadamers für eine Neuformulierung

der Subjekt-Objekt Beziehung heranzog, dient nun die philosophische Anthropo-

logie Helmut Plessners dazu, „das Konzept der didaktischen Interpretation von

Musik zu ergänzen“ (ÜaV 77). Richter bezieht sich vornehmlich auf den Text

‚Zur Anthropologie des Schauspielers’, in der systematisch die Verkörperungsthe-

orie entfaltet wird.212 Dort wird davon ausgegangen, dass der Mensch zwar ein

Lebewesen ‚ist‘, das einen biologischen funktionstüchtigen Körper besitzt, aber

erst über sein freies Handeln sich als Person ‚hat‘ und somit gleichermaßen über

______________

211 Richter bezeichnet die Verkörperung auch als „Gemischtes Doppel“ (Richter 1994, 38) oder als „den notwendigen Vollzug menschlicher Existenz“ (ÜaV 111).

212 Vgl. Plessner 1980b

Bewährung · 189

ein Körper-Sein und Körper-Haben verfügt. Die direkten intentionslosen,

selbstvergessenen Verkörperungen zur Musik betonen die Rolle des ‚Körperseins’

und heben die physische Motorik des Körpers hervor. Das bewusste ‚Körper-

Haben‘ entsteht im absichtsvollen Umgang mit „Körperempfindungen, mit Stim-

mungen und Gefühlen“ (ÜaV 108). Erst die Berücksichtigung beider Momente

veranschaulicht die vollständige Form der Verkörperung als „fundamentaler Zug

leiblicher Existenz“ (Plessner 1980a, 198). Verkörperung beinhaltet demnach ganz

im Sinne des Zur-Welt-Seins eine Leistung im Umgang mit Menschen oder Din-

gen, die nicht primär vorgezeichnet ist, sondern sich durch den offenen Vollzug

erst ergibt.

Richter geht es wie Plessner um eine Kritik an der dualistischen Erkenntnistraditi-

on seit Descartes. Leiblichkeit fordert wie die Verkörperung keine ganzheitliche

Überwindung, sondern fragt nach einer prärationalen Struktur, die vor der Diffe-

renz liegt. Auch Richter sucht in Anlehnung an Plessner nach einem „Ausweg aus

dem antinomisch gedachten Dualismus zwischen Körperlichkeit und Denken“

(ÜaV 98).

Die Art und Weise wie der Mensch die Polarität von Körper und Geist unterläuft,

ist seine ‚Positionalität’. Er kann aus sich heraustreten und sein Handeln wie ein

Außenstehender betrachten und objektivieren. Gleichzeitig ist die Möglichkeit

gegeben, in Distanz zu seiner äußeren Erscheinung zu treten, um das Verhalten zu

kontrollieren, zu gestalten und zu reflektieren. Der Mensch steht in einem kreati-

ven Umgang mit Dingen und Menschen, wo er ‚aus einer Mitte heraus’ handelt

und versteht. Diese Möglichkeit bezeichnet Plessner als ‚exzentrische Positionali-

tät’.213 Die Existenz kann in drei unterschiedlichen Weisen gedeutet werden. Ers-

tens besteht eine rein objektive Außenwelt, wo der Körper als Körperding er-

scheint. Zweitens existiert eine Innenwelt, wo sich das Subjekt in der Außenper-

spektive betrachten kann. Aus der gegenseitigen Beeinflussung von Außen- und

Innenwelt erschließt sich drittens eine Mitwelt, in der die Gesten anderer Men-

schen verstanden und gleichermaßen subjektive Befindlichkeiten nach außen

verkörpert werden. Verkörperung als Vollzug der ‚exzentrischen Positionalität’

definiert Richter wie folgt:

______________

213213 Vgl. Plessner 1980b, 405-410

190 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Verkörperung als eine den Menschen auszeichnende aktive und für den Le-

bensvollzug notwendige Leistung kann als der Prozess verstanden werden,

in welchem die dreifach bestimmte Positionalität des Menschen verwirk-

licht wird: das Körpersein, das Im-Körper-Sein und die Fähigkeit, diesen

Doppelaspekt des Lebens betrachten zu können und bewusst vollziehen zu

müssen (ÜaV 100).214

Der Mensch verkörpert sich auch in und durch Musik. Bereits das Zwischen der

Leiblichkeit verweist darauf, dass jede Form der musikalischen Darstellung aller-

erst über den Körper vollzogen wird, der über Bewegungen die Musik produziert.

Angefangen von der instrumentalen ‚Fingerfertigkeit’ auf einem Instrument oder

den Bewegungen beim Tanzen bis hin zur ‚Körpersprache' im Zusammenspiel

stellt er das Potenzial zur Verfügung, mit dem die Vorstellungen sichtbar, hörbar

und verstehbar realisiert werden. Der Körper besitzt neben der physischen Voraus-

setzung zur Spielfähigkeit auch die Fähigkeit, sich seiner Gestaltung bewusst zu

werden und seine eigenen Vorstellungen von der Musik zum Ausdruck zu brin-

gen. Für jede Form der Interpretation muss die Bereitschaft gegeben sein, die

Bewegungsformen nachzuvollziehen und Bereiche seines eigenen subjektiven

Verständnisses in die Musik hineinzulegen, um sich „als Körper zu erleben“ (ÜaV

106). Diese Möglichkeit besteht nach Richter nicht nur für den ausführenden In-

strumentalisten, sondern auch für den Hörer und Tänzer. Es werden aber keine

Angaben darüber gemacht, wie sich dort die Verkörperung vollzieht. Besonders

Sänger erfahren den Doppelaspekt im Musizieren, weil „sie selbst das ‚Instru-

ment’ der Verkörperung und von sich selbst“ sind (ÜaV 106).

Richter verwendet für dieses wechselseitige Doppelspiel auch die zwei Begriffe

‚Greifen’ und ‚Begreifen’ und kritisiert eine in der Instrumentalpädagogik vor-

herrschende Ausrichtung auf technische Perfektion, die nur die Motorik berück-

sichtigt.215 Dagegen hebt Richter das Verstehen musikalischer Sinnzusammenhän-

ge durch Bewegungen hervor. Übertragen auf den Bereich des Musikunterrichts

zeigt sich, dass z. B. Ensemblearbeit, Tanz, Szenische Interpretation oder Formen

des Klassenmusizierens unter schwerpunktmäßiger Berücksichtigung körperlicher

______________

214 Ganz im Sinne des Zur-Welt-Seins versteht Richter Verkörperung als „Vollzug menschlicher Existenz“ (ÜaV 109).

215 Vgl. Richter 1994; das Chiasma von ‚Greifen und Begreifen’ verweist auf die Doppelempfin-dung des Leibes. Vgl. Kap. III.1.2.2

Bewährung · 191

Ausdrucksmöglichkeiten realisiert werden müssen, so dass das ‚Greifen’ als Be-

standteil des ‚Begreifens’ verstanden wird. Eine reine Praxisorientierung ist eben-

so uneffektiv wie eine rationale Kontrolle von Bewegungsvorschriften oder eine

einseitig auf das Begreifen ausgerichtete Vermittlung rationalen Lernstoffs. Das

Doppelspiel verdeutlicht, dass reine Praxistätigkeit im Unterricht nicht zum

Selbstzweck degradiert werden darf, sondern das Begreifen fördern muss.

Im Unterschied zur Rolle eines Schauspielers sind die musikalischen Verkörpe-

rungen nicht sichtbar, sondern werden wesentlich im Inneren erlebt, so dass sich

die Schwierigkeit einer Verallgemeinerung im Sinne intersubjektiv erlebter und

überprüfbarer Erfahrungen ergibt. Trotz vereinzelter „Spuren choreographischer

Musikvermittlung“ (Richter 1994, 6) durch Gesten, wie z. B. Armbewegungen,

sind festgelegte Verkörperungen eher die Ausnahme. Hier zeigt sich ein Unter-

schied zur Leiblichkeit, die davon ausgeht, dass sich das Subjekt über Interkorpo-

ralität und Expressivität darstellen kann, aber immer auch die Möglichkeit besitzt,

seine Bewegungen im Sinne einer fremden Rolle zu verstellen. Beide Anteile

ermöglichen eine Art Hermeneutik der Gestik, die weniger über Sprache als viel-

mehr über die Interkorporalität geschieht. Im Unterricht muss letztlich ein Deu-

tungsregister etabliert werden, das den Schülern erst grundlegende Potenziale und

Grenzen sichtbarer Verkörperungen von Bewegungen bewusst macht und ihnen

verdeutlicht, dass sich ein Mensch, sei es im Tanz oder auf dem Konzertpodium,

über Musik darstellt. Eine Bezugnahme auf das in der Bestandsaufnahme gezeigte

Körperinteresse ermöglicht hierbei auch eine kritische Auseinandersetzung mit

Musikszenen sowie einen planbaren Einsatz des ‚Verkörperungsrepertoires’ im

derzeitigen gesellschaftlichen Kontext.

Wie nah sich Richters musikalisches Verkörperungskonzept an den Grundgedan-

ken einer responsiven Theorie orientiert und hierbei v. a. den ‚Primat des Hörens’

hervorhebt, zeigt sich in der Vorstellung, dass das musikalisch Produzierte dem

Schüler hörbar wieder begegnet. In Bezug auf Plessner spricht Richter von produ-

zierten Tönen, die von außen als das ursprünglich Eigene wieder entgegen kom-

men. Im Sinne einer ‚leiblichen Responsivität’ dienen Gestik, Mimik und Bewe-

gung einerseits als „Vor-Aktion“, um das Spielende zu bewirken, und andererseits

als „Re-Aktion“ (Richter 1994, 44), da reflexartig auf das Gehörte und das da-

durch bedingte Körpergefühl reagiert wird. Wie bereits bei Mollenhauer wird also

eine Kopplung von Werkzeug- und Sinnenleib anvisiert, ohne explizit auf deren

192 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

asymmetrisches Verhältnis hinzudeuten.216 Allerdings sieht Richter eine perma-

nente „Unentschiedenheit“ in Form eines „Hin und Her“ (ÜaV 109) zwischen

aktivem Handeln und Geschehenlassen, die ein wesentliches Kennzeichen der

Verkörperung ist.

Für eine gelungene Verkörperung in und durch Musik ist gerade der Doppelaspekt

im Rahmen der konstitutiven Grenzen von Selbst- und Fremdverkörperung be-

deutsam, so dass eine ‚Mischung’ von Greifen und Begreifen nur zu einer

‚schlechten Ambiguität’ führen würde, die den Idealen einer Ganzheitlichkeit

verpflichtet ist. Demgegenüber gewährleistet die von Richter als Problem diagnos-

tizierte ‚Rätselhaftigkeit’ der Sichtbarkeit von Verkörperungen geradezu die Zwei-

deutigkeit des Leibes zwischen Greifen und Begreifen, die wiederum auf die

spezifischen responsiven Topoi wie ‚Hiatus’ oder ‚Diastase’ verweist. Ziel ist es,

das Nicht-Verstehen einer Darstellung beizubehalten und ihre Undurchdringlich-

keit als wesentlichen Teilbereich ästhetischer Erfahrungen zu akzeptieren. Sie sind

gerade als potenzielle Möglichkeiten zu verstehen, das Fremde und Andere einer

Antwort zuzulassen, die eben nicht festgelegt auf eine gestellte Frage reagiert.

Eine Konzentration auf das Hören und Deuten des Kunstwerks ist demnach zwar

Bestandteil der Verkörperung, folgt aber deutlich an zweiter Stelle. Wilfried

Gruhn sieht darin eine Veränderung des Verstehensbegriffs der Didaktischen

Interpretation.

Von der philosophischen Vorstellung, dass Verstehen eine im Werk vermit-

telte Intention aufdecke, entfernt sich die Vorstellung, dass der Interpret

sich im Werk und durch das Werk verkörpere (Gruhn 1993, 334).

Schwierigkeiten der unterrichtspraktischen Realisation der Verkörperung treten

v. a. dann auf, wenn ein „durchdachter Plan“ (ÜaV 109) angenommen wird, der

Bewegungen systematisiert und mit einer bestimmten festgelegten Absicht ver-

sieht. Im grundlegenden Artikel zur Verkörperungstheorie von 1987 macht Rich-

ter mehrfach geltend, dass es keine Vorschriften geben darf, welche „emotionale,

kognitive, sensomotorische oder psychomotorische Verhaltensweisen als Arbeits-

felder oder Planungselemente und als Grundlagen für Systematiken (z. B. in Lehr-

pläne)“ ausnutzen (ÜaV 108). Determinierte methodisch-didaktische Vorgehens-

weisen sind nicht primäre Lernziele. Vielmehr werden verschiedene körperliche

______________

216 Vgl. Kap. V.1.3

Bewährung · 193

und emotionale Ausdrucksmöglichkeiten bereitgestellt, die absichtlich sehr weit

gefasst sind. Ein Musiker verkörpert demnach

- seine Bewegung (Bewegtheit)

- seine Erlebnisse

- seine Haltung

- seine Befindlichkeit

- sein Verstehen

- die Auffassung von sich selbst in Bewegungen, Gesten, Mimik, in sei-

nem Musizieren (ÜaV 107).

Während in Richters frühem und umfassenden Aufsatz zur Verkörperungstheorie

auf methodische Hinweise verzichtet wird, finden sich in späteren Ausführungen

auch konkrete Bezüge zu einer Unterrichtsgestaltung und möglichen Musikbei-

spielen.217 Im Gegensatz zum offenen Umgang mit Körpererfahrungen und deren

emotionale Wirkungen wird nun systematisch die „Planung eines Verkörperungs-

versuchs“ (Richter 1995, 8) entwickelt und dabei auch die ‚Musik-Bewegung‘

konkretisiert. Wesentliche Kennzeichen sind

- ihr kontinuierlicher, spannungsvoller Fluß; anstatt der Folge oder

Summe von Tönen,

- ihr stetiger Intensitätswechsel,

- die Vielfalt und Gleichzeitigkeit ihres inneren Lebens,

- ihre strukturelle Einheit im Zusammenschluß zu Gestalten,

- ihre Einheitswirkung; die Einheit einer Spannkraft (Richter 1995, 9).

In dieser Auflistung ist eine Rationalisierung innerhalb des Verkörperungsbegrif-

fes zu erkennen, die sich v. a. im Verstehen der formalen Struktur der Musik äu-

ßert. Im Nachvollziehen des Verhältnisses von Metrum, Takt und Rhythmus sowie

der melodisch harmonischen Spannungsverläufe soll das spezifische Hören der

dynamischen Qualitäten und das sinnliche Erlebnis gesondert hervorgehoben

werden. Ferner findet sich auch eine Berücksichtigung formaler musiktheoreti-

scher Kriterien. Auch wenn die Kennzeichen recht weit gefasst sind, werden die

sinnlichen Erfahrungen und Stimmungen ein Teilbereich des Verkörperungspro-

______________

217 Vgl. v. a. Richter 1994; 1995

194 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

zesses. Im Vordergrund steht jetzt die „Erfahrung von der Machart der Musik“

(Richter 1995, 9).

Richter stellt zwei Musikbeispiele zur Realisation der ‚Verkörperung’ im Musik-

unterricht vor. Die Partitur von Béla Bartóks drittem Satz aus dem ‚Concerto for

Orchestra’ soll zuerst hinsichtlich ihrer Motivik analysiert und anschließend dann

auf didaktisch-methodische Fragestellungen hin untersucht werden. Die Schüler

hören die Musik und setzen sie dann spontan in Bewegung um. Die Bestimmung

des musikalischen Charakters und „Einsichten in die Form und den Gestaltungs-

zusammenhang“ (Richter 1995, 10) lassen sich über Bewegungsstudien verdeutli-

chen und an Aspekten der Verkörperungstheorie vertiefen. Abschließend kann

über die „unterschiedliche Bauweise der Musikarten“ (Richter 1995, 10) diskutiert

und die doppelte Bedeutung der Verkörperung erörtert werden.

In einem zweiten Beispiel soll die Verkörperung im Tanz erprobt werden. Anhand

J. S. Bachs Polonaise/Bourrée aus der Suite Nr. 2 h-Moll werden der gesellschaft-

liche Status der Musik veranschaulicht und die zugehörigen menschlichen Verhal-

tensweisen über Bewegungen dargestellt. Nachdem die Musikstücke zunächst im

Unterricht gehört wurden, werden anschließend die in ihnen enthaltenen Atmo-

sphären schriftlich festgehalten und dann versuchsweise zur Musik umgesetzt.

Abschließend ist „darüber zu reden“ (Richter 1995, 12), welchen Zweck die Ver-

suchsreihe besitzt.

Deutlich ist zu erkennen, wie das Verkörperungskonzept als ein methodischer

Teilbereich angesehen wird, der dann immer auch an Formen des bewussten Hö-

rens, des Reflektierens und v. a. des Gesprächs gekoppelt ist, so dass hierbei dann

abschließend auch eine intersubjektive Ergebnissicherung stattfindet. Richter setzt

hier verstärkt beim ‚Kunstwerk’ bzw. bei den Hörerfahrungen an, um von hier aus

eine angemessene Form körperlicher Darstellung von Musik zu finden, während

seine frühe ‚Fassung’ gerade die wechselseitige Verschränkung von Bewegung

und Bewegtheit zum Anlass nahm, um nach dem Ausdruck des Eigenen im Frem-

den zu fragen und um so sich selbst über Musik zum Ausdruck zu bringen. Die

leichte Modifizierung ist mit Sicherheit schulgeeigneter, lernzielorientierter und

einfacher zu realisieren, geht allerdings auf Kosten einer intensiven Auseinander-

setzung mit Charakteren und Bewegungen, da primär das hörbare und über die

Partitur zu erschließende Kunstwerk im Zentrum des Musikunterrichts steht.

Bewährung · 195

Wir müssen die Musik genau hören und sie eventuell auch lesen und unter-

suchen, kurz: sie in Nuancen kennenlernen, um die klangliche Verwirkli-

chung der Charaktere ins Verhältnis zu setzen zu unserer körperlichen

Darstellung (Richter 1995, 12).

Die Tendenz zur Rationalisierung ist durch die schwerpunktmäßige Thematisie-

rung von Lerninhalten gegeben, die mündlich oder schriftlich fixierbar sein sollen.

Schon an Richters frühen Beiträgen zur Entwicklung der Didaktischen Interpreta-

tion wurde kritisiert, dass sie durch einen objektbezogenen Erfahrungsbegriff an

einem engen, normativen Begriff des musikalischen Kunstwerks festhält.218 So

rückt in der ‚späten Verkörperungstheorie’ v. a. das Sprechen über tänzerische

Bewegungen und das Nacherleben musikalischer Formen in den Mittelpunkt der

methodischen Überlegungen. Richter ist sich der Problematik einer Versprachli-

chung von Bewegungserfahrungen bewusst und macht auf zwei Aspekte aufmerk-

sam, die eine Rationalisierung umgehen können. Zum einen bedienen sich viele

Beschreibungen musikalischer Verläufe einer körperlichen Metaphorik und zum

anderen ist die Sprache selbst eine Weise der Verkörperung, „insofern in ihr Be-

griffe, Gedanken und Vorstellungen zu lautlich klingenden Gestalten gebildet

werden“ (ÜaV 110). Erst hierdurch ist der gesamte Verweisungszusammenhang

von Sein, Handeln und Reflexion im Sinne des eigenen Vollzugs, des verstehen-

den Mitvollzugs und des sprachlichen Verstehens gegeben. In dieser weiten Fas-

sung des Gesprächs ließe sich auch die Verbalisierung als eigenständiger Teilbe-

reich der Verkörperung fundieren.

Die Verkörperungstheorie geht wie auch die Leiblichkeit von der Voraussetzung

aus, dass tänzerische Bewegungen den Rückschluss auf die Darstellung von Emo-

tionen ermöglichen. Ferner ist sicher, dass Bewegungen zur Musik konkrete Zu-

gänge zur alltäglichen Erfahrungswelt der Kinder bereitstellen. Fraglich bleibt

allerdings, ob die Bereitschaft gegeben ist, klassische Musik zu verkörpern. Letzt-

lich konkurriert das primäre Bedürfnis nach expressiven Bewegungen deutlich mit

den Anforderungen im Schulalltag und den Vorbehalten der Schüler, sich vor den

Mitschülern zu ‚offenbaren’. Verkörperung und Leiblichkeit lassen sich in der

Praxis nur unter idealisierten Bedingungen umsetzen. Das betrifft die Lerngruppe,

die Räumlichkeiten, die Unterrichtszeiten etc. Gleichsam ist die Thematisierung

der menschlichen exzentrischen Positionalität ganz im Sinne des Zwischen des ______________

218 Vgl. Jank 1996

196 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Leibes eine existenzielle Grunderfahrung, die gerade im intersubjektiven musika-

lischen Vollzug thematisiert werden kann, da hier die expressiven Potenziale und

das Zur-Welt-Sein des Leibes deutlich zum Vorschein kommen. Gleichermaßen

ist letztlich eine Entsprechung von ‚Körpersein’ und ‚Körperhaben’ bzw. von

Selbst- und Fremddarstellung von utopischem Potenzial geprägt und lässt sich

weder beweisen noch dokumentieren.

In Richters später Verkörperungsdeutung kommt der konstitutive Bezug von Grei-

fen und Begreifen nicht mehr zur Geltung. Die im Ergebniskapitel der vorliegen-

den Arbeit explizierten Qualitäten der Leiblichkeit greifen diesen Aspekt jedoch

auf und betonen, dass durch die mehrdeutige Darstellung von sich selbst in der

Musik der doppelseitige Ansatz von Bewegung und Bewegtheit aufrecht erhalten

wird. Die tänzerische Darstellung ‚verkörpert’ in dieser Sichtweise sowohl das

individuelle Ausdrucksvermögen als auch die Struktur der Musik. Die Ausführun-

gen verdeutlichen, dass aus phänomenologischer Sicht „eine Gegenüberstellung

der Theorie der Verkörperung mit Merleau-Pontys Auffassung des Leibes als

Ausgang der Weltkonstitution“ fruchtbar ist (SBL 50). Im Mittelpunkt steht nicht

nur die Darstellung einer Musik über körperliche Mittel, sondern die „Grundle-

gung musikalischer Erfahrung durch die leibliche Situiertheit des Menschen in der

Welt“ (SBL 50). Letztlich finden sich in vielen Äußerungen Richters deutliche

Anlehnungen an der ‚Leiblichkeit’, zumal es sein Kernanliegen ist, zu zeigen,

„dass und wie die Leiblichkeit des Menschen als Ganzes am Verstehen und an der

Erfahrung beteiligt ist und sowohl seinen Musikumgang als auch sein Selbstver-

ständnis prägt“ (ÜaV 77).

Ein Bezug zur Leiblichkeit findet sich auch in der Verkörperung zwischen Bewe-

gung und Bewegtheit, wo deutlich vorurteilsbestimmte Subjekt-Objekt-Dualismen

und Formen einer Ganzheitlichkeit umgangen werden. So wie es eine Auszeich-

nung des Zwischen der Leiblichkeit ist, sich immer schon auf Dinge zu zu bewe-

gen und sie als Teil des eigenen Zur-Welt-Seins zu erfassen, so liegt auch die

Verkörperung zwischen „aktivem Handeln und Geschehenlassen“ und im „grenz-

überschreitenden Hin und Her zwischen Selbstvergessenheit, Freude am Körper-

sein und Körperhaben, Aufmerksamkeit für den Körper und die Musik“ (ÜaV

109). Leiblichkeit erhält mittels der Verkörperung im Musikunterricht eine

„merkwürdige Stellung zwischen Gegenständlichkeit und Zuständlichkeit“ (Pless-

ner 1980a, 186). Sie setzt ganz im Sinne der frühen Ausführungen zur Verkörpe-

rungstheorie an der individuellen Gestaltung von Selbst- und Fremderfahrungen

Bewährung · 197

an. Der dreifach bestimmte Verkörperungsbegriff vom lebendigen Körperobjekt,

empfindenden Körpersubjekt und außenstehenden Beobachter sowie das Korrelat

des dreifach positionierten Erscheinens in der Außen-, Innen-, und Mitwelt erin-

nern an wesentliche Grundzüge des phänomenologischen Leibbegriffs, wie z. B.

die Doppelempfindung des Leibes, die Ambiguität zwischen Darstellungs- und

Erfahrungsmedium oder den primären Vollzugscharakter des in der Welt veran-

kerten Leibes. Eine grundsätzliche Divergenz scheint es v. a. in der direkten Welt-

vermitteltheit eines Zur-Welt-Seins zu geben, die letztlich nicht mehr zwischen

Innen und Außen unterscheidet und eine Fundierung verschiedener Welten ne-

giert. Merleau-Ponty bestreitet z. B., dass sich der Leib im Sinne der exzentrischen

Positionalität beobachten lässt: „Ich beobachte äußere Gegenstände mit meinem

Leib, hantiere mit ihnen, betrachte sie, gehe um sie herum, doch meinen Leib

selbst beobachte ich nie“ (PhW 116). Ferner lassen sich auch die Qualitäten der

Leiblichkeit nur auf dem Boden einer immer schon musikalisch fundierten Le-

benswelt realisieren. Leiblichkeit wird so zur Bedingung, durch die ästhetische

Erfahrungen zustande kommen. Jeder Klang verweist auf Formen des Produzie-

rens, Ausübens, die dialektisch mit der Lebenswelt verknüpft sind und Leiblich-

keit musikalisch fundieren. Während die Verkörperung sich wesentlich im Inneren

vollzieht und einer spezifischen Form von Einstellung im Sinne einer eindimensi-

onalen Intention gleichkommt, ist die Leiblichkeit dagegen dezentralisiert und

somit in musikalische Vollzüge eingebunden, die nicht einzeln herausgegriffen

werden können. Ferner scheint die Welt der exzentrischen Positionalität fassbar,

strukturierbar und so gegeben, dass sie das Subjekt direkt anspricht und Antworten

parat hält, die Sinn ermöglichen. Die Welt der Leiblichkeit ist unsichtbar, da sich

die Züge noch nicht abgezeichnet haben und so zahlreiche kontingente Deutungen

möglich sind. Musikalischer Sinn liegt zwischen der Darstellung und dem Hören.

Er kann nicht ergriffen oder verstanden werden, da er in der Leiblichkeit zwar

vorliegt, sich aber auch verändert.

In seiner Verkörperungstheorie beruft sich Richter auf Plessners ‚Anthropologie

des Schauspielers’, um die doppelte Darstellung des „anderen in sich“ und „sich

selbst“ (Richter 1995, 6) auf die musikpädagogische Praxis zu übertragen. Diese

Transformation gelingt nur unter einer leichten Modifizierung der Musikästhetik

Plessners. Gerade Tanzen gilt ihm als eine Kunstform, die keinen Bezug zur Mu-

sik benötigt. Ein Zusammenhang „zwischen tönender Linienführung und körperli-

chen Bewegungen“ (Plessner 1980a, 196), wie er gerade für die musikalische

Verkörperung relevant erscheint, ist nicht gegeben. In der Schrift ‚Zur Anthropo-

198 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

logie der Musik‘ plädiert Plessner zwar für eine ‚Einheit der Sinne‘, in der auch

Übereinstimmungen von Hören, Sehen und Berühren thematisiert werden. Letzt-

lich besitzt aber jeder sinnliche Modus eine gesonderte Wahrnehmungsweise und

eigenständige Aufgabenbereiche.

Der Tanz ist zwar eine selbständige Kunstform, in der Verstehen, Sinnlichkeit und

Motorik zusammenwirken, aber sich dennoch eine Diskrepanz zwischen real ver-

körperndem Ausdruck und der abstrakten symbolischen musikalischen Form ab-

zeichnet. Eine Bewegung, die den Gehalt der Musik imitiert, „vergröbert den

Sinngehalt“ (Plessner 1980a, 196). Die „angleichend-ausdeutende Bewegung“

(Plessner 1980a, 196) im Tanz zur Musik wird daher als ‚peinlich’ bezeichnet.

Je innerlicher und tiefer eine Musik ist, d. h. je unabhängiger die Konfigu-

ration, der Schwung und das Gewicht ihrer tönenden Linienführung von

den Taktszenen sind, desto peinlicher wirkt der Versuch, sie in tänzerischer

Gebärde auszudrücken (Plessner 1980a 196).

Obwohl der in der Musik verankerte formale Gehalt als Geste erfassbar ist, besitzt

der körperliche Ausdruckswert von Klanggesten nur „eine begrenzt berechtigte

Zugangsweise“ (Plessner 1980a, 197). Plessner bewegt sich argumentativ auf der

Ebene einer Formalästhetik, die nur der musikalisch bewegten Form ästhetische

Relevanz zuspricht und sich von jeglichen Inhalten loslöst. So hebt er ganz im

Sinne Hanslicks die „tönenden Liniengewebe“ und die „Objektivität der Klang-

welt“ hervor, die sich von „den Grenzen und Klangfarben der menschlichen

Stimme“ (Plessner 1980a, 197) befreit haben. Die motorische Imitation der musi-

kalischen Struktur über Tempo, Tonhöhe oder Lautstärke ist nicht in der Lage, die

seelische oder geistige Intention des klanglichen Kunstwerks wiederzugeben und

reduziert die in der Musik liegende Spannung. Da die Eigengesetzlichkeit der

tönenden Form einer Umsetzung der Musik in körperliche Bewegung wider-

spricht, fordert Plessner konsequent eine körperliche Passivität während des Hö-

rens.

Die tönende Linienführung schöpft aus der Unterbindung der durch sie

angeregten Motorik den Charakter des Zu-Bedeuten-Habens, des Zu-

Verstehen-Gebens (Plessner 1980a, 199).

Die Tendenz zur Verinnerlichung findet sich auch in Plessners Definition von

Musik:

Bewährung · 199

Musik bedeutet, dem Leib seine von ihr geweckte und angesprochene Mo-

torik zu unterlassen und die Lösung der durch sie gesetzten dynamischen

(bisweilen emotional-expressiven) Spannungen den Klanggebilden selbst

zu überlassen (Plessner 1980a, 198).

Diese These beinhaltet eine enorme Aufwertung des Gehörs. Der Hörer versteht

das Erklingende und assoziiert das eigengesetzliche musikalische Spiel von An-

stoßung und Abstoßung bzw. Nähe und Ferne mit dem menschlichen Verhalten.

Hierdurch ergeben sich wiederum Bezüge zur Responsivität und zu einem ‚Primat

des Gehörs’. Es ist letztlich Richters Verdienst, gezeigt zu haben, dass musikali-

sche Erfahrungen immer schon von Verkörperungen durchzogen sind, sei es im

Instrumentalspiel, im Singen, im Tanz oder in der Szenischen Interpretation. Rich-

ters Versuch, die Verkörperung von einer rein darstellenden hin zu einer zwischen

Musik und Bewegung vermittelnden Kunstform zu transformieren, zeigt sich

paradigmatisch im Spiel von Selbst- und Fremdverkörperung und trifft demnach

vornehmlich für den Bereich ästhetischer Erfahrung zu.

200 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

2 Ausweisung von Neuer Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Zudem sind es ja doch nicht – bei aller unmittelbaren Vergegenwärti-gung – die wahren Sirenen, die in der Musik locken, sondern eben ästheti-sche: der Hörer übersteht sie, sogar ungefesselt. Die Erfahrung des Odys-seus in die Kunst einzuholen – das wäre erst noch zu vollbringen. (Schnebel 1977, 76).

Der bisherige Verlauf der Arbeit stellte ausgehend vom konkurrierenden Körper-

interesse in der derzeitigen Musikkultur Jugendlicher eine Vorurteilshaftigkeit

fest, die durch den phänomenologischen Leibbegriff unterlaufen werden konnte.

Dieser enthält spezifische Qualitäten, die unter ‚Leiblichkeit’ terminologisch fest-

gehalten wurden. Um die Vollständigkeit des thematischen Untersuchungsfeldes

zu gewährleisten und das in der Bestandsaufnahme dargestellte Körperinteresse in

seiner ganzen Spannbreite zu beleuchten, wird in der ‚Ausweisung’ exemplarisch

die Rolle des Körpers in der ‚Neuen Musik‘ thematisiert, um auch hier praxisrele-

vante Bezüge zur Leiblichkeit zu ermöglichen und Wege für Neue Musik als

Vollzug von Leiblichkeit im Unterricht ‚freizulegen’.

Die Ausweisung konzentriert sich zunächst in der ‚Hinführung’ anhand ausge-

wählter Beispiele auf neue Wahrnehmungsformen und die Bedeutung des musika-

lischen Produktionsprozesses im Bereich der zeitgenössischen Musik.219 Ausge-

hend von einer Bezugnahme auf zeitliche und räumliche Strukturen von Klängen,

die sinnliche Erlebnisweisen für den Hörer bereitstellen, entsteht ein Interesse an

neuartigen Spieltechniken und theatralischen Elementen, in denen sich auch Be-

wegungs- und Handlungsvorschriften als ebenbürtige musikalische Gestaltungs-

mittel in die Komposition mit einbeziehen lassen. In diesem Zusammenhang wird

die traditionelle Werkästhetik, die sich ausschließlich auf getreue Wiedergabe der

Partitur beschränkt, kritisiert und der Anspruch auf eine kreative Autorität des

______________

219 Die hier dargestellten Beispiele verstehen sich als eine exemplarische Auswahl, um verschie-dene Qualitäten der Leiblichkeit beispielhaft zu beleuchten. Eine vollständige Analyse wäre im Bereich der Musikwissenschaft zu erwarten. Vgl. Rautmann/Schalz 1998, 1073 ff. sowie Hilberg 2000

Bewährung · 201

Produzenten und Rezipienten begründet. Die ‚Durchführung’ konzentriert sich

anschließend auf die zeitgenössischen Komponisten Edgar Varèse, Dieter Schne-

bel und Vinko Globokar, um durch exemplarische Verweise auf musikästhetische

Vorstellungen und Werke neue Bezüge zur Leiblichkeit abzuleiten und diese für

die musikpädagogische Praxis zu konkretisieren. Die Bezugnahme auf diese drei

Vertreter zeitgenössischer Musik baut nicht nur historisch aufeinander auf, son-

dern verdeutlicht eine sich ständig differenzierende Berücksichtigung des Körpers

als Medium im musikalischen Produktionsprozess.

In verschiedenen Vollzugsformen von Neuer Musik wird deutlich, inwieweit

einseitige körperlich-physiologische Darstellungen der Musikproduktion durch

das Engagement des Interpreten oder durch interaktionistische Modelle erweitert

werden können, so dass sowohl die technische Beherrschung des Instruments als

auch das spontane Ausdrucksvermögen des Spielers und seine individuelle Situa-

tion auf der Bühne bedeutsam werden. Hier liegt die Relevanz der Leiblichkeit

begründet, um diese Zweideutigkeit als konstitutive Möglichkeit neuer Musizier-

praxis zu nutzen. Zahlreiche Facetten unterschiedlichster Spieltechniken gewähr-

leisten neue Ausdrucksmöglichkeiten, in denen Musik als Vollzug von Leiblich-

keit im Zentrum der Aufführung steht und erst durch diese gegenseitige Verbin-

dung von konkret physischem Umsetzen von Vorschriften und der gleichzeitigen

individuellen Gestaltung seine wahre Verankerung erhält. Diese prinzipielle Of-

fenheit kann sich auch auf den Musikunterricht ausweiten und einen Umgang mit

zeitgenössischer Musik ermöglichen, der sich weniger auf das Verstehen der for-

malen Faktur oder das Reproduzieren der Partitur beschränkt, sondern gerade die

Hervorhebung subjektiv spontaner Eindrücke durch vielschichtige Handlungsvoll-

züge berücksichtigt.

2.1 Hinführung

Um sich dem Körperverständnis in der Neuen Musik anzunähern, wird zunächst

der Frage nachgegangen, wie das ‚Neue’ zu bestimmen ist und welche Kriterien

nötig sind, dass sich der Status des Abstrakten und Ungewöhnlichen bis heute

erhalten hat. Eine erste Annäherung an diese Fragestellung ermöglicht die Funkti-

on der ‚Atonalität’. Sie ist nicht, wie oftmals vermutet, als teleologisches Prinzip

der Musikgeschichte zu verstehen, sondern verweist v. a. auf den Rezipienten, der

einen radikalen Bruch mit traditionellen gesellschaftlichen Vorstellungen von

Musik und damit zusammenhängenden Hörgewohnheiten vollzieht. Durch diese

Bezugnahme auf das sinnliche Individuum lassen sich damit verbundene neue

202 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Wahrnehmungsarten von Raum, Zeit und Klang sowie Rückschlüsse auf eine

Bedeutung des Körpers im Prozess der Musikrezeption und -produktion ableiten.

2.1.1 Ausdifferenzierung des Neuen als neue Wahrnehmungsweise

Bei einem Versuch, das vielschichtige Phänomen der Neuen Musik auf die hier

relevante Untersuchungsrichtung zu fokussieren, lässt sich beispielhaft eine Defi-

nition von Hans Heinrich Eggebrecht anführen. Er spricht von einer „Musik, die

sich in ihrem Daseinsprinzip von der bisherigen und von aller sie umgebenden

Musik fundamental unterscheiden wollte und ihr grundsätzlich ‚Neues’ als Atona-

lität verstand“ (Eggebrecht 1991, 750).220 Dabei wird Atonalität oftmals als eine

folgerichtige Entwicklung verstanden, die im Sinne der Zwölftonmusik als ‚teleo-

logischer Prozess’ gedeutet wird.221 So sieht z. B. Anton Webern die Neue Musik

„als eine einzig schlüssige Konsequenz der Musikgeschichte“ (Blumröder 1981,

94) und vertritt damit exemplarisch eine dogmatische Musikgeschichtsschreibung.

Atonalität dient dazu, Brüche und konkurrierende Ansätze einer durch Pluralität

bestimmten Auffassung von Historie systemimmanent und geschichtslogisch zu

bestätigen oder zu verdecken. Komponisten wie Schönberg und Webern erhalten

dadurch einen herausragenden Status, weil sie Wertkriterien verkörpern, die sich

aus der Traditionslinie folgerichtig eingliedern lassen.222 Wenn dagegen der Be-

griff ‚Neue Musik’ nicht als Fluchtpunkt einer historisch legitimierten Normie-

rung, sondern als „Rettung eines Prinzips einer unlinearen, legitimierten Entwick-

lung“ verstanden wird (Brenk 1999, 311), dann erhält ‚Atonalität’ den Status eines

wirklich Neuen und Ungewöhnlichen.

______________

220 Vgl. Nimczik 1998a, 3. Zur Orientierung sei hier kurz ein historischer Abriss des Begriffs ‚Neue Musik gegeben. Er erscheint erstmals 1919 in einem Vortrag des Musikkritikers Paul Bekker im Sinne einer „grundlegenden psychischen Erneuerung und Erweiterung unseres Musikempfindens“ (Bekker 1923, 87), die er durch Arnold Schönberg gewährleistet sah. 1925 definierte Paul Stefan ‚Neue Musik’ als „terminus technicus zur Bezeichnung der Musik des 20. Jahrhunderts“ (Stefan 1925, 74). In den zwanziger Jahren gewann dann der Begriff eine umfassende Festlegung für eine progressive Struktur von Musikwerken, die sich dem Prinzip des Schönklangs und der Hörerwartung des Publikums bewusst widersetzten. Die po-lemische Kritik, die sich bis heute erhalten hat, richtete sich v. a. gegen die ‚Methode der Kompositionen mit zwölf aufeinanderfolgenden Tönen’, der sog. ‚Zwölftonkomposition’ Schönbergs, die in letzter Konsequenz das tonalharmonische Prinzip überwindet.

221 Ausführlich hierzu vgl. Blumröder 1981 222 Ausführlich zur Kritik vgl. Brenk 1999

Bewährung · 203

Dieses Neue lässt sich nur durch eine verstärkte Berücksichtigung des individuell

wahrnehmenden Subjekts als Teil des musikgeschichtlichen Prozesses begreifen,

das Geschichtsschreibung immer auch mitbestimmt und vermeintlich teleologi-

sche Prozesse beeinflussen kann. Durch die Bewusstwerdung der Möglichkeit von

Brüchen und Korrekturen findet sich eine verstärkte Involvierung des verstehen-

den Rezipienten in die Musikgeschichtsschreibung, der speziell im Bereich der

Neuen Musik auf Veränderungen gesellschaftlicher Ordnungen reagiert und sich

hierbei mit ‚Neuen Hörgewohnheiten’ konfrontiert sieht.

1.) Neue Musik ist ein fester Bestandteil gesellschaftlich-historischer Prozesse, die

Querverweise zur derzeitigen Lebenssituation des Menschen als Folie sozialer

sich wandelnder Prozesse beinhaltet. Sie besitzt keine Außenseiterrolle, die sich

mit weltfremden Sachverhalten, Methoden oder Problemen auseinander setzt und

den Menschen nichts mehr angeht, weil sie keine Inhalte vermitteln kann oder

will, sondern versteht sich als informationsästhetisches Prinzip, das auf bestehen-

de gesellschaftliche Situationen reagiert. Ulrich Dibelius bezeichnet z. B. die Mu-

sik der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts als eine ‚Verklammerung’ und ‚Symbiose’

mit politisch-sozialen Situationen:

Da selbst Musik als die artifiziellste der Künste ihre Zeit nicht spiegelt –

das würde sie ja zu einem grausam exterritorialen Zellendasein verdam-

men –, sondern in ihrer Zeit und mit ihr lebt, wirkt, agiert, sind ihr die all-

gemeinen politisch-sozialen Determinanten der jeweiligen Gegenwart

nichts Äußerliches, vielmehr Basis und zugewiesene Bedingung ihrer Exis-

tenz (Dibelius 1998, 392).

Neue Musik repräsentiert die politisch-sozialen Bedingungen der Zeit selbst. Das

„informationsästhetische Prinzip der Musikgeschichte“ (Eggebrecht 1991, 757)

besagt somit, dass sich nicht nur die komponierte Musik, die Wahl ihrer musikali-

schen Mittel und ihre Geschichte beständig erneuern, sondern dass auch die Men-

schen geschichtlich gebunden sind und die komponierte Musik „beständig etwas

Neues sagen will, weil die Menschen dies auch von ihr erwarten“ (Eggebrecht

1991, 757). Der Begriff der ‚Avantgarde’ veranschaulicht diese engagierte Grund-

haltung, die sich einem kontinuierlich entwickelnden Geschichtsbild widersetzt

und somit auch als Antwort auf eine gesellschaftlich-soziale Situation zu verste-

204 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

hen ist.223 Das neue Lebensgefühl im 20. Jahrhundert lässt sich als neue geistig

kreative Kraft verstehen, der man durch die politischen Erschütterungen und rapi-

den technischen Entwicklungen gleichzeitig kritisch und skeptisch gegenübertrat.

Gerade im Hinblick auf die Situation der Nachkriegszeit bleiben spekulative Er-

neuerungsversuche zunächst auf einen kleinen Kreis beschränkt, der die „Notwen-

digkeit einer Avantgarde für das Neue“ forderte (Blumröder 1981, 46). Hieraus

erwächst das Verständnis einer vermeintlichen Randerscheinung der Neuen Mu-

sik, in der ‚vorkämpferische’ Versuche, auf populistische Tendenzen der Kon-

sumgesellschaft zu reagieren, missachtet werden.

2.) Entgegen der Vermarktung und Reproduzierbarkeit von U- und E-Musik im

Verlauf des 20. Jahrhunderts versteht sich ‚Neue Musik’ als kreativ-schöpferische

Neuproduktion, die auch mit gängigen Vorstellungen von so genannter ‚Klassi-

scher Musik’ nicht viel gemein hat, sondern über die Atonalität als neue Kategorie

musikalischen Hörens eine stärkere Aufwertung der Wahrnehmung des Rezipien-

ten beinhaltet. Dies entspricht der Auffassung,

dass das Neue nicht nur etwas ist, das die künstlerische Produktion allein

tangiert, wie radikal auch immer, sondern dass es ganz entscheidend auch

auf die Rezeption, die Wahrnehmungsweise des Rezipienten ankommt, ob

er/sie etwas als neu oder alt erlebt oder erfährt (Rautmann/Schalz 1998,

1125).

Die neue klanglich sinnliche Erfahrung von Musik negiert traditionelle Rituale

eines populistisch ausgeprägten Musikmarkts und fordert den Rezipienten dazu

auf, über seine Erwartungen zu reflektieren. ‚Neues Hören’ wird als Kampfansage

gegenüber den kalkulierbaren Vorlieben der breiten Masse und deren interesselo-

sem Wohlgefallen im Wahrnehmen verstanden.224 Entgegen einer passiv verinner-

lichenden Hörweise von Musik betäubte der akustische Schock der Atonalität

nicht nur die Ohren, sondern sensibilisierte den Rezipienten für seine eigenen

______________

223 Das aus dem französischen entlehnte Wort ‚avant-garde’ (Vorhut) erscheint im Dreißigjähri-gen Krieg als militärischer Terminus und bezeichnet heute im übertragenen Sinne die Vorrei-ter einer bestimmten Idee. Als musikalische Hauptvertreter gelten Pierre Boulez und Karl-heinz Stockhausen.

224 Eva-Maria Houben hat sich intensiv mit dem Phänomen des ‚Neuen Hörens’ in der zeitge-nössischen Musik auseinandergesetzt. Vgl. Houben 1996

Bewährung · 205

Sinne. Das Neue der Neuen Musik trifft das Subjekt dort, wo es am empfindlich-

sten ist, in seiner individuellen Unantastbarkeit der Sinnlichkeit von Musik.

Das Interesse an der Wahrnehmungsweise des Subjekts findet sich auch in einem

neuen Raum- und Zeit-Empfinden wieder. Diese zwei Wahrnehmungsarten gelten

im Bereich der zeitgenössischen Musik nicht mehr als empirisch festgelegte Grö-

ßen, sondern als relative und von der Eigenwahrnehmung des Subjets abhängige

Befindlichkeiten. In der Kunst des 20. Jahrhunderts führte das zu einer Aufwer-

tung subjektiver Erlebnisse.225

Weder die Materie, noch der Raum, noch die Zeit sind seit zwanzig Jahren,

was sie seit jeher gewesen sind. Man muß sich darauf gefaßt machen, daß

so große Neuerungen die gesamte Technik der Künste verändern, dadurch

die Invention selbst beeinflussen und schließlich dazu gelangen werden,

den Begriff der Kunst selbst auf die zauberhafteste Art zu verändern (Ben-

jamin 1977, 136).

Die Innovation einer völligen Verweigerung herkömmlicher Zeit- und Raumvor-

stellungen gründet in einem Streben nach „dem Neuen um des Neuen willen […]

nachdem alle Hoffnung auf eine neue Offenbarung von Verborgenem und auf

einen zielgerichteten Prozess verabschiedet worden ist“ (Groys, 1992, Rückseite

des Einbands). Der Fortschrittsgedanke wird zum Experimentierfeld mit Vergan-

genheit, wo Bruchstücke aufgegriffen, räumliche Spuren verfolgt, Collagen anein-

ander gereiht, Zitate verfremdet und Zusammenhänge umgangen werden.226

Musik und Raum

Auch in der Musik heben sich die ehemals fraglosen Zuordnungen von absoluter

Zeit und Form auf und begründen ein Wechselspiel verschiedener Arten von

Wahrnehmungsweisen (Polyästhetik) untereinander. Exemplarisch lassen sich hier

bedeutende Komponisten vorstellen, die sich intensiv mit einer Klangwahrneh-

______________

225 Das individuelle Zeit- und Raumempfinden wird besonders in der Literatur, wie z. B. bei Proust, Joyce und Beckett als künstlerisches Gestaltungsmittel eingesetzt. Auch in der post-modernen Philosophie wird das Neue gegen das Ende der Geschichte (F. Fukujama), des Menschen (J. Derrida), des Schöpferischen (G. Steiner) oder der Raserei (P. Virilio) gesetzt.

226 Die ‚Negativität der Moderne‘ (Th. W. Adorno), das ‚Wahrhaft Neue’ (W. Benjamin), das ‚Prinzip Hoffnung‘ (E. Bloch) oder der ‚Dekonstruktivismus‘ (J. Derrida) begreifen das Neue auch als bewusste Abkehr vom herrschenden Kulturbetrieb.

206 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

mung beschäftigt haben. Schon Saties 1917 entstandene Komposition ‚Musique

d’ameublement’ verbindet Raum und Musik in Form einer Installation, die „eine

Überformung des architektonischen Raumes in einem Hörraum vorsieht“ (de la

Motte-Haber 1999, 245). Nahezu alle seine Kompositionen widersetzen sich den

gängigen Gewohnheiten im Konzertsaal und verzichten bewusst auf virtuose und

effekthascherische Momente in der Musik. Charles Ives sprengt in seiner unvoll-

endet gebliebenen Komposition ‚Universe Symphony’ (1928) die räumlichen Vor-

raussetzungen der Konzerthalle und komponiert eine musikalische Landschaft. Er

integrierte Naturklänge in die Komposition, ließ die Musiker im Freien spielen

und wurde so zum Vorreiter der sog. ‚Soundscapes’, in denen einzig Umweltklän-

ge den musikalischen Prozess bestimmen.

Eine bedeutende Raum/Klang-Installation ist ‚Poème électronique’ (1958) von E.

Varèse, wo der Hörer vier Wahrnehmungsdimensionen erfahren soll.227

Wir haben heute drei Dimensionen in der Musik: horizontale, vertikale und

dynamische Zu- und Abnahmen. Ich möchte eine vierte hinzufügen: Klang-

projektion (Varèse 1978, 12).

Das acht Minuten dauernde Werk wurde im Rahmen der Weltausstellung 1958 in

Brüssel für den Phillips-Pavillon komponiert, in dem über 350 Lautsprecher im

Raum verteilt waren und sich die Höreindrücke je nach Positionierung zu den

Schallquellen ergaben. Das von Xenakis entworfene und von Le Corbusier mit

Licht und Bild ergänzte Gebäude war so angelegt, dass Raum, Musik und Bilder

eine synästhetische Einheit bilden sollten. Der von den gesampelten Klang- und

Lichteindrücken umschlossene Zuhörer wurde als integrativer Bestandteil des

kompositorisch-architektonischen Werks gesehen. Die zentrale Hörerperspektive

wurde aufgegeben, um eine Räumlichkeit der Musik zu gestalten, die vom Rezi-

pienten an jeder Stelle unterschiedlich wahrgenommen werden sollte. Die Konse-

quenz, mit der Varèse zielgerichtet und abseits zeitgenössischer Prinzipien die

Klangfarbe zu einem selbständigen die Form determinierenden Gestaltungsele-

ment entwickelte, um „die räumliche Dimension der Zeitkunst Musik nutzbar zu

machen, musste für die Klangforscher um Boulez, Stockhausen, Nono, Ligeti und

Lachenmann eine Vorbildfunktion haben“ (Sommer 1997, 339).

______________

227 Zum weitgefächerten Begriff der ‚Klangkunst’ vgl. de la Motte-Haber 1999; zu Varèse vgl. Kap. V.2.2.2

Bewährung · 207

Im Anschluss an Varèse versuchte Iannis Xenakis architektonische Formen auf die

Musik zu übertragen, um dem Hörer räumliche Dispositionen vorzuführen (z. B.

‚Polytope’ (1967) oder ‚Terretektorh’ (1956/66).228 Seine rationalistische Ästhetik

(‚esthétique scientifique’) überträgt Zahlen und Räumlichkeitsverhältnisse auf die

Musik. In ‚Metastaseis’ „ergeben sich z. B. aus den gradlinigen Glissandi der

vielfach geteilten Streicher gekrümmte hyperbolische und parabolische Kurven-

bewegungen“ (de la Motte-Haber 1999, 248), die Xenakis aus der musikalischen

Transformation architektonischer Berechnungen von Le Corbusier gewann.229

Luigi Nono erweitert den architektonischen Gedanken von Klangbewegungen um

die Wahrnehmung subjektiver Zeiträume, so z. B. in ‚Prometeo’, wo „das im

Raum sich wandernde Hören in ein entgrenztes, zielfreies geleitet wird. Der Hörer

erlebt sich letztlich in einem tastenden Gang in sein eigenes Inneres“ (Raut-

mann/Schalz 1998, 1127).230 In Nonos zwei letzten Kammermusikwerken ‚La

nontananza nostalgica-futura’ und ‚„Hay que caminar“ sonando’ wird ein inne-

rer, imaginärer Raum kompositorisch dargestellt, in dem sich der Hörer intuitiv

hineinversetzt.

Wie kaum ein anderer hat sich Karlheinz Stockhausen in seinem gesamten Oeuvre

mit der Bewegung von Klängen im Raum beschäftigt und hierbei den Grundstein

für die Dimension der Klangbewegung gelegt. ‚Der Gesang der Jünglinge’ (1956)

ist für fünf Lautsprechergruppen komponiert, die rings um die Hörer im Raum

verteilt sind. Das Prinzip der neu erschlossenen Raumperspektive wird dann in

den ‚Gruppen für drei Orchester’ (1955/57) weiter ausdifferenziert. Der Titel

spielt auf die formale Idee der Komposition an. Drei Orchester sind vorn, links

und rechts um die Zuhörer aufgestellt und lassen durch ihr vielfarbiges Wechsel-

spiel und das damit verbundene Hin- und Herwandern der Klänge die Räumlich-

keit des musikalischen Geschehens bewusst werden.231 Die drei Gruppen werden

durch eine netzartige Verflechtung von Klangbewegungen als organisches System

innerer Verstrebungen, Gegensätze und ungeahnter Prozesse zusammengehalten

______________

228 Xenakis ist sowohl Komponist als auch Architekt. 229 Der sog. ‚Modulor’ ermöglichte, „den menschlichen Körper und die Raummaße der Archi-

tektur durch den goldenen Schnitt in Einklang“ (de la Motte-Haber 1999, 248) zu bringen. 230 Vgl. hierzu die Installationen von James Turrell, die von einem sich im Raum bewegenden

Betrachter ausgehen. 231 In ‚Carré’ für vier Orchester und Chöre (1959/60) erweitert Stockhausen das kompositori-

sche Prinzip auch für Chöre.

208 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

und vom Hörer als räumlich-musikalische Sinneinheit wahrgenommen. Durch das

Interesse an spiritualistischen Meditationspraktiken entwickeln seine späteren

Werke oftmals ein kultisches Zeremoniell, in dem der Raum als klangliches Frei-

luftarrangement eine wichtige Funktion erhält. Während in ‚Sternklang’ (1971)

eine Parkmusik für 5 Gruppen komponiert wird, wo ‚Klangläufer’ musikalische

Modelle von einer Gruppe zur nächsten bringen, symbolisieren die in vier Raum-

ecken positionierten Instrumentalisten in ‚Sirius’ (1975/77) die vier Himmelsrich-

tungen und Jahreszeiten. In seinem monumentalen Projekt ‚LICHT’ (1977) wird in

radikaler Konsequenz der Raum zum Kosmos erhöht und der Hörer aufgefordert,

„Kontakt aufzunehmen mit den phantastischen Einheitsempfindungen, die das

ganze Weltall umfassen“ (Stockhausen, zit. nach Dibelius 1998, 474).

Musik und Zeit

Entgegen einem festgelegten Zeitbegriff, wie dieser in seiner Struktureinheit des

Metrums für die Musik des Abendlandes verbreitet ist, betont John Cage eine

subjektive Zeitempfindung, indem er Momente wie Stille als Nicht-Musik in den

kompositorischen Prozess integriert, um die Zeit selbst, die aller Räumlichkeit

inhärent ist, hörbar zu machen. Nach Bruno Parena ist daher „die Stille von Cage

[…] ein offenes Ohr für die Welt“ (Parena, zit. nach Rautmann/Schalz 1997,

1075). Das Stück 4’33 erhöht als reines Zeitlängenstück das Schweigen (tacet) in

den Rang von Musik und verzichtet ganz auf Töne. Die hieraus bewusst wahrge-

nommene Klanglichkeit der Umwelt findet sich auch in ‚Roaratorio’, wo sich

Naturlaute und Alltagsklänge zusammenmischen, oder in den ‚Variations IV‘, wo

„der Raum, nämlich der Plan des zur Aufführung verwendeten Raumes, in Zeit

überführt wird“ (Föllmer 1999, 241). In Anlehnung an Cage widersetzt sich auch

Morton Feldman dem Grundrhythmus einer Komposition und zielt Ende der Sieb-

ziger Jahre in seinen Patternkompositionen, die teilweise bis zu fünf Stunden

dauern, auf eine prinzipiell unabschließbare, ziellose Diskontinuität des Auseinan-

derfaltens von Klangmusterfolgen, welche die objektive Zeit bewusst negieren.

Verschiedene subjektive Zeiterlebnisse überlagern sich collageartig und rufen

beim Hörer meditative Zustände hervor.232 Elektronische Verknüpfungsmöglich-

keiten führten in den Achtziger und Neunziger Jahren zu multimedialen Ereignis-______________

232 Schon bei Schubert, Debussy oder Mahler ist ein Auflösen objektiver Zeitstrukturen und eine Hervorhebung von inneren Zeitzuständen festzustellen. Dauerhafte Klanginstallationen sind so angelegt, dass sie den Rahmen einer zeitlichen Aufführung bewusst negieren und das Kunstobjekt direkt in die Lebensumwelt integrieren.

Bewährung · 209

sen, Performances, Klangräumen und Klangskulpturen.233 In der Verbindung von

Video und Musik im Film ‚Koyaanisqatsi’ von Godfrey Reggio zur Musik von

Philipp Glass zeigt sich, wie das Verhältnis von Klang und Bild durch die rhyth-

misch-zeitliche Kongruenz nach anfänglicher Irritation den Zuschauer und Hörer

in rauschhafte Zustände führen kann.

Auch im Werk Stockhausens findet sich neben der oben erwähnten Räumlichkeit

des Klangs die Berücksichtigung individueller Zeit- und Raumwahrnehmung

wieder. In den ‚Gruppen’ für drei Orchester überlagern sich mehrere Zeitschich-

ten, die auf die Konstituierung innerer Räume vorausweisen. In seinen Opern aus

dem monumentalen LICHT-Zyklus lassen sich willkürlich im Raum erzeugte

Klänge mittels modernster Studiotechnik an jedem beliebigen Ort je nach szeni-

scher Notwendigkeit wieder herstellen, austauschen oder ausweiten.

Im Bereich des Musiktheaters lässt Bernd Alois Zimmermann in ‚Die Soldaten’

verschiedene Zeitperspektiven sowie Außen- und Innenräume zusammenfallen

und ruft somit beängstigende Wahrnehmungen beim Zuhörer/Betrachter hervor.

Für Zimmermann wird die Zeit zu einer ‚Kugel des Klanges’ oder einer ‚Kugelge-

stalt der Zeit’, in der die Einheit von Vergangenheit und Gegenwart durch vier

überlappende Erlebnisschichten dargestellt wird, die den Raum um den Hörer

aufsprengt.

Die Veränderung des Rezipienten zum künstlerischen Produzenten bedingt auch

ein Umdenken im hierarchischen Rollenverhältnis. Schriftsteller und Maler treten

aus ihrer Unnahbarkeit heraus und stellen das gemeinschaftliche Gestalten und

Erleben des Werks in das Zentrum der Aufführung.234 Besonders die Aktionskunst

zeigt, dass der Schaffensprozess nicht nur von den individuellen Stimmungen des

Künstlers, sondern auch von dessen physischem Verhalten dem Publikum gegen-

über abhängig ist.

Dem Rezipienten wurde eine neue Autorität und Kompetenz zugebilligt. Er

vervollständigte erst durch seine Präsenz den schöpferischen Vorgang,

auch wenn er einbezogen war, ohne das Werk verändern zu können (de la

Motte-Haber 1999, 231).

______________

233 Bedeutende Zusammenarbeiten von Künstlern aus verschiedenen Bereichen sind z. B. Yves Klein und Pierre Henry sowie Robert Rauschenberg und John Cage.

234 Vgl. Peter Handtkes ‚Publikumsbeschimpfungen’ oder Yves Kleins Mal-Performances

210 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Der Zuhörer ist in seiner physischen Präsenz ein wichtiger Bestandteil während

der Aufführung.235 Er ist nicht nur passiver Konzertbesucher, sondern ein aktiv am

Geschehen (Performance, Happening) Beteiligter, der durch seine Reaktionen den

Verlauf des Werks beeinflussen kann.

Funktion des Leibes zur Bildung von Atmosphären in der Aisthetik

Im derzeitigen ästhetischen Diskurs zeichnet sich eine Tendenz ab, die der allge-

meinen Wahrnehmung wieder größere Aufmerksamkeit zumisst und dabei auch

den Leib als wichtige Konstante berücksichtigt. Die Autoren Gernot Böhme, Mar-

tin Seel und Wolfgang Welsch versuchen die traditionellen Verengungen einer

Ästhetik, die sich weitestgehend mit einer Kategorisierung von Anschauungsfor-

men und einer Theorie des Kunstwerks beschäftigte, zu erweitern.

Ihre Kritik betrifft die zunehme Formalisierung der künstlerischen Erfahrung, die

um 1750 noch als eine Erforschung der sinnlichen Erkenntnis definiert wurde,

aber sich dann im Laufe ihrer Geschichte immer mehr auf die Urteilskraft und die

Bewertung des Schönen beschränkte.236 Diese ästhetischen Theorien fokussieren

ihr Interesse auf das künstlerische Objekt und fragen nach seiner angemessenen

Wahrnehmungsweise. Der heutige Kunstbegriff kann mit einer solchen traditio-

nellen Werkästhetik nicht hinreichend erklärt werden, weil die Vergegenständli-

chung des Kunstobjekts obsolet geworden ist. In der bildenden Kunst ist eine

Grenze des Bildbegriffs durch monochrome Bildtafeln oder Performances erreicht

worden und auch in der zeitgenössischen Musik findet sich ein zunehmendes

Interesse an Geräuschen oder Alltagsklängen, die mit einem traditionellen Form-

begriff nicht mehr zu fassen sind. In der zeitgenössischen Kunst verbinden sich

optische, akustische und haptische Momente miteinander und etablieren einen

erweiterten Kunstbegriff, der wesentlich durch eine „Ästhetik der Realität“ ge-

kennzeichnet ist (Böhme 1995, 48). Die Alltäglichkeit des Lebensvollzuges bein-

haltet demnach selbst schon ästhetisches Material, das durch die Erfahrung sinnli-

cher Erlebnisse gewonnen wird. Um diese situationsbezogenen Wahrnehmungen

wieder als Kern der künstlerischen Erfahrung zu fokussieren, setzen Versuche ______________

235 Traditionelle Gegensatzpaare wie Rezipient/Produzent oder Hörer/Zuschauer sind demnach obsolet geworden.

236 Die ersten Ansätze einer Ästhetik als Theorie sinnlicher Erkenntnis finden sich bei Alexander G. Baumgarten. Die zunehmende Formalisierung ist dann v. a. bei Kant und Hegel festzustel-len, wo das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand im Sinne einer Erkenntnistheorie unter-sucht wird.

Bewährung · 211

einer zeitgenössischen Ästhetik am Begriff der ‚aisthesis’ an, „als Thematisierung

von Wahrnehmungen aller Art sinnenhaften ebenso wie geistigen, alltäglichen wie

sublimen, lebensweltlichen wie künstlerischen“ (Welsch 51998, 10).237 Dieser

Versuch, die Selbständigkeit der sinnlichen Erkenntnis als eine künstlerische Pra-

xis zu begründen, wird als ‚Aisthetik’ bezeichnet.238

Gemeinsamer Ansatz aller Autoren ist das ästhetische Potenzial alltäglicher

Wahrnehmungen, die zur Aufhebung des Werkbegriffs führt und die jeweiligen

Stimmungen und Befindlichkeiten auf der Seite des Subjekts berücksichtigt. Die

affektiv emotionale Teilnahme an ästhetischen Erfahrungen ist nicht mehr auf ein

Objekt beschränkt, sondern verweist auf zwischen Subjekt und Objekt vermitteln-

de Momente, die allen Gegenständen unserer Wahrnehmung zugeschrieben wer-

den können.

Die Autoren Böhme, Seel und Welsch verfolgen unterschiedliche Zielsetzungen

mit der Theorie einer Aisthetik. Während Böhme eine ‚ökologische Naturästhetik

entwickelt, wo der Philosophie im Rahmen der Umweltproblematik die Aufgabe

zufällt, „das Verhältnis des Menschen zur Natur einer gründlichen Revision zu

unterziehen“ (Böhme 1989,8), betont Martin Seel eine ethisch rationale Lebens-

führung, die für „moralische Rücksicht sensibel und für ästhetische Wahrnehmung

offen wäre“ (Seel 1996, 7).239 Wolfgang Welsch verwendet den Begriff ‚Anästhe-

tik’ als Gegenbegriff zur Ästhetik, um damit sowohl negativ die Reduzierung der

Empfindungsfähigkeit in der medialen Wirklichkeit zu veranschaulichen als auch

positiv den „Lebensvorteil einer technologisch veränderten Welt“ (Welsch 51998,

18) hervorzuheben.

Da der Mensch künstlerische Wahrnehmung nur durch die Beteiligung seiner

Sinne erreicht und diese für den ästhetischen Prozess nicht ausgeblendet werden

können, sind Atmosphären „für die Ästhetik die erste und entscheidende Wirk-

lichkeit“ (Böhme 2001, 56). Sie berücksichtigen sowohl die subjektive Befind-

lichkeit als auch die objektiv alltägliche Erscheinungsweise. Atmosphären sind

nicht nur subjektiv empfunden, sondern „quasi objektiv“ spürbar (Böhme 1989,

______________

237 Hartmut von Hentig spricht in diesem Zusammenhang von der ‚Einübung in der aisthesis’. Vgl. Hentig 1978

238 Im Folgenden wird weitestgehend auf die Darstellung der Aisthetik Böhmes zurückgegriffen. Vgl. Böhme 2001

239 Vgl. auch Seel 1991

212 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

11), weil sie erzeugbar und wiederholbar sind.240 ‚Bedrohung’ oder ‚Kälte’ sind

zwei Beispiele, die zwischen einem konkreten Gegenstandsbezug liegen und sich

durch das Spüren von Anwesenheit kennzeichnen lassen. Auch in der Musik

spricht man von Konzertatmosphären. Hörspiele werden mit einer ‚Atmo’ unter-

legt, und in Warenhäusern wird spezielle Muzak-Musik gespielt, die den Besucher

zum Kauf animieren soll. Besonders deutlich können Atmosphären in Räumen

oder auch Landschaften erlebt werden, weil man in die Stimmungen, wie z. B.

Festlichkeit oder Dämmerung, ‚hineingeraten’ kann und sich ihnen ‚aussetzt’.

Wenn sowohl die alltägliche Umwelt als auch die individuelle Wahrnehmung für

das Entstehen und Erschaffen von Atmosphären notwendig erscheinen, so ist die

„leibliche Anwesenheit“ (Böhme 2001, 75) die grundlegende Voraussetzung hier-

zu.

Man könnte sagen, daß dieses gewöhnliche Verständnis der Wahrnehmung

gerade und durchaus die Leiblichkeit des Wahrnehmungsvorgangs zur Gel-

tung bringt (Böhme 2001, 75).

Böhme macht immer wieder deutlich, dass in der Leibphilosophie von Hermann

Schmitz bereits eine Ausarbeitung des Atmosphärenbegriffs vorliegt, die sich für

die Aisthetik weiter ausdifferenzieren ließe.241 Sein Anliegen ist, die Beteiligung

des Leibes in den Empfindungen systematisch herauszuarbeiten und an Hand des

Spürens zu konkretisieren. Neben der schon erwähnten Unterscheidung zwischen

dem homerischen und platonischen Körperbildern arbeitet er den Begriff der At-

mosphäre an verschiedenen leiblichen Wahrnehmungen im Raum heraus.242 Dabei

wird die Rehabilitation einer ursprünglich leiblichen Erfahrung gefordert, die

„vom Dogma des psychosomatischen Dualismus allein anerkannten Flügeln des

Menschseins“ verdrängt worden ist (Schmitz 1967, 5). Die Zwischenstellung der

Atmosphäre findet sich demnach auch in der Leibphilosophie von Schmitz. Die

äußeren räumlichen Stimmungen greifen auf den Leib ein und besitzen durch ihre

konkrete Anwesenheit einen substanzähnlichen Charakter. Diese Überwindung

der „ontologischen Ortlosigkeit“ (Böhme 1995, 31) von Befindlichkeiten gelingt

durch den Doppelcharakter des leiblichen Spürens:

______________

240 Böhme weist auch auf die Nähe zum Begriff der Aura von Walter Benjamin hin. Vgl. Benja-min 1977, 136 ff.

241 Vgl. Schmitz 1965; 1976 242 Vgl. Kap. V.3.1.1

Bewährung · 213

Sich leiblich Spüren heißt zugleich spüren, wie ich mich in einer Umge-

bung befinde, wie mir zumute ist (Böhme 1995, 31).

Böhme nähert sich in seinen Interpretationen zu der Leibphilosophie von Schmitz

sehr den phänomenologischen Vorstellungen an. Gerade die Stellung der Atmo-

sphären zwischen Subjektivität und Objektivität verdeutlicht die Nähe zum Zwi-

schen des Leibes und thematisiert Leiblichkeit als Medium ästhetisch-

musikalischer Darstellung. Obwohl sich keine expliziten Bezüge auf eine phäno-

menologische Tradition feststellen lassen, finden sich Anlehnungen an die Philo-

sophie Husserls und Merleau-Pontys. Böhme beschreibt z. B. die Phänomenologie

als eine Methode, „nach der als Wirklichkeit anerkannt wird, was sich unabweis-

bar in der Erfahrung aufdrängt“ (Böhme 1995, 29). Diese Bestimmung erinnert an

die Intentionalität des Bewusstseins bei Husserl. In seinen 2001 gehaltenen Vorle-

sungen bezieht er sich auch auf die ‚Phänomenologie der Wahrnehmung’ von

Merleau-Ponty und hebt hervor, dass es nötig ist, „leibliches Empfinden zu erler-

nen“ (Böhme 1995, 77). Die Aisthetik soll eine erste Grundlage hierfür sein.

Obwohl die Atmosphären bei Böhme als „Zwischenphänomene“ (Böhme 2001,

55) oder „Zwischenstatus“ (Böhme 1995, 22) bezeichnet werden und so die Am-

biguität des Leibes anzeigen, erscheint eine problematische Tendenz zur ganzheit-

lichen Vereinheitlichung von Subjekt und Objekt, so dass die jeweiligen konstitu-

tiven Einzelbereiche sich auflösen und unbestimmbar werden. Unklar bleibt fer-

ner, wie sich ästhetische Erfahrungen von alltäglichen Erscheinungen unterschei-

den.

Jeder Raum, in dem man sich befindet, jede Blümchentapete, jede S-Bahn-

Gestaltung, jede Atmosphäre in Verkaufsräumen etc. ist Ästhetik (Böhme

1995, 15).

Dieser Differenzierungsmangel ist ein wesentlicher Kritikpunkt von Martin Seel,

der den Unterschied zwischen ästhetischer und nicht-ästhetischer Wahrnehmung

und Wirklichkeit anspricht und so der künstlerischen Erfahrung einen Zustand

erfüllter Freiheit in Zeit und Raum zukommen lässt. Der Leib erscheint wesentlich

im Vollzug des Wahrnehmens und ermöglicht eine besondere Erfahrung des Rau-

mes, die sich in einem „selbstzweckhaften Verweilen“ ausdrückt (Seel 1996, 52).

Die Wahrnehmung ist wie bei Böhme zugleich auf das intentionale Erfassen des

Objekts und auf die Spürbarkeit desselbigen gerichtet. Das leibliche Sensorium,

das die Umwelt erkundet und abtastet, sucht nach Momenten des Verweilens, wo

die „sinnentleerte Schönheit inmitten der sinnlichen Fülle des städtischen Raums“

die ästhetische Wahrnehmung in der Umwelt ermöglicht. Das schon von Husserl

214 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Husserl herausgearbeitete Orientierungsvermögen und die Doppelempfindung des

Leibes liegen hier in der aktiven Raumwahrnehmung und gleichsam im Innehalten

und zeitlosen Erleben der Stimmung begründet. Die Aufgabe des Leibes findet

sich nicht in einer passiven Kontemplation, sondern zwischen Aufmerksamkeit

und spürendem Bewusstsein.

Für Wolfgang Welsch ist der Leib wesentlich physiologischer Natur. Die Leibzu-

stände sollen die Reize der Umwelt verarbeiten und über den Nutzen und Schaden

für den Organismus Auskunft geben. Innerhalb des technologischen Zeitalters sind

die „Sinne nicht bloß unzuverlässig, sondern kontraproduktiv – Agenten des Fal-

schen – geworden“ (Welsch 51998, 19). Diese anästhetische Situation gleicht einer

Narkose, die aber keinen Grund zur Forderung einer neuen Sinnlichkeit bietet,

sondern vielmehr Rettungspotenziale bereitstellt. So „wäre eine mediale Simulati-

onsstrategie zur Rettung sämtlicher Sehenswürdigkeiten unserer Welt vor ihrer

drohenden massentouristischen Zerstörung denkbar“ (Welsch 51998, 20). Über

Videopräsentationen können Kultstätten geschont und vor Umweltbelastung durch

Massentourismus geschützt werden. Trotz der befremdlichen Vorstellung und

Kuriosität dieser positiven Nutzung der Anästhetisierung sind solche Tendenzen

in der Computertechnologie (Cyberspace) nicht so abwegig. Die Rolle des Leibes

wird bei Welsch kritisch bestimmt. Sie besitzt keine aktive Aufgabe zur individu-

ellen Sinnentfaltung und ist einseitig auf die Verinnerlichung von Sinneseindrü-

cken beschränkt. Ein Bezug zum phänomenologischen Leibbegriff ist nicht gege-

ben.

Die Aisthetik ist grundsätzlich ein Modell, das viele Parallelen zur phänomenolo-

gischen Leiblichkeit ermöglicht und dabei auch die ästhetische Wahrnehmung

berücksichtigt. Besonders der Zwischencharakter der Atmosphären bei Böhme

und Seel veranschaulicht, wie sich die Ambiguität des Leibes als wesentlicher

Bestandteil von künstlerischen Wahrnehmungen kennzeichnet und hierdurch

gleichsam die Möglichkeit bietet, sich über das Zur-Welt-Sein der alltäglichen

Wahrnehmung zu öffnen und die jeweiligen Stimmungen individuell zu erleben.

So wie die Aisthetik als allgemeine Wahrnehmungslehre weitestgehend ohne

Formalisierung auskommt und Stimmungen bzw. Befindlichkeiten als ästhetisch

fundiert, so ist auch die phänomenologische Leiblichkeit im offenen, mehrdeuti-

gen lebensweltlichen Vollzug verankert, so dass sich über Bewegungen die indi-

viduellen Stimmungen des Subjekts ausdrücken lassen, ohne ein determinierbares

Verhalten anzunehmen.

Bewährung · 215

2.1.2 Neue Musik und Körperinteresse

Die verstärkte Berücksichtigung der Wahrnehmung des Rezipienten und die damit

verbundene rapide Veränderung von Raum und Zeit lassen eine verstärkte Bedeut-

samkeit für den Körper in der zeitgenössischen Musik vermuten. Die musikalische

Gestaltung steht im Mittelpunkt der Aufführung und bewirkt, dass im Hören nicht

nur der Klang, sondern auch dessen physische Entstehung mitberücksichtigt wer-

den. Dieser physische Produktionsprozess steht der intellektuellen Durchdringung

der musikalischen Faktur entgegen.

Solche primär körperlichen Wahrnehmungsformen des Klangs finden sich in der

‚instrumentale musique concrète’ von Helmut Lachenmann. Während die reine

‚Musique concrète’ Anfang der Fünfziger Jahre v. a. in Frankreich Alltagsgeräu-

sche, wie Wasserrauschen, Maschinengeräusche oder Grillengezirpe, als Klang-

materialien in die Kompositionen integrierte und so collageartige Neugestaltungen

des Materials durch elektronische Einflüsse hervorbrachte, weist Lachenmann mit

dem Adjektiv ‚instrumentale’ auf den physischen Akt des Hervorbringens hin.243

Die damit verbundene „Körperlichkeit des Klingenden“ wird durch ungewohnte,

oft radikal abgewandelte Spieltechniken erreicht (Lachenmann, zit. nach Raut-

mann/Schalz 1998, 243).244 Den daraus resultierenden Geräuschen kann die Situa-

tion ihrer Erzeugung, d.i. unter welchen physischen Umständen und mit welchen

Energien bzw. gegen welche Widerstände sie entstanden sind, angehört werden.

Lachenmann verwendet hierfür den Begriff des ‚Abtastens’, der für die Erfor-

schung unbekannter Klänge am Instrumentarium herangezogen wird und die spe-

zifischen Geräuschdifferenzierungen symbolisiert.245

Das Werk ‚Pression’ für einen Cellisten beinhaltet z. B. schon im Titel den sym-

bolischen Bezug zur Körperlichkeit seiner Musik. Durch das Pressen der Finger

auf die Saiten werden die „Druckverhältnisse“ angesprochen (Lachenmann, Spiel-

anweisungen zu ‚Pression’), denen sich der Spieler während der Aufführung aus-

setzt. In der konkreten Thematisierung der physischen Wahrnehmung von Spiel-

vorgängen geht es „nicht darum, was klingen soll, sondern was der Spieler tun

______________

243 Klassische Vertreter einer französischen ‚musique concrète’ sind v. a. P. Schaeffer, L. Ferrari und P. Boulez.

244 Lachenmann erweitert z. B. die Bewegungsformen des Bogens bei den Streichern durch vertikale oder kreisförmige Bewegungen entlang der Saiten.

245 Auch Wolfgang Rihm verwendet den Terminus ‚Abtasten’.

216 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

soll“ (Spielanweisungen zu ‚Pression’). Indem sich Lachenmann „auf die unmit-

telbare Körperlichkeit des Klingenden bezieht, also bei den akustisch erfahrbaren

Eigenschaften ansetzt“ (Lachenmann, 1980, 68), ist eine ständige Erkundung des

musikalischen Materials gewährleistet, die gleichermaßen neue Spielräume in der

instrumentalen Ausübung ermöglicht.

In der Tagung ‚Am eigenen Leib – Für eine andere Wahrnehmung’ 1993 in Bre-

men plädiert Lachenmann für neue kommunikative Hör- und Spielerfahrungen in

der Neuen Musik:

Wo gibt es eine Form von Kommunikation, die „stimmt“, d. h. mit der wir

eine Erfahrung „am eigenen Leib“ machen, nicht eine Erfahrung, die bloß

„Spiel“ bedeutet, wie dies so oft innerhalb der ins Ghetto getriebenen so-

genannten Neuen Musik der Fall ist (Lachenmann 1993)?

Er beruft sich hierbei auf kommunikative Aspekte während des Musizierens, um

das traditionelle ‚Spielen’ im Sinne einer mechanischen Umsetzung des in der

Partitur Vorgeschriebenen zu umgehen und das stimmige Miteinander hervorzu-

heben, welches individuelle Erfahrungen am eigenen Leib ermöglicht. Die Musi-

ker stellen sich auf ihren Instrumenten dar und übermitteln die so produzierten

Klänge den anderen ‚Mitspielern’. Hierbei handelt es sich nicht mehr um ein iso-

liertes Spiel auf Instrumenten, sondern um eine Erweiterbarkeit des Ausdrucks im

Musizieren und um intersubjektive Kommunikationsmöglichkeiten durch den

Leib als Medium der Darstellung.

Als weiterer Vertreter einer ‚instrumentale musique concrète’ untersucht auch

Heinz Holliger die Vermittlung energetischer Verhältnisse während der Musik-

produktion in den Kompositionen. Sein Interesse an physiologischen Prozessen

der Klangerzeugung resultiert aus seiner Tätigkeit als konzertierender Oboist,

denn das Instrument gilt als besonders schwer zu spielen und verlangt vom Musi-

ker eine besondere körperliche Anstrengung. Dabei vermeidet er klischeebesetzte

musikalische Ausdrucksmittel und versucht den physiologisch individuellen Akt

des Musizierens hervorzuheben.

F. Hilberg unterscheidet in der Körperlichkeit der Neuen Musik zwischen vier

Aspekten, die im Folgenden näher erläutert werden sollen:

Bewährung · 217

1. Körperlichkeit von Klängen,

2. Erweiterung der Spieltechniken durch unüblichen Gebrauch der In-

strumente,

3. Forcierung exekutorischer Ansprüche an Virtuosität durch Ausdiffe-

renzierung spieltechnischer Parameter,

4. Körper als Instrument (Hilberg 2000, 198). 246

Zu 1:

Klänge sind physisch erfahrbar.247 Allein schon durch ihre Materialität und ihre

zeitlich-räumliche Gliederung können sie als Schwingungen oder Klangmasse

empfunden werden. Besonders durch den Computereinsatz in der Musik ist es

möglich, bestimmte Frequenzen so abzustimmen, dass sie vom Menschen sinnlich

wahrgenommen, aber nicht mehr gehört werden können. E. Varèse war einer der

ersten, der sich mit solchen Bewegungen von Klangmassen auseinander gesetzt

hat und sie als eine neue Form körperlicher Musikwahrnehmung verstand.248

Zu 2:

Das Erfinden neuer Klangmöglichkeiten von Instrumenten, wie z. B. das ‚Präpa-

rierte Klavier’ von John Cage oder das ‚Klavier Integral’ von Nam Jun Paik, dien-

ten einerseits dazu, das musikalische Material zu erweitern, und waren anderer-

seits Versuche, dem Interpreten neue Spieltechniken bereitzustellen und her-

kömmliche physische Gewohnheiten radikal in Frage zu stellen. Verschiedene

Musikinstrumente werden z. B. durch Schläuche miteinander gekoppelt oder mit

Elektronik versehen. Der Spieler nimmt oftmals ungewöhnliche Haltungen an und

muss z. B. in Gegenstände wie Trichter hineinspielen, um den Klang zu filtern,

oder er muss sich in das Klavier legen, um die Saiten abzudämpfen. Durch diese

neuen Spielweisen werden zum Teil theatralische Elemente gewonnen, die den

Musiker in die Rolle eines Schauspielers versetzen. Im Sinne eines musikalischen

______________

246 Für die Einbeziehung des Rolle des Körpers in die Neue Musik seit 1975 lassen sich neben den hier vorgestellten Komponisten zahlreiche weitere Namen anführen, wie z. B. N. A. Hu-ber, M. Spahlinger, R. Riehm, M. Levinas, H. Oehring sowie die urban-aboriginale Musik-performance. Ausführlich hierzu vgl. de la Motte-Haber 2000

247 Im sog ‚Surround-System’, das z. B. in Kinos zur Erzeugung klangräumlichen Effekte dient, wird deren Nähe oder Ferne oftmals körperlich spürbar. Gleichsam lassen sich extrem laute oder schrille Frequenzen physisch erspüren ohne gehört zu werden.

248 Ausführlich hierzu vg. Kap. V.3.2.1

218 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Theaters werden kleine Szenen und Sprecheinlagen in die Aufführung integriert,

die dann oftmals dazu dienen, die normierten Verhaltensrituale des traditionellen

Konzertbetriebs zu kritisieren. Hierbei kann ergänzend auf Mauricio Kagel ver-

wiesen werden, in dessen Werken die „Hinwendung zum Szenischen, zum instru-

mentalen Theater“ als ein wesentlicher Teilbereich des Musikmachens dazuge-

hört.

Sichtbares und Hörbares korrespondieren miteinander und etablieren ungeplante

und offene Beziehungsfelder zwischen den Musikern, aus denen oftmals humor-

volle, kritische oder absurde Szenen entstehen. Obwohl bei Kagel nicht im stren-

gen Sinne von einer Erweiterung der Spieltechniken gesprochen werden kann,

beinhaltet die prinzipielle theatralische Anlage seiner Musik sicherlich eine Neu-

bewertung des musikalisch agierenden Instrumentalisten auf der Bühne.

Zu 3:

Die Vorschreibung und Forderung radikaler bis unmöglicher Spielweisen lässt

sich exemplarisch anhand der zwei zeitgenössischen Komponisten Volker Heyn

und Hans Joachim Hespos veranschaulichen. Heyn „gehört zu den Komponisten,

die Körperlichkeit in ihr ästhetisches Kalkül einbeziehen und dem Umstand, daß

Musik aus Bewegung gewonnen wird, Rechnung tragen“ (Hilberg 2000, 201). Er

treibt in seinen größtenteils als Performance oder Klanginstallationen angelegten

Kompositionen den Interpreten bewusst durch eine Vielzahl von Spieltechniken

und instrumentalen Klangmöglichkeiten an die Grenze des Physisch-Machbaren.

In dem Stück ‚Did yer hear that’ für suspendiertes Pianoforte, Akteur und Ton-

band wird das Klavier in ein Gerüst eingespannt. Der Pianist hängt neben dem

Flügel an einem Seil und führt alle Aktionen schwebend aus.

Pianistische Kenntnisse und/oder sonstige Tastenvirtuosität sind von se-

kundärem Gewicht; dagegen ist folgender Typus vom Akteur erwünscht: Er

ist schwindelfrei“ (Heyn, Partitur von ‚Did yer hear that’).

Weiter wird von ihm gefordert, dass er „ohne ästhetische Vorurteile und ähnliche

Skrupel in die Gestalt einsteigt (im wahren Wortsinn), die es hier zu verkörpern

gilt […] Er ist sportlich bis schlangenhaft beweglich“. Innerhalb der zu sprechen-

den Textfragmente wird eine radikale körperliche Darstellung gefordert.

Bewährung · 219

Die Hände müssen mehr in den Lüften schweben → ten müssen mehr in

den Lüften schweben als → te müssen mehr an den Händen kleben als →

Schwebenden müssen mehr an den Tasten kleben […] (Heyn, Partitur von

‚Did yer hear that’).

Offensichtlich geht es Heyn in der bewussten Übertreibung pianistischer Gebär-

den um eine grundsätzliche Kritik am Virtuosentum. Die „bizarr-virtuose pianisti-

sche Trockenübung“ soll den Effekt eines „hölzernen Hampelmanns“ hervorrufen

(Heyn, Partitur von ‚Did yer hear that’). Heyn treibt durch die ungefähre Andeu-

tung die Instrumente in extreme Höhen und Tiefenlagen, um eigenwillige Klang-

farben und Verzerrungen der Spielweisen und die Ausbeutung der instrumentalen

Ressourcen zu erreichen. Die oftmals als „unspielbar“ geltenden und „aufsässig

klingenden“ (Hilberg 2000, 204) Stücke des Autodidakten Heyns verkörpern in

der brachial-explosiven Herauskehrung von Geräuschen und ungewohnten Aktio-

nen eine radikale Antihaltung zum Schönklang eines sinfonischen Apparates.

Auch die Werke von Hans-Joachim Hespos sind in den expressiven Ausdrucksge-

setzen radikal ausgeprägt. Durch den Einbezug zahlreicher improvisatorischer

Elemente komponiert er nach seinen Angaben „mit der eigenen Überraschung“

(Hespos 1985, 27).

Ich fange ein Stück immer von vorne an und weiß nicht, wie es im nächsten

Augenblick weiter geht, und das muss ausprobiert, ausgelebt, ausgehört

werden (Hespos 1985, 27).

In dieser ständigen Suche nach dem Anderen betrachtet er den Körper als kompo-

sitorisches Vorbild, der immer neue Bezüge zur Umwelt herstellt und verarbeitet.

Wir müssen immer wieder den Mut haben, das nächste jetzt, das Jetzt-jetzt,

das dann wieder ein neues Jetzt hat, diese Aktualitäten, die wir von unse-

rem Körper her leben, von unserer Konstitution her leben, auch geistig zu

leben“ (Hespos, zit. nach Hilberg 2000, 206).

Sein wichtigstes stilistisches Merkmal, um das ständige Unterwegssein zu ver-

deutlichen, ist die „Alteration von Extremen“ (Hilberg 2000, 206). In der Erzeu-

gung immer neuer musikalisch-gestischer Grenzsituationen treibt er systematisch

220 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

die Entfesselung und Selbstaufgabe der Spieler voran. Entgegen herkömmlicher

Vorschriften und gewohnter Spielbewegungen fordert er oftmals Unmögliches.249

Die Körperlichkeit findet ihre Entsprechung in der Artikulation von Schreien,

Keuchen oder Stöhnen. In ihrem Variantenreichtum erinnern die teilweise anima-

lischen Vortragsanweisungen an Wort-Klang-Spiele, die gewisse Nähe zum

Lettrismus und Manierismus aufweisen. Die teilweise sogar onomatopoetischen

Angaben wie ‚versprillt’ oder ‚grob gestochert’ suggerieren Bezüge zu gestischen

Aktionen und lassen die gewünschte Klanglichkeit offen. Die sozialkritische Hal-

tung und der Protestcharakter vieler seiner Stücke spiegelt sich im uneingegrenz-

ten Potenzial an Freiheit und Selbstverantwortung, mit dem sich der Musiker der

zunehmenden Egozentrik einer von Zwängen und Nivellierungstendenzen erfüll-

ten musikalischen Welt entgegensetzt.

Zu 4:

In verschiedenen Kompositionen der Neuen Musik wird der Körper als eigenstän-

dige Klangquelle benutzt. Oftmals dient er dabei als Schlagzeug, wenn im Sinne

der Bodyperkussion die Klanglichkeit verschiedener Körperstellen (dumpf oder

spitz) durch unterschiedliche Schlagtechniken (Streichen, Klopfen, Wischen)

rhythmisiert wird.250 Da der Musiker ungewohnte Verrenkungen ausführt und

seinen eigenen Körper bis zur Schmerzhaftigkeit erforscht, entsteht ein theatrali-

scher Effekt, der oftmals dazu dient, Zuschauer zu schockieren. Ziel ist ein Ver-

zicht auf traditionelles Instrumentarium und die totale Reduktion auf klangliche

Mittel, die der Körper selbst hervorzubringen im Stande ist. Oftmals hängt diese

Beschränkung auf die eigene Klanglichkeit neben einem Mangel an Expressivität

in den traditionellen Konzerten auch mit einer Kritik an der Technisierung, Media-

lisierung und Anhäufung von Instrumenten in der Neuen Musik zusammen.

______________

249 Die Vorschreibung nicht zu realisierender Spielvorgänge lässt sich bis in die Romantik zu-rückverfolgen. So verlangt Robert Schumann in seiner Klaviersonate op. 22 vom Pianisten zunächst das Tempo ‚prestissimo’, um dann im späteren Verlauf die Anweisung ‚immer schneller und schneller’ hinzuzufügen. Schumann geht es allerdings weniger um eine Kritik am Virtuosentum, sondern um einen Appell an den Musiker, über sein Mögliches hinauszu-gehen. Innerhalb der Neuen Musik greift auch Giörgy Ligeti diesen Gedanken auf, wenn er in ‚Moment – Selbstporträt – Bewegung’ (Drei Stücke für zwei Klaviere; op. 76) den Pianisten zunächst die Anweisung ‚so schnell wie möglich‘ und anschließend ‚noch schneller‘ vor-schreibt.

250 So z. B. in der Komposition ‚?corporel’ von Vinko Globokar. Ausführlich hierzu vgl. Kap. V.3.2.3

Bewährung · 221

Innerhalb der Funktion des Körpers als Instrument erhält auch die Stimme neue

Einsatzmöglichkeiten. Sie wird nicht mehr als rein melodisch gesangliches Ele-

ment, sondern hinsichtlich ihrer Sprach-, Laut- und Geräuschmöglichkeiten einge-

setzt. Hierbei erhält besonders der Atem als eigenständiges musikalisches Gestal-

tungskriterium eine enorme Aufwertung. Schon in einer etymologischen Deutung

findet sich ausgehend vom altindischen Sanskritwort ‚atmán’ und der folgenden

griechischen Bestimmung von ‚pneuma’ eine Verflechtung der Begriffe ‚sinnlich

wahrnehmbarer Hauch’ und ‚Seele bzw. Ich-Selbst’, die sich später im Wechsel-

bezug von Windhauch und Geist, körperlichen, seelischen und göttlich-

kosmischen Kräften weiter ausdifferenzieren. Nach Rüdiger erweist sich der Atem

„als eine Ur-Metapher des Menschen“ (Rüdiger 21999, 72), der im musikalischen

Denken die Verknüpfung von Körper und Seele suggeriert. Er stellt ein Zeichen

der Innerlichkeit durch sinnliche Entäußerung dar.

Die musikalische Behandlung des Atmens bildet ein Kernmotiv des Schaffens von

Lachenmann, der ihn als energetischen Prozess „zwischen Körperlichkeit und

Struktur“ versteht (Hilberg 2000, 178).251 Ein Beispiel für die ‚instrumentale mu-

sique concrète’ unter schwerpunktmäßiger Berücksichtigung des ‚Atmens’ ist das

Stück ‚temA’ für Flöte, Stimme und Violoncello (1968). Der Titel setzt sich aus

den vier Buchstaben des Wortes ‚Atem’ zusammen, worauf auch das großge-

schriebene ‚A’ verweist. Gleichzeitig findet sich ein Bezug zum Begriff ‚Thema’.

Das fehlende ‚h’ verdeutlicht die anagrammatische Umkehrungsmöglichkeit des

Buchstabenmaterials: T(h)ema=Atem. Innerhalb der verschiedenen Einsatzmög-

lichkeiten der Stimme wird Atem zu einer existenziellen Angelegenheit des Men-

schen, der sich über die ureigene Luftigkeit der Stimme zu verstehen gibt. Entge-

gen einer rein mechanisch und virtuos ausgebildeten Stimme erhält der Atem v. a.

in den Kompositionen Lachenmanns die Funktion des Intimen, Spannungsgelade-

nen und Zerbrechlichen, der gerade die Aufführung zum einmaligen Erlebnis

werden lässt und den Interpreten als Gestalter der Komposition und als expressi-

ven Gestalter der momentanen Situation bedeutsam werden lässt.

In ‚temA’ müssen die Instrumentalisten die Atemprozesse einer Sopranistin imi-

tieren. Innerhalb der Vokalstimme findet sich ein weites Feld an unterschiedlichen

Abstufungen zwischen Sprache, Hauch und gesungenem Ton. Der Atem wird

zwischen „Einatmen“, „Ausatmen“, „Pressen“, “Anhalten“, „Schnalzen am Gau-______________

251 Vgl. Lachenmann 1996

222 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

men“ und „Hin- und Herschnellen der Zunge zwischen den Lippen“ eingesetzt

und verdeutlicht die physische Erzeugung der Geräusche. Zusätzlich finden sich

Vibrato-Effekte durch „Schnarchen“ oder „knatterndes Pressen hinten im Hals“.

Vorgegebene Texte, wie z. B. „wie bitte?“ oder „das darf ja gar nicht wahr sein“,

müssen nicht vom Hörer verstanden werden, sondern „dienen zur charakteristi-

schen Modifikation des Ausatmens“ (Lachenmann, Partitur von ‚temA’). Die

Berücksichtigung körperlicher Tätigkeiten wird in sog. ‚Aktionsfelder’ notiert, die

jeweils detailliert die Tonproduktionen und Klangmaterialien mit den dazugehöri-

gen Gestiken exponieren.252

Besonders deutlich findet sich die Einbeziehung unterschiedlicher Klangaktionen

des Atems in ‚pneuma’ für Bläser, Schlagzeug, Orgel und Radio (1970) von Hol-

liger wieder. Das Stück ist unter dem Eindruck des Todes einer ihm bekannten

Person geschrieben und thematisiert, wie der Begriff ‚pneuma’ in der Übersetzung

von ‚Atmen’ suggeriert, das Luftholen und Ausatmen während des Musizierens.253

Holliger sucht somit einen direkten körperlichen Ausdruck von Klage, „die im

physischen Sinne spürbar wird“ (Wilson 1989, 21). Das Ensemble dient dazu,

einen Filter über den Klang zu setzen, der die Klänge ‚erstickt’. Es stellt somit die

Tätigkeit einer Lunge dar und symbolisiert eine Abbildfunktion zwischen mensch-

lichem Körper und Klangkörper.

Pneuma ist ganz sicher ein Stück über den Körper. Mein Vater war Arzt,

und auch ich interessiere mich stark für biologische, physische Gegeben-

heiten. Als Bläser bin ich eigentlich immer damit konfrontiert (Holliger, zit.

nach Wilson 1989, 21).

In dem Stück ‚Cardiophonie’ für Oboisten und drei Tonbänder verstärkt Holliger

über Mikrophone das Herzgeräusch des Musikers.254 Das gesamte musikalische

Material und die künstlerische Gestaltung stehen dabei in Abhängigkeit zum

Tempo des Herzschlags. Dieses „körperlich-musikalische Feed-back-System“

(Hilberg 2000, 201) endet im körperlichen Zusammenbruch des Instrumentalisten.

______________

252 Das gilt auch für die nachfolgenden Kompositionen wie ‚Pression’, ‚Gran Torso’ oder ‚Klangschatten’.

253 Vgl. die Komposition ‚Psalm’ für sechzehnstimmigen Chor (1971), die sich mit demselben Gestaltungsmittel beschäftigt.

254 In ‚Tristan’ für Klavier, Tonbänder und Orchester von H. W. Henze werden collageartig Herzschläge über Verstärker dem Orchesterklang unterlegt.

Bewährung · 223

2.1.3 Neue Musik und Leiblichkeit

Die Autoren Peter Rautmann und Nicolas Schalz beschäftigen sich ausführlich mit

dem ‚(wieder)entdeckten Leib’ in der postmodernen Kunst und stellen auch Bezü-

ge zu neuen Wahrnehmungsformen in der zeitgenössischen Musik durch den

Verlust eines Systemdenkens her. Dabei bedeutet „die Wiederentdeckung des

Leibes oder Leiblichkeit eine Dimension, die kompositorisch einschneidend erst

um 1970 zum Tragen kommt. Die ‚andere’ Wahrnehmung, aus der diese Dimen-

sion herauswächst, hat nicht nur gesellschaftliche Gründe […], sondern auch in-

nerästhetische“ (Rautmann/Schalz 1998, 1073).

Der Leib übersteigt das klassisch normierte Bewegungsrepertoire mit der dazuge-

hörigen motorischen Technik und setzt dagegen das engagierte Zur-Welt-Sein des

Musikers. Bewegungen dienen dazu, Klänge sowohl zu produzieren als auch leib-

lich wahrzunehmen und deren Erzeugung als Teil der Darstellung zu thematisie-

ren. Diese Ambiguität ermöglicht, den Klang zu gestalten und sich selbst darin

darzustellen. Dennoch sind die expressiven Darstellungsmodi niemals Selbst-

zweck, sondern dienen immer dazu, einen vom Komponisten vorgeschriebenen

musikalisch-technischen oder szenischen Gehalt umzusetzen. Der gleichzeitige

Anspruch an die Beherrschung des musikalischen Materials und die expressive

Realisierung symbolisieren das Zwischen der Leiblichkeit und unterlaufen so

einseitige Dualismen einer rein festgelegten virtuosen oder frei improvisatorischen

Gestaltung. Der Leib kommt in verschiedenen Facetten der Neuen Musik zwi-

schen physisch-technischen und kreativ-expressiven Bereichen zur Geltung.

Besonders deutlich zeigt sich die Doppelempfindung bei verschiedenen klangli-

chen Einsatzmöglichkeiten der Stimme in der Neuen Musik. Sie wird als physi-

scher Erzeuger von Tönen angesehen, der gleichzeitig dazu dient, Expressivität

und Individualität auszudrücken. Die expressiv klingenden Atemgeräusche sind

kein Selbstzweck, sondern stehen im Kontext kontrollierbarer musikalischer Ge-

staltungen, die vom Sänger ein hohes Maß an Technik verlangen. Der Atem steht

daher zwischen Subjektivität und Objektivität, Innerlichkeit und Äußerlichkeit

sowie Selbst- und Fremderfahrung. Demnach ist er wie „ein Brief, dessen Emp-

fänger identisch mit dem Absender ist und der eine Botschaft enthält, die genau so

zurückkehrt wie sie ausgesandt wurde“ (Wimmer 1984, 122). In dieser Gleichzei-

tigkeit von Produktion und Rezeption deutet auch Jürgen Vogt die Stimme als das

„leibliche Medium, durch dessen Gebrauch der Mensch unmittelbar bei sich selbst

ist, also zum Subjekt wird“ (SBL 237).

224 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

2.2 Durchführung

Die Durchführung setzt sich explizit mit den drei Komponisten Edgar Varèse,

Dieter Schnebel und Vinco Globokar auseinander. Grundsätzlich werden zunächst

ihre Kompositionsansätze unter dem Gesichtspunkt ‚Musik und Körper’ betrach-

tet. Dazu werden verschiedene Werke vorgestellt. Anschließend lassen sich Über-

einstimmungen bzw. Divergenzen zur Leiblichkeit heranziehen, um diese ab-

schließend in Bezug auf den Musikunterricht zu verdeutlichen. Durch diese drei-

teilige Struktur ist die praktische Konkretisierung der Ergebnisse (Qualitäten der

Leiblichkeit) gewährleistet. In den jeweiligen Teilbereichen werden verschiedene

bereits angesprochene Aspekte vertieft und in neue Kontexte eingebunden. An

dieser Stelle sei ausdrücklich hervorgehoben, dass es sich um eine Vertiefung und

Neukontextualisierung bereits gewonnener Ergebnisse handelt. Der erste Teil

stellt Rahmenbedingungen auf, der zweite Teil kontextualisiert sie in Bezug zur

Leiblichkeit und der dritte Teil thematisiert potentielle Umsetzungsmöglichkeiten

im Musikunterricht.

Obwohl die Konstellation dieser drei Komponisten auf den ersten Blick befremd-

lich anmuten mag, ist ihnen neben dem experimentellen Erforschen von Klängen

auch die Berücksichtigung der Wahrnehmung des Rezipienten gemeinsam. Ein

Überblick über ihre Kompositionsprinzipen verdeutlicht ferner einen Wandel in

der ‚Klangforschung’ im 20. Jahrhundert. Ausgehend von musikalisch-

klanglichen Prinzipien und der räumlichen Erfahrung eines ‚son organisé’ bei

Varèse über die Einbeziehung des Sprachklangs und der Gestik bei Schnebel bis

hin zur Erschließung neuer Klangmöglichkeiten und Spieltechniken bei Globokar

verändern sich auch die Spieltechniken und Klangeigenschaften der Instrumente,

bis der Körper selbst zum Musikinstrument avanciert. Basierte die ‚Grundfunktion

der Sinne‘ bei Varèse noch auf der räumlich-akustischen Wahrnehmung der

Klangbewegungen, so wurde sie durch Schnebel in Form von Organbewegungen

und der Integration von Spielvorgängen weiter ausdifferenziert, um schließlich

durch Globokar als eigenständiger Teilbereich musikalischen Engagements in die

Gestaltung inte-griert zu werden. Im Sinne einer individuellen Klangtypik, die zu

physiologischen Grenzsituationen und Vorschriften extremer Spielvorgänge her-

ausfordert, erhält der Körper durch diese drei Komponisten stetig steigende musi-

kalische Relevanz sowie immer größer werdende systemimmanente Verankerun-

gen in der Kompositionsästhetik.

Bewährung · 225

2.2.1 Varèse: Musik als Klangbewegung

Zur Verdeutlichung der innerhalb der Hinführung dargestellten Relevanz der

Leiblichkeit in der Neuen Musik wird zunächst durch eine Bezugnahme auf die

Musik Edgard Varèses (1883-1965) die Spürbarkeit von Klängen thematisiert.255

Anhand einer Konzentration auf seine Komposition ‚Ionisation’ und damit ver-

bundener Verweise auf seine Musikästhetik lässt sich beispielhaft beleuchten,

inwieweit der Klang im 20. Jahrhundert neue physische Wahrnehmungsmöglich-

keiten eröffnet, die im Unterricht von den Schülern im Sinne der Qualitäten der

Leiblichkeit spürbar erfahren werden.

Das Werk von Varèse basiert auf jahrzehntelangen musikalischen Experimentier-

phasen, blieb jedoch bis in die 1960er Jahre weitestgehend unbeachtet. Anstatt ein

System wie die Zwölftonmethode von Schönberg weiter zu entwickeln, erforschte

Varèse systematisch die Möglichkeiten der Musik im Namen des Klangs. Er sah

sich selbst als einen „Arbeiter mit Rhythmen, Frequenzen und Intensitäten“ (Varè-

se 1978, 23). Der damit verbundene Anspruch, Musik als Emanzipation des

Klangs und damit als Befreiung des Materials zu verstehen, führte zu einer geson-

derten Musikästhetik, die sich vornehmlich auf ‚Klangbewegungen’ konzent-

riert.256 Durch rhythmisch-dynamische Effekte und Überlagerungen von Klang-

farben erzeugt Varèse ein Gefühl von Nähe oder Ferne. Klänge werden zu einer

Art Gebilde in Raum und Zeit, das sich ‚bewegt’ und unterschiedliche Dichtegra-

de enthält.

‚Poème électronique’ ist z. B. eine Raumkomposition, die von Varèse für ein

Gebäude, den ‚Phillips-Pavillon’, realisiert wurde. In Zusammenarbeit mit Iannis

Xenakis (Architektur) und Le Corbusier (Licht und Bild) entstand 1958 für die

Weltausstellung in Brüssel eine polyästhetische Präsentation, in der Raum, Klang

und Bild eine Einheit bildeten. Die Musik spiegelte dabei die Raumwirkung des

Gebäudes wider. Mit insgesamt 350 Lautsprechern, die an den Wänden befestigt ______________

255 Klang wird im Folgenden als eine Zusammensetzunge mehrer Töne zu einer Klangfläche verstanden. Darüber hinaus ist bereits ein einzelner Ton ein aus mehreren Teiltönen (Grund-ton und seinen Obertönen) zusammengesetzter Klang.

256 Gruhn behauptet, dass Varèses Vorstellung von bewegenden Klangmassen mit der Auseinan-dersetzung mit dem Kubismus von Picasso zusammenhängt, der die individuelle Wahrneh-mung des Menschen als konstitutive Formgebung des Bildes behandelt. Lyotard dagegen vergleicht Varèses Kompositionsstil mit der Maltechnik von Cézanne. Form ist beweglich und dient zur Darstellung von Dynamik, Simultaneität und Polyperspektivität. Vgl. Gruhn 1992; Lyotard 1989

226 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

waren und zu unterschiedlichen Zeiten elektronische oder gesampelte Klänge

erzeugten, entstand ein stereophoner Effekt von variablen Klangbewegungen.

Varèses Ziel liegt darin, dem ‚Zuhörer’ die Klangorte und -wege physisch erfahr-

bar zu machen. Der Rezipient ist förmlich von näher kommenden und sich entfer-

nenden Klängen umschlossen, da er in das Werk ‚integriert’ wird und sich die

zentrale Hörperspektive ‚auflöst’. Varèses Interesse an Klangbewegungen im

Raum wird im Folgenden terminologisch als ‚Materialität des Klanges’ definiert.

Varèse wandte sich schon früh der Wirkung von Klängen und Geräuschen zu und

konzentrierte sich dabei auf die vielfältigen Klangspektren von Schlaginstrumen-

ten. Er ist einer der ersten, „der Kompositionen ausschließlich für das Schlagzeug

geschrieben hat“, denn „das Schlagzeug hat – was seine Klanglichkeit betrifft –

eine Vitalität, die die anderen Instrumente nicht haben“ (Varèse, zit. nach Weh-

meyer 1977, 116).257 Schon um 1910 komponierte er verschiedene Solostücke

unter dem Schwerpunkt komplexer rhythmisch-metrischer und klanglich-

architektonischer Aspekte.258 Dazu verwendet er eine große Anzahl ungewöhnli-

cher perkussiver Klangerzeuger (Gongs, Bongos oder Röhrenglocken) und hebt

deren klangliche Spannbreite hervor, um die Besetzung des traditionellen Orches-

ters zu erweitern.

Die erste Komposition, die sich mit Schlaginstrumenten als einziger Instrumen-

tengruppe in formaler und zeitlicher Organisation beschäftigt, ist das 1931 ent-

standene Kammermusikwerk ‚Ionisation’ für 13 Perkussionisten auf insgesamt 41

______________

257 Eine weitere Erklärung, warum sich Varèse mit Klangspektren des Schlagzeugs auseinander-gesetzt hat und Klang als eine Form von Materie definiert, findet sich in seiner Jugend. Schon als Kind war er von der materialen Beschaffenheit von Steinen, wie z. B. Granit, beeindruckt und pflegte „die alten Steinschneider zu beobachten, die Präzision bewundernd, mit der sie arbeiten. Sie benutzten keinen Mörtel und jeder Stein mußte eingepaßt und mit dem anderen ausbalanciert werden. So war ich immer in Berührung mit Dingen aus Stein und mit dieser Art von Strukturaler Architektur“ (Varèse, zit. nach de la Motte-Haber 1991, 108). Zeitgleich beschäftigten sich auch andere Komponisten wie Henry Cowell, John Cage oder Lou Harri-son mit der solistischen Funktion des Schlagzeugs.

258 Diese Werke sind angeblich von Varèse vernichtet worden.

Bewährung · 227

verschiedenen Schlaginstrumenten und zwei Sirenen.259 ‚Ionisation’ gilt als das

„erste reine Schlagzeugstück“ und markiert zweifelsohne „einen wichtigen Punkt

zur Emanzipation des Geräuschs“ (Nimczik 2003a, 6).

Der Titel verweist auf den physikalischen Prozess des Abspaltens der Elektronen

von den Atomen. Die ionisierende Form des Aufprallens und Abspaltens lässt sich

musikalisch am treffendsten durch die perkussive Kraft von Schlagzeugklängen

verdeutlichen. Varèse geht es allerdings weniger um die programmatische Über-

tragung eines physikalischen Prozesses in Musik, als vielmehr um die Etablierung

einer neuen Kompositionstechnik. Er übersetzt also keine Strukturen aus der Phy-

sik in Klang, sondern sucht nach neuen Formen, die „an die Stelle anderer Kom-

positionstechniken wie etwa Reihentechnik, Polyphonie, Variation, etc.“ treten

(Wehmeyer 1977, 121). Gerade die in der traditionellen Kunstmusik vorherr-

schenden Parameter ‚Melodik’ und ‚Harmonik’ werden durch die geräuschhaft-

rhythmische Intensität der Perkussionsinstrumente aufgehoben. Allerdings sind

diese für Varèse mehr als bloße Schlaggeräusche. Sie etablieren einen Klangkör-

per, der sich aus ‚Frequenzgemischen’ zusammensetzt, die sich einer eindeutigen

tonalen Zuordnung entziehen. „Das Schlagzeug kann keine Geschichten erzählen“

(Varèse, zit. nach Wehmeyer 1977, 119), behauptet Varèse und konstatiert dem-

nach seine Skepsis gegenüber der Musik als ‚Klangrede’. Hieraus resultiert ein

Formdenken, das primär die rhythmisch-klangliche Entwicklung als frei sich ent-

faltenden Parameter begreift.

Form ist bei Varèse „das Ergebnis eines Prozesses“ (Varèse 1978, 18), der erst im

Nachhinein seine ihm zugehörige Struktur zugänglich werden lässt. Die Entste-

hung vollzieht sich auf der Basis einer inneren Keimzelle. Durch verschiedene

Kräfte in Gestalt, Dichte, Richtung und Geschwindigkeit entsteht durch Ausdeh-

nung und Abspaltung eine ständige Veränderung des musikalischen Materials.

Entgegen der Eindeutigkeit linearer musikalischer Formverläufe hebt Varèse die

______________

259 Die Frage, ob sich Varèse von anderen Schlagzeugkompositionen hat beeinflussen lassen, wird kontrovers diskutiert. Während sein Kompositionsschüler Chou Wen-chung vermutet, dass ein ostasiatisches Interesse an Gamelanmusik möglich sein könnte, verweist Odile Vi-vier auf die Musik des brasilianischen Komponisten Villa-Lobos, mit dem sich Varèse in Pa-ris fast täglich traf. Hierfür sprechen auch die mexikanisch-kubanischen Perkussionsinstru-mente, wie z. B. Bongos, Maracas, Claves, Cencerro, Guiro. Vgl. Wen-chung 1978, 70 ff., Vivier 1973, 104

228 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Beweglichkeit der klanglichen Materie hervor, die sich immer neu organisiert.260

So bezeichnet er seine eigene Musik als eine „Bewegung von Klangmassen“ (Va-

rèse 1978, 12), die beim Hörer „Intensitätszonen“ durch unterschiedliche Timbres,

Farben und Schwingungen hervorrufen. Diese immer neuen Zusammensetzungen

nennt Varèse auch „Beatmung“ (Varèse 1978, 13).261

Varèse definiert Musik als eine „Verkörperlichung der im Klang selbst gelegenen

Intelligenz“ (Varèse 1978, 22). Im Rahmen der Fragestellung dieser Arbeit ist es

lohnenswert, den Begriff der ‚Verkörperlichung’ genauer zu betrachten, da hier

Aspekte der Bewegung und Körperlichkeit von Klängen angesprochen werden.262

Der Grundgedanke dieser Definition, die Varèse vom polnischen Philosophen

Hoëné Wronsky übernahm, lautet, dass Klänge eine ihnen zugehörige Struktur

(‚intelligence’) besitzen, die zwar unsichtbar und immateriell bleibt, aber über den

Schall und die Schwingungen ‚verkörpert’ (‚corporealization’) wird. Grete Weh-

meyer hebt hervor, dass eine andersartige Deutung des Satzes durch eine unter-

schiedliche Betonung auf ‚intelligence’ oder ‚corporealization’ entsteht. Im ersten

Fall „hört man die Intelligenz, die in den Klängen ist“ (Wehmeyer 1977, 30), die

folglich Varèses Musik als ein komplexes rhythmisch-klangliches System defi-

niert. Im zweiten Fall wird „das Körperlichwerden von Klängen überhaupt“ deut-

lich (Wehmeyer 1977, 30), das dann deren Spürbarkeit begründet.

Vorläufig kann festgehalten werden, dass Klänge im Verständnis von Varèse zwei

unterschiedliche ‚Erscheinungsarten’ besitzen. Sie enthalten eine grundlegende

______________

260 N. Slominsky, der die Uraufführung leitete, interpretiert das Werk als Sonatenhauptsatzform und beschränkt sich somit auf eine rein formale Deutung. Vgl. Slominsky 1953 sowie das Vorwort der Partitur von Ionisation

261 In seinem Essay ‚Der Gehorsam’ fasst Jean-Francois Lyotard in Anlehnung an Adornos Begriff der ‚Entfesselung des Materials’ das Kompositionsanliegen von Varèse als ‚Entfesse-lung des Klangs’ durch Bewegung von Klangmassen zusammen. Diese ermöglicht neue Mu-sikwahrnehmungen, denen prinzipiell zwei sich nicht ausschließende Wege offen stehen. Die ‚intuitionistische’ Methode kritisiert traditionelle Wahrnehmungsraster und konzentriert sich auf das ‚Klänge-Sein-lassen’ im Sinne von John Cage. Die ‚axiomatische’ Methode sucht neue systematische Erschließungsdimensionen der Hörvorgänge und orientiert sich an kogni-tiven Strukturen, in denen unterschiedliche Dimensionen des Klangs experimentell erschlos-sen werden. Lyotards Essay lässt sich als Rehabilitierung des Lauschens nach Klängen ver-stehen, die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten abseits traditioneller abendländischer Musiksys-teme besitzen und ihre Freiheit durch den ‚Gehorsam’ an die Entfesselung des Materials be-gründen. Vgl. Lyotard 1989, 279-283

262 Im Original spricht Varèse von der Musik als „la corporification de l’intelligence qui est dans les sons“ oder als „the corporealization of the intelligence in sounds“ bzw. „the corporealiza-tion of the intelligence that is in sound“ (Varèse, zit. nach Wehmeyer 1977, 30).

Bewährung · 229

komplexe Struktur, die sich auf die Form bezieht, und sie sind gleichzeitig eng an

die Wahrnehmung des Rezipienten gebunden.

Ausgehend von den zwei Erscheinungsarten lässt sich die Musikästhetik Varèses

anhand der drei Begriffe ‚Kristallisation’, ‚Son Organisé’ und ‚Spatiale Musik’

weiter ausdifferenzieren. Sie vertiefen das oben angeführte Formdenken und ver-

deutlichen die dargestellte doppelte Anlage der Kompositionen von Varèse zwi-

schen mathematischer Kalkulation und sinnlichem Erlebnis.

Ähnlich wie ‚Ionisation’ ist ‚Kristallisation’ ein Fachbegriff aus der Physik. Dabei

bezieht sich Varèse in der Beschreibung des Vorgangs auf den Mineralogen Na-

thaniel Arbiter:

Die innere Struktur basiert auf der kristallinen Einheit, welche die kleinste

Atomgruppierung darstellt, die die Anordnung und Zusammensetzung der

Substanz aufweist. Aber trotz der relativ begrenzten Varianz von inneren

Strukturen sind die äußeren Formen von Kristallen unbegrenzt. […] Kris-

tallform ist selbst eine Resultante (Arbiter, zit. nach Varèse 1978, 18).

Ein Kristall besitzt demnach eine im Kern festgelegte, einmalige und nicht zu

verkleinernde Struktur, die allerdings hinsichtlich ihrer äußeren Erscheinungswei-

se nahezu unbegrenzt ist. Diese letztlich paradoxe Vorstellung wird für das Form-

verständnis Varèses bedeutsam. Musikalische Strukturen besitzen eine innere

Keimzelle, die sich stetig verändert, ohne ihren ursprünglichen Aufbau zu verlie-

ren. Form ist das Ergebnis eines Prozesses und somit ein Resultat nicht vorher

festgelegter Konstanten. „Jedes meiner Werke muß seine eigene Form entdecken“

(Varèse 1978, 18), betont Varèse und kritisiert somit den traditionellen Werkbe-

griff, der Form als Ausgangspunkt und als „nachzuzeichnende Schablone, als

auszufüllende Gussform“ (Varèse 1978, 18) begreift. Auch die konstante Entwick-

lung des motivischen Materials, das sich z. B. durch Augmentation und Diminuti-

on stetig verändert und sich in der Sonatenhauptsatzform synthetisiert, ist ein

„starrer Kasten“, in den etwas „hineingestopft“ wird (Varèse 1978, 18). Varèse

sieht daher in der Kristallform, die aus der Interaktion von Anziehungs- und Ab-

stoßungskräften resultiert, die bestmögliche Erklärung, wie sich seine Werke for-

men:

230 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Da ist eine Idee, die Basis einer internen Struktur, die sich aufdehnt und

aufspaltet in verschiedene Formen oder Klanggruppen, die sich beständig

in Gestalt, Richtung und Geschwindigkeit, angezogen oder abgestoßen

durch verschiedene Kräfte, verändern. Die Form des Werks ist die Konse-

quenz dieser Interaktion. Mögliche musikalische Formen sind so unbe-

grenzt wie die äußere Form von Kristallen (Varèse 1983, 360).

Eng mit ‚Kristallisation’ ist der Begriff ‚Son Organisé’ verbunden, den Varèse aus

einer Bestimmung des Komponierens als ‚Organisation disparater Elemente’ von

Brahms ableitet. Im französischen Wort ‚son’ ist die Unterscheidung zwischen

Ton und Klang nicht gegeben. Der Begriff lässt sich am ehesten mit ‚organisierter

Klang’ umschreiben. In Varèses Konzeption ist ‚Son Organisé’ zunächst eine

Absage an den herkömmlichen Begriff ‚Ton’, der auf eine festgelegte Frequenz

reduziert ist und im Tonsystem melodisch determiniert und beliebig wiederholbar

erscheint. Der Klang dagegen ist „ohne psychologische, soziale, ja biologische

Aspekte und quasi menschliche Züge“ nicht denkbar (Zeller 1978, 38).

Der Klang ist das Material der Musik. [...] Seit Musik existiert, ist sie

Klang. Wie auch der Mensch ist Klang etwas, das nur in der Atmosphäre

existieren kann (Wehmeyer 1977, 112).263

Der Begriff ‚Spatiale Musik’ leitet sich aus einer Weiterführung der Definition der

Musik als ‚Verkörperlichung der in den Klängen selbst gelegenen Intelligenz’ ab.

In einer Vorlesung im Sarah Lawrence College definiert Varèse 1959 ‚Spatiale

Musik’ als „Körper intelligenter Klänge, die sich frei im Raum bewegen“ (Varèse

1978, 20).264 Sie umfasst also auch die Projektionsverhältnisse von Musik im

Raum.

Die Verwendung von zwei Sirenen in ‚Ionisation’ ist nicht, wie oftmals argumen-

tiert wird, eine Annäherung an den Bruitismus, der das Geräusch als neues kom-

positorisches Mittel thematisiert, sondern resultiert aus Varèses intensiver Be-

schäftigung mit dem Ethnologen Hermann von Helmholtz und dessen Werk ‚Leh-

re von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der

Musik’, das er 1905 während seines kurzzeitigen Physikstudiums intensiv studier-

______________

263 Zum Begriff der ‚Atmosphäre’ in der Ästhetik vgl. Böhme 1995 sowie Kap. V.3.1.1 264 Im Originaltext wird der Bezug in der Definition von „bodies of intelligent sounds moving

freely in space“ verdeutlicht (Varèse 1998, 107). ‚Body’ verweist dabei auch auf den mensch-lichen Körper, der die Klänge wahrnimmt.

Bewährung · 231

te.265 In diesem Buch werden Experimente mit Sirenen beschrieben, die paraboli-

sche und hyperbolische Klangkurven erzeugen. Demnach wird die ästhetische

Fundierung von Tonbewegungen auf physikalischem Boden vorweggenommen.

Es ist ein wesentlicher Charakter des Raumes, daß in jeder Stelle die glei-

chen Körperformen Platz finden und die gleichen Bewegungen vor sich ge-

hen können […] Ebenso ist es in der Tonleiter (Helmholtz 91980, 576).

Ferner sieht sich Varèse durch die Lektüre von Busonis ‚Entwurf einer neuen

Ästhetik der Tonkunst’ darin bestätigt, den Klang aus den Beschränkungen des

temperierten Systems zu befreien und den Rhythmus als Stabilisierungselement zu

betrachten, um beziehungsfreie metrische Simultaneität zu erreichen.

Varèse selbst hat Musik als „die körperlichste Kunst“ bezeichnet. Diese zu entwi-

ckeln, so schrieb er an Dallapiccola, „entspreche den Anforderungen der Epoche

in der er lebe“ (Varèse 1983, 125).266 Am eindringlichsten hat Dieter Schnebel die

physische Kraft der Musik Varèses in seinem Essay ‚Sirènes oder der Versuch

einer sinnlichen Musik’ zusammengefasst:

Beim ersten Hören der Musik von Edgard Varèse ist man ebenso bestürzt

wie fasziniert von der Körperlichkeit ihres Klangs. Das was Klang ist,

nämlich vibrierende Luft, wird in Varèses Musik geradezu leiblich erfahr-

bar: man hört die Schwingungen nicht nur, sondern man spürt sie auf der

Haut, so daß man solche Musik eigentlich ohne Kleider vernehmen sollte,

um die Beschallung möglichst allseitig aufzunehmen; in die Klangfülle

nicht nur mit den Ohren, sondern ganz einzutauchen (Schnebel 1977, 71).

Schnebel hebt die physische Intensität der Klänge hervor, die er mit den Meta-

phern des „vulkanischen Feuers“ vergleicht (Schnebel 1978, 6).267 So besitzt sie

eine „eigene Wärme“, als wenn die „schwingende Luft seiner Musik unter Druck

stünde und sich dadurch erhitze“, wobei die Musiker „die Klänge herauspressen, ______________

265 Der Hauptvertreter des Bruitismus ist der Futurist Luigi Russolo, der das Klangtotal mit Hilfe künstlicher Klangsynthesen forderte.

266 Vgl. hierzu auch de la Motte-Haber 1993, 259; in seinem Studium beschäftigte sich Varèse mit Aristoteles, Aristoxenos und Leonardo da Vinci, welche alle die physische Konstitution des Menschen untersuchten. Ferner war Varèse für kurze Zeit Sekretär von Rodin, der in sei-nen Statuen deutlich die Beschaffenheit des Körpers in seinen jeweiligen emotionalen Zu-ständen thematisierte.

267 Alle Zitate entstammen aus Schnebel 1978, 6-8

232 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

ja herausschleudern“ müssen. Das Klangergebnis ist dabei ein „Ausdruck als ein

Aus-sich-heraus-drücken“ und verlangt „zugleich physische Kraftleistung wie

physisches Sich-Verausgaben“. Die neue Wahrnehmungsdimension zeigt sich im

„körperlich dreidimensionalen, ja überhaupt mehrdimensionalen Ausdruck“ der

Musik und der menschlichen Existenz. Der Begriff ‚Aus-druck’ symbolisiert wört-

lich die „Veränderungen der Druckverhältnisse, daß der Klang mal massiv auf-

drängend begegnet, man seine Vibrationen förmlich auf der Haut spürt, ja in ihren

extremen Momenten die Musik tatsächlich unter die Haut geht; daß Klänge mal

impulshaft erschüttern oder mehr ziehend bewegen“. Diese „Körperlichkeit des

Klangs“ wird „nicht nur übers Ohr, sondern eben wiederum körperlich wahrge-

nommen, so daß die Aufnahme von Musik unmittelbar zum sinnlichen Erlebnis

wird und durch ihre Schwingungen den Hörer wirklich berührt – und nicht erst

durch das, was sie in ihren Schwingungen vermittelt“. Der Zugang zur Musik

Varèses lässt sich nicht einseitig durch rationale Analyse in „Bedeutungen ent-

schlüsseln“, sondern ist durch die elementare „Sprache des Klangs, der schwin-

genden Luft“ ein „quasi mystischer Akt“ des Aufnehmens. Hierbei wird eine

„archaische Schicht von Musik wieder lebendig, als Klänge noch Wesen bedeute-

ten, welche den Menschen direkt angingen“.

Auch die Schriftstellerin Anaïs Nin war von der Körperlichkeit der Musik Varèses

ergriffen, wenn er Besuchern neue Rhythmen und Klangergebnisse mittels Ton-

bandgeräten vorspielte.

Das Tonbandgerät ist stets auf die […] höchste Lautstärke eingestellt. Er

wünscht, daß der Hörer von den ozeanischen Schwingungen und Rhythmen

gefangen genommen, aufgesogen wird“ (Nin 1978, 183).

Seine Kompositionen scheinen aus „zerschnittenen und gleich einer Collage wie-

der zusammengeleimten Musikfragmenten zu bestehen“ (Nin 1978, 183). Die

Materialität zeigt sich auch in der Formung der Partitur, die Varèse „korrigiert und

nochmals überarbeitet, umgruppiert, auseinander schneidet, zusammenleimt,

nochmals überklebt, mit Nadeln und Klammern zusammenheftet, bis sie schließ-

lich ein riesiges Gebäude darstellen“ (Nin 1978, 183). Viele Kompositionsmate-

rialien sind mit Reißzwecken an Wänden befestigt und „befinden sich alle im

Zustand des Fließens, der Bewegung, der Flexibilität, sie sind stets bereit, sich in

eine neue Metamorphose zu stürzen“ (Nin 1978, 183). Wolfgang Rihm bezeichnet

Varèse in seinen Notizen als eine Art ‚Ingenieur’, der eine „sichtbare, fühlbare

und lautliche Skulptur“ erschafft und ihr „Körper und Gestalt“ gibt (Rihm 1996,

Bewährung · 233

278). Der Klang wird „spürbar montiert, gesetzt, gestemmt“ und „in die Hand

genommen“ (Rihm 1996, 278). Die Formbildungen Varèses sind daher mit „Le-

bewesen, Organen“ vergleichbar, die „ihren Antrieb aus sich selbst erhalten“

(Rihm 1996, 278).268

Zur Leiblichkeit der Musik Varèses

Im vorigen Kapitel ist deutlich geworden, dass Varèse den Klangbewegungen

einen hohen Stellenwert zuschreibt. Sie sind sich bewegende Schallereignisse, die

sich im Raum verkörpern und in unterschiedlicher Intensität auf den Körper des

Hörers einwirken. Varèse experimentiert allerdings nicht nur mit Klangbewegun-

gen im Raum, sondern vor allem mit der Wahrnehmung des Rezipienten. Erst

durch die physische Präsenz des Hörers, der die Materialität der Klänge fühlt,

erhalten sie ihre volle Berechtigung.269 ‚Musik’ entsteht nach Varèse erst, „wenn

die Luft zwischen dem Ohr des Hörers und dem Instrument ‚pertubiert’ wird“ (de

la Motte-Haber 1993, 45). Diese ästhetischen Erfahrungen werden dabei allererst

über Leiblichkeit als Bedingung der Möglichkeit von Wahrnehmung realisiert, da

das Hören um das Spüren erweitert wird. Ohne den ‚Leib’, der im Raum die Mu-

sik spürt, würde die Klangbewegung ihre Intensität verlieren und als Höreindruck

wahrgenommen werden. In Ionisation erhält der ‚Leib’ somit als ‚Wahrneh-

mungsorgan’, das Klänge hört und spürt, einen besonderen Stellenwert. 270

Wahrnehmung wird in Bezug auf Ionisation in einem weiten Sinne verstanden,

denn die Klänge lassen sich, ähnlich der Doppelempfindung Husserls, auf eine

zweifache Weise erfahren. Sie werden gehört und gespürt, so dass sich Innen- und

Außenerfahrung in Form einer guten Ambiguität verbinden. Das Hören der entste-

______________

268 Auch der Schriftsteller Henry Miller fühlte sich beim ersten Hören der Musik von Varèse „wie betäubt“, so als hätte er „einen k.o. Schlag bekommen“ (Miller 1978, 32).

269 Der Grundgedanke einer Fühlbarkeit von Musik als vibrierende Luft hat gerade in Frankreich Tradition und fußt in der sensualistischen Auffassung des 18. Jahrhunderts. So war z. B. Ra-meau durch die Entdeckung der Obertöne der Auffassung, dass Musik ein ‚vibrierendes Sys-tem ist, das einen ‚Klangkörper’ (corps sonore) bildet. Varèse setzt nach de la Motte-Haber diese Tradition fort und entwickelt eine ‚sensualistische Ästhetik’. Sie entsteht durch die „Umwandlung der Ausdruckswerte in sensorische klangliche Qualitäten, die zuweilen mit Heftigkeit auf den Hörer eindringen“ (de la Motte-Haber 1993, 259).

270 Ihre vollen Entfaltungsmöglichkeiten erhalten alle Qualitäten der Leiblichkeit in der Vermitt-lung von Ionisation im Musikunterricht unter dem Schwerpunkt von ‚Klangbewegung als Körperbewegung’. Vgl hierzu das anschließende Kapitel ‚Musikpädagogische Zugänge’

234 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

henden Form als ‚Kristallisation’ verdeutlicht die ‚Innenerfahrung’ und das physi-

sche Spüren der Klänge die ‚Außenerfahrung’. Im Sinne des Zwischen liegt die

Wahrnehmung der Materialität des Klanges jeglicher dualistischer Kategorisie-

rung voraus, so dass Hören und Spüren auf derselben ‚Ebene’ stattfinden. Die

Aufmerksamkeit lässt sich zwar auf vereinzelte Klangeindrücke verlagern, aber

die zweideutige Erscheinungsweise der Klänge bleibt weiterhin erhalten.

Die musikalische Wahrnehmung nimmt die expressive Form eines ‚Zwischen-

Hörens’ an, in welcher der Rezipient innerhalb seiner leiblichen Gebundenheit

sich dem Geräuschpotential von Klängen zuwendet, die im Gegensatz zu den

Tönen und Harmonien (Tonleitern, Kadenzen) nicht hierarchisiert sind. Die damit

verbundene Akzeptanz der Aufhebung des tonalen Systems erfordert eine grund-

sätzliche Sensibilisierung unserer Sinnesorgane, die P. Eichler als ‚Zwischen-

Hören’ bezeichnet.

Musik lebt von einem Zwischen-Hören. Dass dieses ‚Zwischen’ nun auch in

den Geräuschen außerhalb der Konzertsäle wiederentdeckt wurde, ist hier

von großem Interesse. Die Orientierung unserer Sinnesorgane und ihre in-

terne Hierarchie, die uns als selbstverständlich gegeben erscheinen, sind

nicht statisch verankert (Eichler, P.: Der Aufstand des Ohres

(http://www.brainstar.org/theorie.html, (10.03.2006))

Neben der unbestreitbaren Intensität der Klänge, die auf den Körper einwirken,

bilden sie ein aus einer inneren Keimzelle bestehendes formales Konstrukt (‚son

organisé) und sind nicht ohne Konzept komponiert. Dies betrifft sowohl die Orga-

nisation der Klänge durch die dynamische Strukturierung der Register und einer

damit verbundenen Verschiebung von dunkleren zu helleren Klangfarben als auch

die Entwicklung und Verarbeitung rhythmischer Keimzellen.271

______________

271 Vgl. de la Motte Haber 1991; Wen-chung 1978

Bewährung · 235

Durch die gleichursprünglich fundierte Innen- und Außenerfahrung erhalten Klän-

ge bei Varèse zwei wesentliche Eigenschaften: Erlebnis und Konstruktion.272 Das

Erlebnis hebt die physische Intensität der Klangbewegungen in Ionisation hervor

und betont im Sinne ästhetischer Erfahrungen die Eigenwahrnehmung des Rezi-

pienten. ‚Konstruktion’ behandelt die physikalischen und mathematisch-formalen

Aspekte, die sich dann in Kompositionsprinzipien wie Kristallisation, ‚Spatiale

Musik’ und ‚Son Organisé’ widerspiegeln.

In Bezug auf die Qualitäten der Leiblichkeit ist es bedeutsam, dass sich ‚Erlebnis

und Konstruktion’ in Ionisation nicht ausschließen, sondern aufeinander aufbauen.

Aus dem Vorgang der Ionisation entsteht Form, genau wie das Resultat sich aus

den An- und Abstoßungsprozessen zusammensetzt. In diesem Sinne bildet Ionisa-

tion einen dritten musikalisch-sinnlichen Standpunkt zwischen Spüren und Hören.

Varèses persönliche Definition der Musik als ‚Verkörperung der in den Klängen

selbst gelegenen Intelligenz’ verweist geradezu auf dieses Chiasma seiner Musik,

die den Klang als Raumbewegung (Verkörperung) und als Struktur (Intelligenz)

versteht. Dabei ist Klang keine abstrakte Größe, die im Studium der Partitur zu-

gänglich wäre, sondern eine gleichzeitig objektive wie subjektive Erscheinung in

Raum und Zeit, die durch die Präsenz des Rezipienten und dessen Situation auf-

genommen wird. Der Leib dient dabei als Medium, die Klänge aufzunehmen, zu

erleben und zu verstehen.

Zentrale Kompositionsprinzipien wie ‚Kristallisation’, ‚Son Organisé’ und ‚Spati-

ale Musik’ suchen das Offene, nicht Kalkulierbare und Determinierte innerhalb

der musikalischen Wahrnehmung. In diesem Sinne sind die Werke von Varèse

Dekompositionen, da ihr Weg vom Ende zum Anfang führt und teleologische ______________

272 Hier ist bewusst eine Anlehnung an Diltheys ‚Erlebnistheorie’ gegeben. Diese wird zwar viel kritisiert, beinhaltet aber dennoch eine enorme Aktualität, da sie „Erleben als Methode“ (Dil-they 71997, 225) begreift und hier Zugänge zu den symbolischen Schichten der Erfahrung aufzeigt, die durch die Vernunft nicht geleistet werden können. Im Sinne der zeitgenössischen Ästhetik ließe sich besser von ‚Atmosphären’ sprechen, die die ästhetische Erfahrung mitbe-gründen und die Teilhabe des Rezipienten an der Sinnlichkeit der Klänge gewährleisten.

Kunstwerke stellen Atmosphären nicht nur dar, sondern lassen sie als Situation gegenwärtig erscheinen. Die entscheidende Problemstellung, mit der sich eine zeitgenössische (Musik)-Ästhetik zu befassen hätte, wäre eine Auseinandersetzung mit dem Materialbegriff in der Kunst als Theorie der Wahrnehmung. Das beinhaltet eine Veränderung der Wahrnehmung, die zwar immer noch autonom ist und ihren Anspruch im interesselosen Wohlgefallen bzw. in der Zweckmäßigkeit ohne Zweck (Kant) begründet sieht, aber mehr den Wahrnehmungspro-zess (aisthesis) als den Wahrnehmungsgegenstand (noesis) berücksichtigt. Das künstlerische Material ist weniger Mittel zur Erfahrung des Erhabenen als vielmehr Thema der ästhetischen Situation, die wiederum erst durch die Leiblichkeit realisiert wird.

236 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Entwicklungsprozesse negiert. Für die Leiblichkeit ergibt sich hieraus die Etablie-

rung mehrdeutiger Verstehenshorizonte zwischen Hören und Spüren, die gerade

für das Verständnis von Ionisation konstitutiv erscheinen.

Ausgehend von der Thematisierung der Materialität des Klanges verändert sich

auch die Raumwahrnehmung des Rezipienten. Durch das Erspüren der Klangbe-

wegungen ist er im Klang ‚eingebunden’.273 Der Raumbegriff löst sich vom objek-

tiven zum erlebten Raum, weil die jeweilige Stellung an einem Ort ausschlagge-

bend für die dazugehörige Klangwirkung ist. Wenn Klänge ihre eigene Nähe und

Weite besitzen, werden selbst objektive Raumgrenzen relativ, und die Faktizität

des Ortes vergrößert sich.274 Die Erweiterung des hörenden zum spürenden Rezi-

pienten und die Erweiterung des gewohnten Hörraums lassen sich in Bezug auf

die Qualitäten der Leiblichkeit als ‚Extensionen’ fassen. Sie begründen auf musi-

kalisch-ästhetischem Boden eine Neubestimmung der menschlichen Sinnlichkeit,

die sich im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts immer weiter ausweitet und

sich, wie noch in den Kapiteln über Schnebel und Globokar gezeigt wird, von dem

musikalischen Wahrnehmungs- auf den Produktionsvorgang verlagert.

______________

273 Constanze Rora spricht in diesem Zusammenhang unter Bezugnahme auf den Wahrneh-mungstheoretiker James Jerome Gibson vom „objektiven Raum“ und vom „erlebten Raum“ (Rora 2004, 24). Dabei geht sie prinzipiell von einem phänomenologischen Raumbegriff aus, der sich durch die Gesamtheit des Fühlens und Denkens konstituiert. Vgl. Rora 2004

274 Das gleiche gilt auch für die Zeiterfahrung, da die Klänge ihre jeweiligen Geschwindigkeiten besitzen und die ‚vulgäre Zeitlichkeit’ überschreiten. Diese auf den ersten Blick ‚mystisch’ andeutenden Raum- und Zeiterfahrungen gründen alle in der wissenschaftlich fundierten Prämisse, dass Töne über Frequenzen unterschiedliche Intensitätsgrade annehmen können. Die Räumlichkeit der Klänge in Ionisation wird auch durch die Verteilung der Instrumentalis-ten im Raum deutlich. Morris Goldenberg stellt einen ‚Besetzungsplan’ vor, in dem die Mu-siker weit voneinander entfernt sitzen sollen. Vgl. hierzu das Vorwort der Partitur von Ionisa-tion.

Bewährung · 237

Musikpädagogische Zugänge

Bislang hat sich die Musikpädagogik nur vereinzelt und unter spezifischen Sicht-

weisen mit der Musik von Varèse auseinandergesetzt.275 Der Grund hierfür liegt in

der vermeintlichen Annahme eines komplexen, schwer zugänglichen Kompositi-

onsverfahrens, das am ehesten in der Oberstufe zu vergleichenden Analysetechni-

ken herausfordert. In diesem Zusammenhang existieren folglich keine nennens-

werten Ansätze, die sich explizit mit der sinnlichen Dimension von Varèses Musik

auseinandersetzen.276 Im Mittelpunkt des Unterrichts steht eine Strukturanalyse,

die von dem Verlauf der Klangfarben- und Registermodulationen bestimmt ist.

In diesem Kontext ist es aufschlussreich, dass Varèse selbst konventionelle analy-

tische Zugriffe kritisierte, denn diese bedeuten „ein Werk verstümmeln, seinen

Geist zerstören“ (Varèse, zit. nach Wehmeyer 1977, 25). Die klanglichen Erfah-

rungsmöglichkeiten einer Komposition wie ‚Ionisation’ werden durch eine Struk-

turanalyse eingeschränkt, da räumlich-zeitliche Aspekte und Bezüge zur ‚Materia-

lität des Klanges’ unberücksichtigt bleiben.277 Grete Wehmeyer betont, dass die

Musik von Varèse zunächst auf die ‚Erschütterung der Ohren’ abzielt. „Wir haben

dagegen die Tendenz, Musik auf das einzuengen, was auf dem Papier ausgedrückt

ist – durch Symbole, die sehr unvollkommen und sehr willkürlich sind, nämlich

unsere“ (Wehmeyer 1977, 43).

Günther Wiedemann greift die skeptischen Bemerkungen von Varèse zur musika-

lischen Analyse auf und konzentriert sich auf eine ‚erlebnisorientierte Erarbei-

tung’ von Ionisation im Unterricht. Er kritisiert einen ‚verstehenden Zugang’ zur

Musik des 20. Jahrhunderts, der den Schülern durch Aneignen von musiktheoreti-

______________

275 Wilfried Gruhn hat sich bereits 1974 in einem grundlegenden Beitrag zur den Perspektiven der Musik Varèses beschäftigt. Obwohl seine assoziative Herangehensweise an das Verfahren der Ab- und Aufspaltung thematischer Gestalten der Vorstellung von Klangbewegungen sehr nahe kommt, ist sein Beitrag vor über dreißig Jahre erschienen und muss auch als histori-schen Dokument seiner Zeit verstanden werden. In aktuellen musikpädagogischen Veröffent-lichungen zur Neuen Musik finden sich kaum nenneswerte Artikel zu Varèse. Günther Wie-demann hat sich mit den Möglichkeiten einer Vermittlung von Ionisation im Unterricht aus-einandergesetzt. Sein Beitrag wird im Verlauf des Kapitels vorgestellt. Vgl. Gruhn 1974; Wiedemann 2001

276 Als Ausnahme im Bereich der Musikwissenschaft gelten die Arbeiten von Gruhn, Wehmeyer und de la Motte-Haber. Vgl. Gruhn 1974; Wehmeyer 1977; de la Motte-Haber 1993

277 Vgl. Wen-chung 1978

238 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

schen Fachwissens fremd erscheint. Dagegen soll „versucht werden, die Bereit-

schaft und Freude, sich auf unterschiedliche Erfahrungen, auf Neues einzulassen,

durch subjektive Betroffenheit zu fördern“ (Wiedemann 2001, 29). Eine ähnliche

erlebnisorientierte Annäherungsweise sieht auch Wehmeyer über ein ‚punktuelles

Hören’ gegeben. Der Hörer „wird sich von Schritt zu Schritt vom Raffinement der

Klangunterschiede der einzelnen Instrumente und ihrer Mischungen oder der reiz-

vollen stellenweise mitreißenden Rhythmik affizieren lassen. Das allein ist ein

großer Genuß, und das dürfte auch Varèses Intentionen nicht widersprechen“

(Wehmeyer 1977, 123).

Musikalische Erlebnisse sind für Wiedemann eng an den Bereich individueller

Wahrnehmungen geknüpft, um „sich hörend und gestaltend auf das Entdecken

von Klängen und Klangstrukturen situativ einzulassen und über individuelle wie

gemeinsame Erfahrungen zu diskutieren“ (Wiedemann 2001, 29). Allerdings

bleibt fraglich, wie und ob sich ästhetische Erfahrungen bei den Schülern einstel-

len und unter welcher thematischen Fragestellung sich ‚musikalische Erlebnisse’

vollziehen. Ferner ist es mehr als fraglich, ob sich ein Erlebnisaustausch über ein

Gespräch realisieren lässt, in dem „die Frage nach dem Bedeutungshintergrund

von Alltagsgeräuschen direkt zur zentralen Idee der ‚Befreiung des Klangs’ führt“

(Wiedemann 2001, 30). Wahrnehmungserlebnisse sind zudem schwierig zu for-

mulieren und entziehen sich durch ihre Subjektivität einer Verallgemeinerung.

Wiedemann konzipiert ein methodisches Raster, mit dem eine Erarbeitung von

Ionisation erfolgen kann. Unter Berücksichtigung von fünf Erfahrungsfeldern

‚Erleben’, ‚Gestalten’, Analysieren’, Recherchieren’ und ‚Reflektieren’ geht er

davon aus, dass „die Komposition vielfältige didaktische Perspektiven zu entfalten

vermag, die auf Möglichkeiten des Selbstlernens“ abzielen (Wiedemann 2001,

26).

Zunächst hören Schüler die Komposition, notieren ihre Gedanken und reflektieren

sie gemeinsam. Durch die Angabe des Titels entwerfen sie anschließend in Grup-

pen ein auf persönliche Erlebnisse zu beziehendes ‚Hörprotokoll’, das im Diskurs

ausgewertet wird. Die Bilder des Malers Lewin Alcopley, die unter dem Eindruck

von Ionisation entstanden sind, animieren die Schüler dazu, die skizzenhaften

Linien mit einem Instrument zu verklanglichen. Ihre Ergebnisse werden anschlie-

ßend mit der kompositorischen Lösung von Varèse verglichen. Das Erfahrungs-

feld ‚Analysieren’ führt ausgehend von einer selbständigen Analyse des Notentex-

Bewährung · 239

tes zu einer Diskussion über diverse musikwissenschaftliche Stellungnahmen zu

Ionisation.278 Im Anschluss an eine Internetrecherche erstellen die Schüler ein

‚Lernplakat’ zu Varèse, um in einer abschließenden Reflexionsphase die Erfah-

rungen und Einsichten zu bündeln und in einen größeren Zusammenhang zu stel-

len.

In der Skizzierung des methodischen Vorgehens von Wiedemann wird deutlich,

dass sein Grundanliegen eines ‚erlebnis- und erfahrungsoffenen Zugangs’ zu Ioni-

sation nur in Ansätzen gelingt. Vielmehr ist er darum bemüht, „eine Untersuchung

der musikalischen Faktur“ anzustreben, um „den Fragehorizont auf den Stellen-

wert und Erkenntnisgewinn analytischer Methoden problemorientiert auszuwei-

ten“ (Wiedemann 2001, 28). Obwohl sich Wiedemann auf Varèses skeptische

Einstellung zu Analyseverfahren beruft und neue Erfahrungsmöglichkeiten im

Unterricht thematisiert, konzipiert er einen ‚verstehenden Zugang’ zu einer Struk-

turanalyse, von der er sich ursprünglich distanzieren wollte. Die Aktualität und

Originalität verschiedener Methoden (Lernplakate, Internetrecherche) täuscht

nicht über den Sachverhalt hinweg, dass gerade der Aspekt der Materialität des

Klanges unberücksichtigt bleibt und sich die Erfahrungs- und Lernfelder ‚Analy-

sieren’, ‚Recherchieren’ und ‚Reflektieren’ stark auf eine theoretische Vermittlung

von Neuer Musik konzentrieren und Bereiche wie musikalische Gestaltungsarbeit

als Mittel zum Zweck betrachten. Ferner werden ästhetische Erfahrungen, die

z. B. im Ensemblespiel gewonnen werden, durch Reflexionen und Diskussionen

schnell verallgemeinert und terminologisch in ein verbindliches Raster eingefügt.

Im Hinblick auf die bisher geleisteten Vorüberlegungen und die Betonung des

Stellenwerts der Musik Varèses muss eine entscheidende veränderte Blickrichtung

eingenommen werden, die aus einer differenzierten Auffassung von ‚Klangbewe-

gung’ resultiert. Wenn Varèse naturwissenschaftliche Aspekte in Klangbewegun-

______________

278 Die ausgewählten Textauszüge stellen ‚konstruktive’ und ‚dekonstruktive’ Analyseverfahren dar. Während sich Grete Wehmeyer oder Hildegard Krützfeld-Junker auf ein ‚Musiksystem’ beziehen, repräsentieren J. Cage und M. Feldman nach Wiedemann nicht-europäische Per-spektiven, die eine festelegte musikalische Syntax negieren. Zu hinterfragen bleibt, ob eine solche Gegenüberstellung verallgemeinerungsfähig ist. Sie verleitet zu ‚Vorurteilen’ oder ‚ideologischen Prämissen’, da die Musikwissenschaft eines ‚teleologischen Musikgeschichts-denkens’ bezichtigt wird, während sich Komponisten der Neuen Musik auf die Ablehnung der europäischen Musiktradition berufen. Vgl. Wehmeyer 1977; Krützfeld-Junker 1986

240 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

gen übersetzt und hierbei die Anziehungs- und Abstoßungsmechanismen ionisie-

render Prozesse hinzuzieht, dann liegt neben einer Neubestimmung der menschli-

chen Wahrnehmung auch, und das ist entscheidend, die Etablierung neuer Bewe-

gungserfahrungen zu Grunde. Die Möglichkeit, die Entstehung einer ‚Zellkern-

form’ in Musik zu übertragen, findet Varèse in der Bewegung von Klangkörpern.

Er bezieht sich dabei auf „Anschaubares, auf Bewegung, frei gesagt auf

Choreographie“ (Wehmeyer 1977, 124).

Für den Unterricht bedeutet dies, dass unter Klangbewegung immer auch Körper-

bewegung zu verstehen ist, so dass der Mensch innerhalb seiner musikalischen

Expressivität, also in seiner unmittelbaren Fähigkeit, sich auszudrücken, bedeut-

sam wird. Unter dieser Blickrichtung erhält besonders das Werk Ionisation einen

neuen Stellenwert für eine Erarbeitung im Unterricht. Obwohl ein rein program-

matischer Bezug zum Titel nicht im Sinne Varèses liegt, eignet sich jedoch der

physikalische Aspekt des Aufeinanderstoßens und Abprallens als fundamentale

Bezugnahme für die musikpädagogische Praxis, da hier bildlich-assoziative und

motorische Umsetzungsmöglichkeiten vorgegeben sind.

Der Grundgedanke, dass Klangbewegung immer auch als Körperbewegung zu

verstehen ist, lässt sich in Form einer unterrichtlichen Erarbeitung unter vier me-

thodischen Ansatzpunkten veranschaulichen, die sich alle auf die gleiche didakti-

sche Zielsetzung fokussieren: Die Musik von Varèse besitzt das Potenzial, zwi-

schen Erlebnis und Konstruktion mit allen Sinnen erfahren zu werden.

Die im Folgenden näher explizierten vier Ausgangspunkte lauten ‚Klangwahr-

nehmungen’, ‚Klangbilder/Klangcollagen’, ‚Klanginstallationen’ und ‚Klangtän-

ze’.

Klangwahrnehmungen

Unter Klangwahrnehmung wird die Arbeit mit der Spürbarkeit und Bewegbarkeit

von Klängen verstanden. Durch vielfältige Experimente mit Alltagsgegenständen

oder Instrumenten werden die Schüler für deren unterschiedliche Intensität sensi-

bilisiert. Ausgehend von Aktionen mit Klängen zum Feld ‚Lärm und Stille’ erfah-

ren sie deren physische Intensität und räumliche Wirkung.

Zunächst wird in elementaren Wahrnehmungsübungen die Bewegung von Klän-

gen aufgegriffen. Die Schüler verteilen sich im Raum und erzeugen laute und leise

Klänge auf diversen Instrumenten und Alltagsgegenständen, so dass ein Klangnetz

aus unterschiedlichen Dichtegraden entsteht. Wichtig ist, dass die Schüler auf ihre

Bewährung · 241

Eigenwahrnehmung achten aber auch gemeinsam auf die Veränderungen achten

und aufeinander reagieren. So entstehen Klangnetze aus unterschiedlichen dyna-

mischen Abstufungen. In der Erarbeitung sollte zwischen rhythmischen und flä-

chigen Klängen unterschieden werden, um im Laufe der Übungen verschiedene

Schichten zu entwickeln, die sich überlagern. Im Rahmen der Überleitung zum

zentralen Kompositionsprinzip der ‚Kristallisation’ entwickelt sich aus einer

rhythmischen Keimzelle zum Thema des An- und Abstoßens eine kleine dyna-

misch-rhythmische Improvisation.

Für die elementaren Übungen ist Vertrautheit innerhalb der Lerngruppe eine we-

sentliche Voraussetzung, da die Auseinandersetzung mit der Eigenwahrnehmung

die Überwindung von Hemmschwellen verlangt. Die Aufgabe des Lehrers liegt

darin, auf die Verflechtung von Hören und Spüren aufmerksam zu machen, um

auf die ambivalenten Erscheinungsweisen von Klängen in Ionsiation vorzuberei-

ten. In der ganzen Erarbeitung spielt die Interkorporalität eine entscheidende Rol-

le, da hörend und wahrnehmend auf den Anderen reagiert wird und sich die Vor-

gänge des Produzierens, Hörens und Spürens überschneiden. Die Klänge werden

folglich unter dem Aspekt erzeugt, wie sie auf die Mitspieler wirken und nicht

nur, wie sie klingen.

Klangbilder/Klangcollagen

Der zweite Ausgangspunkt ‚Klangbilder/Klangcollagen’ setzt sich mit malerisch-

gestalterischen Zugangsweisen zu Ionisation auseinander. Die Bilder des Malers

Lewin Alcopley, die während verschiedener Aufführungen von ‚Ionisation‘ im

Konzertsaal entstanden sind, bieten eine Grundlage, um die Klangbewegungen in

Körperbewegungen umzusetzen.279 Seine ‚drawn recordings’, die oftmals nur aus

wenigen Linien und Kreisen bestehen, lassen sich als ‚gezeichnetes Echo der

Töne’ parallel zur Musik in Bewegung umsetzen. Varèses Vorstellung von Musik

als „Bewegung im Raum“ oder als „Verkörperlichung von Klängen“ wird also

wörtlich genommen.

Alcopleys Bilder geben für eine tänzerische Umsetzung von Ionisation entschei-

dende visuelle Impulse, da sie die ionisierenden An- und Abstoßungsprozesse

verbildlichen. Dabei wird der exakt in der Partitur zu ermittelnde zeitliche Ablauf ______________

279 Der deutsch-amerikanische Naturwissenschaftler Alfred L. Copley (1910-1992) lebte seit 1937 als Maler unter dem Pseudonym Lewin Alcopley in New York und war ein Freund von Varèse.

242 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

relativiert. In der choreographischen Umsetzung der ‚drawn recordings’ werden

auch individuelle Raum- und Zeiterfahrungen aufgegriffen, und die Lerngruppe

wird für expressive Wahrnehmungsweisen sensibilisiert. Um auch Schüler mit

Hemmungen und Abneigungen gegenüber Bewegungsgestaltungen mit einzube-

ziehen, wird die Umsetzung der Zeichnungen unter einem thematischen Motto wie

‚Anstoßung-Abstoßung’ oder ‚Nähe-Ferne’ erprobt. Ausgehend von diesen Bewe-

gungen werden anschließend in Kleingruppen ähnliche Skizzen angefertigt und

zur Musik von Ionisation aufgeführt.

Varèses Technik, seine Partituren zu überkleben und auseinander zu schneiden,

bis schließlich eine Collage aus Kompositionsfragmenten entsteht, lässt sich auch

für den Musikunterricht konkretisieren. Die Schüler erhalten Partiturkopien, die

sie hinsichtlich der Entwicklung rhythmischer Keimzellen, dynamischer Effekte

und flächiger/punktueller Klänge untersuchen. Im Sinne einer Collage werden die

jeweiligen Partiturstellen ausgeschnitten und in Form eines Bildes aneinanderge-

klebt. Über eine Materialsammlung wird so den Schülern der Kompositionsvor-

gang nähergebracht, die Verwandlung motivischer Keimzellen verdeutlicht und

auf die physische Materialität der Musik aufmerksam gemacht. Dabei können die

Partiturfetzen auch mit anderem Material (Filz, Klammern, Schrauben, Nägel)

kombiniert werden, so dass letztlich eine mehrdimensionale Skulptur entsteht. Im

Zentrum stehen die Tätigkeiten und Geräusche des Hämmerns, Schneidens, Rei-

ßens, Klebens und Klammerns, die über Mikrophone aufgenommen werden und

wiederum einen eigenständiger Teilbereich der Klangproduktion bilden. Das End-

produkt ist folglich eine mehrdimensionale optisch-akustische Collage, welche die

Materialität der Musik von Varèse widerspiegelt. Im Rahmen einer Ausstellung

werden die einzelnen Produkte dabei zunächst mit den eigenen Geräuschen ihrer

Entstehung und anschließend mit der Musik von Ionisation präsentiert.

Klanginstallation

Die Arbeit mit Collagen lässt sich in Form der Gestaltung von Klanginstallationen

weiter ausarbeiten. Im Bereich der Klangkunst versteht man hierunter die „(Wie-

der-)Entdeckung der Räumlichkeit des Klanges“ mit dem Ziel, „räumliche Aspek-

te von akustischen Vorgängen zu verfolgen“ (Sanio 1999, 107). Zu jeder Klangin-

stallation gehört eine räumliche Anordnung von Schallquellen, so dass der Raum

selbst zur ästhetischen Basis erklärt wird und folglich der Hörer/Betrachter in das

klanglich-visuelle Geschehen mit einbezogen wird. Der Raum der Rezeption fällt

Bewährung · 243

also mit den musikalischen und visuellen Aktionen zusammen. Zwei verschiedene

Arten von Klanginstallationen lassen sich unterscheiden. Während ‚Klangenviro-

ments’ den Raum und darin vorkommende Gegenstände in den kompositorischen

Prozess mit einbeziehen und von einem sich bewegenden Rezipienten ausgehen,

besitzen ‚Klangskulpturen’ eine eigene Klanglichkeit und gehen oftmals von ei-

nem exakt markierten Platz des Rezipienten aus.

Die konzeptionellen Ideen der Klanginstallationen lassen sich auch im Musikun-

terricht umsetzen, indem z. B. ein ‚Klangparcours’ (Enviroment) oder eine

‚Klangliege’ (Skulptur) entworfen wird. Durch die damit verbundene Aufhebung

einer zentralen Raumperspektive und die sich bewegenden Klänge ergeben sich

Querverweise zu Ionisation.280

In einem ‚Klangparcours’ werden zunächst an verschiedenen Positionen und Hö-

hen in einem abgegrenzten Raum unterschiedlich klingende Alltagsgegenstände

befestigt. Mehrere Schüler bewegen sich mit verbundenen Augen in unterschiedli-

cher Geschwindigkeit und werden mit ihren Körpern unerwartet an Gegenstände

stoßen und Klänge erzeugen. Diese durch Eigenbewegung erzeugten Klangbewe-

gungen legen auf symbolischer Ebene Bezüge zum physikalischen Prozess des

Anziehens und Abstoßens von ionisierenden Prozessen nahe und ermöglichen die

Entstehung eines Klanggebildes, das wie die Kristallisation keinem vorgefertigten

Formgesetz gehorcht.

Eine ‚Klangliege’ ist eine Art Gestell, auf das sich der Hörer hinlegt und auf die

ihn umgebenden Klänge lauscht. Bernhard Leitners ‚Tonliege’ ist so konzipiert,

dass aus den in der Liege verborgenen Lautsprechern zu unterschiedlichen Zeiten

Klänge erklingen und über den Körper des Hörers wandern.281 Diese Grundidee

lässt sich auch im Musikunterricht unter Bezugnahme auf Ionisation umsetzen.

Während ein Schüler mit geschlossenen Augen auf dem Boden liegt, stellen sich

mehrere Mitschüler mit Instrumenten um ihn herum und spielen in abwechselnden

Zeitintervallen und in unterschiedlicher Lautstärke und Intensität verschiedene

______________

280 Ionisation kann als eine der ersten Klanginstallationen gesehen werden. In der Materialität des Klanges liegt eine Basis für die Entstehung der Klangkunst begründet. Vgl. auch Sanio 1999, 70 ff.

281 Vgl. Sanio 1999, 106

244 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Klangaktionen, die sich überlagern.282 Ausgehend von diesen elementaren

Wahrnehmungserlebnissen bietet es sich an, je nach Leistungstand der Klasse,

kurze rhythmische Keimzellen oder dynamische Figurationen aus Ionisation

untereinander aufzuteilen und zu realisieren.

Klangtänze

Tanzen ist die elementarste und intensivste Zugangsmöglichkeit, um Ionisation

spürbar zu erfahren. Obwohl hier deutliche Bezüge zu den ‚Klangfarben’ gegeben

sind, verzichtet diese Aneignungsmöglichkeit im Gegensatz zu den drei vorigen

Ausgangspunkten auf Verweise zur Eigenwahrnehmung, Malerei oder Klang-

kunst. Sie sucht vielmehr die expressive ‚Konfrontation’ mit Ionisation durch den

freien Improvisationstanz, um die Klangbewegung über Körperbewegung darzu-

stellen. Diese Annäherung besitzt für eine schulische Realisation nahezu utopi-

sches Potenzial und kann nur durch eine Lerngruppe erfolgen, die gerade im

Tanzbereich, v. a. im Ausdruckstanz, Erfahrungen gesammelt hat. Dennoch sei

gerade für eine Behandlung von Ionisation in der Unterstufe auf diese direkte und

sinnliche Aneignung hingewiesen. Als Einstieg bietet sich die tänzerische Umset-

zung dynamischer Effekte an. Darauf aufbauend ergeben sich anschließend Dar-

stellungen zum Bereich ‚Rhythmus’. Für die Realisation von Klangbewegung

eröffnet sich die Arbeit mit einem Partner, um Entfernungen anzudeuten. Hierbei

lassen sich auch die physikalischen Bezüge aufgreifen und ‚szenisch’ darstellen.

Die Erarbeitung erfolgt improvisatorisch unter mehrmaligem Wiederholen einzel-

ner musikalischer Sequenzen, so dass die musikalische Bewegung in die Körper-

bewegung übergeht. In der ganzen Gestaltung ist darauf zu achten, Regeln und

choreographische Bezüge ‚auszuklammern’, um das ‚Klänge-Sein’ und ‚Klang-

raum-Sein’ hervorzuheben.

Die Darstellung der vier Ausgangspositionen geht von der Prämisse der Leiblich-

keit aus, dass Hör- und physische Wahrnehmungseindrücke eine nicht zu trennen-

de Einheit bilden. Die vier Ansätze verdeutlichen gerade in Bezug auf die Musik

von Varèse, dass ästhetische Erfahrungen immer auch ästhetische Wahrnehmun-

gen sind, die direkt bei dem Rezipienten als sinnlich-leibliches Subjekt ‚ansetzen’. ______________

282 Die gleiche Aktion kann auch mit technischen Geräten realisiert werden, die um den Liegen-den herum positioniert werden. Auf ihnen werden Klänge aufgenommen, die zu unterschied-lichen Zeiten erklingen.

Bewährung · 245

Im Zentrum steht weniger das ‚Primat des Gehörs’, als vielmehr das ‚Primat des

Spürens und Wahrnehmens’. Die in allen vier Ausgangspunkten angelegte Ver-

flechtung von Handeln, Hören und Wahrnehmen geschieht ohne Verweise auf die

formale Anlage der Komposition. Dieser Ansatz resultiert, wie bereits am Beginn

des Kapitels dargestellt wurde, aus Varèses eigener skeptischer Haltung zur Mu-

sikanalyse, aber auch in der Auffassung, dass seine Musik eine ‚spürbare Form’

besitzt, die anstatt verbalisiert vielmehr interkorporal erfahren wird. Ionisation

verdeutlicht, dass Neue Musik eine Neue Wahrnehmung mit allen Sinnen begrün-

det.283 Der Ansatz geht davon aus, dass sich die Erlebnisse nicht als Ergebnisse

formulieren und sich zentrale Merkmale der Partitur nicht erkennen oder verall-

gemeinern lassen. Der Körper besitzt im Rahmen der Qualitäten der Leiblichkeit

eigene Verstehenspotenziale, die hörend und spürend ihre jeweilige Gültigkeit

beanspruchen. So, wie sich in den Prozessen der Kristallisation die Form erst im

Nachhinein zeigt, wird auch in der hier vorgestellten Thematisierung von Ionisati-

on im Unterricht davon ausgegangen, dass es keine vorgefertigten Verstehensmus-

ter gibt. Die Übung im intuitiven sinnlichen Begreifen von Form ist immer auch

Verstehen von Form und demnach ein zentrales musikpädagogisches Lernziel.

Diese hier dargestellten Ausgangspositionen gehen von der Prämisse aus, dass

Erlebnis und Konstruktion, Wahrnehmen und Verstehen ganz im Sinne der

‚aisthesis’ gleichursprünglich fundiert erscheinen und erst auf der Basis der Quali-

täten der Leiblichkeit ihre Verankerung in der Musikpädagogik erhalten.

2.2.2 Schnebel: Musik aus Organbewegungen

Ein Zentrum der Kompositionen von Dieter Schnebel bildet die systematische

Erforschung der Stimme einschließlich der dazugehörigen Geräusche. Vor allem

seine ‚Maulwerke’ oder die ‚Glossolalie’ sind musikalische Experimentierfelder,

die den traditionellen Bereich des ‚Gesangs’ verlassen, um die körperlich-

expressive Tätigkeit der Stimmproduktion hervorzuheben.284 Der Interpret wird

zur kreativen Auseinandersetzung mit den Potenzialen und Grenzen seiner eige-

nen Klanglichkeit aufgefordert. Der Begriff Stimme wird von Schnebel in einem

weiten Sinn verwendet und bedeutet sowohl die Beschäftigung mit Klingendem

als auch mit der Art und Weise, wie und von wem das Klingende produziert wird.

______________

283 Vgl. Kap. V.2.1.1 284 Vgl. Glossolalie 61. Musik für Sprecher und Instrumentalisten (= Projekte IV) (1960-1961);

Maulwerke für Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte (=Produktionsprozesse) (1968-1974)

246 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Es gilt die ganze Spannbreite und Vielfalt dieses Wechselverhältnisses zu erpro-

ben.

Als weiteres zentrales ‚Forschungsgebiet’ treten Körperklänge bzw. Klänge von

Bewegungen hinzu, die z. B. während des Instrumentalspiels entstehen. Ähnlich

wie die Stimme sind sie niemals Selbstzweck im Sinne einer Reproduzierbarkeit

technisch-mechanischer Abläufe, sondern eröffnen dem Interpreten neue Aus-

druckspotenziale.

Sprache und Bewegung werden aufgrund ihrer elementaren Verbundenheit zum

menschlichen Körper gleichwertig behandelt, um die musikalischen Tätigkeiten

und die damit verbundene grundlegende Sichtbarkeit von Musik hervorzuheben.

Aus der Symbiose von Stimm- und Körperklängen resultiert ein experimentelles

Musiktheater auf der Basis der ‚Erforschung’ der Klanglichkeit des eigenen Kör-

pers.

Eine erste Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Musik und Bewegung

findet sich bereits in Schnebels Klavierausbildung bei Hans von Besele. In dessen

Unterricht wurde großer Wert auf ‚Fingertechnik’ gelegt, wie z. B. die Cortot-

Übungen, in denen ‚überflüssige’ Bewegungen, die den Spielfluss hemmen, zu

vermeiden sind. Die größtmögliche Effizienz wird durch systematisches Training

der Unabhängigkeit einzelner Finger erzielt. Die Übungen konzentrieren sich nicht

wie üblich auf Geschwindigkeit und Geläufigkeit, sondern auf die bewusste Be-

obachtung und Kontrolle von Bewegungen.

Ich glaube, dieser gestische Ansatz hat sich später auf mein Komponieren,

etwa von ‚visible music’, ausgewirkt (Schnebel 1959, 102).285

‚Visible music’ ist ein dreiteiliger Zyklus, der aus einer primär ‚sichtbaren Musik’

von Gesten und Klängen besteht. In den einzelnen Teilen thematisiert Schnebel

das Verhältnis zwischen Dirigent und Interpret auf der Bühne (visible music I), ein

Solo eines Dirigenten ohne Orchester (visible muic II) sowie die Spielbewegungen

eines Pianisten (visible music III). In den oftmals stummen Stücken dient der Mu-

siziervorgang weniger zur Tonerzeugung als vielmehr zur Entstehung szenischer

Ereignisse.

______________

285 Bereits 1955 behandelte Schnebel in seiner Dissertation ‚Studien zur Dynamik Schönbergs’ ausführlich den Begriff der Geste. Vgl. von Besele 1955

Bewährung · 247

In ‚réactions’ (1960-62) wird auch das Publikum als eigenständige sichtbare und

hörbare Klangquelle in die Aufführung mit einbezogen.286 Die zu erwartenden

Reaktionen der Zuhörer/Zuschauer werden durch Zeit-, Tonhöhen- und Lautstär-

kevorschriften festgelegt und Stimmungen, wie z. B. langweilig, interessant und

schockierend, in die Partitur integriert. Schnebel geht es hierbei um eine Kritik am

Künstlertum und an den Ritualen der Konzertbesucher. Der Musiker ist demnach

zur virtuosen Interpretationsmaschine geworden, und das Publikum hat das Inte-

resse für den ‚Menschen auf der Bühne’ verloren. Dieser sozialkritische Ansatz

sowie das Interesse an der körperlichen Hervorbringung von Klängen basiert auf

einer intensiven Auseinandersetzung mit der ‚Fluxusbewegung’ sowie den Kom-

positionsprinzipien von Cage. Während ‚Fluxus’ die Darstellung künstlerischer

Prozesse als Aktionskunst deklarierte, vollzog Cage in seiner Definition von ‚Mu-

sik als Leben‘ eine Integration alltäglicher Handlungen und umweltlicher Geräu-

sche in die musikalisch- künstlerische Gestaltung.287

Im Folgenden wird unter Bezugnahme auf verschiedene Kompositionen Schnebels

eine Übersicht über dessen ‚Bewegungsmodelle’ gegeben, die sich in sechs ver-

schiedene ‚Typen’ zusammenfassen lassen und gleichsam chronologisch die Ent-

wicklung seiner Kompositionsästhetik widerspiegeln. Ausgehend von einer fun-

damentalen Unterscheidung zwischen unsichtbarer, sichtbar gemachter oder sicht-

barer Bewegungsmusik findet sich Leiblichkeit zwischen funktionalen und ex-

pressiven Produktionsprozessen, in denen das darstellende Subjekt in seiner eige-

nen Sichtbarkeit, Klanglichkeit und Expressivität zum zentralen Bestandteil der

künstlerischen Aufführung wird.

I. Unsichtbare Klangbewegungen im Raum

Unter unsichtbaren Klängen im Raum wird die bewusste Wahrnehmung von sich

im Raum bewegenden Klängen verstanden. Der Rezipient konzentriert sich auf

seine sinnliche Wahrnehmung und differenziert hörend und sehend zwischen ______________

286 Vgl. réactions. (Konzert) für 1 Instrumentalisten und Publikum (= Abfälle 11) (1960-1962) 287 Ein von Schnebel zwischen 1956 und 1957 verfasster umfangreicher Essay über die Aufhe-

bung von Kontinuität in der Neuen Musik sieht in Stockhausens ‚Kontra-Punkte’ einen Auf-bruch in ein neues Zeitempfinden. Diese als „Morphologie der musikalischen Zeit“ (Schnebel 1972, 213) bestimmte Form der Simultaneität findet sich in der Kritik an seriellen Komposi-tionstechniken und in einer Adaption von Varèses Vorstellungen von Form als Kristallisation. Vgl. Schnebel 1972, 223

248 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

unterschiedlichen Produktionen, durch die Klänge entstehen. Der Terminus ‚un-

sichtbare Bewegung‘ beinhaltet keinen Widerspruch, sondern verweist auf die sich

im Raum verändernden Klänge. Natürlich werden diese Klänge erzeugt und sind

somit an eine sichtbare Hervorbringung seitens der Musiker gebunden. Ähnlich

wie Varèses Vorstellungen von wandelnden Klängen im Raum entsteht eine Mu-

sik, die den Klang von seiner Gebundenheit an einen festgelegten Produktionsort

befreit. Die Akustik des Raumes wird über richtungsändernde Bewegungen

des/der Instrumentalisten in die musikalische Gestaltung integriert.

Musik wird über den Raum verteilt, ziemlich gleichmäßig, aber doch […]

variabel, so daß immer neue […] Gestalten gebildet werden können […]

(Schnebel, zit. nach Nauck 2001, 93).

Eine zentrale Komposition, die ausschlaggebend und richtungweisend für Schne-

bels Verständnis von Bewegung wurde, ist das Oktett ‚raum-zeit y’ (1959/61).288

Bis zu 90 Grad drehbare Stühle, an deren Rückseite große Spiegel zur Klangbün-

delung angebracht sind, dienen dazu, über festgelegte Aktionen durch Zu- oder

Abwendung der Musiker eine räumliche Polyphonie zu erzeugen. Der Schwer-

punkt liegt auf der hörbaren Bewegungsveränderung von Klängen im Raum, die

wie in ‚Ionisation‘ spürbar erfahren werden.289 Ähnlich wie in einer Klanginstalla-

tion wird der Raum zur kompositorischen Ausgangsbasis, in dem durch zielge-

richtetes Lauschen die Entstehungsorte der Klangfelder körperlich erfahren wer-

den.

Ein Verständnis vom ‚musikalischen Raum’ verlangt vom Rezipienten, herkömm-

liche Hörmuster aufzugeben und die jeweilige Nähe und Ferne des Klangs sowie

die zeitliche Dimension der Klangerzeugung bewusst wahrzunehmen. Durch die

Hervorhebung des Raumes als Bedingung der Möglichkeit von Musik erhält auch

die Sichtbarkeit und das Beobachten der Bewegungen der Musiker einen neuen

Stellenwert. Folglich wird die Eigenwahrnehmung aufgewertet und die physische

Präsenz des ‚Hörens am Ort’ sowie die innere Teilnahme am musikalischen Ent-

stehungsprozess entfaltet.

______________

288 raum-zeit y für eine unbestimmte Anzahl von Instrumenten, die Töne und Geräusche erzeu-gen und mobil sind (= Projekte I) (1959/61)

289 In Anlehnung an das Modell des Koordinatensystems repräsentiert der im Titel vorkommen-de Buchstabe y die Raumkonstante. In Bezug zur Zeitkonstante x will Schnebel hiermit die gleichwertige Behandlung von Raum und Zeit ausdrücken.

Bewährung · 249

II. Sichtbar gemachte Bewegungsmusik der inneren Organe als Lautprozesse

In den ‚Maulwerken’ nimmt Schnebel die menschliche Physis als Ausgangsbasis,

um Laute durch Sprache zu erzeugen und „Möglichkeiten und Grenzen stimmli-

cher Klang- bzw. Lauterzeugungsvorgänge“ auszuloten (Nimczik 2001, 60).290 In

diesen Vokalkompositionen dienen die im Körperinneren gelegenen oder kaum

sichtbaren Organe zur Hervorbringung von Klängen (z. B. Zwerchfell, Brustkorb,

Stimmlippen, Zäpfchen, Zunge, Gurgel, Lunge, Mundraum und Lippe). Sie sind

somit die Instrumente bzw. Instrumentalisten. Diese „Organe werden zu den ei-

gentlichen Ausführenden: sie sind das einzige, was sich in dieser Komposition

bewegt“ (Schnebel 1972, 458). Die Darstellung von Gesten und anderen körperli-

chen Bewegungen soll möglichst vermieden werden, weil so die expressiven Aus-

drucksmöglichkeiten der Sprache eingeschränkt werden. Bewegung bedeutet

demnach Artikulation durch Einfühlung in die Produktionsprozesse, die zur Laut-

erzeugung nötig sind. Die in dem Werk enthaltenen vier Schichten ‚Atemzüge’,

‚Kehlkopfspannungen & Gurgelrollen’, ‚Mundstücke’, ‚Zungenschläge & Lippen-

spiel’ beziehen sich also einzig auf kaum sichtbare Tätigkeiten der Stimmorgane.

Erste Übungen in beliebig gestaltbarer Reihenfolge dienen dazu, in Form von

‚Exerzitien’ verschiedene körperliche Tätigkeiten bewusst zu machen, um die

dabei gewonnenen Erfahrungen zu systematisieren und die Kreativität der Inter-

preten anzuregen. In der Partitur werden unterschiedliche Aktionen des Stimmap-

parats, wie Atmen, Kehlkopfspannungen, Stimmbandaktivierungen oder Stellun-

gen der Mund- und Rachenräume in Form einer eigenständigen grafischen Notati-

onsweise vorgegeben.

Außerdem werden verschiedene Vorschläge zur Klangerzeugung auf ‚Materialta-

feln’ vorgestellt, welche die Handlungen während der Stimmaktionen festhal-

______________

290 Auch G. Rühm, E. Jandl und M. Kagel experimentierten in den Sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit neuen Ausdrucksformen des Sprachklangs. Die von Adorno diagnostizierte ‚Entfesselung des Materials’ überträgt sich also auch auf eine ‚Entfesselung der Sprache’. Die Expressivität des Sprachprozesses ist um zwischenmenschliche Kommunikation bemüht und verweigert sich der Entfremdung und Verdinglichung der Sprache. In der Musik erhält das Sprechen eine enorme Aufwertung durch die Einbeziehung von Geräuschen. Das alltägliche Verstehen von Lauten als ein zu dechiffrierendes System von Symbolen wird speziell bei Schnebel in das Verstehen von Produktionsprozessen der Organe umgedeutet, die sonst nur als Mittel zum Sprechen dienen.

250 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

ten.291 In der Kombination von ‚Exerzitien’ entstehen auf einer zweiten Ebene

‚Produktionen’, die den Interpreten mögliche grafisch oder verbal-verfasste Form-

verläufe vorgeben. Auf einer dritten Stufe ergeben sich ‚Kommunikativa’, die

über das erarbeitete klangliche Material hinweg Verhaltensmuster und kommuni-

kative Prozesse in die Gestaltung integrieren, um „Kontakte aufzunehmen, das

Erzeugte mitzuteilen, andere Artikulationsprozesse zu beeinflussen oder ihnen zu

antworten“ (Schnebel 1972, 458). Auf einer abschließenden synthetisierenden

Ebene kann aus den ‚Produktionen‘ und ‚Kommunikativa‘ eine Aufführung ent-

stehen, welche über Videoinstallationen, Verstärker und Mikrophone (‚Reproduk-

tionsgeräte‘) die Bewegungen der Stimmorgane auf Leinwände projiziert und dem

Zuschauer/Zuhörer die Hervorbringung der Lautbildung (‚Artikulationsorgane‘)

veranschaulicht. Drei bis acht Vokalisten werden dabei auf Stühlen oder Liegeflä-

chen im Aufführungsraum verteilt und von Scheinwerfern so beleuchtet, dass nur

die Artikulationsorgane sichtbar sind.

Aufgrund der konzeptionellen Freiheit des Werks ist eine abschließende Auffüh-

rung nicht zwingend erforderlich, da die Komposition die individuellen Erfahrun-

gen mit Sprachwerkzeugen hervorhebt. Die ‚Offenheit’ des Werks legt zudem die

Gestaltung in die Hände der Auszuführenden, die sich für neue Formverläufe

individuell entscheiden können. Die Aufhebung einer getreuen Umsetzung des

Notentextes oder einer rein improvisierten Musik verlangt nach einem neuen Ver-

ständnis von Interpretation und nach neuen Einsatzmöglichkeiten physiologischer

Voraussetzungen, da das musikalische Material nicht formgerecht vorgefunden

wird, sondern erst durch die psychische Disposition während der Lauterzeugung

entdeckt werden soll.

Die spezifische Klanglichkeit der ‚Maulwerke’ wirkt zunächst spröde, da die phy-

siologischen Aspekte der Lauterzeugung thematisiert werden. Dennoch liegt der

Reiz gerade im Erlauschen der alltäglichen Sprachklänge. Die ästhetische Fundie-

rung der eigenen Sprachpotenziale und Sprachgrenzen eröffnet auch eine Reflexi-

on über das eigene Sprachverhalten und das damit verbundene expressive Aus-

drucksvermögen. An Stelle der disziplinierten Reproduktion absoluten Materials

tritt somit ein kreatives, engagiertes und ausdrucksvolles Ausgestalten der eigenen

Stimme.

______________

291 Mit dieser Notationsform greift Schnebel einerseits auf experimentelle Aufzeichnungsformen zurück, die er schon 1959 in den Materialpräparationen zur ‚Glossolalie’ verwendete, und benutzt andererseits bildliche Beschreibungen aus physiologischen und phonetischen Lehrbü-chern, welche die Organbewegungen verdeutlichen.

Bewährung · 251

In den ‚Maulwerken’ wird die kreative Sprachgestaltung mit den archaischen

formlosen Momenten des Sprachmaterials und den existenziellen Ausdrucksmög-

lichkeiten des Geräusches kombiniert. Aus diesen Vorstufen eines artikulierten

Sprechens resultiert eine ‚Klangschicht’, die eine unmittelbare Energie menschli-

chen Ausdrucksvermögens freisetzt.292 Dieser Rückgang auf die Sprachursprünge

verbindet im Atmen, Hecheln, Summen, Girren, Schnalzen etc. sowohl eine phy-

sische Produktion als auch die expressiven Ausdrücke des Ausführenden. Ein

gesprochenes Wort mit verschlossenem Mund soll z. B. wie der Gefühlszustand

eines zurückgezogenes Ichs erklingen, während ein weit aufgerissener Mund ag-

gressive Klänge, Qual oder Begeisterung verkörpern kann.293 In all diesen

„Vorbereitungen aufs artikulierte Sprechen, Singen und Rufen steckt ja die

individuellste Schicht aus Emotion und Affekt“ (Dibelius 1998, 495). In der

Ausblendung eines spezifisch semantischen Kontextes werden die Tätigkeiten

selber Kern der musikalischen Gestaltung. In den ‚Maulwerken’ wird letztlich die

„korporale Produktion der Stimme“ (Schnebel 1972, 455) in einen offenen

musikalischen Gestaltungshorizont integriert. Demzufolge versteht sich das Werk

auch als Musiktheater, in dem Sprachproduktionen immer schon leiblich fundiert

und mitgegenwärtig erscheinen.

III. Sichtbare Bewegungen im instrumentalen Aufführungsprozess

Während in den ‚Maulwerken‘ die Klanglichkeit der Sprache sowie die inneren

Bewegungen der Sprachorgane musikalisch erprobt werden, bildet ‚Handwerke-

Blaswerke’ (1977) das entsprechende Pendant aus dem Bereich der ‚Instrumen-

talmusik‘.294 Die äußerlich sichtbaren Bewegungen der Arme und Beine werden

als Bestandteile der Klangerzeugung angesehen. Neben rein musikalischen Vor-

schriften zur Lautstärke, zur Rhythmik, zum Tempo und zur Tonhöhe finden sich

auch differenzierte Aktionsweisen, um neue Spieltechniken und damit verbundene

Klänge zu entwickeln. Hierzu gehören auch kleinere Gesten wie das Greifen ein-

zelner Finger auf dem Instrument oder Formen der Atmung während der Toner-

______________

292 In anderen Werken dient Sprache als Bestandteil des Musiktheaters entweder zur Integration von Phonemen in einen semantischen Satzzusammenhang (go-o-u-t = Gott), wie im Chor-stück ‚dt 31.6’, oder als emotionaler Ausbruch (zittern, flüstern) und rhythmisches Modell in ‚amn’ (aus: Für Stimmen [... missa est]).

293 Vgl. Schnebel 1972, 456 294 Handwerke-Blaswerke I für Spielorgane, 3 oder mehr Ausführende mit archaischen und

exotischen Instrumenten (=Produktionsprozesse) (1977)

252 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

zeugung. Um den Interpreten möglichst viel Freiraum zur individuellen Gestal-

tung zu geben, bleibt die Wahl traditioneller oder exotischer Musikinstrumente

dem Musiker selbst überlassen.

In ‚Handwerke-Blaswerke’ liegt ein Schwerpunkt auf der instrumentalen Tätigkeit

im Sinne der Bewegungen während der Klangerzeugung. Der Bereich des Hörens

von Klängen wird um ein Hören (und Sehen) der Produktion erweitert. Das Er-

klingen von Musik wird zur ‚Begleiterscheinung’, die dem eigentlichen Produkti-

onsprozess folgt.

Schnebel gibt den Interpreten zu verstehen, dass ein Werk erst durch die Voraus-

setzung der ‚Hand- und Blaswerke’, also den Körpertätigkeiten, realisiert werden

kann. Das erklingende Produkt steht nicht im Mittelpunkt der Aufführung. Viel-

mehr werden die ästhetischen Erfahrungen während des Instrumentalspiels abseits

eines am Hören geschulten Verstehens hervorgehoben.

IV. Musiktheater als sichtbare Hervorbringung von Musik

Die 1965 entstandene Komposition ‚anschläge-ausschläge’ ist als ‚Schaustück’

angelegt.295 Der Schwerpunkt liegt auf dem Verhältnis von Musik und Theater und

verlangt vom Interpreten neben schauspielerischen Fähigkeiten zusätzlich ein

hohes Maß an musikalisch-improvisatorischem Engagement.

In insgesamt 25 klassischen Kompositionstechniken, wie z. B. Kanon oder Fuge,

soll ein Instrumentaltrio (Flöte, Cembalo, Cello) damit verbundene typisierte Ver-

haltensweisen darstellen. Musikalisches Material sind weniger die Töne, als viel-

mehr die szenischen Prozesse ihrer Hervorbringung und Bewegungsassoziationen

zu den einzelnen Titeln.296 ‚Polyphonie’ wird z. B. durch Gebärden in unterschied-

lichen Zeitabständen oder durch isoliertes Spiel ohne Bezüge zu den anderen Mu-

sikern gestisch dargestellt. In ‚Kontrapunkte’ wenden sich die Akteure in Feindse-

______________

295 anschläge-ausschläge. Szenische Variationen für 3 Instrumentalisten (=Modelle-Ausarbeitungen 5) (1965-1966)

296 Auch die Komposition ‚Die Kunst einer Fuge – Bachs Contrapunctus I in zehn Interpretatio-nen’ (1968) für Orgel von Gerd Zacher thematisiert Erfahrungen, die der Spieler mit einer be-stimmten Komposition gesammelt hat. Der Originaltext von Bach wird übernommen und mit-tels vorgeschriebener Interpretationsmöglichkeiten, wie zum Beispiel Manualverteilung, Re-gisterwahl werden bestimmte Effekte erzielt, die wiederum spezifische ästhetische Paradig-men Schumanns, Messiaens oder Kagels aufgreifen. Ferner liegen v. a. im letzten Stück Be-züge zum japanischen Nô-Theater nahe, wo sich alle hörbaren und sichtbaren Vorgänge nach den Silben jo (langsam), ha (Stille, Meditation, Gegenwart), kiu (schnell) regeln.

Bewährung · 253

ligkeit voneinander ab. Damit werden auch kommunikative Aktionsmuster in das

Werk mit einbezogen. Der Flötist spielt z. B. mit dem Gesicht zur Wand und der

Cellist stößt sein Instrument auf den Boden, Noten fallen vom Pult, eine Saite

reißt, ein Instrumentalist verweigert das Zusammenspiel und verlässt die Bühne.

Im Verhältnis von Kompositionstechnik und Inszenierung lassen sich vielfältige

witzige, ironische oder dramatische Situationen darstellen, die oftmals traditionel-

le musikalische Spielweisen karikieren.

Der Ansatz einer primär sichtbaren Musik zeigt sich bereits in ‚visible music I’

(1960-62). Dort wird das autoritäre Verhalten eines Dirigenten zum Musiker the-

matisiert. Im Laufe der Aufführung ändern sich die Machtverhältnisse und der

Dirigent ‚verwandelt’ sich selbst in eine Art Instrumentalist, „dessen Gesten be-

reits selbst schon die Musik sind und sie nicht erst entstehen lassen“ (Schnebel

1972, 269). Die Komposition gliedert sich in drei Teile. Im ersten stellt ein Diri-

gent über Armbewegungen eine grafische Partitur dar. Der Musiker setzt improvi-

satorisch die Gesten, ohne eine eigene Partitur zu besitzen, in Klänge um. In ei-

nem zweiten Teil gestaltet dagegen der Musiker die grafische Partitur, und der

Dirigent transformiert das akustisch Produzierte spontan in Bewegungen. Im drit-

ten Teil kooperieren die beiden Akteure entweder zusammen, spielen gleichgültig

nebeneinander her oder musizieren gegeneinander. Musik ist auch hier nicht mehr

nur ‚etwas für das Ohr’, sondern eine über Gesten zu deutende sichtbare Hand-

lung.297

V. Bewegungstheater als stumme Darstellung expressiver Verhaltensweisen

Ende der 1970er Jahre beschäftigte sich Schnebel mit dem Potenzial reiner Gebär-

den, die losgelöst vom Klang existieren und eine sichtbare Musik darstellen. Dien-

ten die Gesten in ‚anschläge-ausschläge’ noch zur Hervorbringung von Klängen

auf Instrumenten, so besitzt der Leib in ‚Körper-Sprache’ eine rein darstellend-

theatralische Funktion.298 Die Organkomposition für 3 bis 9 stumme Darsteller

bildet in radikaler Konsequenz eine Gebärden-Semiotik, ohne auf musikalisch-

akustische Prozesse zu rekurrieren. Die Organbewegungen stehen in keiner voka-

______________

297 Der Untertitel von ‚visible music II’ lautet ‚Solo für einen Dirigenten’ und unterstreicht die Vorstellungen von einer sichtbaren Musik, da das Orchester, die eigentliche Klangquelle, fehlt.

298 Körper-Sprache. Organkomposition für 3-9 Ausführende (1979-1980)

254 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

len oder instrumentalen Abhängigkeit, um persönliche Ausdrucksformen oder

einen musikalisch übergreifenden Text auszudrücken. Sie besitzen eine eigene

Expressivität, die losgelöst vom Klang als stumme Bewegung existiert.299

Umgangssprachlich wird der Begriff Körpersprache verwendet, um über Gestik

und Mimik Nonverbales auszudrücken. Diesen Sachverhalt greift Schnebel in

seinem Vorwort zu ‚Körper-Sprache’ auf:

In all diesen Bewegungen drücken wir uns bewußt oder unbewußt aus, be-

ginnen die einzelnen Glieder oder der Körper als Ganzes zu sprechen, füh-

ren Selbstgespräche, wenden sich an Gegenstände, an Menschen, über-

haupt an die Umwelt, und es kommt zu vielerlei Formen von Kommunikati-

on (Schnebel, Partitur von ‚Körper-Sprache’).

Die Grundlagen einer solchen Körpermusik sind nach Schnebel der Ausdruck und

der Rhythmus. Über den Ausdruck erhalten Bewegungen eine symbolisch-

metaphorische Fundierung. Der Rhythmus strukturiert die Bewegungen und gibt

ihnen ein Tempo.

‚Körper-Sprache’ ist wie ‚Maulwerke’ keine fixierte und reproduzierbare Kompo-

sition, sondern stellt verschiedene Materialien zur Erzeugung einer eigenen Auf-

führung zur Verfügung. Die Elemente dazu sind grafisch skizzierte oder verbal

notierte Bewegungen des Kopfes (‚Kopfarbeit’), der Finger (‚Fingerübungen’),

der Hände (‚Handzeichnungen’), des Rumpfes (‚Rumpfarbeit’), der Arme und

Beine (‚Arm- und Beinlinien’) sowie der Zehen und Füße (‚Zehen- und Fußstu-

dien’). Um diese teilweise komplexen Abläufe zu erlernen, sind zunächst grund-

sätzliche ‚Übungen’ notwendig, in denen verschiedene Körperpartien miteinander

kombiniert werden, rhythmische Aufgaben hinzutreten oder bereits Beziehungen

zu anderen Personen und Gegenständen geknüpft werden. So wird die Motorik

einzelner Körperteile sowie der ‚Eigenausdruck’ ausdifferenziert. Nach dieser

Vorstufe werden auf einer zweiten Ebene ‚Geschichten’ zu den Bewegungsmög-

lichkeiten der einzelnen Gliedmaßen entworfen.

______________

299 Der 1961 geborene Komponist Helmut Oehring knüpft an Schnebels Gebärdensemiotik an, wenn er verschiedene Bewegungen, die mit der Grammatik der Gebärdensprache zu tun ha-ben, in Musik überträgt.

Bewährung · 255

In diesen Geschichten handelt der Körper von sich selbst, von seinen Fä-

higkeiten als ungegliederte Einheit, von den Möglichkeiten der Arme und

Hände, der Beine und Füße, von seinem Potenzial als in sich strukturierte

Ganzheit (Nauck 2001, 225).

Den räumlichen und interaktionistischen Graphiken und Vorschriften sind musika-

lische Charakterbezeichnungen hinzugefügt, die auf die Art der Bewegungsaus-

führung verweisen und die Handlung umschreiben. Die Geschichte ‚Em-pfinden’

wird mit den Anweisungen ‚adagio molto, andantino infantile, allegretto und an-

dante narcistico‘ erläutert. Im weiteren Verlauf treten Gegensatzpaare wie ‚Er-

fassen – Ent-lassen‘ und ein eigenständiger Bereich des ‚Nicht-Tuns’ auf, der sich

in Ruhe-Punkte und Erstarrungszonen gliedert. Aus den ‚Grundübungen’ und den

‚Geschichten’ lassen sich dann auf einer dritten Ebene ‚Vorführungen’ bilden, in

denen die gesammelten Körpererfahrungen in Form des Musiktheaters in einem

größeren Rahmen integriert werden.300

In letzter Radikalität fasst Schnebel somit jegliche Tätigkeit als Musik auf, selbst

wenn das zu Erklingende ausbleibt, bzw. sich auf die Geräusche von Bewegungen

beschränkt. ‚Körper-Sprache’ ist der Endpunkt einer Entwicklung, in der sich die

Relevanz des Körpers im Musiziervorgang immer weiter emanzipiert hat, bis er

selbst zum Instrument wird und die Funktion der Hörbarkeit durch die Sichtbar-

keit ersetzt. Stimmungen werden auf Bewegungen oder umgekehrt die vorge-

schriebenen Gesten auf individuelle Verhaltensweisen übertragen, und es entsteht

eine „stumme Expressivität der Körpersprache“ (Schnebel, Partitur von ‚Körper-

Sprache’).

VI. Syntheseformen der Bewegungsmodelle

Anfang der 1980er Jahre verfolgt Schnebel nach Versuchen der Radikalisierung

der Autonomie von Sprache und Bewegung eine Zusammenführung dieser zwei

wesentlichen Organtätigkeiten menschlicher Kommunikation. Indem „gleichsam

synthetisierend die stimmliche und die gestisch-körperliche Organtätigkeit – und

damit Akustisches und Visuelles – zusammengeführt“ werden (Nimczik 2001,

60), ergeben sich Erweiterungsmöglichkeiten bisheriger Kompositions- und Be-

______________

300 In der Aufführung ist es möglich, die klanglose ‚Körper-Sprache’ mit verbalen Aktionen der ‚Maulwerke’ zu ergänzen.

256 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

wegungsmodelle sowie ein neues Verständnis des experimentellen Musiktheaters.

Bewegungen sind über Ausdruck und Rhythmus immer schon musikalisch fun-

diert, der Sprache ebenbürtig und wesentlicher Bestandteil von Raumerfahrungen.

Klangbewegungen (‚raum-klang y’), Bewegungen von Sprachorganen im Inneren

(‚Maulwerke’), Bewegungen im Aufführungsprozess (‚Handwerke-Blaswerke’),

sichtbare Hervorbringung von Musik (‚anschläge-ausschläge’) sowie die stumme

Darstellung expressiver Verhaltensweisen (‚Körper-Sprache’) werden miteinander

kombiniert. Grundthema dieser neuen Syntheseform ist das Verhältnis von Klang,

Gestik und Sprache.

In chronologischer Reihenfolge entstehen in den 1980er Jahren insgesamt zehn

Stücke, die sich auf unterschiedliche Art mit den Syntheseformen der Bewe-

gungsmodelle auseinandersetzen und diese zu zwei Zyklen zusammenfassen:

‚Laut-Gesten-Laute I’ und ‚Zeichen-Sprache’ mit dem Untertitel ‚Laut-Gesten

Laute II’. 301

Der erste Zyklus geht ganz vom Akustischen aus und versteht sich dem Untertitel

nach als ein ‚Poem für Stimme und Gebärden mit Bildtönen’. Der Schwerpunkt

liegt auf dem Klang der Sprache, die in Form eines Lautgedichts vorgetragen und

von Körperaktionen unterstützt wird. Diese so genannten ‚Körpergedichte’ wer-

den von zwei Videokameras auf eine große Leinwand projiziert. Dabei greift

Schnebel auf die schon in den ‚Maulwerken’ und ‚Körper-Sprache’ benutzten

hinführenden Grundübungen und daran anschließenden Gestaltungsaufgaben

zurück, aus denen individuelle Aufführungen entstehen. In den fünf Teilen wird

auf unterschiedliche Weise die lebensweltliche und situationsbedingte Funktion

der Sprache untersucht, worauf die Überschriften hindeuten. ‚Fantasien’ nimmt

die Klänge von Namen zum Anlass, diese sprachlich in Phoneme aufzugliedern

und mit Kopf- und Armgesten zu verbinden. Die ‚Redeübungen für Hand und

Mund’ bestehen aus virtuosen Artikulationsübungen. Die ‚Szenischen Weisen von

Kopf bis Fuß’ beinhalten silbenähnliche Rezitierweisen von Liedern. In den ‚Ge-

dankengängen’ werden Auszüge der philosophischen Schriften von Ernst Bloch

und der Bibel in die Aufführung integriert.

______________

301 Laut-Gesten-Laute I. Poem für Stimme und Gebärden mit Bildtönen für 1-4 Ausführende (1981-1985); Zeichen-Sprache. Musik für Gesten und Stimme für vier Ausführende (1986-89)

Bewährung · 257

Der zweite Zyklus ‚Zeichen-Sprache’ (=‚Laut-Gesten-Laute II‘) setzt sich

schwerpunktartig mit dem Visuellen auseinander. Das Hauptinteresse liegt auf

sichtbaren gestischen Handlungsabläufen, die nur selten von Vokalaktionen unter-

stützt werden. In einer Reihe von ‚sechs Poemen’ werden Bewegungsgeschichten

für unterschiedliche Gliedmaßen entworfen, die symbolische Bedeutung besitzen,

wie z. B. „ein Handzeichen, ein Kopfnicken, ein erster oder letzter Schritt, ein

Sich-Verbeugen, ein Fußtritt, ein das-Haupt-wenden, ein Zugehen-auf, ein Finger-

zeig“ (Schnebel, zit. nach Nauck 2001, 299).

Im Unterschied zum ersten Zyklus werden keine Materiallisten und Gestaltungs-

aufgaben bereitgestellt, sondern der gesamte Verlauf ist auskomponiert. Die Akti-

onen mit Körperteilen (Kopf, Rümpfe, Füße, Arme und Finger) werden auf meh-

rere Personen verteilt, so z. B. in einem Poem für sieben Arme, bei dem die Dar-

steller hintereinander stehen und gemeinsam Armbewegungen ausführen. Es ent-

steht der Eindruck, als ob es sich um eine Person handelt, welche die Gesten aus-

führt. Obwohl die szenisch-sprachlichen Darstellungen isoliert für sich stehen,

finden sich übergreifende musikalische Aspekte in Wiederholungen, Reihungen

oder Imitationen sowie durch strenge Zeitformungen, rhythmische Akzentuierun-

gen und wechselnden Metren.

Anfang der 1990er Jahre setzt Schnebel seine Arbeit an den Syntheseformen der

Bewegungsmodelle im Rahmen zweier weiterer groß angelegter Zyklen unter

anderem Schwerpunkt fort. Die ‚Museumsstücke I/II’ thematisieren das Wechsel-

verhältnis von Musik und ‚Bildender Kunst’.302 Beide Zyklen wurden komposito-

risch auf die Räume und die darin enthaltenen Kunstwerke zweier Museen ent-

worfen.303 Sie sind „akustische Pendants zu dem, was an den Wänden hängt“

(Schnebel, zit. nach Nauck 2001, S. 301) und verstehen sich als neue Bildlichkeit,

die in einer Kritik an der Bildverehrung in den Medien neue Wege sucht, um Op-

tisches und Akustisches zusammenzuführen.

Während die ‚Museumsstücke I’ grundsätzliche stilistische und historische Berei-

che der Geschichte der Kunst auf musikalischer Basis imitieren, charakterisieren ______________

302 Museumsstücke I für bewegliche Stimmen und Instrumente in polyphonen Räumen (1991); MoMA. Museumsstücke II für bewegliche Stimmen und Instrumente (1994-95)

303 Die ‚Museumsstücke I’ sind für das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main und die ‚Museumsstücke II’ als Auftragswerk des WDR für das Museum Ludwig konzipiert wor-den. Letztere lauten auch ‚MoMA’, wobei der Titel sich aus den Anfangsbuchstaben von ‚Museum of Modern Art’“ zusammensetzt.

258 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

die ‚Museumsstücke II‘ die Arbeiten und Stilistik der modernen Ma-

ler/Malerinnen. Schon der Untertitel ‚für bewegliche Stimmen und Instrumente in

polyphonen Räumen’ der ‚Museumsstücke I’ verweist auf den Raum- und Klang-

aspekt. Ausgehend von einem Zentralraum, in dem sich das Publikum befindet

und Wege zu Fluren, Treppen und Räumen zur Verfügung stehen, werden musika-

lische Aktionen ausgeführt. Die Klangbewegungen entstehen v. a. durch die Auf-

teilung oder Bewegung der Musiker im Raum. So erklingt eine Raumkomposition,

„die sich entfernt, näher kommt, dreht, oder wo die Klänge selbst wandern“

(Schnebel, Partitur von ‚Museumsstücke II’).

Die dreizehn Teile der ‚Museumsstücke I’ imitieren Bildtypen, Gattungen und

klassische Motive wie ‚Nature Morte (Stilleben)’, ‚Skulpturen’ und ‚Portraits’.

Die Kompositionen sind akustische Erweiterungen von Stilelementen und versu-

chen die verborgenen Geräusche hinter den rein visuellen Eindrücken zu typisie-

ren. Hiermit wird der Versuch unternommen, das Gesamtspektrum des Optischen

und Akustischen zu erfassen. Ausgangsbasis für die ‚Museumsstücke II’ ist der

Versuch, Techniken moderner Maler wie Paul Klee, Pablo Picasso und Andy

Warhol in Klänge zu transformieren. Die Komposition ist somit eine direkte Aus-

einandersetzung mit den einzelnen Werken, die innerhalb des Museums ausge-

stellt sind. Schnebel überträgt „die jeweiligen typischen Arbeitsweisen der Künst-

lerinnen und Künstler in Musik“ (Nimczik 2001, 61). Die insgesamt 36 musikali-

schen Kompositionen basieren auf drei unterschiedlichen Darstellungsformen: Die

‚Stücke‘ sind in klassisch geschlossener Weise mit Beginn und Schluss kompo-

niert, die ‚Prozesse‘ bilden ein gerichtetes oder ungerichtetes ‚work in progress‘,

und die ‚Events‘ geben kurze verabsolutierte Augenblicke wieder.304 In vier Grup-

pen werden verschiedene Epochen beleuchtet, die bestimmte Maler repräsentieren.

Einleitend werden Maler der ‚ersten Moderne’ wie Marcel Duchamps, Paul Klee

oder Mondrian vorgestellt. Anschießend wird mit Künstlern wie Jackson Pollock,

Joseph Beuys, Yves Klein oder Marc Rothko die ‚zweite Moderne’ nach 1945

aufgegriffen und abschließend die ‚Gegenwartsmalerei’ mit Anselm Kiefer, Fran-

cis Bacon und Rebecca Horn thematisiert.

______________

304 Genau genommen treten noch zwei weitere Formen hinzu: die ‚Fermate‘ als gehaltener Klang bei Yves Klein und das ‚Moment‘ als Teilbereich des kurzen Geräuschs, wie bei Kurt Schwit-ters und Andy Warhol.

Bewährung · 259

Wurden in ‚Laut-Gesten-Laute I/II’ keine Musikinstrumente verwendet, sondern

nur über Sprache und Gesten Klänge erzeugt, so tritt in den ‚Museumsstücken’ das

selbsttätige Musizieren auf traditionellem Instrumentarium wieder stärker in den

Vordergrund. In den ‚Museumsstücken I‘ wird die akustische Typisierung und

geräuschhafte Verdeutlichung der Bildgattungen über die Verwendung von All-

tagsgegenständen (Stühle, Steine, Wasser, Plastikmaterialien, Teller, Gläser) und

perkussiven Instrumenten (Signalinstrumente, Rainmaker, Windchimes) erreicht.

Handtrommeln, Fahrradklingeln und Autohupe erzeugen in ‚Veduta’ stadtähnliche

Klänge. Während Geräusche von Plastikgegenständen, wie z. B. Kunstblumen, die

klangmetaphorische Charakterisierung des Stilllebens in ‚nature morte’ suggerie-

ren, so erinnern Stimmen und das Klappern von Besteck an die Atmosphäre einer

Bauernszene. So wird das Museum ein Ort der Begegnung von historischen Ge-

mälden und zeitgenössischen Alltagsklängen. Schnebel hat in den ‚Museumsstü-

cken I’ ein mehrdimensionales Musiktheater geschaffen, durch „dessen Klang-

lichkeit dem Museal auch sein verstaubtes Image als Sammlung starrer, toter Din-

ge genommen“ wurde (Nauck 2001, 302).

Die ‚Museumsstücke II‘ verwenden das Instrumentarium von Bläsern, Streichern,

Schlagzeug bis hin zu Tonbändern. Schnebel differenziert dabei zwischen drei

Kategorien: Instrumente, Stimmen und Dinge (nicht- bzw. noch-nicht-

Instrumente), die sich jeweils miteinander verbinden können.305

Die Komposition ‚Skulpturen und Porträts‘ aus dem ersten Zyklus repräsentiert

exemplarisch die immense Bedeutung der Gestik in den ‚Museumsstücken I/II’.306

Das Stück ist für Stimmen und Körperaktionen geschrieben und teilt sich in rein

gestische ‚Selbstporträts‘ und vokal dominierte ‚Porträts’ auf. Im ersten Teil wird

über Bewegungsaktionen, die auf einem Podium im Zentralraum aufgeführt wer-

den, ein Selbstporträt erstellt. Der Auszuführende hat dabei die Möglichkeit, sich

selbst zu betrommeln oder zu bestreichen und dabei „Kopf oder/und Körper als

Klangkörper – Klangfläche, Resonanzraum“ zu verwenden (Schnebel, Partitur von

‚Museumsstücke I’), um sich selbst perkussiv zu charakterisieren. Über verschie-

dene rhythmische Materialien, Variationen der Dynamik und des Tempos werden

individuelle Selbstbildnisse erzeugt. Streich- und Klopfbewegungen werden somit

auch in den ‚Museumsstücken I’ nicht mechanisch dargestellt, sondern repräsentie-

______________

305 Der Rückgriff auf traditionelles Instrumentarium versteht sich auch als Hommage an traditio-nelle Bildvertonungen.

306 Vgl. Nimczik 2003b

260 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

ren einen Teil der Persönlichkeit. Zusätzlich werden dabei unbewusste Vorgänge

bei der Betrachtung von Selbstporträts angesprochen, die mehr sind als nur die

Abbildung eines momentanen äußerlichen Zustands und über die jeweilige Art der

Darstellung auf das Befinden des Malers verweisen. Diesen doppelten Sachverhalt

von innerem Empfinden im sichtbaren Material drückt Schnebel durch das ‚Sich-

Selbst-Beklopfen’ und ‚Sich-selbst-Bestreichen’ aus.

In dem zweiten Teil ‚Porträt(s)‘ für zwei oder drei Spieler wird der referentielle

Bezug in den ‚Selbstporträts‘ auf das Verhältnis zwischen Porträtierten und zu

Porträtierenden erweitert, indem ein Spieler den anderen imitiert. Das Modell (der

zu Porträtierende) nimmt dabei eine bestimmte Position ein, die vom ‚Maler‘ (der

Porträtierende) interpretiert wird. Zur Verfügung stehen dabei lautmalerische

Möglichkeiten, wie „besingen“ oder „bezischen“, die als sprachliche Korrelate zu

den perkussiven Möglichkeiten des Streichens oder Klopfens fungieren. Die

Sprachaktionen teilen sich daher ein in ‚Vokale, Nasal- und Laterallaute mit Ton‘

(=besingen, bestreichen) oder in ‚Frikativ- und Plosivlaute ohne Ton‘ (=bezischen,

beklopfen). Im weiteren Verlauf werden auch gestische Aktionen des Streichens

und Klopfens hinzugezogen. Die Körperkonturen des Modells dienen dabei als

Melodielinien oder Geräuschverläufe. Sie werden dynamisch-klanglich variiert

und bilden eine individuelle Charakter-Auffassung des Gegenübers.

Für ein solches Porträt oder Selbstporträt jeweils einen Charakter wählen;

ein „Charakterstück“ spielen – allegro, moderato, andante, adagio

(Schnebel, Partitur von ‚Museumsstücke I’).

In der Konzeption von ‚Skulpturen und Porträts’ wird deutlich, wie sehr Schnebel

darum bemüht ist, Sprach- und Bewegungsaktionen, die in ‚Körper-Sprache’ oder

‚Maulwerke’ isoliert genutzt werden, als synthetische Form in den Gestaltungs-

prozess mit einzubeziehen.Eine weitere effektive Möglichkeit, Bewegungen für

eine Umsetzung bildnerischer Motive in Musik zu nutzen, zeigt sich in einer Be-

zugnahme auf die Skulptur ‚Nana’ von Niki de Saint Phalle. Der tänzerisch-

komische Ausdruck der bunten Figur wird von Schnebel musikalisch imitiert.

Dazu bewegt sich eine Frau mit hoher Stimme in rascher Bewegung durch den

Raum. Parallel hierzu singt sie kurze musikalischer Zitate aus Oper, Jazz, Rock

und Volksmusik. Diese ‚Koloraturen’ sind nicht ausnotiert, sondern werden spon-

tan erfunden. Schnebel integriert ein Foto der Skulptur in die Partitur und gibt nur

die kurze Anweisung.: „Erfinde eine Musik für sie“! Die Sängerin ist aufgefordert,

während ihrer Tanzbewegungen eine Musik zu gestalten, die dem Ausdruck der

Bewährung · 261

Skulptur ähnelt. So entsteht ein improvisatorisches ‚Tanzstück’, in dem die sta-

tisch-plastische Pose der Figur über die Bewegungen und Stimme der Sängerin im

Raum zu neuem Leben erwacht.

‚Klang und Körper’

In zahlreichen theoretischen Texten vertieft Schnebel die Auseinandersetzung mit

der Sichtbarkeit und Klanglichkeit von Bewegung innerhalb der Neuen Musik. In

dem Essay ‚Klang und Körper’ aus dem Sammelband ‚Anschläge-Ausschläge’

wird die in den Kompositionen herausgestellte Bedeutung der Gestik, Mimik und

Bewegung konkretisiert.

In vier Abschnitten arbeitet Schnebel zwei grundsätzliche Wahrnehmungs- und

Erscheinungsformen von Klängen heraus. Er charakterisiert sie als zweideutig und

ambivalent, denn Klänge sind sowohl körperlich und sichtbar als auch unkörper-

lich und unsichtbar.307 Jedem der vier Abschnitte ist mottoartig eine Überschrift

gegeben, die diese Ambivalenz benennt:

Klänge sind schwingende Luft, demnach nicht körperlich.

Klänge kommen aus Leibern, sind also körperlich.

Klänge sind unsichtbar – nur zu hören.

Klänge sind sichtbar – also auch fürs Auge.

Im Folgenden werden die zentralen Aspekte der einzelnen Kapitel zusammenge-

fasst:

I. Klänge sind schwingende Luft, demnach nicht körperlich.

Die Unkörperlichkeit der Klänge lässt sich durch Schwingungen und Wellenbe-

wegungen verdeutlichen. Je nach Klangfrequenz, Klangmaterie und Räumlichkeit

sind die Schwingungen unterschiedlich stark. Klänge sind nach Schnebel im

______________

307 Indirekt wird hier auch auf die Kompositionsprinzipien Varèses Bezug genommen, welche die räumlich-klanglichen Bewegungen und gleichzeitige leibliche Spürbarkeit von Klängen berücksichtigen. Schnebel entwickelt daraus ein ästhetisches System der Wahrnehmungswei-sen von Klängen.

262 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Rahmen ihrer immateriellen Substanz eine „luftige Kunst“ (Schnebel 1993, 39).

Sie sind stärker an die Zeit gebunden als die aus Masse und Materie bestehenden

Körper.308

II. Klänge kommen aus Leibern, sind also körperlich.

Die Körperlichkeit des Klangs bei Schnebel resultiert also aus einer Verbindung

zwischen dem leiblichen Prozess der Hervorbringung („kommen aus Leibern“)

und dem klanglichen Resultat („sind also körperlich“).

Der menschliche Körper, der mit oder auf dem Instrument den Klang er-

zeugt, ist mit ihm mannigfach verbunden: der Mund heftet sich an ihm fest,

die Hände greifen daran herum, die Finger springen auf ihnen einher, oder

man tritt sie mit Füßen (Schnebel 1993, 40).

Zu ergänzen ist, dass Schnebel auch den Sprachvorgang als körperlich auffasst.

Um Vokale oder Konsonanten hervorzubringen, ist z. B. eine spezielle Formung

des Mundraums, der Zunge und der Lippen erforderlich. Zusätzlich ermöglichen

Knochen wie Schädel und Nasenbein sowie Zähne eine größere Resonanz zur

Ausbreitung des Klangvolumens. Klänge sind „selbst schon Leben, haben ihre

eigene Sinnlichkeit“. Über die individuelle Art der Klangproduktion und

-wahrnehmung definiert Schnebel Musik als „eine körperliche und materielle

Kunst“ (Schnebel 1993, 43).

III. Klänge sind unsichtbar – nur zu hören.

Die Unsichtbarkeit resultiert aus der Hörbarkeit von Klängen. Das Ohr nimmt im

Resonanzraum Schwingungen auf, filtert sie und setzt sie in zeitlich-dynamische

Strukturzusammenhänge. Das Ohr ist ein „nächtliches Organ“ (Schnebel 1993,

42), weil es sich in ständiger Bereitschaft hält und sich nicht wie das Auge schlie-

ßen lässt. Schnebel bezeichnet das Ohr als Organ der Seele, das Stimmungen in

Sätzen wahrnimmt.

Sprache dient nicht nur als Informationsträger, sondern gewährleistet v. a. den

Transfer von Emotionen über den Klang.

______________

308 Die Gebundenheit der Musik an die Zeit bezeichnet Schnebel als „polyphon“ (Schnebel 1993, 39). So lässt sich auch der Begriff des ‚polyphonen Raumes’ in den ‚Museumsstücken I’ als zeitlich-räumliche Bewegung der Klänge interpretieren.

Bewährung · 263

IV. Klänge sind sichtbar – also auch fürs Auge.

Der letzte Abschnitt bezieht sich wie bereits in Abschnitt II auf den Menschen als

Klangerzeuger.

Die meisten Klänge, zumal die der Musik, entstehen durch Aktionen. Saiten

werden mit dem Bogen gestrichen, be-griffen oder mit Fingernägeln ange-

rissen. Hände schlagen auf Felle, oder sie benutzen irgendwelche Schlegel.

Finger tanzen auf Tastaturen, Füße treten Pedale. Mundstücke werden an-

geblasen, und zugleich betätigen Finger irgendwelche Klappen. Oder es

wird tief Luft geholt, der Kehlkopf in Gang gesetzt und Zunge und Lippen

verschiedenartig bewegt (Schnebel 1993, 46).

Die Darstellung wird zum „optischen Ton“ (Schnebel 1993, 47), und es entsteht

ein experimentelles Bewegungstheater. Dieser Wandlungsprozess grenzt sich von

der konventionellen Körpersprache ab, da diese v. a. durch die Expressivität ästhe-

tisch fundiert ist. Die Sichtbarkeit der Aktionen etabliert eine „musikalische Meta-

sprache der Gefühle“, die von einer „imaginären Musik durchzogen“ ist, so dass

„alles im menschlichen Leben Musik zu werden vermöchte“ (Schnebel 1993, 48).

Aus der summarischen Darstellung der vier Kapitel werden die vielschichtigen

Erscheinungsformen von Klängen und deren Relation zum menschlichen Körper

deutlich. Klänge besitzen nach Schnebel jeweils zwei verschiedene Eigenschaften

(Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit bzw. Körperlichkeit/Unkörperlichkeit) Diese Ambi-

valenz entsteht durch ihre Stellung zwischen Klangproduktion und Wahrnehmung.

Aus den einzelnen Überschriften wird deutlich, dass Schnebel zwischen ‚körper-

lich’ und ‚Leib’ differenziert. Der ‚Leib’ verweist auf das Subjekt, das musiziert

und Klänge produziert. ‚Körperlich’ beschreibt dagegen die Wahrnehmungen von

Klängen. Ferner korrespondieren die Überschriften I./III. und II./IV. miteinander,

da die Unkörperlichkeit und Unsichtbarkeit ein Hören von schwingender Luft

umschreibt, wobei Körperlichkeit und Sichtbarkeit das Sehen der leiblich erzeug-

ten Klänge verdeutlicht.

Indirekt lassen sich hier Querverweise zu den Bewegungsmodellen Schnebels

ziehen, die sich in unterschiedlicher Intensität mit der Hörbarkeit oder Sichtbarkeit

von Musik auseinandersetzen. Die ‚unsichtbaren Klangbewegungen im Raum’

(=Bewegungsmodell I) verstehen Klänge als schwingende, hörbare, sich ausbrei-

tende Luft, und das ‚Bewegungstheater als stumme Darstellung expressiver Ver-

haltensweisen’ (= Bewegungsmodell V) basiert auf einer rein sichtbaren Musik.

Schnebels Text dient letztlich als Fundierung seiner eigenen Kompositionsästhetik

264 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

und stellt auf theoretischer Ebene die Relevanz von Körper-Klängen in ihrer viel-

schichtigen Dimension dar.

Zur Leiblichkeit der Musik Schnebels

Im Folgenden wird untersucht, ob die Bewegungsmodelle und die Ausführungen

im Text ‚Klang und Körper’ potentielle Bezüge zu den Qualitäten der Leiblichkeit

ergeben. Im weiten Sinne wird also ein Vergleich zwischen Schnebels Musikäs-

thetik und den ästhetischen Qualitäten der Leiblichkeit angestrebt.309 Seine inten-

sive Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Sprache und Körper bzw. mit

der Hörbarkeit und Sichtbarkeit von Klängen lassen zunächst auf ein differenzier-

tes Körperbild schließen, das sich von einem rein mechanisch-funktionalen oder

emotional-affektiven Bewegungsverständnis distanziert.

Die grundlegende Übereinstimmung zwischen den vorgestellten Qualitäten der

Leiblichkeit und Schnebels Musikästhetik liegt in der Relevanz des Leibes zur

Etablierung musikalischer Spiel- und Darstellungsprozesse begründet. Gerade das

‚Zwischen’ betrachtet den Leib als die Bedingung der Möglichkeit ästhetischer

Erfahrungen. Dem entsprechend betont Schnebel in den verschiedenen Bewe-

gungsmodellen die Bedeutung von Tätigkeiten während der Musiziervorgänge

und damit zusammenhängend die Sichtbarkeit von Produktionsprozessen. Die

Sichtbarkeit innerer Organe zur Tonerzeugung (‚Maulwerke’), der Klang von

Bewegungen während der Tonerzeugung’ (‚Handwerke-Blaswerke’) verdeutli-

chen die grundlegende ästhetische Dimension des Leibes. In letzter Radikalität

zeigen auch ‚visible-music’ und ‚Körper-Sprache’, dass selbst stumme Bewegun-

gen durch Bewegungsrhythmik und -tempo immer schon musikalisch fundiert

sind. Die Vorstellung von einer ‚Musik der Gesten’ geht demnach wie das ‚Zwi-

schen’ davon aus, dass Musik ohne Bewegung nicht denkbar ist und der Leib das

Kunstwerk zum Vorschein bringt.

Die von Schnebel in seinem Text ‚Klang und Körper’ aufgestellte Ambivalenz

einer Sichtbarkeit und Körperlichkeit von Klängen legt weitere Verweise zur

Leiblichkeit nahe. Produktion und Rezeption sind keine deutlich zu unterschei-______________

309 Der Begriff ‚Musikästhetik’ mag in Bezug auf die Kompositionen und Texte Schnebel zu hoch gegriffen sein, da eine Auseinandersetzung mit traditionellen Aspekten einer Ästhetik nicht sein Ziel ist. Der Terminus wird im weiten Sinne zur Umschreibung einer bestimmten ‚ästhetischen Auffassung von Musik’ verwendet.

Bewährung · 265

denden ‚Vorgänge’. Der Leib ist vielmehr das ‚a priori’ der künstlerischen Tätig-

keit und stellt neben der sinnlichen Erfahrung auch die Reflexion des Produzierten

bereit. Von grundlegender Bedeutung ist, dass Schnebel in diesem Rahmen einen

Dualismus negiert, der deutlich zwischen einem analytischen und expressiven

Körperverständnis trennt. Dagegen sucht er im Sinne einer ‚guten Ambiguität’

nach neuen Möglichkeiten einer Verflechtung von Produktion und Rezeption. In

den ‚Maulwerken’ werden z. B. im Teil ‚Exerzitien’ zunächst die grundlegenden

Techniken der korporalen Stimmproduktion geübt und in ‚kommunikative Prozes-

se’ eingebunden. Diese Vorgehensweise findet sich auch in den sichtbaren Bewe-

gungsmodellen. In den ‚Übungen’ von ‚Körper-Sprache’ konzentriert sich der

Darsteller zunächst auf die „Bewusstwerdung und Schulung“ der einzelnen Kör-

perteile, um über die darauf aufbauende „virtuose Schulung des ‚Instruments Kör-

per’“ dem Interpreten den Raum für „Selbstentfaltung“ und „Eigenausdruck“ zu

bereiten (aus der Partitur von ‚Körper-Sprache’). In der Erarbeitung muss zu-

nächst das technische Rüstzeug beherrscht, aber auch die eigene Befindlichkeit,

die Eigenwahrnehmung der eigenen Stimmklänge und Körperbewegungen ge-

schult und letztlich die individuellen Ausdrucksformen der ‚Organtätigkeiten’

berücksichtigt werden.

Musiziervorgänge mit Stimme oder mit Instrumenten sind bei Schnebel von einer

grundlegenden ‚Offenheit’ hinsichtlich der klanglichen Erscheinungsweise ge-

kennzeichnet. Diese Offenheit liegt in der Berücksichtigung der individuellen

motorischen Kompetenzen des Subjekts begründet. Bewegungen sind abhängig

von Stimmungen der Aufführenden, von den zwischenmenschlichen Verhältnissen

der Musiker/Darsteller, von den Aufführungsbedingungen und sind folglich nicht

verallgemeinerungsfähig.

Diese ‚Offenheit’ zeigt sich auch in der Anlage der Partitur, die in einem Grenzbe-

reich zwischen Malerei und Musik liegt. Durch verbale und grafische Vorschläge

werden den Interpreten keine fixierten und reproduzierbaren Kompositionen,

sondern Übungen, Vorschläge, Skizzen und Konzepte unterbreitet, die im Rahmen

ihrer Fragmentalität und minimalistischen Form eine improvisatorisch-

experimentelle Gestaltung ermöglichen. Selbst die Materialen zur Klangerzeugung

sind oftmals frei wählbar. Diese gegenseitige Verflechtung von physiologischen

und psychologischen Prozessen während der Aufführung bezeichnet Schnebel

auch als „psychologische Schicht bei der Lauterzeugung“ (Schnebel, zit. nach

Nauck 2001, 148) und entwickelt hierbei ein neues ‚Ausdruckskonzept’. Es basiert

auf dem ‚psychoanalytischen Ansatz musikalischer Gestaltung’ und verdeutlicht,

dass die Organbewegungen das musikalische Material formen und gleichermaßen

266 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

zur Darstellung psychischer Dispositionen dienen. 310 Schnebel schreibt z. B. zur

Erzeugung der existenziellen Sprachlaute vor:

Ausdrücken meint nun tatsächlich in einem wörtlichen Sinn: drück das in

deinen Artikulationsorganen, mit Zungenbewegungen aus. Drück wirklich

die Zunge, aber so, wie du etwas Schmerzliches jetzt in der Vorstellung er-

lebst“ (Schnebel, zit. nach Nauck 2001, 322).

Der Interpret befindet sich in einer ständigen Ambiguität zwischen Realisation des

vorgegebenen Materials, das es auch technisch zu bewältigen gilt, und einer indi-

viduellen Auseinandersetzung mit Stimmungen und Gefühlen. Im Sinne der Dop-

pelempfindung Husserls setzt sich die Wahrnehmung nicht isoliert aus einer rein

innerlichen oder äußerlichen Perspektive zusammen, sondern befindet sich in

einem ständigen Wechselverhältnis.311 Die Aufführungen sind von einer vitalen

Expressivität gekennzeichnet, wobei subjektiver Ausdruck und Emotionalität mit

den zu realisierenden Aufgaben aus der Partitur zusammenwachsen. Die Kompo-

sitionen sind folglich keine fertigen Endprodukte, sondern ein ‚work in progress’,

das nach immer neuen stimmlichen und sinnlichen Ausdrucksmöglichkeiten sucht.

Gerade die Summierung vieler Werke unter übergreifenden Werkreihen und The-

menschwerpunkten wie z. B. ‚Versuche’, ‚Räume’, ‚Tradition’ oder ‚Erfahrungen’

veranschaulicht das vielseitige ‚Forschungsprogramm’ von Dieter Schnebel.

______________

310 Schnebel leitet den ‚psychologischen Ansatz musikalischer Gestaltung’, in dem sich mentale Vorstellungen in die Bewegungen und Musiziervorgänge übertragen, aus dem Freudschen Realitäts-/Lustprinzip und der in ihm enthaltenen Dependenz von Ich, Es, und Über-Ich ab. Die angelernten Bewegungsmechanismen repräsentieren das ‚Über-Ich’ als von äußeren Be-dingungen abhängiges Musizieren, wogegen das ‚Es’ die spontanen, unbewussten Gemütszu-stände des Spielers symbolisiert. Das Ich überträgt als Korrelat von Es und Über-Ich die Ge-fühle und Bewegungen in die Organbewegungen und zeigt sich expressiv über das eigene Verhalten. Von grundlegender Schwierigkeit bleibt dabei die Frage, inwieweit psychische Formungen der Materialgestaltung wirklich festlegbar sind oder ob das ‚Ich‘ durch Vorschrif-ten nicht gehemmt wird. Gerade technisch versierte Musiker haben mit den Bewegungsvor-schriften und expressiven Aufforderungen ihre Probleme gehabt, wogegen Schüler sich spon-tan mit den neuen Ausdrucksmöglichkeiten auseinander setzten. Die Sängerin Carla Henius äußert sich zu diesen Schwierigkeiten einer expressiven Darstellung: „Es war doch eher eine hochnotpeinliche Prozedur, der man unterzogen wurde im guten Glauben, sie freiwillig auf sich genommen zu haben. Die ganze Sache tat einfach weh, und lange höre ich nur mein ei-gen Schmerzgekreisch“ (Henius 1993, 137). Ausführlich hierzu vgl. Nauck 2001, 223

311 Das Klopfen und Beklopft-werden in Schnebels ‚Skulpturen und Porträts’ aus den ‚Muse-umsstücken II’ verdeutlicht die Doppelempfindung als musikalisches Gestaltungsmittel.

Bewährung · 267

Das angesprochene Verhältnis zwischen Produktion und Rezeption von Spielvor-

gängen verweist auf die Extension des gewöhnlichen instrumentalen Handlungs-

spielraumes und des Ausdrucksvermögens. Die Partitur von ‚anschläge-

ausschläge’ versteht sich als Sammlung von ‚Aktionsblättern’, in denen unge-

wöhnliche Blas-, Schlag- und Streichtechniken aufgeführt sind. Finger schlagen

auf Saiten, Tasten oder Klappen, Saiten auf das Griffbrett. Die Instrumente wer-

den auf den Boden gestoßen und beklopft. Die Extension betrifft auch die Verän-

derung der Raumpositionen, die Hinzunahme der Sichtbarkeit der Musikprodukti-

on sowie das Verhalten der Musiker auf der Bühne. Schnebel schreibt z. B. „an-

strengendes Spiel, schwierige oder mühevolle Interpretation“ oder die „Koopera-

tion der Akteure zum wirklichem Ensemblespiel“ vor (aus der Partitur von ‚an-

schläge-ausschläge’). In ‚Handwerke-Blaswerke’ wird deutlich, dass die Integra-

tion von Erlebnissen und Vorstellungen auch das traditionelle Instrumentalspiel

erweitert. Der Musiker soll während des Instrumentalspiels Empfindungen in die

körperlichen Bewegungen einfließen lassen, „bis schließlich die Organbewegun-

gen zu Musik werden und sie den Körperbewegungen entfließt“ (Schnebel, Parti-

tur von ‚Handwerke-Blaswerke’). Schnebel schreibt z. B. vor:

private (individuelle) Erlebnismaterie eines tiefen Bereichs sehr bewußt im

melodischen Vorgang Ausdruck finden lassen und zugleich zur Mitteilung

gestalten (Schnebel, Partitur von ‚Handwerke-Blaswerke’).

Im Zusammenhang mit der verstärkten Berücksichtigung von sichtbaren und hör-

baren Klangbewegungen in den Bewegungsmodellen und der im Text ‚Klang und

Körper’ thematisierten Trennung zwischen sichtbaren und körperlichen Klängen

zeigt sich, dass auch der Raum in Schnebels Musikästhetik eine besondere Stel-

lung einnimmt. Er wird dabei von seiner objektiv-messbaren Größenkonstante

gelöst und um eine subjektiv-ästhetische Dimension erweitert.312 Vier unterschied-

liche Raumauffassungen lassen sich verorten.

______________

312 Vgl. Kap. III.1.2.1

268 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

1. In ‚raum-klang y’ wird die Bewegung von Klängen im Raum durch

verschiedene Spielpositionen der Musiker berücksichtigt.

2. Der Mensch besitzt einen inneren Klangraum, in dem die ‚Organtätig-

keiten’ erklingen. In den ‚Maulwerken’ lässt Schnebel diesen fast un-

sichtbaren Raum über die Vergrößerung der Artikulationsorgane

durch Reproduktionsgeräte sichtbar werden.

3. Die szenisch-theatralischen Aktivitäten, wie z. B. in ‚Anschläge-

Ausschläge’, verweisen auf eine Berücksichtigung des Raumes als ex-

pressive Spielbühne.

4. In den ‚Museumsstücken I/II’ dient der Raum als inspiratives Zentrum

für die Kompositionsanlage, da das Erklingende in Relation zu den im

Raum vorhandenen Kunstobjekten gesetzt wird.

Alle vier Auffassungen verweisen auf die Leiblichkeit, welche die subjektiven

Raumwahrnehmungen begründet. Erst aus der bewussten Eigenwahrnehmung,

also der Position des Rezipienten und Produzenten im Raum, wird deutlich, dass

Entfernungen eingeschätzt oder Sinnhorizonte wie ‚Nicht-mehr-Sichtbares’ oder

‚Noch-nicht-Sichtbares’ synthetisiert werden und von der individuellen Verfas-

sung des Subjekts abhängen.

Neben dem Raum erhält auch die Sprache eine ästhetische Grundierung. Schnebel

versteht Sprache und Bewegung als zwei gleichwertige kompositorische Baustei-

ne, aus denen sich immer neue experimentelle Gestaltungsprozesse ableiten. Be-

reits Titel wie ‚Körper-Sprache’ oder ‚Laut-Gesten-Laute’ verweisen auf deren

wechselseitige Durchdringung und gleichwertige musikalische Behandlung. Spra-

che wird in ihrer ureigenen Klanglichkeit als experimenteller Klangerzeuger ver-

standen und ihr wird die Funktion als Mittlerin eindeutig fixierbarer Bezüge ent-

zogen. Schnebel fokussiert ihr prärationales Ausdruckspotenzial abseits fester

semiotischer Regeln. In den ‚Maulwerken’ wird Sprache von ihrem semantischen

Kontext befreit und durch Laute und Geräusche um eine elementare Ausdrucks-

schicht erweitert. In ‚Körper-Sprache’ wird die Auffassung der Sprache als akus-

tische Äußerung bewusst aufgehoben und durch eine metaphorische Sprachlich-

keit der Bewegung radikalisiert. Die Eindimensionalität eines syntaktisch-

Bewährung · 269

semiotischen Systems von Verweisen und Bedeutungen wird als unzureichend

deklariert. Die Lauterzeugung ist als expressive Mitteilung ursprünglich und durch

die korporale Stimmproduktion mit dem Ausdruck des Subjekts verbunden.313 Die

Sprache wird so zu einem offenen ästhetischen Erfahrungsfeld, das auf der Ex-

pressivität menschlicher Ausdrucksformen (Sprache und Bewegung) beruht und

das Zusammenspiel der Musiker bzw. Darsteller ermöglicht.

Hierbei ergeben sich konkrete Bezüge zur Leiblichkeit, speziell zur Qualität der

‚Interkorporalität’, denn Schnebel thematisiert über die musikalischen Aktionen

hinaus auch zwischenmenschliche Reaktionen und Verhaltensweisen. Die sichtba-

ren und hörbaren ‚Beziehungen’ der Musiker untereinander etablieren ein musika-

lisches Spiel von Selbst- und Fremderfahrungen, das weniger aus einem möglichst

technisch präzisen Zusammenspiel der Instrumentalisten als vielmehr aus der

Inszenierung sozialer Verhaltensformen resultiert, welche die Akteure über Gesten

und Bewegungen entwickeln.

Der Bezug zur Interkorporalität zeigt sich ferner in der Etablierung vieldeutiger

Kommunikationsformen und der damit verbundenen Aufhebung von Bewegungs-

ritualen. Die weit gefassten verbalen Anweisungen zum Bewegungsverhalten, die

grafischen Notationen unterliegen keinem Schematismus, sondern fördern die

Bereitschaft zur improvisatorischen Arbeit und zu neuen Interaktionsformen.

Schnebel sucht geradezu nach symbolischen Titeln (‚Mundstücke’, ‚Zungenschlä-

ge’, Lippenspiel’) und ist bestrebt, mit mehrdeutigen emotionalen Anweisungen

und Darstellungsformen (‚erspüren’, ‚unterdrücken’, ‚ausdehnen’) immer neue

musikalische Kommunikationsformen zu etablieren.314 Die Entstehung einer

sichtbaren und hörbaren Musik mündet somit letztlich auch in einer interaktiven

Musik, die sich als Ergänzung zum ‚Erweiterten Musikbegriff’ verstehen lässt.

Neben den Alltagsklängen erhalten nun auch zwischenmenschliche Verhaltens-

formen wie ‚Darstellen, Mitmachen, Reagieren, Begegnen’ ihre spezifisch ästhe-

tisch-musikalische Berechtigung und ermöglichen eine konkrete Bezugname auf

die Qualitäten der Leiblichkeit.

______________

313 Vgl. Kamper/Wulf 1984a sowie Kap. I.1.2.1 314 Die Titel und verbalen Anweisungen stammen aus den ‚Maulwerken’.

270 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Musikpädagogische Zugänge

Im Rahmen der Darstellung musikpädagogischer Zugänge werden weniger spezi-

fische Einsatzmöglichkeiten verschiedener Kompositionen für die Praxis noch

Unterrichtsmaterialien oder ein ausführliches musikdidaktisches Konzept vorge-

stellt. Vielmehr wird eine vertiefende Auseinandersetzung mit den unterrichts-

praktischen Horizonten verschiedener Kompositionen Schnebels angestrebt. Dabei

wird auch die praktische Dimension der Leiblichkeit in seinen Bewegungsmodel-

len auf einer Metaebene konkretisiert.

Die Relevanz für eine schulische Beschäftigung mit Schnebels Kompositionen

unter Berücksichtigung der Bewegungsmodelle liegt in der Herausstellung der

ästhetischen Dimension musikalischer ‚Produktionsprozesse’. Darunter werden

ganz im Sinne Schnebels die vielfältigen Tätigkeiten während der Instrumental-

oder Stimmaktionen verstanden, die immer auf die Leiblichkeit als Basis der Ton-

erzeugung verweisen. In diesem Zusammenhang gilt es, die elementaren ästheti-

schen Erfahrungen während der Klanggestaltung hervorzuheben.315

In einer schulischen Erarbeitung verschiedener Werke Schnebels ist es sinnvoll,

zwischen den drei Themenfeldern ‚Sprachkompositionen’, ‚Bewegungskomposi-

tionen’ und ‚Instrumentalkompositionen’ zu unterscheiden. In den Sprachkompo-

sitionen wird die Stimme in ihrer vielschichtigen Klanglichkeit erprobt. Dazu

gehört auch, den Schülern Vorstellungen von den Bewegungen der inneren Orga-

ne als Klangerzeuger zu vermitteln. In den Bewegungskompositionen wird eine

stumme Musik der Gesten und Bewegungen im Unterricht erprobt. Hierbei wer-

den die Bewegungen des ganzen Körpers von Kopf bis Fuß als Klangquelle in die

musikalische Gestaltung integriert.316 In den Instrumentalkompositionen werden

die instrumentalen Tätigkeiten sowie die damit verbundenen Klänge behandelt. In

diesen Produktionsprozessen wird den Schülern auch die Extension herkömmli-

cher Spielweisen verdeutlicht. Hierbei geht es weniger um die Präparation von

Instrumenten als vielmehr um die Bewusstmachung von neuen Klangerzeugungs-

______________

315 Vgl. Kloppenburg 2002, 207 ff. 316 Hier ist auch ein Unterschied zur so genannten ‚Bodyperkussion’ festzustellen, die sich

erstens nur mit Schlagtechniken auseinandersetzt und weitere Spieltechniken ausschließt. Zweitens werden Klänge von Perkussionsinstrumenten imitiert. Drittens sind nur die Klänge der Füße, der Hände, Brust und Knien eigenständige Klangquellen.

Bewährung · 271

methoden unter Berücksichtigung der einzelnen Spieltechniken (Streichen, Bla-

sen, Schlagen), der Materialien des Instruments (Holz, Metall sowie Saiten,

Mundstücke) und der Integration der Klänge von ‚Alltagsgegenständen’. Die

musikalischen Voraussetzungen seitens der Schüler betreffen Neugier gegenüber

ungewöhnlichen Klängen, Experimentierfreudigkeit und v. a. Erfahrungen in der

improvisatorischen Arbeit, wie z. B. in der Realisierung grafischer Notationen.

In allen drei Themenfeldern wird dabei ein Schwerpunkt auf die Hörbarkeit oder

Sichtbarkeit von ‚Produktionsprozessen’ gelegt. Die Schüler erfahren so, dass

Klänge als Resultate immer auf die Faktoren ihrer Entstehung bezogen sind und

demnach auch stumme und sichtbare Bewegungen zum musikalischen Produkti-

onsprozess gehören. Bei allen drei Bereichen steht ferner die Wahrnehmung ‚von

etwas als etwas’ im Zentrum des Unterrichts. Hierzu gehört zum einen die Raum-

wirkung von Klängen, die nach dem bewussten Hören von Nähe und Ferne ver-

langt. Zudem lassen sich über Bewegungen Klänge transportieren, die sich ver-

dichten und auseinander fließen. Die Thematisierung von Raumklängen akzentu-

iert auch die Bedeutung der Klanglichkeit anderer Orte, wie Naturgegenden oder

sakrale Plätze.

Da Schnebel in seinen Kompositionen die Verhaltensweisen der Musiker auf der

Bühne thematisiert, erhält hinzukommend das sozial-kommunikative Potential der

Schüler während der musikalischen Erarbeitung eine Bedeutung. Demnach wird

die interkorporale Erarbeitung der Werke in den Kern des Unterrichts gestellt.

Schnebels kompositorischer Ansatz, den Interpreten zunächst Übungen bereit zu

stellen, diese weiter auszudifferenzieren und in eine abschließende Gestaltung

einmünden zu lassen, kann als grundlegende methodische Erarbeitungsform im

Unterricht angesehen werden.

Schnebels offenes Werkverständnis und die damit verbundene Aufgabe des Inter-

preten, sein subjektives Sprach- und Bewegungsempfinden in das Werk zu integ-

rieren, erfordert ferner von Schülern die Auseinandersetzung mit den eigenen

sowie mit fremden Ausdruckspotenzialen, die oftmals in der traditionellen Spiel-

praxis im Musikunterricht unberücksichtigt bleiben. Dort steht weitestgehend die

technisch-instrumentale Beherrschung mittels Noten im Vordergrund. Die Thema-

tisierung der Selbst- und Fremderfahrung im Unterricht eröffnet neben der expe-

rimentellen Ausbildung musikalisch-instrumentaler Fähigkeiten auch eine enorme

Erweiterung der Sozialkompetenz. Sie beruht im hohen Maße auf den Qualitäten

der Leiblichkeit, da ästhetische Erfahrungen von sich selbst und von Anderen in

interkorporalen Darstellungen vollzogen werden. In Bezug auf die Kompositionen

272 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Schnebels wird hier v. a. deren szenisch-theatralische Dimension bedeutsam, da

Kommunikationsformen entstehen, die über konventionalisierte Zeichensysteme,

wie z. B. traditionelle Notationsformen, hinaus gehen. Die Herausstellung der

individuellen Klänge der Sprache und der Bewegung bedarf auf Seiten des Leh-

rers Geduld. Erfahrungsgemäß reagieren die Schüler auf die Herausstellung ex-

pressiver Darstellungen reserviert und distanziert, da auch Intimschwellen ange-

sprochen werden und bewegungsärmere Schüler leicht kritisiert werden können.

Im Rahmen der Bedenken wäre es allerdings fatal, die unterschwelligen symboli-

schen Schichten von Musik und den indirekt verbundenen therapeutischen Wert

zu unterschätzen.

Neben dem Erwerb der Sozialkompetenz führt das Wechselverhältnis von Sprach-

und Bewegungsklang zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit den oftmals

konstatierten Defiziten in der Motorik und Artikulation der Schüler. Während

z. B. in den ‚Handwerken-Blaswerken’ die spezifischen Klangerzeugungstechni-

ken thematisiert werden, führt die Erarbeitung der Lauterzeugung der Stimme in

den ‚Maulwerken’ zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem individu-

ellen Ausdrucks- und Artikulationsvermögen. In ‚Laut-Gesten-Laute I/II’ werden

wiederum Sprache und Gestik miteinander kombiniert und der symbolische Ge-

halt von Sprache und Bewegung vermittelt.

Schnebel integriert in die Partituren oftmals grafische Notationen oder verbale

Anweisungen, so dass die Erarbeitung im Unterricht keine spezifische Noten-

kenntnis voraussetzt. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Kompositionen nur

von Laien realisieren lassen. Gerade die sich steigernde Komplexität, das Wech-

selverhältnis von Musizieren, Sprechen und Szenischem Spiel bedeutet selbst für

professionelle Musiker lange Übung und die Bereitschaft, sich auf ‚das Neue’

einzulassen. Die aufbauende Komplexität eignet sich für die Berücksichtigung der

unterschiedlichen Leistungsstärke der Schüler. Gleichermaßen fördert der Einbe-

zug von Gestik, Mimik und Szenischem Spiel im Unterricht keinesfalls nur ‚moto-

risch begabte’ Schüler, denn Schnebel legt Wert auf das individuelle Ausdrucks-

vermögen, die Entschlüsselung von Spielanweisungen, die Thematisierung unge-

wöhnlicher Darstellungsformen sowie die Arbeit an individuellen Ausdruckspo-

tentialen.

In Form arbeitsteiliger Gestaltungsaufgaben lassen sich so auch die verschiedenen

Teile der Komposition aufgliedern und dann im Rahmen einer Gruppenpräsentati-

on zusammenführen. Dabei ist es denkbar, dass die Schüler selbständig Partituren

Bewährung · 273

entwerfen oder die Übungen auf anderen Gebieten bzw. mit anderen Materialien

weiter ausdifferenzieren.

In diesem Zusammenhang liegt auch eine fächerübergreifende und gesamtkünstle-

rische Erschließung der Kompositionsverfahren nahe. Der Zusammenschluss von

verschiedenen Künsten, wie z. B. bildende Kunst, Literatur, Musik und Theater,

eröffnet Möglichkeiten der Behandlung einzelner Kompositionselemente in ande-

ren Fächern, in Kunst (Bildinterpretation, z. B. ‚Museumsstücke I/II’), Deutsch

(Phoneme, z. B. ‚Maulwerke’), Theater (szenische Musik, z. B. ‚visible music’) bis

hin zu Sport (Körperbeherrschung, z. B. ‚Körper-Sprache’), Biologie (physische

Grundlagen der Klangerzeugung, z. B. ‚Maulwerke’) und Physik (Räumlichkeit

des Klangs, z. B. ‚raum-zeit y’). Im Musikunterricht ergibt sich die Auseinander-

setzung mit grafischen Notationen, anhand derer die Frage nach der Freiheit bzw.

Festlegung von Kompositionsverfahren in der Neuen Musik (serielle Kompositi-

onstechnik, Improvisation) diskutiert wird. Auch gesellschaftliche Aspekte, wie

die Ritualisierung des Konzertbetriebs und die Reduzierung der Musik auf eine

multimediale Performance, ließen sich weiterverfolgen.

Musikalisches Handeln bedeutet, dass in kreativer Weise ein Sich-in-Beziehung-

Setzen zur Welt geübt wird. Dieses auf den ersten Blick abstrakte Postulat wird im

Rahmen seiner Erziehungsdimension umso deutlicher, wenn hierunter die „volle

Verantwortlichkeit für das eigene Handeln wie auch ein hohes Maß an zuhörender

Sensibilität für den einen oder anderen Mitspieler“ gefordert wird. Im Rahmen

didaktischer Zielsetzungen bedeutet dies erstens das Erlernen produktiver statt

reproduktiver Fähigkeiten sowie die damit eng verbundene Integration der indivi-

duellen Sprach- und Bewegungsexpressivität des oder der Interpreten. Offener

Unterricht fordert auf der Seite des Lehrers das ‚Offen-Sein’ für das ‚Musikalisch-

Offene’, und das beinhaltet die Akzeptanz, ‚Störungen’ (Unruhe, Affektivität)

zuzulassen, und die Aufgabe, sich selbst eher als Initiator von Spielsituationen zu

verstehen.

Zum Schluß ein Wort über die Funktion des Musiklehrers. Er hat in solcher

Arbeits-Gemeinschaft nicht so sehr die Rolle des Leiters und des Ein-

Studierenden als die des ‚Animateurs’, der immer wieder für Anregungen

sorgt – und von dem man solche erwartet (Schnebel,1993, 163).

Unterrichtsmethodisch wird folglich ein Unterricht angestrebt, der Ungeplantes

akzeptiert, mit Unverallgemeinerbarem rechnet und Brüche zulässt. Die Themati-

sierung offener Unterrichtssituationen bedeutet keine Willkür in der Erarbeitung

274 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

oder die Akzeptanz jeglichen experimentellen Klangergebnisses, sondern die

ständige vertiefende Ausarbeitung von Klangerfahrungen und Bewegungserleb-

nissen. Im Zentrum steht dann die Wahr-nehmung (aisthesis) der Schüler, die

ihnen die Freiheit gibt, ästhetisch-musikalische Erfahrungen über Produktionspro-

zesse selbst zu inszenieren.

Im Rahmen der Fragestellung, inwieweit die Kompositionen Schnebels innerhalb

der Unterrichtspraxis realisierbar sind, lassen sich auch seine Berufserfahrungen

als Musik- und Religionslehrer am ‚Oskar von Miller Gymnasium’ in München-

Schwabing von 1972-1976 heranziehen. Er gründete dort die ‚Arbeitsgemein-

schaft Neue Musik’, die bei Veranstaltungen im In- und Ausland auftrat. Diese

‚AG’ war maßgeblich an der Uraufführung der ‚Maulwerke’ beteiligt.317 Ferner

sind einige Zyklen in den 1970er Jahren, wie z. B. ‚Schulmusik’, speziell für die

praktische Arbeit mit Neuer Musik in solchen Ensemblegruppen geschrieben

worden.318 Für Schnebel bedeutet seine kompositorische Tätigkeit für die Schule

die Gestaltung von musikalischen Situationen, in denen er, wie bereits im Unterti-

tel angedeutet, das Erfahren, Üben, Anregen, Aneignen, Lernen, Erproben und

Verändern im Unterricht hervorhebt. Ähnlich wie in den ‚Maulwerken’ werden

den Schülern Materialtafeln, Vorschläge und Formverläufe zur experimentellen

Klangerzeugung gegeben. Unter der Verwendung von Alltagsgegenständen wie

Münzen (‚Zahlen für (mit) Münzen’) oder Stühlen (‚Stuhlgewitter’) werden musi-

kalische Lernprozesse entworfen, die zur Realisation konkreter szenischer Situati-

onen auffordern.

Der Hintergrund dieser als ‚work in progress’ angelegten Arbeit ergibt sich aus

einer veränderten Arbeitsauffassung der Schüler im Musikunterricht, die „Arbeit

als Selbstverwirklichung des Individuums begreift – was keineswegs meint, daß

sie bloßer Spaß sei“ (Schnebel, Vorwort aus Schulmusik). Demnach wird auch von

Schnebels Seite die gegenseitige Rücksichtnahme und die Entfaltung von Indivi-

dualität hervorgehoben.

______________

317 Die Sängerin Carla Henius war „neidisch“ auf die Spontaneität der Jugendlichen, „die weni-ger verbraucht die Szene wie einen Spielplatz betraten“ (Henius 1993, 140). Auch Schnebels Kompositionen ‚Blasmusik’ und ‚Gesums’ wurden von der Arbeitsgemeinschaft uraufge-führt. Sie setzten sich auch nach Schnebels Berufung zum Professor für Experimentelle Mu-sik und Musikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin über Generationen fort.

318 Schulmusik zum Erfahren, Üben, Anregen, Aneignen, Lernen, Erproben, Verändern (1973-1977)

Bewährung · 275

Unter Kritik gerät der ‚traditionelle Musikunterricht’, der oftmals durch Frontalun-

terricht und ‚abfragbarem Wissen’ bestimmt ist. Ferner beanstandet Schnebel eine

elitäre Musikausbildung, die einzig von den technischen Fähigkeiten und der

Anonymität der Interpretation bestimmt wird.319

Wenn Schnebel im Rahmen seiner musikpädagogischen Tätigkeit die Erfahrungen

mit Arbeitsgemeinschaften hervorhebt, fokussiert er gleichzeitig eine zentrale

Erarbeitungsform seiner Kompositionen im Unterricht: die Ensemblepraxis.

In Form einer regelmäßigen und vertiefenden Ensemblepraxis kann „etwas wach-

sen, kann sich Verständnis bilden, können sich neue Arten des Musizierens entwi-

ckeln und vermag Gemeinschaft als Aufeinander-Hören, Sich-Auseinander-

Setzen, Zusammen-Gestalten allmählich entstehen“ (Schnebel 1993, 160). 320 Das

gemeinsame Musizieren, die Aufhebung musikalischer Normen, die gleichwertige

Behandlung der Teilnehmer, die zwischenmenschlichen Interaktionsformen und

die Integration von Instrument, Stimme, Körper und Alltagsgegenständen ermög-

lichen neuartige musikalische Wahrnehmungs- und Lernmöglichkeiten ‚mit allen

Sinnen’.

Ortwin Nimczik und Wolfgang Rüdiger heben innerhalb der Frage nach der Eig-

nung Neuer Musik für die schulische Praxis ausdrücklich hervor, dass in der En-

semblearbeit immer auch vielfältige Zugänge für neue Körpererfahrungen gege-

ben sind.

______________

319 In ‚Blasmusik’ aus Schulmusik soll in der Aufführung „Aggressivität herauskommen: hier wird auf einige(s) gepfiffen oder einigen(m) der Marsch geblasen“ (Schnebel, Vorwort zu Blasmusik).

320 Unter dem schillernden und historisch wandelbaren Begriff ‚Ensemble’ wird hier ganz im Sinne des ‚qualitativen Ensemblebegriffs’ das Zusammenwirken verschiedener Musikerper-sönlichkeiten verstanden. In Bezug auf die Neue Musik wird auf den emanzipatorischen Mu-sikbegriff Bezug genommen, der Klänge und Geräusche sowie verschiedene Gestaltungsmög-lichkeiten in den musikalischen Produktionsprozess integriert. Der utopische Anspruch, der den Worten Schnebels anhaftet, zeugt von der euphorischen Grundstimmung, mit der sich die Arbeitsgemeinschaft zeitgenössischen Werken näherte.

276 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Denn der menschliche Körper ist an sich schon musikalisch im vielfältigen

Zusammenspiel seiner inneren und äußeren Bewegungen. Die wichtigsten

Grundlagen des Ensemblespiels sind darum auch körperliche Grundlagen:

Haltung, Atmung und Bewegung, erfüllte Augen-blicke und die vielgestalte-

te Gestik der Zuwendung und des ausdrucksvollen Miteinander (Nimc-

zik/Rüdiger 1997, 11).

Die beiden Autoren weisen auch auf das Wechselverhältnis zwischen Körperlich-

keit der Musik und Musikalität des menschlichen Körpers hin, „der Musik als

offenes fließendes Geschehen immer neu hervorbringt, und die Körperlichkeit der

Musik, die Menschen immer wieder zu verändern vermag, finden ihre höchste

Form der Erfüllung in gemeinsamer musikalischer Gestaltungsarbeit: im En-

semblespiel“ (Nimczik/Rüdiger 1997, 11). Im speziellen Falle der Kompositionen

Schnebels ließen sich gerade hier die Bewegungsmodelle in die Ensemblearbeit

integrieren, denn sie erfüllen durch ihren Schwerpunkt auf Bewegungen, Gestik,

Sprache und Klang die Voraussetzungen für eine Verbindung der Pole ‚Musikali-

tät des Körpers’ und ‚Körperlichkeit der Musik’.

2.2.3 Globokar: ‚Musique Engagée’

Für eine Beschäftigung mit der Kompositionsästhetik Vinco Globokars im The-

menbereich dieser Arbeit sprechen zwei Gründe. Erstens setzt er sich in seinen

Kompositionen und Texten intensiv mit der Erweiterung traditioneller Spieltech-

niken und dem damit verbundenen Körpereinsatz der Spieler während des Musi-

ziervorgangs auseinander.321 Zweitens lernte Globokar Sartre und Merleau-Ponty

persönlich kennen und beschäftigte sich mit deren ästhetischen und phänomenolo-

gischen Anschauungen. Dabei erhielten die ‚Analysen zum Leibbegriff’ einen

zentralen Stellenwert und beeinflussten sein musikalisches Schaffen.322

Im vorliegenden Kapitel werden ästhetische Standpunkte Globokars anhand ver-

schiedener Texte und Kompositionen dargestellt. Das Ziel liegt in dem musikpä-

dagogischen Anspruch begründet, den Schülern Globokars ‚ästhetisches Weltbild’

näher zu bringen, um seine kritisch-skeptische Musikanschauung zu verdeutli-

chen.

______________

321 Der Begriff ‚Kompositionsästhetik’ wird hier in einem weiten Sinne verwendet und umfasst die ästhetischen Implikationen der Kompositionen Globokars.

322 Globokar lernte Merleau-Ponty über den Komponisten und Dirigenten René Leibowitz ken-nen, der ihm Kompositionsunterricht erteilte. Vgl. Leibowitz 1950

Bewährung · 277

Globokar stellt in seinen Kompositionen sowie in seinen Texten konventionelle

gesellschaftliche Verhältnisse in Frage und sucht nach einem authentischen Enga-

gement des Komponisten und Interpreten. Dieser Ansatz impliziert, die ‚Wahrhaf-

tigkeit der Kunst’ innerhalb des gesellschaftlichen Umfelds aufzudecken. Globo-

kar sucht „nach etwas wichtigerem als die Musik selbst. Etwas, das mit dem Le-

ben zu tun hat: soziale, politische, psychologische Probleme, vielleicht auch Poe-

sie“ (Globokar, zit. nach Dibelius 1998, 512). Die durch die Extrapolation exi-

stenzieller Grunderfahrungen verbundene Verantwortung des Komponisten und

Interpreten verdeutlicht sein grundsätzliches Anliegen einer ‚Musique Engagée’.

Ich habe mich seit langem mit dem sogenannten „musikalischen Engage-

ment“ beschäftigt. Vor vier oder fünf Jahren noch verstand ich darunter

ausschließlich die Verwendung humanistischer oder politischer Texte. […]

Wichtig ist meines Erachtens jedoch die Art wie Musik gemacht wird.

Wenn man Musiker konditioniert, wenn man ihnen erklärt, was sie tun sol-

len, wenn man kontrolliert, was sie tun, […] macht man aus ihnen eine Art

„Töne produzierende Objekte“.323

Der im Zitat deutlich werdende kritische Ansatz ist eng mit Globokars Kindheits-

erfahrungen verbunden, da er als Sohn slowenischer Eltern nach Frankreich emi-

grieren musste. In seiner Erziehung wurde er v.a durch die slowenische Musikkul-

tur, insbesondere durch die traditionelle Volksmusik, geprägt. Die engen sozialen

Verbindungen zwischen den Arbeitern bestimmten sein kulturelles Umfeld und

ließen ihn Musik als existenzielle Form des Aus- und Überlebens erfahren. Im

Anschluss an sein Posaunenstudium am Pariser Konservatorium begann eine in-

tensive Konzerttätigkeit. Parallel hierzu nahm er Kompositionsunterricht bei Luci-

ano Berio, der die „ästhetische und teilweise auch thematische Ausrichtung der

kompositorischen Anfangsphase“ vertiefte (König 1977, 7).324 Vinco Globokar

„gehört somit zu den wenigen ‚Komponisten-Interpreten’, welche die Gegenwart

als produzierender Komponist und zugleich als reproduzierender Komponist mit-

gestalten“ (Nimczik 22003, 281). Diese Doppelbegabung, die am ehesten mit der

des Komponisten und Oboisten Heinz Holliger vergleichbar ist, hat maßgeblich

______________

323 Globokar, V.: Laboratorium. Texte zur Musik 1967-1997, hg. von S. Konrad, Saarbrücken 1998 [=Quellentexte zur Musik des Zwanzigsten Jahrhunderts Bd. 3.1], S. 348; im Folgenden zit. als ‚LT’

324 In gemeinschaftlicher Arbeit mit Berio entstand zwischen 1964-65 die ‚Sequenza V’ für Po-saune solo.

278 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

zur Emanzipation der Posaune als Soloinstrument in der Neuen Musik beigetra-

gen. Bedingt durch eine vielfältige Tätigkeit als Interpret und Komponist lässt sich

Globokars Werk nur schwer schematisieren. Seine Arbeit basiert auf Analysen,

Untersuchungen, Experimenten und Voraussetzungen. Er differenziert zwischen

drei grundsätzlichen Untersuchungsfeldern: „1. das Schaffen unterschiedlicher

Beziehungen zwischen Instrument und Körper, 2. die Entwicklung von psycholo-

gischen Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Mitwirkenden, 3. die Bezie-

hungen und Einflüsse zwischen Musiker und elektronischer Apparatur“ (LT 369).

Diese drei grundlegenden Felder unterteilt Dibelius in sieben verschiedene thema-

tische Schwerpunkte. Sie beziehen sich auf das Verhältnis „des Interpreten zu

seiner Spieltechnik, zu ungewohnten gestischen Aktionen, zu fremden Materia-

lien, zu seiner Stimme, zu seinen Mitspielern wie auch zu anderen Einwirkungen

von außen und schließlich zum Publikum“ (Dibelius 1998, 512).325 Eine ähnliche

Strukturierung in sechs ‚Aktionsfelder’ trifft auch Nimczik und unterscheidet

„instrumentale Spiel- und Klangtechniken, Gestik, fremde Klangquellen, Bezie-

hung Stimme-Instrument, reaktives Verhalten der Spieler und Beziehung Musiker-

Publikum“ (Nimczik 22003, 281). Aus den Einteilungen wird bereits ersichtlich,

welchen hohen Stellenwert die instrumentalen Tätigkeiten und die Kommunikati-

on mit anderen Mitspielern erhalten.

Globokars kompositorischer Ansatz lässt sich am ehesten in die Kategorie der

offenen Werkkonzeptionen einordnen, die seit der Jahrhundertmitte des 20. Jahr-

hunderts einen zäsurartigen Umbruch im musikalischen Geschehen markieren.

Die ästhetischen Anschauungen in Umberto Ecos ‚Das offene Kunstwerk’ eröff-

nen zahlreiche Interpretationsansätze, um die vielschichtigen ästhetischen Erfah-

rungs- und Interpretationsgrundlagen in der Moderne aufzudecken.326 Auf infor-

mationstheoretischen Grundlagen wird ein offenes hermeneutisches Modell ent-

wickelt, das die heterogenen Rezeptionsbedingungen zwischen Werk, Künstler

und Konsument als zentralen Bereich ästhetischer Erfahrung hervorhebt.327 In

Anlehnung an die Phänomenologie Husserls, Sartres und Merleau-Pontys be-

stimmt Eco diese Offenheit als „Ambiguität“, die er als Wagnis begreift, „aus der

Konventionalität der gewohnten Erkenntnis herauszutreten, um die Welt in einer ______________

325 Auch Bozić differenziert zwischen sechs Forschungsgebieten, die sie nicht näher expliziert. Vgl. Bozić 1991

326 Vgl. Eco 1973; Ecos musikästhetische Analysen in ‚Das offenen Kunstwerk’ greifen v. a. die Kompositionsprinzipien Berios auf, der Globokars Freund und Lehrer war.

327 Eco bezieht sich hierbei auf das Dreiecksverhältnis von ‚Symbol, Referent und Referenz’.

Bewährung · 279

Frische der Möglichkeiten zu erfassen, die vor jeder gewohnheitsmäßigen Festle-

gung liegt“ (Eco 1973, 50).

In Bezug auf die Kompositionen Globokars ergeben sich deutliche Parallelen zur

Theorie des ‚offenen Kunstwerks’.328 Paradigmatisch kann hierfür der Zyklus

‚Laboratorium’ angeführt werden. In ihm werden insgesamt 55 Stücke für 11

Instrumentalisten (zehn Instrumentalisten und ein Koordinator) variabel miteinan-

der kombiniert. Die Stücke sind in beliebiger Reihenfolge und gleichzeitiger

Überlagerung kombinierbar. Die Partitur gibt nur einen groben Synchronisations-

plan wieder. Sie weist ganz im Sinne Ecos auf die offene Werkkonzeption hin und

verdeutlicht ferner den bewussten Bruch mit einer Tradition, die das Kunstwerk

zeitlich und formal determiniert. Die Bühne wird zu einem Ort simultaner musika-

lischer Tätigkeiten, an dem die Musiker an mehreren Projekten ‚arbeiten’, Instru-

mente transportieren, neue Spielpraktiken entwickeln oder erklären, was sie gera-

de spielen, welche Aktionen die Mitspieler ausüben oder welche elektronischen

Instrumente bedient werden.

Im Grunde genommen handelt es sich nicht mehr um ein abgeschlossenes

Werk, sondern um verschiedene Arbeitsläufe, um eine Art Operationstisch,

auf dem das Räderwerk der musikalischen Praxis enthüllt wird (LT 369).

Die ‚Offenheit des Kunstwerks’ findet sich in den freien musikalischen Gestal-

tungs- und Synchronisationsmöglichkeiten seitens der Mitspieler wieder. Bewusst

aufgestellte Gegensätze, Auflösungen und ‚In-Frage-Stellungen’ der interaktiv

verlaufenden Handlungen repräsentieren ein sich ständig weiter entwickelndes

Laboratorium, „in dem in Echtzeit und unter dem Blick von Zeugen eine mehr

oder minder festgelegte Musik geschaffen“ wird (Globokar 1994, 79).

Wie bereits erwähnt, entwickelte sich über den Komponisten René Leibowitz ein

intensiver persönlicher Kontakt zwischen Globokar, Sartre und Merleau-Ponty.

Zentrale Themen dieser Gespräche waren grundlegende musikästhetische Frage-

stellungen, speziell zur Aufgabe der einzelnen Künste sowie der damit verbunde-

nen sozialen Verantwortung des Komponisten.

______________

328 Aus den Schriften Globokars ist nicht zu entnehmen, ob eine Auseinandersetzung mit der Ästhetik Ecos stattgefunden hat. Durch die Bekanntschaft von Eco und Berio ist eine Beein-flussung durchaus möglich.

280 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Sartre unterscheidet in seinem Essay ‚Was kann Literatur?’ zwischen begrifflicher

und nichtbegrifflicher Kunst.329 In Anlehnung an die historisch fundierte Differen-

zierung zwischen Inhalts- oder Formalästhetik kommt der Musik als ‚Spezialäs-

thetik’ eine rein beschreibende Funktion zu, während die Sprache aus seiner Sicht

ein Instrument der kritischen Reflexion gesellschaftlicher Zustände ist. Musik

scheitert also im Versuch, die Realität darzustellen, da sie Symbole verwendet,

aber keine Inhalte transportiert. Auch die Lyrik benennt nur „Wörter als Dinge

und nicht als Zeichen“ (Sartre 21958, 14) und ist somit für die Wiedergabe der

Realität ungeeignet. Nach Sartre bietet sich daher nur in der Prosa die Darstellung

eines unverwechselbaren politisch sozialen Engagements an.

Leibowitz relativiert in seiner Schrift ‚L’artiste et sa conscience‘ (1950) Sartres

skeptische Ansicht gegenüber der gesellschaftlichen Relevanz von Musik.330 Er

verweist auf Interdependenzen zwischen Komponist, Werk und Gesellschaft und

schreibt der Musik eine soziale Verantwortung (‚responsabilité sociale’) zu. Diese

lässt sich zwar nicht ‚zwischen den Tönen’ nachweisen, liegt aber im Willen des

Komponisten begründet, sein musikalisches Engagement durch die „Wahl eines

spezifisch gesellschaftlichen Sujets“ auszudrücken (Konrad 1998, 21).

Auch Globokar kommentiert Sartres Essay und überträgt die darin enthaltenen

Grundfragen ‚Was heißt schreiben? Warum schreiben? Für wen schreibt man?’

auf eine musikalische Ebene.331 Die Kapitelüberschriften in seinem Artikel ‚Von

der Musik wegkommen’ lauten: ‚Welche Funktion hat Musik? – Warum noch

komponieren? – Für wen soll man komponieren?’ Im Gegensatz zu Sartre postu-

liert er thesenartig, dass jede Art von Musik, auch die nicht-engagierte, Produkt

ihrer Zeit ist und ‚Engagement statt Schönheit’ verlangt.332 In diesem Sinne besitzt

der Künstler selbst die Aufgabe, in seiner ‚Tätigkeit’ die gesellschaftlichen Prob-

leme aufzudecken, anzusprechen und zu verändern.

In diesem Rahmen ist es nicht verwunderlich, dass sich Globokar in seinen Texten

auf Adorno bezieht, der die Eigendynamik des Ästhetischen durch die Kraft der

Negation bestehender Zustände und die damit verbundene Antizipation künftiger

______________

329 Vgl. Sartre 21958 330 Vgl. Leibowitz 1950 331 Vgl. LT 85 332 So lautet der Titel eines Essays von Globokar. Vgl. LT 139 ff.

Bewährung · 281

Gesellschaften thematisiert.333 Ganz im Sinne Globokars sieht Adorno das persön-

liche Engagement in der ästhetischen Produktion als kennzeichnende Einstellung

zur Modifikation der fetischisierten Kultur.

Praxis ist nicht die Wirkung der Werke, aber verkapselt in ihrem Wahr-

heitsgehalt. Darum vermag Engagement zur ästhetischen Produktivkraft zu

werden. (Adorno 1997c, 367).

Adornos Musikverständnis wendet sich gegen eine Musikindustrie, die ein Estab-

lishment begründet, das durch Kommerzialisierung und Reproduzierbarkeit tona-

ler Musik systematisch zeitgenössische Entwicklungen ‚ausblendet’. Die eigene

Aufgabe der Kunst, v. a. der Musik, ist Aufklärung durch die bewusste Negation

der bestehenden Verhältnisse, wodurch sie sich als Antithese der Gesellschaft

positioniert. Durch ihre Verneinung bleibt aber ein Kunstwerk dennoch gesell-

schaftskritisch fundiert, denn es „kann dem Zusammenhang der Verblendung

nicht ästhetisch entrinnen, dem es gesellschaftlich angehört“ (Adorno 1997a,

54).334

Auch für Globokar sind weniger die Etablierung des schönen Scheins und das

‚interesselose Wohlgefallen’ Zentralfaktoren einer Musikästhetik als vielmehr

direkte Konfrontationen mit zentralen gesellschaftlichen Fragen, durch welche

soziale Verantwortung des Komponisten zum zentralen Gegenstand der Musik

wird. Der Ausgang von der sozialen Dimension bestimmt die Wahl der musikali-

schen Mittel, das Verhalten der Musiker und letztlich die Form der Komposition.

Dabei wird das Engagement umso deutlicher, je präziser sich die Komposition

dem jeweiligen ‚außermusikalischen Themenfeld’ anpasst.

______________

333 Vgl. LT 80 ff.; Konrad 1998, 13 334 Im Gegensatz zu Globokar manifestiert sich für Adorno in der Kunst eine Abstraktion gesell-

schaftlicher Strukturen als ‚l’art pour l’art’, die eine konkrete Antithese gesellschaftlicher Zu-stände bildet.

282 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Ich suche ein bestimmtes Klangmaterial nicht aus, weil es mir gefällt, son-

dern weil ich es benötige und der Kontext es verlangt. Dies gilt ebenso für

die Musik, denn sie ist nicht präexistent in meinem Kopf, sondern entsteht

als Folge eines vorübergehend auf ein „Sujet“ gerichteten Denkens. […]

Ich kann weitergehen und behaupten, dass jedes in der Natur oder Kultur

präexistente Organisationsmodell als Stimulans und Ausgangspunkt der

Komposition oder des Ingangsetzens eines Prozesses genommen werden

kann“ (LT 13).

In ‚Un jour comme un autre’ (1975) wird z. B. die Haft und Folter einer Türkin

während eines staatlichen Verhörs thematisiert. Tonlängen und -höhen symboli-

sieren körperliche Gesten, welche die Misshandlungen des Opfers darstellen. In

‚Les Emigrés’ (1982-1986) werden Briefe von Auswanderern, Auszüge des Inter-

nationalen Emigrationsrechts, Presseberichte und Poesie auf 15 Sprachen gesun-

gen bzw. gesprochen.

Die ‚radikale Reflexion’ der gesellschaftlichen Umstände im Werk Globokars

zielt stets auf eine kritische musikalische Rationalität. Für Globokar erweist sich

daher jede Form von Musik als eine kompromisslose Anprangerung der zivilisato-

rischen und lebensweltlichen Zustände und ist kein Blend- und Spielwerk, das zur

Entlastung aus dem Lebensalltag führt. Künstlerische Tätigkeit wird zum Spiegel-

bild der Realität und dient der radikalen Kritik an der Oberflächlichkeit und Denk-

faulheit. Der ‚Musikbetrieb’ erstarrt in einer Welt des ‚schönen Scheins’ und be-

schränkt sich auf die Erfüllung der Erwartungshaltungen der Zuschauer sowie den

bravourösen Höchstleistungen der Interpreten. Virtuosität ist für Globokar „etwas

sehr gefährliches“ (Globokar 1994, 11), da sie die Einmaligkeit der ästhetischen

Situation und die Freiheit der individuell-expressiven Darstellung unterschätzt.

Der stagnierten kommerziellen und ritualisierten Aufführungspraxis, in der auch

die Aktionen der Mitspieler untereinander vorgeschrieben sind, stellt Globokar

kollektive Interaktions- und Kommunikationsmodelle entgegen. Unter ‚Kollektiv’

wird ein demokratisch-humanes Handeln von Musikern verstanden, die ein offe-

Bewährung · 283

nes Kunstwerk produzieren.335 ‚Individuum↔Collectivum’ setzt sich z. B. aus

einem Minimum an Vorschriften und einem Höchstmaß an kooperativ umzuset-

zenden Ideen zusammen.336 Erst die Zusammensetzung der Gruppe, ihre unter-

schiedlichen Reaktionsweisen und Umgangsformen ermöglichen die Entstehung

dieses Werks. Kollektivität entsteht demnach durch intersubjektive und kommuni-

kative Handlungsvollzüge innerhalb spontan entstehender ästhetischer Situatio-

nen.

Der Terminus ‚Kollektiv’ verdeutlicht neben der oben aufgeführten Grunddefini-

tion zwei weitere musikästhetische Standpunkte Globokars:

Erstens erhält die Tätigkeit des ‚Hervor-Bringens’ eine zentrale Stellung, da die

Aktionen auf der Bühne über dem erklingenden Resultat stehen. Globokars Musik

ist demnach auch weniger eine ‚Musik zum Zuhören’ als vielmehr ein Ereignis

musikalischer Verhaltensweisen. Im strengen Sinne wird, ähnlich wie in den Be-

wegungsmodellen Schnebels, der ästhetische Produktionsprozess, also die Tätig-

keit der Klangerzeugung, zum Bestandteil von Musik. Die Musiker agieren unter-

einander und produzieren Musik. Daher muss das Verhältnis der Mitspieler

‚stimmig’ sein und darf keinen Hierarchien unterliegen. Ihr kollektives Handeln

‚überträgt’ sich auch auf die Zuhörer und ermöglicht der Musik „Träger für ein

gezieltes Engagement zu sein“ (LT 7). Somit begründet Globokar ein Dreiecks-

verhältnis zwischen Komponist, Interpret und Publikum auf dem Boden humanen

künstlerischen Agierens.

Zweitens verweist der Begriff ‚Kollektiv’ ganz im marxistischen Sinne auf das

Ungleichgewicht zwischen Produktivkräften und Produktionsmitteln. Vergleich-

bar mit der gesamtgesellschaftlichen Verselbständigung, der Agglomeration von

Produktionsmitteln durch den technischen Fortschritt und der Aufhebung einer

Wechselwirkung von sachlich-gegenständlichen und menschlich-subjektiven

Elementen erhält der bewusste Umgang mit dem musikalischen Material einen

neuen Stellenwert. Globokar negiert Schönklang im Sinne der bestmöglichen ______________

335 Aus dem Ansatz des kollektivistischen Musikdenkens erklärt sich auch, dass Globokar bis-lang nur wenige Solostücke komponiert hat. Sie sind entweder Studien (‚Atemstudie’ für Oboe solo), stehen in einem engen konzeptionellen Zusammenhang (‚Echanges’, Res/As/Ex/Inspirer’ ‚Toucher’ oder ‚?corporel’ aus ‚Laboratorium’) oder behandeln spezielle spieltechnische Probleme, wie z. B. die Permanentatmung der Bläser (‚Monolith’ für Flöte solo).

336 Der Begriff ‚Vorschrift’ steht dem musikalischen Engagement durch den damit verbundenen ‚Zwang zu einer bestimmten Handlung’ entgegen. Im vorliegenden Text bezieht er sich auf die in der Partitur ‚schriftlich’ vorgegebenen Gestaltungsmöglichkeiten.

284 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Klangqualität, indem er die „strikte Funktionalität der Mittel fordert, die sich den

Absichten anzubequemen hätten; je nach Notwendigkeit Blockflöte oder […]

Computer“ (Klüppelholz 1994, 13). Die Verwendung der geeigneten Klangerzeu-

gung muss im Zusammenhang mit dem außermusikalischen Themenfeld und der

aktuellen gesellschaftlichen Lage gesehen werden.

In einer ‚Musique Engagée’ sind auch ‚gewöhnliche’ Spieltechniken auf traditio-

nellen Instrumenten eine Beschränkung, da Gebrauchsgegenstände eine Fülle

ungeahnter Klangerzeugungsmöglichkeiten besitzen und durch ihre spezifischen

Verweisungszusammenhängen das Engagement des Interpreten verdeutlichen.

„Dieses Paradies ‚alles ist erlaubt’“ (LT 184) setzt ungeahnte Möglichkeiten der

‚Klangforschung’ frei, die sich auf nahezu alle erdenklichen Gegenstände er-

streckt.337 Neben Materialien wie Aluminium, Blech, Eisen, Filz, Glas, Kautschuk,

Marmor, Metall, Papier, Pappe, Plastik, Schaumgummi, Stahl, Stein und Holz

werden Geräte wie Schreibmaschinen, Trillerpfeifen, Motoren und Ventilatoren

als Instrumente verwendet. Zur Klangerzeugung dienen dabei Bürsten, Holzstü-

cke, Hammer, Ketten und Metalldosen. In ‚Glissements’ werden z. B. Bälle als

Klangerzeuger gewählt, in ‚Jets’ werfen Musiker nach bestimmten Vorschriften

Sand, Papier und Steine auf Klangobjekte und in ‚Traitements Similaires’ benut-

zen acht Interpreten Handwerksgeräte wie Feilen, Sägen und Bohrmaschinen, um

Holz-, Glas-, Plastik- und Metallmaterialien zu bearbeiten, die auf Resonatoren

gelegt sind. Diese radikal andersartigen Spieltechniken verlangen körperliche

Arbeit zur Klangerzeugung und verstoßen gegen instrumentalästhetische Tabus.338

Ausgehend von Klangeigenschaften von Alltagsgegenständen, konzentriert sich

die ‚Klangforschung’ auf die Ausdifferenzierung traditioneller Spieltechniken

sowie die Präparation und Kopplung von Instrumenten. Globokar fordert auch hier

in radikaler Weise die Erweiterung der gewöhnlichen instrumentalen Klangvor-

stellungen und Besetzungen.

______________

337 Der Begriff ‚Klangforschung’ wird letztlich nicht explizit von Globokar erwähnt, verdeutlicht aber sein Grundanliegen einer ‚Musique Engagée’ und steht im engen Bezug zum Zyklus ‚Laboratorium’.

338 Die damit verbundene Schockwirkung seitens des Publikums ist eine (vom Komponisten gewünschte) Begleiterscheinung.

Bewährung · 285

‚Misshandelt die Instrumente nicht, laßt sie machen, wofür sie gebaut wor-

den sind!’ Um diese gängige Phrase zu widerlegen, muß man nur begrei-

fen, daß die Orchesterinstrumente in ihren Möglichkeiten keineswegs so

beschränkt sind, wie man gerne glauben möchte […] (Globokar 1994,

131).

Die Mehrzahl der innovativen Entwicklungen und Ideen finden sich im Bereich

der Kompositionen für Blas- und Schlaginstrumente. Bei den ‚Bläsern’ erfolgt die

Tonerzeugung während des Aus- und Einatmens. Die Spielweisen sind anstren-

gend, da kaum Zeit zum Luftholen bleibt. Zusätzlich werden auch Texte in die

Blasinstrumente gesprochen oder gesungen. Im letzten Falle notiert Globokar

zweistimmige Melodieverläufe. Im Rahmen der Präparationsmöglichkeiten bietet

sich die Möglichkeit an, Wasser in Mundstücke zu schütten (Discours II für fünf

Posaunen) oder das Instrument selbst in einen Behälter voll Flüssigkeit zu halten

(Discours IV für drei Klarinetten). In beiden Fällen entstehen kurze dumpfe Ge-

räusche, die den körperlichen Prozess des Atmens deutlich hervortreten lassen. In

vielen Kompositionen schreibt Globokar vor, welche Haltung die Interpreten mit

ihren Instrumenten einnehmen sollen, um neue Klänge durch ungewohnte körper-

liche Spielhaltung zu erzeugen und den Musiker vor neuen physischen Aufgaben

der Tongestaltung zu stellen.

Die systematische Erforschung neuer Klänge führt auch zu diversen ‚Kopplungen’

von Blasinstrumenten. In ‚Vendre le vent‘ werden z. B. neun Musiker mit Schläu-

chen mit einer Tuba verbunden. Trompeter, Hornist und Posaunist spielen mit

ihren Mundstücken auf Schläuchen, die an den Ventilen der Tuba angeschlossen

sind. Oboist, Klarinettist und Saxophonist sind in gleicher Weise mit dem Fagott

verbunden, das per Schlauch mit dem vierten Ventil der Tuba zusammenhängt.

Die Klänge aller Instrumente werden durch den Korpus der Tuba gepresst und

moduliert. Die Verbindungen der Instrumente, die Schwierigkeiten des Atem-

transports durch die Schläuche sowie die komplexen Spielanweisungen und Spiel-

techniken verweisen auf das kollektive Verhalten und die immense physische

Belastung.

Die Erweiterung der Spieltechniken findet sich bei den Schlaginstrumenten. In der

Neuen Musik findet dort eine „Materialhypertrophie“ (LT 359) statt, die auf der

„Freude am Schlagen“, virtuosem Spiel und der „endlosen Anhäufung von Klang-

286 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

erzeugern“ beruht (LT 212).339 Globokar verwendet daher außereuropäische

Schlag- und Perkussionsinstrumente, um das Klangfarbenreichtum und die Artiku-

lationsmöglichkeiten eines einzelnen Instruments zu erforschen. Die Auseinander-

setzung mit neuen Spieltechniken, wie ‚Berühren, Kratzen, Gleiten, Ertasten und

Streichen’ mit den Händen, den Fingernägeln oder der Faust, trägt zur Entwick-

lung einer eigenen Klangsprache abseits motorischer Klischeevorstellungen bei.

Obwohl gerade elektronische Instrumente die Möglichkeit bieten, Klänge zu ver-

fremden, setzt Globokar sie ein, um auf das konkurrierende Verhältnis zwischen

Mensch und Maschine aufmerksam zu machen. Die Elektronik ist zwar in der

Lage, spieltechnische Schwierigkeiten des Menschen durch genaue Notationen zu

überwinden, aber sie ist kein lebendiger Klangkörper, der sich mit seinen eigenen

physischen Grenzen auseinander zu setzen hat.

Geheiligte Maschine, Maschinenheiligtum! Vergessen wir nicht, daß sie

nur einen Dienst zu erfüllen hat (LT 193).

In Bezug auf die Weiterentwicklung der Spieltechniken ist auffallend, dass Glo-

bokar Bewegungsvorgänge vorschreibt, die Interpreten überfordern und sie bis an

die Grenze ihrer physischen Fähigkeiten bringen.

Diese bewusste Herausstellung ‚musikalischer Grenzsituationen’ geht auf die

Komponisten der ‚Neuen Komplexität’ oder ‚New Complexity’ zurück, die be-

stimmte Einzelheiten des spielerischen Vollzugs in zuvor nie gekannter Genauig-

keit bestimmten.340 Besonders Werke, die zu einer fortschreitenden Differenzie-

rung einzelner musikalischer Parameter tendieren, beinhalten Übertreibungen

gewöhnlicher spieltechnischer Standards. In seiner praktischen Erfahrung als

Solist geht es Globokar aber weniger um die bewusste Zurschaustellung der Kom-

plexität musikalischen Materials, sondern vielmehr um Offenhalten des Engage-

ments und der dadurch bedingten Erweiterung klanglicher und spieltechnischer

Möglichkeiten des Instruments. Dem Musiker werden unerreichbare Tonhöhen

oder komplexe Rhythmen vorgegeben, um neue Spielerfahrungen auf seinem

______________

339 Vgl. ausführlich hierzu den Text ‚Antibadabum – Für eine neue Ästhetik des Schlagzeugs’ (LT 206 ff.). Globokar lehnt somit eine Klangästhetik im Sinne der Komposition ‚Ionisation’ von Varèse ab.

340 Der Begriff entwickelte sich im Anschluss an ein 1990 in Rotterdam veranstaltetes Symposi-um mit gleichem Titel. Vgl. Hilberg 2000; als Hauptvertreter einer ‚New Complexity’ dürfte der Komponist Brian Ferneyhough gelten. Ausführlich zum schillernden Begriff der ‚Neuen Komplexität’ oder ‚Neuen Einfachheit’ vgl. Bons 1990

Bewährung · 287

Instrument zu ermöglichen und ihn vor neue physische Herausforderungen zu

stellen. Kompositorisch wird dies z. B. durch das kontinuierliche Ansteigen oder

das plötzliche Auftreten nicht zu realisierender Tonhöhen erreicht, wie z.B in

‚Discours III’ für fünf Oboen. Auch in Vokalkompositionen werden den Sängern

nicht singbare Höhen- bzw. Tiefenvorgaben vorgelegt, die teilweise mit dynami-

schen Anweisungen ergänzt werden, um die Realisation zu erschweren.

Das Vorschreiben unrealisierbarer Spielvorgänge gründet in der paradoxen Vor-

stellung, dass in der präzisen Angabe nicht durchführbarer Aktionen ein Klanger-

gebnis angestrebt wird, das der eigentlichen Intention des Notentextes wider-

spricht. Das potenzielle Scheitern der Realisation steht also im Widerspruch zur

Präzision der Vorgabe des zu erwartenden Klangergebnisses. In Bezug zu aleato-

rischen Verfahren liegt der Unterschied in der mentalen Beanspruchung des Inter-

preten, die Kompositionsanweisungen trotz ihres utopischen Potenzials erreichen

zu wollen. Auch hier fordert Globokar, das eigene Musizieren in Frage zu stellen

und ein radikales Engagement zu entwickeln, das einer Überbelastung des Körpers

standhält.341 Die physische Herausforderung liegt demnach in der „Stimulation des

Kampfes gegen die eigenen Grenzen der Interpretation, im wesentlichen bezogen

auf die Parameter: Dauer und Dynamik“ (König 1977, 228). Einige Stücke wie

‚Confrontations’ aus ‚Concerto Grosso’ oder ‚Res/As/Ex/In-spirer’ enden erst,

wenn der Spieler nicht mehr in der Lage ist, weiter zu musizieren. In ‚Limites’ aus

‚Laboratorium’ soll der Interpret auf einer Viola oder Violine ca. acht Minuten

ohne Pause ausschließlich Sechzehntelbewegungen im vierfachen Forte spielen,

wobei fünfmal das Tempo gesteigert wird. Gleichzeitig muss eine möglichst hohe

rationale Kontrolle über die Bewegungen beibehalten werden.

Als Beispiel für die Überbelastung des Interpreten durch unerreichbare Spielvor-

gänge kann die Komposition ‚Res/As/Ex/Ins-pirer’ angeführt werden. Hier spielt

ein Posaunist ohne Zwischenatmung sowohl aus- als auch einatmend.342 Anhand

von jeweils zwölf graphischen Symbolen werden unterschiedliche Möglichkeiten

des Ein- oder Ausatmens dargestellt. Die provokanten Spielanweisungen führen

zu einer körperlichen Überbelastung des Instrumentalisten.

______________

341 Vgl. ausführlich hierzu Globokars Essay ‚Plädoyer für eine Infragestellung’, in LT 315 ff. 342 Parallel zu ‚Res/As/Ex/Ins-pirer’ für Posaune komponierte Globokar eine ‚Atemstudie‘ für

Oboe Solo, die sich mit der gleichen Thematik auseinandersetzt und für eine Oboenschule von H. Holliger geschrieben wurde.

288 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Nach einer gewissen Zeit fängt er zu schwitzen an und ihm wird schwarz

vor Augen. Obwohl es Hilfsmittel gibt, kommt irgendwann der Punkt, an

dem er nicht mehr weiter kann. Und an eben diesem Punkt endet das Stück

(Globokar 1994, 11).

Gleichermaßen zeigen sich auch ‚psychische Verfallsprozesse’ durch die Unmög-

lichkeit der Ausführbarkeit von Spielanweisungen. Der Interpret ist nicht mehr in

der Lage, sich auf die Vorschriften zu konzentrieren, macht Fehler und beendet

das Stück nicht ordnungsgemäß. Somit entsteht ein „Kampf zwischen dem In-

strumentalisten und seinem Instrument“ (LT 143). Die Ergänzung der Vorsilben

Res-, As-, Ex- und In- mit ‚spirer’ ergeben die Worte ‚respirer’ (atmen, zum Aus-

druck bringen), ‚aspirer’ (einatmen, streben), ‚expirer’ (ausatmen, sterben, verfal-

len) und ‚inspirer’ (inspirieren), die jeweils physische Prozesse des Ein- und Aus-

atmens, aber auch das psychische Engagement des Interpreten ausdrücken.

Die physische und psychische musikalische Belastung führt zur Kernthematik der

Musikästhetik Globokars. Einerseits gibt er präzise Angaben vor, wie z. B. Bewe-

gungsabläufe, Interaktionsformen, Textvorlagen, und komponiert auch im traditi-

onellen Notensystem. Gleichfalls lässt er dem Interpreten die Freiheit, die Klang-

erzeuger zu wählen, graphische Darstellungen zu interpretieren, um die Mitwir-

kung bei der Realisation des Werks einzuplanen. Dieses ‚offene Verhältnis’ von

Vorgabe und Freiheit dient dazu, stereotype Interpretationsmechanismen oder eine

auf manuelle Fähigkeiten geschulte Musikausübung zu überwinden. Gleicherma-

ßen ist auch die Chance eines individuellen Engagements ‚vertan’, sobald die

Aufforderung zur Improvisation ohne einen präfixierten Kontext verläuft. Globo-

kar wendet sich folglich gegen die Begriffe ‚Vorschrift’ und ‚Improvisation’, um

eine einseitige Ausrichtung von kontrollierter oder willkürlicher Interpretationen

zu vermeiden.

Kaum ein anderer Komponist der Neuen Musik sucht wie er nach immer neuen

Wegen, das Verhältnis zwischen ‚Freiheit und Verantwortung’ in die musikalische

Gestaltung zu integrieren. Die Grenzen zwischen Komposition, Improvisation und

Interpretation werden ebenso relativiert wie die Rolle zwischen Komponist, Inter-

pret und Publikum. Auch das musikalische Material ist weder völlig frei wählbar

noch total determiniert, sondern bestimmt sich in der Relation zur Verantwortung

aller am Entstehungsprozess Beteiligten. Die Bereiche Instrumentenwahl, Notati-

on und Realisation werden also in den Kompositionen in unterschiedlicher Kon-

Bewährung · 289

kretion dargelegt, basieren aber auf einem ausgeglichenen Kräfteverhältnis zwi-

schen Selbstentscheidung und Festlegung.

Exemplarisch kann hierfür das bereits oben erwähnte Werk ‚Individuum ↔ Col-

lectivum’ angeführt werden. Es ist

ein Buch zum Lesen und Anschauen, eine Sammlung von Konzepten (wo-

möglich sogar utopischen, nicht realisierbaren), eine Folge von aneinan-

der montierbaren Musikstücken, ein pädagogisches Material, Hinweise zur

Technik des Komponierens, eine Einladung zur Improvisation, Überlegun-

gen zum Verhältnis zwischen Musik und Poesie, Mathematik oder Tierpsy-

chologie (Globokar 1994, 80).

Die Spiel- und Improvisationsanregungen dieses implizit pädagogischen Werks

basieren sowohl auf verbalen Anweisungen als auch auf graphischen Notationen.

Die Darstellungen sind an Regeln gebunden, ohne dabei die individuelle Freiheit

des Einzelnen samt der dazugehörigen musikalischen Expressivität aufzugeben.

Das Ziel ist es, den Interpreten einen „von allen Konventionen losgelösten Zugang

zu ihrem Instrument zu eröffnen“ (Konrad 1998, 11). Die Anregungen verstehen

sich folglich als kreatives Übungsbuch für Laien und Fortgeschrittene, in dem

Klischees während der Musikausübung umgangen werden.343

Ausgehend von der grundlegenden Unterscheidung zwischen Freiheit und Ver-

antwortung in der musikalischen Gestaltung lässt sich eine weitere fundamentale

Differenzierung in psychisches und physisches Engagement feststellen.

Unter psychischem Engagement wird das emotionale ‚Sich-Hineinversetzen’

mittels der in der Partitur angegebenen verbalen Forderungen verstanden. Diese

mentalen Vorstellungen beeinflussen das Verhalten auf der Bühne und auch das

Instrumentalspiel. Sie bestimmen das Agieren im Kollektiv, da die Musiker sich

selbst im Klang ausdrücken.344 Diese Stimulansfunktion führt somit zur ‚Bele-

bung’ der Gestik und der Klangerzeugung.

In den Werken Globokars ist es v. a. die Stimme, die in enger Verbindung mit der

psychischen Befindlichkeit der Interpreten steht. Sie umfasst weitaus größere

______________

343 Da es sich um ein pädagogisches Werk handelt, verzichtete Globokar auf das Copyright und verpflichtete den Verlag, die Ausgaben zum Selbstkostenpreis abzugeben.

344 Die Form des psychischen Engagements erinnert an Schnebels ‚psychoanalytischen Ansatz musikalischer Gestaltung’. Vgl. Kap. V.2.2.2

290 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Aufgabenbereiche als das traditionelle Singen.345 Bedeutsam ist zunächst die Dif-

ferenzierung in unterschiedliche expressive Geräusche, wie ‚Flüstern, Husten,

Lachen, Murmeln, Pfeifen, Sprechen oder Stöhnen’. Hinzu treten physiologische

Beschreibungen der Tonerzeugung, wie ‚gegen den Gaumen, kehlig, mit aufgebla-

senen Backen, mit geschlossenem Mund, mit verstopfter Nase, zwischen den

Zähnen, Kehlkopfstoß, hecheln oder Zungenstoß’. Diese Geräusche der Stimme

repräsentieren eine emotionale Lautschicht und verdeutlichen die körperliche

Anstrengung der Interpreten auf der Bühne. Ferner dienen die in den Kompositio-

nen aufgeführten Texte v. a. dazu, die mentale Verfassung während der Tonerzeu-

gung zu leiten. Das Mitsprechen der in der Partitur dargestellten Passagen, die zur

Tonerzeugung hinzugefügten Sprachgeräusche oder auskomponierte ‚Text-

Graphiken’ sollen von „von innen her“ (König 1977, 210) die Interpretation beein-

flussen.

Das physische Engagement ist das wichtigste Kriterium zur spezifischen Stilistik

der Werke Globokars. Angefangen von unterschiedlichen Atemtechniken, über

Veränderungen des Resonanzraumes im Mund, bis hin zu verkrümmten, gespann-

ten Körperhaltungen reicht das Register der instrumentalen Aktionen, welche die

Klangwirkung und das Engagement des Interpreten im Kollektiv beeinflussen.

Die zentrale Möglichkeit, das physische Engagement zu fokussieren, liegt in der

bewussten Abkehr traditioneller Spielgewohnheiten, in die der Musiker durch

starre Bewegungsverläufe immer wieder zurückfällt. Daher integriert Globokar in

seine Kompositionen ‚Störfaktoren’, wie z. B. die Einbeziehung ungewöhnlicher

Verhaltensweisen.346 Diese ‚Behinderungen’ zielen darauf ab, Bewegungen her-

vorzurufen, die frei von stereotypen Bewegungsmustern sind. Die resultierende

Musik wirkt allerdings „sehr viel strenger, ernster, direkter, viel weniger ornamen-

tal“ (LT 360).

Physisches und psychisches Engagement stehen mittels der improvisatorischen

Tätigkeit miteinander in Bezug.

______________

345 Eine umfangreiche Auflistung von Verhaltensweisen findet sich bei König 1977, 137 ff. 346 Hier ist eine deutliche Nähe zu Hans J. Hespos Kompositionsästhetik zu erkennen. Vgl. Kap.

V.3.1.2

Bewährung · 291

Die Improvisation hat mir die Bedeutung des physischen Engagements des

Instrumentalisten und der in der Gruppe entstehenden psychologischen

Wechselbeziehungen gezeigt (LT 359).

Improvisieren ist demnach eine körperliche Aktivität, die zur intersubjektiven

Kommunikation innerhalb des Kollektivs verwendet wird. Der Körper ist dabei

das Medium, durch das „das Psychische und das Physische in einer ständigen

Wechselwirkung stehen“ (LT 72). Die gegenseitige Durchdringung der verschie-

denen Formen des Engagements wirkt sich produktiv auf das Anliegen aus, etwas

auf der Bühne zu bewirken und den Hörer auf den ‚Ernst der Situation’ aufmerk-

sam zu machen. In beiden Fällen „gewinnen wir etwas, das in der traditionell

notierten Musik nicht existiert: die den Klängen vorausgehende Spannung, Unsi-

cherheit, Spontaneität läßt das Ganze kommunikativer werden, die Wahrnehmung

unter die Haut gehen“ (LT 388).347

Durch die enge Beziehung zwischen physischem und psychischem Engagement

entsteht auch zwischen Körper und Instrument eine untrennbare Verbindung.

Ich halte mein Instrument, die Posaune, nicht für ein sakrosanktes Objekt,

dem ich mich blind anpasse, sondern für ein musikalisches Hilfsmittel un-

ter so vielen anderen. Beim Spielen betrachte ich es als eine Verlängerung

meines Körpers, als Verstärker nicht allein meiner möglichen vokalen oder

körperlichen Artikulationen, sondern als Möglichkeit der Mitteilung meiner

Gedanken (LT 371).

So kann „gleichsam eine organische Verbindung zwischen diesen beiden Elemen-

ten entstehen, was ein tiefes Versenken in das Instrument erlaubt“ (Globokar

1994, 55). Das Motto von ‚Prestop II’ für Posaune solo und Elektronik lautet

z. B.: „Mein Körper ist zur Posaune geworden“. In ‚Introspection d’un tubiste‘

wird ein Musiker an die Maschine gekoppelt, wobei „die Tuba und Maschine als

Verlängerung seines eigenen Körpers, als Übersetzer seiner Gedanken“ verstan-

den werden (Globokar 1994, 22).

Um den ganzen Körper als Klangerzeuger zu berücksichtigen und die Belastungen

der Tonerzeugung anzudeuten, finden sich auch oft brutale Aktionen wie ‚zerfet-

zen, zerbrechen oder beschmutzen’. ‚Tribadabum extensif sur rythme fantôme’ für

______________

347 In dem Essay „Das Verhältnis von ‚Physischem, ‚Psychischem und ‚Rationalem’ als kompo-sitorische Problematik“ beschreibt Globokar ausführlich die Verflechtung der Engagement-formen.

292 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

drei Schlagzeuger besteht nur aus Handlungsanweisungen wie ‚reiben, werfen,

schütteln, ziehen, dehnen, quetschen, verschieben, klatschen, zurückprallen lassen,

in Wellenbewegung bringen, zur Explosion bringen’. Die Klangerzeuger und der

Aufführungsort werden kollektiv von den Musikern gewählt.

Wird das Stück beispielsweise im Freien gespielt, so können die Musiker

eine Kanone statt einer Pistole verwenden, eine Feuerwehrsirene statt ei-

nes Signalhorns, ein Feuerwerk statt eines Knallfroschs (Globokar 1994,

120).

In ‚Vendre le vent’ legt sich der Pianist in verschiedenen Körperstellungen in das

Klavier und dämpft die Saiten ab, während der Schlagzeuger auf der Klaviatur

spielt. Diese starke physische Verbundenheit mit einem Instrument steht im engen

Zusammenhang mit einer sozialkritischen Intention:

Das Hineinklettern des Pianisten in den Flügel, der anschließend vom

Schlagzeuger und vom Dirigenten von der Bühne geschoben wird, ist wie

auf der anderen Seite das langsame Verlassen der Bühne der aneinander-

gekoppelten Bläser eine optische Symbolisierung der Herbeiführung des

Endes Neuer Musik (König 1977, 124).

Ein entsprechendes physisches Engagement am Klavier zeigt sich in ‚Notes’, in

welcher der Pianist immer vier Aktionen mit beiden Füßen und Händen gleichzei-

tig ausführt. Er schlägt oder kratzt mit der Innenfläche der Finger, mit dem Fin-

gernagel, den Fußspitzen, der Hacke oder dem Knie auf die Tasten, unter die Tas-

tatur, auf die Pedale, das Pedalgestänge, den Klavierfuß, das Pult, den Deckel und

die Saiten. Die Aufführung bedingt eine große Körperbeherrschung und lenkt die

Aufgaben des Pianisten in den Bereich des Perkussionisten.

Anhand von ?corporel lassen sich summierend die verschiedenen Merkmale der

Kompositionsästhetik Globokars zusammenfassen.348

Diese 1985 entstandene Komposition thematisiert das Musizieren eines Schlag-

zeugers auf seinem eigenen Körper. Der Spieler verwendet einzig seine Hände,

Füße und Stimme zur Klangerzeugung. Es entsteht ein Drama, „dessen Subjekt ______________

348 Das Wort ‚corporel’ stammt aus dem Französischen und bedeutet ‚körperlich, leiblich’. Das Fragezeichen im Titel stellt zur Diskussion, ob es sich um ein Musik- oder Theaterstück han-delt und ob der menschliche Körper ein Musikinstrument ist. In Bezug auf den Zyklus ‚Labo-ratorium’ ist es das einzige Werk, das solistisch ausgeführt wird.

Bewährung · 293

und Objekt zugleich der Mensch ist“ (LT 213). ?corporel bezieht als Teilbereich

des Musiktheaters auch szenische Elemente in den Musiziervorgang mit ein. Die

Grundidee, den Körper als eine eigenständige Klangquelle zu behandeln, basiert

auf dem Ansatz, ein Stück zu schreiben, in dem „gar keine Instrumente mehr vor-

kommen, in dem der menschliche Körper zum Instrument wird“ (LT 213).

Durch ungewöhnliche Körperstellungen werden virtuose Spieltechniken und unre-

flektierte Automatismen im Instrumentalspiel in Frage gestellt, und die Eigenver-

antwortlichkeit des Interpreten während der Aufführung wird gefordert. Um die

unterschiedlichen Klänge auf dem Körper zu verdeutlichen erscheint der Schlag-

zeuger „in Leinenhosen gekleidet, Oberkörper frei, barfuß“ (Globokar, Partitur

von ‚?corporel’). Der Musiker verkörpert sich im Klang und „ist durch die Situa-

tion gezwungen, eine Untersuchung seines eigenen Körpers und damit letztlich

seiner eigenen Person“ auszuführen. Der Schlagzeuger „bedient sich seines gan-

zen Körpers, […] und wird schließlich zum Schauspieler“ (LT 213).

Im Rahmen dieser ‚Verwandlung’ liegt das physische und psychische Engagement

begründet, da sich der Schlagzeuger mental in eine Rolle hineinversetzt und diese

einzig über den Klang seines Körpers ausdrückt. Die in der Partitur eingefügten

verbalen Anweisungen (‚wie ein Gefangener’) unterstreichen die mentalen Anfor-

derungen. Ferner wird durch diese Einschübe auch das übergreifende gesell-

schaftskritische Thema der Komposition verdeutlicht, das sich wie viele andere

Werke Globokars auf die Aspekte Folter und Misshandlung konzentriert.

Als Klangflächen dienen weiche oder harte Körperteile. Die weichen Stellen wer-

den mit der Handfläche und die harten mit der Fingerspitze geschlagen. Als zu-

sätzliche Möglichkeit bietet sich das Streichen mit der Handfläche an. Zusätzlich

finden sich ergänzende Angaben wie ‚abwischen’ ‚Hände fest zusammenklat-

schen’, ‚mit den Fingern schnipsen’, ‚die Haare zerzausen’ oder ‚schlagen’.

Neben dem Körper wird auch die Stimme in die Gestaltung integriert. Ihre Funk-

tion liegt darin, die Schlaggeräusche zu imitieren. Daher vermeidet Globokar

Vokallaute und bezieht ausschließlich perkussive Atemgeräusche in die Komposi-

tion mit ein.349 Grundsätzlich stehen die beiden Möglichkeiten des Ein- oder Aus-

atmens zur Verfügung. Mit diesem Material ist es möglich, Atem- und Schlag-

______________

349 Die Reibelaute ‚h, f, s, sch, r‘ symbolisieren flächige Streichgeräusche und werden im Aus-atmen erzeugt. Die Verschlusslaute ‚t, p, k, d, g‘ verdeutlichen das perkussive Schlagen der Hände und werden im Einatmen produziert.

294 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

techniken miteinander zu kombinieren. Die teilweise komplex notierten und hek-

tisch wirkenden Aktionen sind nur unter äußerster Konzentration realisierbar und

überfordern die physische und psychische Belastbarkeit des Interpreten.

Um die Eigenverantwortung des Interpreten hervorzuheben, ist die Zeitgestaltung

durch graphisch-verbale Notationsweisen frei gestaltbar. Gleichermaßen legt Glo-

bokar jedoch durch Metronomangaben und Taktarten die genaue Umsetzung des

Notentextes fest. Die Unterteilung in verschiedene Körperbereiche wird wie in

einer Partitur angegeben, indem am äußeren Rand die jeweils zu bespielenden

Stellen vertikal notiert werden und die rhythmischen, gestischen und sprachlichen

Aktionen horizontal daneben aufgeführt sind. Somit besteht die Möglichkeit, Teil-

bereiche des Körpers als selbständige Instrumente zu behandeln und ihnen eigen-

ständige rhythmische und klangliche Bereiche zuzuschreiben. Unter Einbeziehung

der verschiedenen Atem- und Spieltechniken sind in einigen Teilen bis zu fünf

Körperbereiche an der Erstellung eines Rhythmus beteiligt, so dass „eine Klang-

welt der permanenten Variation“ entsteht (Bozić 1991, 196). Daneben existieren

aber auch vereinzelte Aktionen, in denen nur eine Stelle als Klangerzeuger dient

oder die Sprache als ergänzender Klangerzeuger hinzutritt. Die Rhythmisierung

von Lauten und Körperklängen erfolgt dabei entweder parallel, komplementär

oder unabhängig voneinander.

Zur Leiblichkeit der Musik Globokars

Ein Vergleich der Kompositionsästhetik Globokars mit den Qualitäten der Leib-

lichkeit beinhaltet zunächst eine Klärung der Frage, inwieweit Globokars Kompo-

sitionsästhetik von der Leib-Phänomenologie beeinflusst ist. Globokar betont, dass

er von Sartre und Merleau-Ponty inspiriert wurde und mit deren theoretischen

Schriften vertraut ist.350 Er hebt hervor, dass in dem Zirkel um Leibowitz in den

1960er Jahren verschiedene Ideen diskutiert wurden, worunter auch ein neues

Verständnis vom Körper und der damit verbundenen Freiheit des Menschen ge-

hörte. Innerhalb dieser Deutung hat also eine unbewusste Bezugnahme auf die

Phänomenologie Merleau-Pontys und eine indirekte Auseinandersetzung mit dem

Leibbegriff stattgefunden.

Der Vergleich mit der ‚Leibphilosophie’ gewinnt an Transparenz, wenn der für

Globokar zentrale Begriff ‚Engagement’ aus phänomenologischem Blickwinkel

______________

350 So Globokar in Gesprächen und im Briefwechsel mit dem Verfasser im Jahr 2002.

Bewährung · 295

betrachtet wird. Ausgehend von Gabriel Marcel beinhaltet er „ein immer bereits in

einer Situation Involviertsein wie auch sich in einer Situation für etwas einsetzen“

(Hügli/Lübcke 31998, Bd. 1, 434). Merleau-Ponty erweitert diese Definition um

eine entscheidende Perspektive. Das Engagement verweist nicht mehr nur auf die

Teilhabe an einer Situation (être en situation), sondern versteht sich als leibliches

Handeln innerhalb sozialer Verantwortung (être au monde).351 Das Subjekt verhält

sich handelnd immer schon zu Anderen und begründet im ‚Zur-Welt-Sein’ des

Leibes einen Großteil seiner Freiheit.

Einen Leib haben heißt für den Lebenden, sich einem bestimmten Milieu

zugesellen, sich mit bestimmten Vorhaben zu identifizieren und darin be-

ständig sich engagieren (PhW 106).

Die Existenz im modernen Sinne ist die Bewegung, wodurch der Mensch

zur Welt ist und sich in einer natürlichen und sozialen Situation engagiert

(Merleau-Ponty 2000, 97).

Demnach lässt sich eine deutliche Übereinstimmung zwischen dem ‚Zur-Welt-

Sein’ des Leibes, welches das Engagement über die soziale Dimension des Men-

schen repräsentiert, und einer ‚Musique Engagée’ feststellen. Bezogen auf die

Musikästhetik Globokars liegen v. a. in der Negation eines objektivierbaren und

mechanisch-funktionalen Körperbilds konkrete Bezüge zum ‚Zur-Welt-Sein’

begründet. Der Leib ist eng an die Individualität des frei handelnden Subjekts

gebunden, das bis an die Grenzen seines physischen Leistungsvermögens geht und

Musik mit anderen in voller Verantwortung produziert. Leiblichkeit zeigt sich in

der Authentizität in der Produktion und Wahrnehmung von Kunst als ein Zentrum

künstlerischer Gestaltung. Daher fordert Globokar ‚Engagement statt Schönklang’

und verlangt zunächst eine Bewusstwerdung der musikalischen Tätigkeit selbst.

Weder bei Varèse noch bei Schnebel lassen sich die Bezüge zu den Qualitäten der

Leiblichkeit so unmittelbar nachweisen wie in der Musik Globokars. Der Ver-

gleich einzelner Aspekte der Musikästhetik Globokars mit den vier Qualitäten der

Leiblichkeit ermöglicht daher genaue Zuordnungen.

In der ‚Musique Engagée’ Globokars nimmt die ‚Expressivität’ den größten Raum

ein, insofern hierunter die Bezugnahme auf das Engagement der Ausführenden

______________

351 Ausführlich hierzu vgl. Hügli/Lübcke 1998, Bd. 1, 438-440

296 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

verstanden wird. Expressivität bedeutet, dass der Leib in ästhetischen Produkti-

onsprozessen auf elementare Ausdrucksformen zurückgreift, die ästhetisch fun-

diert sind und intersubjektiv verstanden werden. Demnach erweist sich Globokars

Forderung nach authentischem Engagement abseits aller Rituale und

Bewegungsmechanismen als unverstellte Hervorhebung des Ausdrucksvermögens

des Leibes. Eng hiermit verbunden erscheint die Aufgabe, Befindlichkeiten und

Emotionen über das Instrument im Klang auszudrücken.

Die letztlich auf die Affektenlehre im Barock zurückgehende Überzeugung, Ge-

fühle über ein codiertes Tonbedeutungssystem darzustellen, erhält in Bezug auf

die Authentizität einer ‚Musique Engagée’ eine neue Dimension, da Globokar

bewusst Regeln einer eindeutigen Klassifizierbarkeit umgeht und Verstehen von

Handlungen über die Expressivität der Interpreten als intersubjektiv gültiges En-

gagement darstellt.

Die Radikalität der Anweisungen und Körperhaltungen begründet ein prärationa-

les Ausdrucksvermögen, welches in der Radikalität das eigene Musizieren in Fra-

ge stellt. Dabei wird der Leib durch Überforderungen für ästhetische Erfahrungen

‚offen gehalten’ und die Bereitschaft aller Sinne geschärft. Die Unrealisierbarkeit

vieler Kompositionen unterstreicht auch die Zweideutigkeit und Missverständ-

lichkeit eines musikalischen Ausdrucks und bewirkt im produktiven Sinne die

Vieldeutigkeit der ästhetischen Aktionen durch die größtmögliche expressive

Beteiligung am Geschehen. Da selbst das Ziel nicht realisierbar erscheint, experi-

mentiert der Musiker immer mit dem eigenen physischen und psychischen Schei-

tern und macht hier auf das utopische Potenzial von Kunst aufmerksam. Wenn die

Form des Werks und das Verhalten der Musiker nicht determinierbar erscheinen,

dann wird die Expressivität des Leibes zur einzigen ästhetischen Grundbedingung.

Das ist kein Aufruf zu einer musikalischen Anarchie, sondern der Appell an die

„Verantwortlichkeit der Aufführenden“ (LT 51).352

Das ‚Zwischen’ der Leiblichkeit wird besonders in der Musikausübung zwischen

Freiheit und Verantwortung deutlich. Wenn Globokar die Musiker immer wieder

vor die Wahl stellt, sie in das Geschehen involviert und ‚herausfordert‘ Stellung

zu beziehen, dann wird der Leib das Medium zum Entwurf individueller musikali-

scher Gestaltungsmöglichkeiten im Bewusstsein der Begrenzung der eigenen

______________

352 Hier liegt der größte Unterschied zu Schnebels Bewegungsmodellen, da dessen Vorstellung von Expressivität auf Kontrollierbarkeit basiert.

Bewährung · 297

Freiheit durch die Vorgabe von Spiel- und Verhaltensweisen. Wie der Leib sich

selbst durch unabgeschlossene Vollzüge auszeichnet, so ist auch das Engagement

‚endlos’ und in die offenen Werkkonzeptionen als Potenzial eines noch zu gestal-

tenden Prozesses integriert. Die zum großen Teil zwischen Struktur und Offenheit

angelegten Kompositionen streben förmlich nach der Integration disparater Ele-

mente. Schon Überschriften einiger Texte wie ‚Reflexion über Improvisation’

oder ‚Individuum und Kollektiv’ verdeutlichen das Zwischen der Leiblichkeit

zwischen Erfindung und Interpretation.353

Ausgehend von der Verbindung von Freiheit und Verantwortung im instrumenta-

len Aufführungsprozess verweist die wechselseitige Verbindung von physischem

und psychischem Engagement auf die Qualität des ‚Zwischen’. Auch hier verwirft

Globokar bewusst ein musikalisches Denken, das auf festgelegten dualistischen

Deutungen und Klassifikationen beruht. Eine zentrale Rolle erhält hierbei die

Improvisation. In Anlehnung an die phänomenologische Terminologie wird sie

von Globokar als „Ambiguität der Situation […] bezeichnet, in welcher der Inter-

pret sich wie ein Chamäleon zu verhalten hat“ (Globokar 1994, 58). Globokar

lehnt sich bewusst an die von Merleau-Ponty entwickelte Begrifflichkeit an, da er

„zwischen ‚Psychischem’ und ‚Physiologischem’“ (PhW 104) eine Brücke zu

schlagen vermöchte.354

Die Improvisation ist eine Art ‚kontrollierte musikalische Erfindung’, die den

Musiker dazu anspornt, seine Tätigkeiten zu überprüfen und freie Entscheidungen

zu treffen, welche dem musikalischem Material und auch der Verdeutlichung des

übergreifendem Themenfelds dienen. Der Leib erhält dabei die Kontrolle über die

Balance zwischen psychischem und physischem Engagement, da er sowohl die

mentale Situation des Interpreten als auch seine körperliche Beteiligung zum Aus-

druck bringt. Da so Freiheit und Verantwortung in einer ‚guten Ambiguität’ zu-

sammenwirken, verlangt Globokar weder spontane Stegreifimprovisationen noch

virtuose Skalenetüden, sondern vom Körper und Geist gelenkte Reaktionen auf

das Gegenwärtige ästhetischer Situationen. Die Improvisation ist folglich in einem

weitaus größeren Zusammenhang eingebettet, um „ein Gleichgewicht zwischen

individueller Freiheit und einem reflektierten, gemeinsamen Bewusstsein herzu-

stellen“ (Globokar 1994, 58). Sie transportiert eine musikalische Gesamtidee über ______________

353 Vgl. LT 112 ff; LT 215 ff. 354 Vgl. die von R. Boehm zusammengestellten Kapitelüberschriften der Phänomenologie der

Wahrnehmung. Der § 4 aus dem ersten Teil des ersten Abschnitts lautet: ‚Zwischen Physi-schem und Physiologischem: die Existenz’ (PhW 112 ff.).

298 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

den Leib und begründet eine sich ständig weiterentwickelnde kollektive Musik-

praxis.

Viele Werke Globokars lassen sich nur durch die Bewahrung der Interessen aller

an der Aufführung Beteiligten realisieren. In diesem Zusammenhang gewinnt auch

die dritte Qualität, die ‚Interkorporalität’, eine enorme Relevanz. Sie konstituiert

die musikalische Produktion im Kollektiv durch die ‚Weitergabe’ des eigenen

physischen und psychischen Engagements an andere, wie Mitspieler und Publi-

kum. Der Leib wird hier zum Kommunikationsorgan, das sich über Bewegungen

mitteilt. In Bezug auf die spezifischen Merkmale der Interkorporalität Globokars

sind es v. a. die Kopplungen der Musiker untereinander, in denen das Engagement

‚gebündelt’ wird, da mehrere Musiker auf einem einzigen Musikinstrument spie-

len. Der Begriff Zusammengehörigkeitsgefühl kann wörtlich gefasst werden und

unterstreicht im Sinne der Zwischenleiblichkeit die Untrennbarkeit des Kollektivs.

Im Rahmen der physisch belastenden Aktionen gilt es in jeder Hinsicht Rücksicht

zu nehmen, um die demokratischen Verhältnisse zu bewahren.

Das Verständnis der Interkorporalität in den Werken Globokars bewirkt die Auf-

hebung des transzendentalen Solipsismus, der davon ausgeht, dass der Andere nur

eine Spiegelung des eigenen Leibes ist.355 Da das individuelle Engagement im

Kollektiv ‚verkörpert’ wird, ist der einzelne Mitmusiker immer auch ein Nicht-

Ich, das sich als ‚alter Ego’ von anderen unterscheidet. Das musikalische Kollek-

tiv Globokars ist also im besten Falle eine heterogene Zusammenarbeit mehrerer

an einem Projekt Beteiligter.

Die ‚Extension’ findet sich in den Kompositionen Globokars in der Erweiterung

des gewohnten Handlungsspielraums durch neue Spieltechniken, aber auch in der

Erweiterung des expressiven Ausdrucksvermögens der Musiker. Beide Erweite-

rungsformen sind wiederum eng an die Begriffe physisches und psychisches En-

gagement gebunden.

In einer ‚Musique Engagée’ basiert die Extension zunächst auf der Erweiterung

des Gewohnten im Hinblick auf den Erwerb physischer Spielerfahrungen, der

Erfindung neuer Klangerzeuger und der Weiterentwicklung von Spieltechniken

auf traditionellen Instrumenten. Als Besonderheit tritt hier der Ausbau der techni-

schen Funktionalität der Tonerzeuger hinzu, indem Instrumente auseinanderge-

______________

355 Vgl. Kap. III.1.1.3

Bewährung · 299

schraubt oder mit anderen Materialien in Verbindung gebracht werden. Besonders

die Kopplungsversuche zwischen Musikern durch Schläuche verdeutlichen die

Vorstellung vom Instrument als Verlängerung des Körpers. Musiziervorgänge sind

so eng an Handlungsvollzüge gebunden, dass nicht mehr von einer Trennung

zwischen Mensch und Instrument, Körper und Technik ausgegangen werden kann.

Über die Extension des Leibes entsteht auch eine ‚Forschung’ nach neuen Klän-

gen, die durch ungewohnte, oftmals in Extremsituationen eingenommene Haltun-

gen entstehen. Gerade die Tonerzeugung während des Ein- und Ausatmens er-

möglicht auch neue Musiziertätigkeit und verweist auf einer Metaebene auf das

Zwischen der Leiblichkeit durch die innerlich und äußerlich produzierten Klänge.

Musikpädagogische Zugänge

Ausführlich haben sich in letzter Zeit Andreas Langbehn und Ortwin Nimczik mit

musikpädagogischen Umsetzungsmöglichkeiten der Musik Globokars beschäf-

tigt.356 Als Musterbeispiel ‚Experimenteller Musik’ konzentrieren sich beide auf

die Komposition ‚Individuum↔Collectivum’. Da ihre Ergebnisse Bezüge zu der

‚Musique Engagée’ ergeben sowie die allgemeine Relevanz Neuer Musik und

deren methodische Umsetzungsmöglichkeiten im Unterricht kennzeichnen, wer-

den sie im Folgenden vorgestellt.

‚Individuum↔Collectivum’ eignet sich für den ‚schulischen Einsatz’, weil durch

die zwischen Freiheit und Vorschrift angelegten Spielanweisungen elementare

Kommunikationspotentiale und die Weiterentwicklung musikalischer Spieltechni-

ken thematisiert werden. Die einzelnen Kapitel in ‚Individuum↔Collectivum’

verdeutlichen spezifische kompositorische und spieltechnische Aufgabenbereiche,

wobei die einzelnen Arbeitsblätter aus drei Versionen unterschiedlichen Schwie-

rigkeitsgrades bestehen. Die erste richtet sich an „Mitwirkende, welche die Codes

der Musiksprache nicht kennen“, die zweite an „aktiv Musikausübende“ (Globo-

______________

356 Vgl. Langbehn 2001; Nimczik 1998b; weitere Konzepte, die Werke Globokars in Form musikalischer Ensemblearbeit improvisatorisch zu erarbeiten, finden sich bei Nimc-zik/Rüdiger 1997 und bei Richter 2003. Während Nimczik und Rüdiger sich anhand der Komposition ‚La Ronde’ unter Erweiterung konventioneller Musizierweisen auf die Verant-wortung des Interpreten im Kollektiv-Spiel konzentrieren, stellt Richter anhand von ‚Indivi-duum↔Collectivum’ grundsätzliche Anregungen vor, „eine Musik zu erfinden, zu erproben und aufzuführen – im Spiel zwischen Einzelnen und Gruppe“ (Richter 2003, 48).

300 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

kar 1994, 86). Die dritte Version ist eine Abstraktion der ursprünglichen Frage-

stellung und ermöglicht die Vertiefung der gesammelten Spielerfahrungen.

Ausgehend von dieser Differenzierung in unterschiedliche Niveaus führt eine

musikpädagogische Beschäftigung mit ‚Individuum↔Collectivum’ zu Experimen-

ten mit den Parametern ‚Dauer, Tonhöhe, Lautstärke und Klangfarbe’. Die spiel-

technische Auseinandersetzung mit diesen Bausteinen vollzieht sich auf eine ele-

mentare Art, so dass durch die verbundene Voraussetzungslosigkeit theoretischer

und spieltechnischer Fähigkeiten „Schülern, die nicht nach Noten spielen können,

der Einstieg in musikalische Experimente ermöglicht“ wird (Langbehn 2001, 41).

Die schnell umzusetzenden graphischen Notationen und verbalen Textanweisun-

gen fokussieren das expressive Potenzial der Spieler und gewährleisten schnelle

Erfolgserlebnisse im Klassenverband. So wird durch die Integration ungewöhnli-

cher Klangerzeuger bzw. Alltagsgegenstände, wie Steine, Zweige, Papier, Plastik

oder Teller, auch Laien die Möglichkeit gegeben, ein Musikstück der Neuen Mu-

sik kennen zu lernen und aufzuführen.

Globokar beschreibt auf einem Arbeitsblatt je eine persönliche und gemeinschaft-

liche Erarbeitungsmöglichkeit. Daher hebt Langbehn besonders das individuelle

und kollektive Musizieren, Entdecken und Gestalten hervor, da so die kreativen

Prozesse des Einzelnen als auch das „konzentrierte Musizieren“ (Langbehn 2001,

42) in der Gruppe gefördert werden. Einen hohen Stellenwert erhält hierbei die

‚Klangforschung’ und die damit verbundene ‚Erweiterung der Spieltechniken’.

Die improvisatorischen Elemente fördern die Offenheit für andere Klänge und

Formverläufe. Ferner verlangt die Einbeziehung sozialer Themen von den Schü-

lern Diskussionsbereitschaft.

Da sich Langbehn schwerpunktmäßig auf die ausführliche Darstellung der Para-

meterbehandlung in ‚Individuum↔Collectivum’ konzentriert, nennt er stichpunkt-

artig einige Aspekte, wie eine ‚methodische Vorgehensweise’ verläuft. In der

Erarbeitung werden verschiedene Wege, die alle das ‚Besondere und ‚Allgemeine’

der Musik Globokars in unterschiedlicher Gewichtung konkretisieren, miteinander

kombiniert und die Kommunikations- und Interaktionserlebnisse hervorgehoben.

Langbehn unterteilt seine Vorgehensweise in drei Schritte. Auf einer Grundbasis

wird zunächst das ‚Besondere’ des betreffenden experimentellen Stücks themati-

siert, um z. B. ungewöhnliche Spielpraktiken im Ensemble zu erproben. Die an-

schließende vertiefende Ebene setzt sich mit dem ‚Allgemeinen’ im Sinne eines

Vergleichs mit anderen (klassischen) Werken auseinander. Dieser Ansatz eröffnet

auch Bezüge zu anderen Künsten, wie die bildende Kunst, die Literatur oder der

Film. Der dritte Bereich stellt die gemachten ‚Erfahrungen’ in einen größeren

Bewährung · 301

Gesamtzusammenhang und untersucht, inwieweit „die bewusst gemachten Er-

scheinungen das Leben der Schüler betreffen“ (Langbehn 2001, 56).357

Langbahn konzentriert sich in seiner Konzeption vornehmlich auf die kommuni-

kativen Aspekte der Schüler untereinander, die durch Behandlung elementarer

Parameter durch elementare Spieltechniken auch von Laien im Kollektiv be-

herrscht werden. Dabei erweist sich Langbehns hoher Anspruch, „Bildungsprivi-

legien außer Kraft“ zu setzen, als fragwürdig, zumal hierunter angenommen wird,

dass zu experimentellen musikalischen Tätigkeiten letztlich „kein bestimmtes

musikalisches Niveau vorausgesetzt wird“ (Langbehn 2001, 41). Der originelle

konzeptionelle Ausgangspunkt, die Musik Globokars durch das Verhältnis von

Besonderem und Allgemeinem zu vermitteln, gelingt vielmehr gerade dort, wo

sich über die musikalischen Aktionen hinaus kritische Querverweise zur Alltags-

relevanz und zu übergreifenden Aspekten ziehen lassen, wie z. B. Virtuosentum

oder Materialhypertrophie.

Auch Nimczik stellt verschiedene Gestaltungsanregungen im Sinne eines

‚Workshops’ aus ‚Individuum↔Collectivum’ vor und propagiert dabei, den Be-

reich der „Improvisation als pädagogisches Mittel“ zu nutzen (Nimczik 1998,

46).358 Da die freie musikalische Erfindung die Mitwirkungs- und Entscheidungs-

möglichkeiten des Musikers fördert, entsteht eine „Humanisierung und Demokra-

tisierung der Aufgaben des Interpreten“ (Nimczik 1998, 46). Die Schüler erfahren

im Umgang mit Improvisationen kollektive Musizierpraxen und erwerben so die

Fähigkeit, auf Klänge anderer Mitspieler zu reagieren, sich intersubjektiv in eine

Gruppe zu integrieren oder selbsttätig Melodien, Rhythmen und Strukturen zu

erfinden. Da sich die traditionelle Vokal- und Instrumentalausbildung oftmals

darauf begrenzt, musikalische Werke reproduktiv zu realisieren, führt die Ausdif-

ferenzierung der Entscheidungsmöglichkeiten des Interpreten zu einer Förderung

der Produktivität musikalischer Gestaltungen. Hierdurch eröffnen sich „musikali-

sche Spielräume für den Klassenunterricht wie für die musikalische Ensemblear-

beit“ (Nimczik 1998, 46). Die einzelnen Gestaltungsaufgaben werden als praxis-

______________

357 Völlig unklar bleibt allerdings, warum die außermusikalischen Vorerfahrungen zu den Topoi ‚Abschied und Trennung’ dazu beitragen, den „Schluß in der Musik zu verstehen“ (Langbehn 2001, 56).

358 Langbehn und Nimczik stellen beide die Möglichkeit vor, mit der rhythmischen Syntax des Morsealphabets zu improvisieren.

302 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

bezogene Teilerfahrungen in den Klassenunterricht integriert und bieten Hilfestel-

lungen zum Ausbau des musikalischen Gruppenspiels.

Langbehns und Nimczik Beiträge sind eine notwendige Anregung zum Umgang

mit ‚offenen Formmodellen’ und verstehen sich gerade im Hinblick auf das Ver-

hältnis von Allgemeinem und Besonderem’ sowie durch die ‚Relation zwischen

Komposition und Improvisation’ als eine Skizzierung zentraler Grundbestandteile

der Kompositionsästhetik Globokars, sofern hierunter auch die Ausdifferenzierung

musikalischen Engagements für Schüler verstanden wird. Allerdings beschränken

sich beide Autoren bewusst auf die Behandlung eines einzelnen Werks unter Be-

rücksichtigung elementarer musikalischer Kommunikationspotenziale. Ein Bezug

auf die Körperlichkeit sowie zu weiteren konzeptionellen Aspekten der Musikäs-

thetik Globokars bleiben daher ausgespart.

Auch Globokar nennt verschiedene Vorschläge, inwieweit sich seine musikästhe-

tischen Prämissen pädagogisch vermitteln lassen.359 Den Ausgang bildet zunächst

die Kritik an der Musikausbildung und am Schulsystem, welche die Schüler zu

passiv handelnden Objekten degradiert, die entweder formelhaftes Wissen aus-

wendig lernen oder festgelegte Stücke reproduktionsartig aufführen. Die Musi-

zierpraxis in der Schule konzentriert sich durch die mechanische Reproduktion

festgelegter Werke auf die Ausbildung zum ‚reflexionslosen Musikanten’. In

diesem Zusammenhang wird auch die dominante Stellung des Lehrers als Autori-

tätsperson und die theoretische Anhäufung von Fachwissen ohne Praxisbezug

beanstandet.

Diese grundlegende Kritik dient Globokar als Ausgangsbasis zu einer kreativ

improvisatorischen Auseinandersetzung mit neuen Spieltechniken, Musikinstru-

menten, Klängen, Geräuschen sowie Formen des Zusammenspiels. Die Ausbil-

dung instrumentaler Fähigkeiten in der Schule müsste demnach mit der Erfindung

von Kombinationsmöglichkeiten einzelner Töne beginnen und sich auch auf Ge-

staltungsaufgaben im Bereich kollektiven Improvisierens ausweiten. Gleichzeitig

muss nach Globokar die Bewegung im Instrumentalspiel als Teilbereich der Aus-

bildung verstärkt werden. Dabei handelt es sich um die Hervorhebung von Ex-

pressivität und der damit verbundenen Klangforschung in ungewohnten Spielhal-

tungen. Das Ziel liegt v. a. darin, die persönliche Einstellung zum Instrument zu

______________

359 In seinen Schriften finden sich nur wenige pädagogische Anknüpfungspunkte. Seine Vor-schläge unterbreitete Globokar dem Verfasser in persönlichen Gesprächen und im Briefwech-sel zwischen den Jahren 2000 und 2002.

Bewährung · 303

verändern. Diese Auseinandersetzung mit dem eigenen Engagement führt auch zu

einer praktischen Auseinandersetzung und Neubewertung der vermeintlichen

Theorielastigkeit der Neuen Musik und unterstreicht die Notwendigkeit einer

gesellschaftskritischen Haltung gegenüber den kommerziellen Vermarktungsstra-

tegien.

Sowohl in den Artikeln von Langbehn und Nimczik als auch in Globokars eigener

Darstellung von Vermittlungspotentialen seiner Kompositionen ist auffällig, dass

indirekt ein Kerngebiet der Musikästhetik angesprochen wird, ohne letztlich des-

sen Deutlichkeit und Dringlichkeit für den Musikunterricht zu konkretisieren. Im

Rahmen einer musikpädagogischen Auseinandersetzung bietet es sich an, die

Entwicklung eines gesellschaftskritischen Bewusstseins im Hinblick auf die ritua-

lisierte Musikpraxis in den Kern des Unterrichts zu stellen. In einer Erarbeitung

wird oftmals unter den Aspekten der Entfremdung und Verdinglichung auf die

Atonalität als teleologischer Prozess der Musikgeschichte eingegangen. Des Wei-

teren werden die medialen Vermarktungsstrategien thematisiert oder soziologisch

motivierte Hörertypologien analysiert. Die Bezugnahme auf den Leib als Wahr-

nehmungsorgan und folglich sensibles Zentrum von Manipulationsinteressen

bleibt weitestgehend unberücksichtigt. So liegt ein wesentliches didaktisches Ziel

in der Förderung gesellschaftskritischen Engagements durch die grundlegende

Infragestellung instrumentalisierter Tätigkeiten an sich.

Die inhärente Radikalität der Musik Globokars eignet sich dazu, mit den Überfor-

derungen der Spieltätigkeit durch ‚unrealisierbare Vorschriften’ im Unterricht zu

experimentieren. Die konkrete praktische Austarierung der Grenzen des physisch

und psychisch Machbaren führt letztlich zu einer grundlegenden Hinterfragung

des Wahrheitsgehalts der Kunst. Der nicht zu leugnende utopische Anspruch der

Musik Globokars wird folglich zum Kerngebiet der pädagogischen Auseinander-

setzung und führt vom Stellenwert der Improvisation, über die Expressivität der

Musikausübung im Kollektiv, hin zu der Gestaltung eigener offener Werkkonzep-

tionen.

Im Rahmen einer Erarbeitung der Grenzen musikalisch-physischer Belastbarkeit

sind zunächst Bedenken angebracht, wie weit die ‚Über-Forderung’ und ‚Zur-

Schau-Stellung’ der körperlichen Fähigkeiten der Schüler gehen darf, zumal hier

unterschiedliche physische Konstitutionen berücksichtigt werden müssen, ganz zu

304 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

schweigen von der mentalen Belastung, die mit einer Konzentration auf die Leis-

tungsfähigkeit des Körpers einhergeht. Die Skepsis gegenüber der Erarbeitung

physischer Spielgrenzen auf Instrumenten ist allerdings insofern unbegründet, da

ja auch in anderen Fächern, v. a. im Sport, die permanente Steigerung der physi-

schen Leistung thematisiert wird. Wenn daher der Leib unabdingbarer Bestandteil

der musikalischen Produktion von Musik ist, der gleichsam ästhetische Erfahrun-

gen bereitstellt, gilt es auch im Unterricht sein ‚Können’ auszudifferenzieren und

bis an die Leistungsmaximierung zu steigern.

Im Unterschied zum Sportunterricht geht es Globokar allerdings weniger um vir-

tuose Höchstleistungen, Drill und Wettkampf als vielmehr um die Ausdifferenzie-

rung musikalischen Engagements. Der Vorwurf, dass das Spiel mit den Grenzen

des Körpers letztlich zu einem Spiel mit existenziellen Grenzsituationen führt,

trifft nicht den Kern seiner Musikästhetik, da das ‚Spiel mit den eigenen Grenzen’

ein neues Körperbewusstsein bewirkt, das die Einmaligkeit ästhetischer Situatio-

nen sowie die Vieldeutigkeit der resultierenden Klangergebnisse und kollektiven

Aktionsformen herausstellt. Natürlich ist innerhalb einer musikpädagogischen

Auseinandersetzung Vorsicht geboten, den Bereich des Möglichen nicht zu über-

schreiten, damit keine körperlichen Schäden auftreten, aber auch in anderen Fä-

chern wird Wert auf die Einhaltung von Grenzen, Regeln und gegenseitige Rück-

sichtnahme gelegt.

Die methodische Vorgehensweise konzentriert sich zunächst auf eine kritische

Bewusstwerdung mechanischer Spielweisen. Als Einführung bietet sich z. B. die

Videoanalyse virtuosen Instrumentalspiels an, die Untersuchung von Haltungs-

schäden durch physische Überbelastungen sowie ein Vergleich von Hörbeispielen,

die sich hinsichtlich der virtuosen Beherrschung technischer Fähigkeiten kaum

unterscheiden. Eine kritische Annäherung an die Konditionierung von Bewegun-

gen und Haltungen wird auch durch die Biographie von ‚Wunderkindern’ erreicht,

deren musikalischer Tagesverlauf oftmals von stundenlangen monotonen techni-

schen Übungen geprägt ist.

In der darauf aufbauenden Unterrichtseinheit gilt es, die eigenen Spieltätigkeiten

und Bewegungen genauer zu analysieren, um stereotype Verhaltensmuster aufzu-

zeigen. Hierbei können die Schüler einer Klasse ihre Spielweisen auf ihren In-

strumenten vorstellen. Im Rahmen der Ausbildung individuellen Engagements

werden neue Haltungen eingeübt, Instrumente präpariert oder Interpretationen

unter der Ausdifferenzierung psychischen Engagements realisiert, wie z. B. durch

die Hinzunahme von Texten, die dem Musiker ins Ohr geflüstert werden. Im Zen-

Bewährung · 305

trum der Erarbeitung steht dabei der Körper als expressives Medium und als Ver-

längerung des Instruments. Durch diese Auseinandersetzung mit dem physischen

und psychischen Engagement wird den Schülern der keineswegs selbstverständli-

che Umstand näher gebracht, dass Einstellungen oder Rollen über Bewegungen

zum Ausdruck gebracht werden.360

Erst nach dieser grundsätzlichen Sensibilisierung schließen sich erste Experimente

mit Überforderungen an. Die Schüler experimentieren mit ‚extremer’ Dynamik

(Spiele so lange wie du kannst im Fortissimo!’ ‚Spiele so leise wie möglich!’),

ungewohnten Spieltechniken (‚Singe die Melodie ununterbrochen im Ein- und

Ausatmen!’) oder mentalen Anweisungen (‚Erzeuge einen Klang, der dir Freude

oder Angst macht!’).361

Ein weiterer Aspekt der Auslotung der Grenzen physischer Spielvorgänge ist die

Verfremdung und Präparation gewöhnlicher Klangerzeuger und damit zusammen-

hängender Körperhaltungen. Hierbei werden auch alltägliche Klangerzeuger, wie

Sand, Wasser oder Motoren, hinzugezogen. Ferner bietet es sich an, an ungewöhn-

lichen Naturplätzen oder in Unterrichtsräumen (Kunst-, Chemie- oder Physik-

raum) zu musizieren, da hier einerseits ungewöhnliche Klangerzeuger zu finden

sind, und andererseits die Schüler von den an einen Raum gebundenen Hemmun-

gen ‚befreit’ werden. Es ist auch von besonderem Reiz, mehrere Instrumente oder

Instrumententeile miteinander zu verbinden, um innerhalb der kollektiven Musi-

zierpraxis einen gemeinsamen Ausdruck auf einem Instrument zu realisieren.

In der Klasse wird auf Plakaten ein grundlegendes Raster von Spieltechniken und

Präparationen entworfen und systematisch in Form eines ‚Laboratoriums’ er-

forscht. Im Rahmen dieser kollektiven Musiziertätigkeit werden auch die Sozial-

kompetenz der Klasse und die demokratischen Verhältnisse der Schüler unterein-

ander erweitert. Aus den in den Gruppen entstandenen Präsentationen entwickelt

sich auf diese Weise ein experimentelles Musiktheater, in dem verschiedene Akti-

onen simultan aufgeführt werden.

Die Grundvoraussetzung für die hier vorgestellte Erarbeitung liegt in der Konzent-

ration auf die Entwicklung offener Werkkonzeptionen sowie in der damit verbun-

______________

360 Es ist auch möglich, sich zu verstellen und eine fremde Rolle zu übernehmen. 361 D. Frank und Th. Keens experimentieren in ihrem für die Schule konzipierten Schlagzeug-

lehrwerk ‚Trommeln lernen und mehr’ mit physischen Belastungen im Instrumentalspiel. Vgl. Frank/Keens 2000

306 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

denen Ausübung kollektiver Improvisationen. Es bedarf ausdauernder und inten-

siver Übungen, um die gewohnte Klangerzeugung und damit verbundene stereo-

type Musikfloskeln aufzuheben, hierzu zählen auch Gesangsmelodien oder selbst

das Spiel auf Blockflöten und Orffschen Instrumenten.

Als hilfreich hat sich hier die Auseinandersetzung mit musikalischen Spielräumen

zwischen Freiheit und Verantwortung erwiesen. Die Schüler musizieren im En-

semble und entwickeln untereinander minimale Vorschriften und Freiheiten in der

Gestaltung, die sie in Form von verbalen Beschreibungen, graphischen Notationen

oder auch notierten Melodieverläufen gemeinsam festlegen. Dabei kann ein Bezug

auf ein außermusikalisches Thema, das die Funktionalität der Mittel garantiert, die

Auseinandersetzung bereichern. In ständig ausdifferenzierten Übungen wird ein

eigenständiges Repertoire an kollektiven Ausdrucksformen entwickelt, das den

Leib als Medium der Klangerzeugung in den Mittelpunkt der Aufführung stellt.

Die Aufgabe des Lehrers besteht darin, die Entstehung hierarchischer Strukturen

zu verhindern und den Bezug zum außermusikalischen Thema zu bewahren. Des

Weiteren achtet er darauf, dass Lärm und Gewaltanwendungen nicht die einzigen

Mittel zur physischen Überforderungen sind, sondern dass auch mit minimalen

Mitteln eine große Wirkung erzeugt wird. Der Schwerpunkt der pädagogischen

Arbeit liegt demnach darin, die Sensibilisierung von Umgangsweisen mit Gegen-

ständen zu fördern. Gerade im Hinblick auf perkussive Klangerzeuger bietet sich

die Ausdifferenzierung von ‚Schlagtechniken’ an, wie sie Globokar z. B. in ‚?cor-

porel’ aufzeigt.362

Da keine vorgefertigten Ergebnisse realisiert werden und die Gestaltung in den

Händen der Schüler liegt, kann die Realisation einer ‚Musique Engagée’ je nach

dem Engagement der Klasse scheitern, wenn die Ideen einzelner Schüler missach-

tet werden oder der Bezug zum außermusikalischen Sujet außer Kontrolle gerät.

Nach Globokar findet sich selbst im Misslingen eine Weiterentwicklung des kriti-

schen Engagements, da das Gewohnte in Frage gestellt wurde und sich auf den

weiteren Umgang mit Musik auswirkt.

Im Rahmen einer Umsetzung der Kompositionsästhetik Globokars bleibt fragwür-

dig, inwieweit die ästhetischen Erfahrungen im Diskurs reflektiert werden sollen

und zu einer Kontroverse über die Verantwortung des Interpreten verpflichten. Es

liegt durchaus im Sinne Globokars, die kollektiv-kommunikativen Erfahrungen zu

besprechen, obwohl eine intellektuelle Durchdringung die Vieldeutigkeit der mu-______________

362 Ausführlich zur Umsetzung von ‚?corporel’ im Unterricht vgl. Oberhaus 2003

Bewährung · 307

sikalischen Verhaltensweisen kategorisiert und den Vorwurf einer ritualisierten

Aufführungspraxis erneuert. Wünschenswert ist in jeder Hinsicht, dass sich, im

besten utopischen Sinne, die Spielerfahrungen auf die gesellschaftliche Praxis und

über die Musik hinaus auswirken.

Globokars Ästhetik bringt der Musikpädagogik die Besinnung darüber, dass der

Umgang mit dem Gewohnten und Vertrauten, und hierzu zählen auch Kommuni-

kations- und Aktionsformen jeglicher Art, nur einen kleinen Teilbereich der

Wahrnehmung und Produktion von Musik ausmacht. Die ‚Wahrheit der Kunst’

liegt auch in der Unmöglichkeit eines noch zu ereichenden Idealzustands begrün-

det und impliziert im Rahmen musikalischer Tätigkeiten die Akzeptanz von Über-

forderungen im Hinblick auf die Überwindung gesellschaftlicher Normen. In

Bezug auf die Relevanz der Leiblichkeit im Unterricht wird besonders in der Mu-

sik Globokars deutlich, dass ‚nichts Wirkliches ohne Leidenschaft vollbracht’

wird, sofern die Entwicklung musikalischen Engagements der kompromisslosen

Adaptierung des ästhetischen Scheins vorauseilt.

308 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

VI DISKUSSION

Zwischen dem Anbieten einer Vielheit von formalen Welten und dem eines

undifferenzierten Chaos, das keinerlei Möglichkeit zu ästhetischer Erfas-

sung mehr bietet, ist nur ein kleiner Schritt.

(Eco 1973, 130)

Das folgende Kapitel summiert den im Verlauf der Arbeit geleisteten Forschungs-

ertrag auf zwei Weisen. Zunächst werden die Ergebnisse der einzelnen Kapitel auf

einer Metaebene kritisch reflektiert und miteinander verknüpft, um die Argumen-

tationsstringenz zu fokussieren (1). Eine anschließenden Kontextualisierung der

zentralen Positionen der Arbeit verfolgt eine Eingliederung der Leiblichkeit in

bestehende musikpädagogische Forschungsfelder (2). Diese Bezugnahme erfolgt

schwerpunktmäßig durch den Vollzugsaspekt von Leiblichkeit, der in unterschied-

licher Ausprägung auch in der Musikpädagogik gegenwärtig ist. Somit öffnet der

‚Ausblick’ als Bindeglied zwischen ‚Fragestellung’ und ‚Ergebnisproduktion’

gleichsam neue ‚Fenster‘ im Sinne weiterer Perspektiven und Aufgaben für zu-

künftige Untersuchungen zur Körper/Leibthematik.

Die Diskussion dient demnach weniger zum erneuten Aufriss von Problemstellun-

gen und Hypothesen als vielmehr zur grundlegenden Verortung der im Rahmen

einer Gesamtdarstellung aufgeführten Argumentationsgänge. Der Vergleich mit

bestehenden Forschungsfelder versteht sich als potenzielle Fusion mit musikpäda-

gogischen Konzeptionen, deren gemeinsames Ziel darin liegt, die grundlegende

Vorurteilshaftigkeit im Körperverständnis zu unterlaufen.

Diskussion · 309

1 Resümee

Thematisch konzentrierte sich die Arbeit auf die in der ‚Bestandsaufnahme’ for-

mulierte Fragestellung, ob eine spezifische Körper/Leibauffassung existiert, die

sich einer Konkurrenz von Körperbefürwortern oder -kritikern enthält.362 Leib-

lichkeit entspricht nun genau der Möglichkeit, die damit verbundene Vorurteils-

struktur zu unterlaufen und den Menschen zwischen Körper und Geist, Selbst- und

Fremderfahrung bzw. Subjekt- und Objektbezug zu bestimmen, ohne seine Exis-

tenz voreilig dualistisch zu interpretieren. Diese Deutung definiert ‚Musik als

Vollzug von Leiblichkeit’, um Theorie und Praxis im Sinne von passivem Verste-

hen und aktivem Handeln nicht gegeneinander auszuspielen, sondern als gleichur-

sprünglich zu behandeln.

Eine zentrales Anliegen ist die Exposition eines phänomenologischen Leib-

begriffs. Zwar gab es immer wieder vereinzelte Versuche, eine historische Genese

der Rolle des Leibes nachzuzeichnen, aber eine eigentliche Relevanz für spezifi-

sche Theoriebildungen, die gerade auf eine Unterlaufung von Körper/Leib-

Dualismen abzielen, zeichnet sich erst in der Phänomenologie ab.363 Die anhand

des gewonnenen Leibbegriffs dargestellten vier Topoi ‚Zweideutigkeit’, ‚Intersub-

jektivität’, ‚Ausdruck’ und ‚Erweiterung’ summieren also systematisch die Ergeb-

nisse Husserls und Merleau-Pontys auf einer einheitlich terminologischen Basis.

Ein für den Bereich der Musikpädagogik relevantes Ergebnis liegt in der anschlie-

ßenden Transformierung der Topoi in musikpädagogische Zusammenhänge. Unter

der Voraussetzung, dass sie sich grundsätzlich ästhetisch fundieren lassen, wird

‚Leiblichkeit’ anhand der vier Qualitäten ‚Zwischen‘, ‚Interkorporalität‘, ‚Expres-

sivität‘ und ‚Extension‘ expliziert und im Bereich ‚Neue Musik’ spezifiziert.

Im Rahmen eines Resümees lassen sich der methodische Gang der Arbeit und die

damit verbundene Ergebnisproduktion wie folgt zusammenfassen. Die ‚Be-

standsaufnahme’ (I) gewährleistet einen ersten thematischen Überblick über die

Bewertungen des Körpers im derzeitigen gesellschaftlichen Kontext. Zwei Kristal-

lisationspunkte sind dabei von besonderer Bedeutung. Zum einen existiert eine

Konkurrenz im Körperverständnis der Musikpädagogik, die auf einer divergenten ______________

362 Vgl. Kap. I.3 363 Vgl. Grätzel 1989; Geiger 1998

310 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

Bewertung der Musik Jugendlicher samt den damit verbundenen körperlichen

Ausdruckspotenzialen beruht. Die Konkurrenz gründet sich auf unterschiedliche

Bedeutungen der Begriffe ‚Köper’ und ‚Leib’, die jeweils im Sinne eines analy-

sierbaren Objekts oder kreativen Subjekts eine einseitige Deutung der menschli-

chen Existenz annehmen. Diese dualistische Struktur unterliegt einem Vorurteil,

da sie den Körper für spezifische Zwecke beansprucht und so keiner Allgemein-

gültigkeit unterliegt.

Die Phänomenologie bietet sich als ‚Methode‘ (II) an, die Vorurteilshaftigkeit zu

unterlaufen, da sie sich durch ihre deskriptive Typik im Sinne eines ‚Zurück zu

den Sachen selbst’ und der dadurch verbundenen Enthaltung klassifizierender

Werturteile einer vorurteilshaften Deutung entzieht.

Durch den in der ‚Analyse’ (III) erfolgten Rückgriff auf die phänomenologischen

Forschungen Husserls und Merleau-Pontys kristallisiert sich ein eigenständiger

Leibbegriff heraus, dessen spezifische Struktur innerhalb der ‚Ergebnisse’ (IV) in

Form der vier Topoi summiert wird. Aus deren Transformation in spezifisch äs-

thetisch-musikpädagogische Zusammenhänge resultieren die vier Qualitäten,

welche systematisch als Leiblichkeit gefasst werden.

Im Rahmen einer Bewährung (V), einer Bezugnahme auf existierende musikpäda-

gogische Konzeptionen, die sich implizit oder explizit mit der Leiblichkeit ausein-

ander setzen, konkretisieren sich die Qualitäten auf philosophisch und fachdidak-

tisch adäquatem Boden. Die folgende Ausweisung von Neuer Musik als ‚Vollzug

von Leiblichkeit’ gewährleistet die praktische Fundierung der Ergebnisse anhand

eines konkreten ‚Lernfelds’. In Form einer ‚Hinführung’ wird zunächst in die

spezifische Thematik eingeleitet, durch eine anschließende ‚Durchführung’ erfol-

gen Verweise und musikpädagogische Implikationen. Eine potenzielle Relevanz

der Leiblichkeit im Rahmen der Neuen Musik ist durch eine Bezugnahme auf die

ästhetischen Paradigmen und Kompositionen von Edgar Varèse, Dieter Schnebel

und Vinco Globokar gegeben.

Die in der ‚Bestandsaufnahme’ konstatierte Konkurrenz wird systematisch als

‚Imperativ musikkritisch fundierter Körpererfahrung’ und ‚Akzeptanz unverge-

sellschafteter Körpererfahrung’ gefasst. Ihre jeweilige Zuständigkeit ist für ein

Verständnis der derzeitigen Bewertung von Bewegung im Musikunterricht auf-

schlussreich, da sie den Grund der Funktionalisierung des Körpers verdeutlicht.

Auf der einen Seite gilt es, die Motorik und die Bewegungen zu kontrollieren, um

sie so zu systematisieren und zu kategorisieren, auf der anderen Seite wird die

Diskussion · 311

Selbstverständlichkeit des Subjekts hervorgehoben, sich auszudrücken, um Musik

zu ‚erleben’. Während die erste Form individuelle Bewegungserfahrungen durch

ihre ‚Unberechenbarkeit’ negativ konnotiert und ein angemessenes Verständnis

der musikalischen Faktur durch Bewegung fordert, konzentriert sich die letztere

auf eine Verschmelzung von Musik und Bewegung, die unvoreingenommen nach

dem Erlebniswert des Subjekts fragt und kritisch reflexive Bezüge ausblendet. Der

Körper untersteht der verbindlichen Forderung nach verstärkter ‚Handlungsorien-

tierung’ einer dualistischen Ausrichtung als objektiv-kontrollierbare Maschine

oder als subjektiv emotionales Wesen.

Ein weiteres Ergebnis der Arbeit liegt in der Etablierung von Leiblichkeit als

Basis der Wahrnehmung und Produktion von Musik.364 Von hier aus sind die

Aufgaben einer Verflechtung von Handeln/Verstehen, Aktivität/Passivität oder

Rationalität/Emotionalität zu denken. Diesen Sachverhalt greifen implizit auch

alle in der Bewährung aufgenommenen musikpädagogischen Konzeptionen auf.

Leiblichkeit ist das ‚Register’ (Vogt), die ‚Umschlagstelle’ (Waldenfels), die Ent-

kopplung zwischen ‚Werkzeug- und Sinnenleib’ (Mollenhauer) oder die Schnitt-

stelle zwischen ‚Greifen und Begreifen’ (Richter). Musikalische und leibliche

Erfahrungen verweisen wechselseitig aufeinander, sonst wären klangliche Ereig-

nisse und ästhetische Wahrnehmungen nicht gegenwärtig. Musik bedarf immer

eines akustischen Sinnenreizes, der auf die Produktion im Sinne konkreter Hand-

lungsvollzüge angewiesen bleibt. Klänge sind ‚Ereignisse’, die ohne ‚Vollzug’

nicht denkbar wären. Jeder Ton verweist auf einen Urheber, der ihn produziert.

Dies hat Konsequenzen für den Musikunterricht, der als eine aktive Auseinander-

setzung mit leiblich fundierten Wahrnehmungsformen verstanden werden muss.

Leiblichkeit bleibt dabei immer auf eine Aporie angewiesen, die das Hören und

das Tun gleichursprünglich ästhetisch fundiert sieht. Sie versucht vermeintliche

Gegensätze, wie Hören (passiv) und Gestalten (aktiv), zusammen zu denken, um

so musikalisches Verstehen in noch nicht völlig determinierte Sinnhorizonte ein-

zubetten. Solche paradox wirkenden Formulierungen erhalten gerade innerhalb

der Ästhetik ihr Recht, da ihre ‚Gegenstände’ einem prärationalen Zwischenbe-

______________

364 In einer ähnlichen Formulierung weist übrigens auch Chr. Rolle auf die „leibliche Basis ästhetischer Erfahrungen“ (Rolle 1994, 20) hin und bezieht sich ausdrücklich auf Merleau-Ponty. Er hebt ferner deutlich die „leibliche Dimension der Intersubjektivität“ (Rolle 1994, 30) hervor. Sein Beitrag konzentriert sich auf den Bereich der Popularmusik und hebt den ‚Groove’ als elementare sinnlich-rhythmische Wahrnehmung hervor.

312 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

reich angehören, der niemals völlig konstituiert werden kann. Gleichsam fungiert

der Leib als Vermittler zwischen objektiver und subjektiver Sinngebung. Aller-

dings bleibt in der aporetischen, zweideutigen Struktur die Schwierigkeit, Leib-

lichkeit fern aller dualistischen Konstruktionen ohne ganzheitliche Ansprüche zu

fassen, da sie wiederum zwei eigenständige ‚Schichten’ von Ich und Welt voraus-

setzt, die Intensitäten von unterschiedlicher Dichte annehmen und auf ihre Rätsel-

haftigkeit angewiesen bleiben.365

‚Musik als Vollzug von Leiblichkeit’ berücksichtigt daher pluralistische Ver-

ständnisse, divergente Anschauungen, heterogene Erfahrungen, die auch nach

einer Legitimierung und Verantwortung engagiert handelnder Subjekte, sprich

Schüler und Lehrer, verlangen. Hierbei wird v. a. das Zulassen des Kontingenten

im Sinne auch anders seiender Wahrnehmungen verstanden. Ziel des Unterrichts

ist die Etablierung von Vieldeutigkeit, Perspektivität und die Akzeptanz von Brü-

chen.366 Leiblichkeit bricht demnach mit festgelegten Sinnhorizonten und will

gerade nach den unzähligen Rissen, Falten, Spalten und Spuren in der Wahrneh-

mung suchen. Dies bedeutet Unvergleichbarkeit und Inkommensurabilität, die

positiv gewendet nach neuen Möglichkeiten des Verstehens im Musikunterricht

fragen. Die Leiblichkeit verdeutlicht somit, dass es der ästhetischen Wahrneh-

mung niemals nur um das Wahrgenommene geht, denn die Verankerung im Zur-

Welt-Sein zeigt die konkrete Verbundenheit zur Lebenswelt als „Logos der ästhe-

tischen Welt“ an (PhW 488).367 Diese fordert innerhalb der intentionalen Struktur

des Leibes zum Verstehen und Entdecken der ‚Hörwelt’ auf.

Leiblichkeit etabliert einen spezifischen Verstehensbegriff, dessen Implikationen

auch für die Musikpädagogik konstitutiv sind. Am Beginn steht eine eigenwillige

Auffassung von Sinn, der immer mehrdeutig, aber niemals willkürlich ist. Para-

digmatisch kann anhand von Merleau-Pontys Unterscheidung zwischen einer

‚guten’ und ‚schlechten Ambiguität’ ausgegangen werden, die das Verhältnis der ______________

365 Wolfgang Welsch sieht die zentrale Aufgabe einer postmodernen Ästhetik in der „Idee der Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen“ (Welsch 51998, 134). Er bezeichnet hierbei auch das ganzheitliche Denken als großen Fehler, der „strukturell den Weg zum Terror hin eröff-net“ (Welsch 51998,166).

366 Hierbei werden konkrete Topoi einer postmodernen Ästhetik angesprochen. Paradigmatisch kann hier v. a. auf die Werke Lyotards verwiesen werden. Einen zusammenfassenden Über-blick liefert Wolfgang Welsch. Vgl. Lyotard 1989; Welsch 51998

367 Husserl verwendet den gleichen Ausdruck. Allerdings benutzt er ‚ästhetisch’ im weiten Sinne einer transzendentalen Ästhetik. Vgl. Husserl 1992, Bd. 7

Diskussion · 313

Welt der Dinge und der dazugehörigen Wahrnehmung thematisiert. ‚Schlecht’ ist

sie, wenn sie vom Streben nach Einsicht und Struktur losgelöst ist und das Subjekt

sie blind über sich ergehen lässt. ‚Gut’ ist sie, wenn die offenen Sinnhorizonte als

Teilbereich gelebter Erfahrungen mitgegenwärtig bleiben und die Vieldeutigkeit

zu Erkenntnis anregt. Demnach kann der Leiblichkeit innerhalb ihrer fundamenta-

len Bodenfunktion zur ästhetischen Erfahrungsbildung nicht a priori ‚Sinn’ oder

‚Unsinn’ zugesprochen werden. Sinn ist durch den Leib in seiner doppelten Struk-

tur und der damit verbundenen Teilhabe an der Welt der Dinge immer schon ge-

geben, nie aber vorgezeichnet. So erhält die Erfahrung eine Negativität, da Ver-

stehensprozesse den Bereich des ‚Zwischen’ als ein ‚Noch-nicht’ oder ‚Weder-

noch’, niemals aber als ein ‚Sowohl-als-auch’ strukturieren, ohne diese Differenz

voreilig zu übernehmen, da sie sonst in eine bloße Mischung von Innerlichkeit und

Äußerlichkeit zurückfallen würde. In dieser latenten Radikalität, die der Leiblich-

keit anhaftet, zeigt sie sich als „Mittelweg zwischen totaler Evidenz und reiner

Absurdität“ (Waldenfels 21998, 175).

Die Grundgestalt der Leiblichkeit ist die erste Qualität, das ‚Zwischen’, die als

konstitutive Größe vermeintliche Gegensätze wie Gestalten und Verstehen als

gleichursprünglich begreift und ihnen eigenständige Aufgabenbereiche zuschreibt,

ohne sie als isolierte funktionalistische Parameter zu begreifen. Leiblichkeit ist

immer schon in ästhetische Erfahrungszusammenhänge eingebunden, von denen

sie sich nicht loslösen kann. Musikalische Gestaltungen sind im Vorfeld nicht

determinierbar, da sie auf immer neue räumlich-zeitliche Zusammenhänge ver-

weisen und vom Subjekt divergent erfahren werden.

Die Zweideutigkeit von Kunstwerken zwischen konkreter faktischer Erscheinung

und subjektiver Bewertung ist erst durch die leibliche menschliche Existenz als

gleichzeitige Innen- und Außenwelt gegeben. Zentral für das ‚Zwischen‘ ist, dass

der Leib innerhalb der ästhetischen Perspektiven wählt und sich so entweder auf

das spontane Gestalten oder bewusste Wahrnehmen richtet. Das gilt für Formen

aktiven Musizierens und für Hörprozesse, die immer auch leiblich fundiert ver-

standen werden müssen. Für den Unterricht bedeutet dies, auf der Basis des ‚Zwi-

schen‘ beruhende ästhetische Erfahrungen den Schülern leiblich ‚bewusst’ zu

machen.

Die zweite Qualität, die ‚Interkorporalität’, konzentriert sich auf die Aufhebung

des Solipsismus, um ästhetische Erfahrung intersubjektiv zu etablieren. Das be-

314 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

trifft v. a. verbale Prozesse, die auf ein Zeichensystem angewiesen sind, das zwar

Allgemeingültigkeit beansprucht, aber durch seine semiotische Struktur den indi-

viduellen Wahrnehmungen nicht gerecht wird. Im Musikunterricht sind Parolen

wie ‚schön’ oder ‚langweilig’ allgegenwärtig, aber eben nicht zu verallgemeinern,

da individuelle Erlebnisse differenziert zu betrachten sind. Interkorporalität sieht

in der Darstellung von Bewegungen zur Musik die Möglichkeit gegeben, ästheti-

sche Erfahrungen Anderen zu präsentieren, so dass der Ausdruck spontan verstan-

den wird. Da Sinn über Bewegungen niemals eindeutig übermittelt werden kann,

trägt das konstitutive Missverstehen zum Verstehen des Anderen bei. Der Leib ist

hier das Medium, das Ähnlichkeit und Fremdheit gleichzeitig evoziert und so die

Appräsentation, also das Entdecken des Eigenen im Fremden, gewährleistet. Die

Interkorporalität ist eine immanent musikalische Erscheinung, da sie sich der

Ausdruckskraft der Musik bedient.

Hiermit wäre die dritte Qualität, die ‚Expressivität’, angesprochen, worunter all-

gemein die Möglichkeit verstanden wird, ‚etwas als etwas’ zum Ausdruck zu

bringen. Der Mensch kann sich darstellen und gleichermaßen eine fremde Rolle

übernehmen und sich verstellen. Die Qualität der Expressivität zeigt, dass sich das

Subjekt äußerlich als Selbst und auch als Anderer darstellen kann, als derjenige,

der er nicht ist, wie er vielleicht gesehen werden möchte oder wie er meint, die

Stimmung einer bestimmten Musik darstellen zu können. Expressivität beinhaltet

dabei weder sportliche Höchstleistungen noch theatralische Fähigkeiten unter der

Prämisse der Selbstoffenbarung und benachteiligt auch keine bewegungsärmeren

Schüler. Vielmehr geht es um die Etablierung eines Registers an Ausdruckspoten-

zialen, das zur Verständigung von Hörerfahrungen dient. Selbst wenn diese Quali-

tät als selbstverständlich erscheint, so wohnt ihr doch eine grundsätzlich musikali-

sche Bedeutsamkeit inne, da Klangereignisse auch nach einem spezifischen ex-

pressiven Akt der Darstellung und Wahrnehmung verlangen, um Anderen ‚etwas

als etwas‘ mitzuteilen. In der Expressivität überschneiden sich daher das Zwischen

und die Interkorporalität.

Die vierte Qualität, die ‚Extension‘, zeigt sich v. a. während des Instrumental-

spiels und wird im Unterricht z. B. während der Ensemblearbeit oder in Formen

des Klassenmusizierens erfahren. Instrumente verlangen nach einer spezifischen

Handhabung, welche die gewohnte Motorik erweitert. Instrument und Bewegung

gehen hier ein wechselseitiges Verhältnis ein, indem die Gesten einen neuen Sinn

erhalten und zum musikalischen Ausdruck beitragen, der auch das Verhalten des

Diskussion · 315

Musikers zu seinen Mitspielern beeinflussen kann. Ziel ist der Austausch von

Ausübung und Lauschen, Machen und Bewerten, was gerade in Improvisations-

prozessen auffällig ist. Hier zeigt sich besonders deutlich, wie dualistische Ebenen

von Rezeption und Produktion überschritten werden. Die Extension erweitert

somit erstens das gewohnte Bewegungsspektrum durch die spieltechnischen An-

forderungen des Instruments und zweitens das eigene Ausdrucksvermögen im

Sinne der Mitteilung von Expressivität.

Ferner wird hier auch die prärationale Struktur der Leiblichkeit deutlich, da Be-

wegungen nicht immer neu ins Bewusstsein gerufen werden, sondern zur Verfü-

gung stehen und dem Ausdrucksakt dienen. Gerade die Gewohnheit ist als positi-

ves Phänomen zu verzeichnen, das der Leiblichkeit das Repertoire an Bewegun-

gen zur Verfügung stellt. Dabei ist bedeutsam, dass das Subjekt durch sein Verhal-

ten ein Repertoire an Verhaltensweisen mitbringt und musikalisch auf das Instru-

ment überträgt.

Es ist das Ziel aller Qualitäten der Leiblichkeit, Sinn im ‚statu nascendi’ zu erfas-

sen, der nicht in Kunstwerken als fertig-objektivierbares Gebilde vorzufinden ist

und auch nicht in den Bewusstseinsstrukturen vorentworfen wird.

2 Ausblick

Die Arbeit unternimmt den Versuch, die phänomenologische Forschungsmethode

wieder verstärkt in den Blickwinkel musikpädagogischer Interessen zu legen.

Dieses Anliegen resultiert aus methodischen Prämissen, die für künftige For-

schungsfragen zur Körper/Leib-Thematik relevant werden. Das wesentliche Krite-

rium phänomenologischer Untersuchungen liegt v. a. im ‚unvoreingenommenen

Blick’, der oftmals durch Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Forschungsinte-

ressen verstellt ist. Das beinhaltet weder Willkür noch Oberflächlichkeit des Den-

kens, da sich Phänomenologie seitens des deskriptiv methodischen Anspruchs

immer auf Formen objektiver Gültigkeit beruft, auch wenn gerade ihre nicht nor-

mative Sprachlichkeit dazu verleitet, Mystizismus oder Unwissenschaftlichkeit zu

vertreten. Dies ist wohl auch der Grund, warum phänomenologische Forschungen

derzeit eher als ‚Raritäten’ zu betrachten sind, da die positivistischen Paradigmen

der qualitativen und quantitativen Theoriebildungen überwiegen. Hier sei noch-

mals hervorgehoben, dass ein empirischer Forschungsansatz nicht dem hier darge-

legten phänomenologischen widerspricht oder entgegensteht. Das gilt gerade für

Husserl und besonders für Merleau-Ponty, die beide um ein Zusammenwirken von

316 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

empirischer Wissenschaft und Philosophie bemüht waren. Eine gewisse Nähe ist

v. a. für qualitative Ansätze gegeben, welche neben der Interpretation individuel-

ler Erfahrungen mittels unterschiedlicher Methoden, wie z. B. das ‚Narrative In-

terview’ oder die ‚Teilnehmende Beobachtung’, immer auch um die Rekonstrukti-

on subjektiven Sinns bemüht sind.

Die Relevanz für methodisch-phänomenologisches Arbeiten ergibt sich durch

zwei Weisen. Es bietet sich an, bestehende Ergebnisse aufzugreifen, wie z. B.

spezifische phänomenologische Ästhetiken, und sie für musikpädagogische Sach-

verhalte zu konkretisieren, oder aber eigene Analysen auf den basierenden Grund-

lagen durchzuführen, wie z. B. Intentionalität oder epoché. Im Rahmen der vorlie-

genden Arbeit wurde die erste Variante gewählt. Die spezifische Qualität beider

Möglichkeiten dürfte nach wie vor der Grundsatz Husserls und Merleau-Pontys

sein: „Es gilt zu beschreiben, nicht zu analysieren“ (PhW 4). Die hiermit verbun-

dene ‚Absage an die Wissenschaft’ negiert aber nicht die Dringlichkeit von syste-

matischen Forschungsmethoden, sondern will zeigen, dass Phänomenologie als

Ganzes auf dem Boden der Lebenswelt gründet und Erfahrungswissenschaft nur

durch den Rückgang auf diese ‚Welterfahrungen’ ermöglicht wird. Das eigentliche

Untersuchungsfeld lässt sich durch die Fundierungsoption, also den Rückgang auf

Erfahrungen ‚von etwas als etwas’, freilegen. Die ‚Triftigkeit’ der Methode liegt

gerade in der Nichtakzeptanz vorurteilshafter Körper- und Leibdualismen, die dem

eigentlichen Phänomen nicht gerecht werden.

Das ‚Zwischen’ begreift Bewegung zur Musik in einem umfassenden Sinn, um

ästhetischen Produkten eine leibliche Erfahrungsdimension zuzuschreiben. Voll-

zug umschreibt also einen erweiterten Handlungsbegriff, welcher Reiz/Reaktions-

schemata negiert und auf das direkte leibliche Eingebundensein des Subjekts in

Verstehenshorizonten aufmerksam macht, die gerade Merleau-Ponty unter dem

Begriff ‚Zur-Welt-Sein‘ gefasst hat.

Im Bereich der Aisthetik, speziell bei den Autoren Gernot Böhme und Martin

Seel, kann durch die Gleichursprünglichkeit von Wahrnehmung und Wahrge-

nommenem eine Affinität zur Musik als Vollzug von Leiblichkeit erkannt werden.

Besonders Seel bestimmt Wahrnehmung als „selbstbezüglich“ und „vollzugso-

rientiert“ (Seel 1996, 126) zugleich. Dies hat Auswirkungen auf das Verständnis

von ‚ästhetischer Praxis’ als „eine Tätigkeit der sinnengeleiteten Wahrnehmung,

der es um die Objekte und Vollzüge dieser Wahrnehmung selbst geht“ (Seel 1996,

126). Werner Jank greift diesen Sachverhalt für die Musikpädagogik auf und

spricht von den drei ästhetischen Praxen der ‚Korrespondenz’ (Wahrnehmen und

Diskussion · 317

Handeln im Alltag), der ‚Kontemplation’ (Wahrnehmung als Empfindung ohne

Sinn) und der ‚Imagination’ (Exponierung von Horizonten möglichen Sinns).

Musikunterricht ist demnach eine „gezielte Übung im Wechsel der drei Perspekti-

ven ästhetischer Praxis“ (Jank 2001, 127), die sich ‚überlagern’, aber dennoch jede

für sich aufgeschlossen werden müssen. Die deutlichen Parallelen zum Vollzugs-

verständnis der Leiblichkeit zeigen sich in der Relativierung von determinierten

Grenzen und in der Etablierung vieldeutigen Sinns. Allerdings versteht Leiblich-

keit ‚Vollzug‘ als eine verstärkte Herausstellung des engagierten musikalischen

Gestaltens auf der Basis eines leiblich situierten Subjekts, das frei handeln und

entscheiden kann. Im Sinne von ‚Tun und Wahrnehmen’ kommt eine gute Ambi-

guität zur Geltung, die auch eine produktive Intentionalität im Zur-Welt-Sein

etabliert, während Seels Gleichursprünglichkeit von Wahrnehmung und Wahrge-

nommenem als „leer laufende Intentionalität“ zu einer „Erfahrung von etwas als

Erfahrung“ führt (SBL 155), die nicht zwingend als ästhetisch definiert werden

muss.

Als zweiter Verweis lässt sich exemplarisch die ‚Pädagogik des kommunikativen

Handelns’ von Klaus Schaller als eine ‚Ontologie des Vollzugs’ heranziehen. Er

versteht Inter-Subjektivität gerade als ‚Zwischen-Sein’, durch das „Aktion, Inter-

Aktion, in der wir als wir selbst sind […], erst hervorgebracht werden (Schaller

1987, 218). Nimczik hat darauf verwiesen, dass aus dem „Vollzug von Inter-

Subjektivität […] die Möglichkeiten der musikalischen Gestaltungsarbeit im Mit-

einander und gemeinsamen Handeln entspringen“ (Nimczik 1991, 27). Begründet

wird diese These durch die Gleichursprünglichkeit von ‚In-der-Welt-Sein’ und

‚Mit-Sein’ auf der Basis des „zwischenleiblichen Lebensvollzugs“ (Nimczik 1991,

26). Schaller und Nimczik berufen sich hierbei explizit auf die Phänomenologie

Merleau-Pontys, so dass sich konkrete Verweise zur Leiblichkeit unter besonderer

Berücksichtigung der ‚Interkorporalität‘ ergeben. Die Etablierung von Musik als

eine Vollzugsform verdeutlicht die zahlreichen ‚Spielräume im Musikunterricht’,

welche geradezu die Facetten musikalisch-ästhetischer Erfahrungen hervorheben.

Für eine Realisierung der Leiblichkeit im Unterricht sind zunächst idealtypische

Voraussetzungen erforderlich. Das betrifft die grundsätzliche Bereitschaft für

expressives Verhalten auf Seiten der Lerngruppe, die flexible Zeitstruktur oder

auch die Räumlichkeit zur Ausübungen und Erprobung der einzelnen Qualitäten.

Ferner müssen die nötigen Kompetenzen auf Seiten des Lehrers gewährleistet

sein, der die Bereitschaft zur Überwindung traditioneller Vorstellungen von einem

318 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

lernzielorientierten Unterricht mitbringen muss. Dieser idealtypische Ansatz hebt

die Dringlichkeit hervor, das Thema ‚Musik und Bewegung’ nicht auf eine Domi-

nanz blinder Schemata von Hören, Machen und Verbalisieren zu reduzieren, son-

dern als eigenständigen Verstehensprozess zu begreifen, der sich mit Dimensionen

auseinander setzt, die im traditionellen Unterrichtsgeschehen nicht vorgegeben

sind. Gerade die Hervorhebung von Expressivität und Interkorporalität sind als

Vollzugsformen eigenständige Lernziele, die traditionellerweise im Unterricht

wegen ihrer Unkalkulierbarkeit abgelehnt werden. Eine Konzentration auf die

Leiblichkeit fordert v. a. die grundsätzliche Sensibilisierung der Selbst- und

Fremdwahrnehmung als Bedingung interkorporaler Lernvorgänge. Dies verlangt

ein neues methodisches Register und ein behutsames zeitintensives Vorgehen des

Lehrers, der weniger als Kontrolleur, sondern vielmehr als Gestalter offener Lern-

situationen fungiert, in denen experimentiert wird und die in ihrem Verlauf immer

auch anders als erwartet sein können. Leiblichkeit fordert zunächst einen grund-

sätzlich offenen Unterricht, der sich z. B. in Form von Ensemblearbeit auf die

Extension beruft. Der letztlich weitläufige Terminus des ‚Offenen’ erhält im

Rahmen der Leiblichkeit eine eigenständige Dimension, die v. a. die Aufhebung

eines an Denk- oder Handlungsprinzipien normierten Unterrichts fordert, der sich

gerade dann, wenn es um die Integration von Bewegung geht, entweder auf einen

rein affektiven oder bewussten motorischen Umgang konzentriert.368

Allerdings ist eine Darstellung von Unterrichtsvoraussetzungen, Berücksichtigun-

gen methodischer Abläufe oder die Reflexion einer selbst gehaltenen Unterrichts-

reihe nicht die Thematik der hier vorliegenden Untersuchung.369 Vielmehr bieten

die Qualitäten eine erste Richtschnur für weitere Forschungen, die ‚musikalisches

Handeln’ abseits voreiliger Funktionalisierungen als eigentlichen Kern des Unter-

richtsgeschehens betrachten.

Hieraus erwächst die Forderung, die Vollzugsoptionen in Form didaktischer Mo-

delle zu konkretisieren, die in der Ausweisung nur angedeutet wurden. Grundauf-

gabe ist eine kritische und nachhaltige Überprüfung der Funktionalisierung beste-

hender Körper/Leibkonzepte und die verstärkte Beanspruchung von Leiblichkeit

als eigenständigen musikpädagogischen Lernbereich. Die durch weitere For-

______________

368 Zur ästhetischen Dimension des offenen Kunstwerks vgl. Eco 1973, 27-60 sowie PhW 381-383

369 Vgl. hierzu Oberhaus 2003

Diskussion · 319

schungen denkbare Herausstellung zusätzlicher Ausweisungen in anderen musika-

lischen Lernfeldern führt zur Vertiefung der ästhetisch-musikalischen Qualitäten

und zur Diskussion über deren Bewertungsmaßstäbe sowie deren Stellenwert in

den Lehrplänen. Das beinhaltet auch eine grundsätzliche Neuperspektivierung der

Frage nach dem musikalischen Sinn, die auch das Nichtidentische und Fremde als

nicht artikulierte Erfahrungsprozesse in musikpädagogische Forschungen mit

einschließt.

Leiblichkeit ist die musikalische Gelenkstelle zwischen Selbst und Welt. Sie agiert

aus dem unmittelbaren Vollzug des gelebten Lebens, welcher der Differenz von

Welt und Sein voraus liegt. Zur Geltung gelangt hierbei ein prärationales musika-

lisches Wissen, das aus der Fülle, Offenheit und Unabgeschlossenheit menschli-

chen Handelns hervorgeht und Musik als gleichursprüngliches Phänomen zwi-

schen Denken und Handeln begreift.

320 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit

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