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MIGRATIONSHINTERGRUND, GENDER UND MEHRSPRACHIGKEIT:
EINE INTERSEKTIONALE PERSPEKTIVE AUF ZWEI
FRANZÖSISCHLERNENDE UND DEREN FÄCHERWAHL VOR DEM
ÜBERGANG IN DIE OBERSTUFE
ABSTRACT
In der Literatur wird davon berichtet, dass lebensweltlich mehrsprachige
Schüler Schulfremdsprachen allgemein positiver beurteilen als
mehrheitsdeutsche Schüler, zur Bewertung von Französisch liegen aber
voneinander abweichende Befunde vor. Ausgehend von der Beobachtung, dass
Jungen deutlich geringer in Französisch-Leistungskursen und dem
entsprechenden Studienfach vertreten sind, thematisiere ich in diesem Artikel
die Intersektion von Gender, Migrationshintergrund und Mehrsprachigkeit bei
der Fächerwahl anlässlich des Übergangs in die Oberstufe. Dafür diskutiere ich
anhand zweier Interviews mit einer Zehntklässlerin und einem Zehntklässler
einer Hamburger Schule, inwiefern sich dies bestätigt, wenn man a) einen
breiteren sozialen Kontext und b) die Wahl der Oberstufenkurse
mitberücksichtigt.
Dabei wird der soziale Kontext zum einen durch die Überschneidung von
Gender mit weiteren Elementen sozialer Ungleichheit wie
Migrationshintergrund und sozioökonomischem Hintergrund ausgeweitet. Zum
anderen berücksichtige ich Französisch als Teil eines mehrsprachigen
Repertoires.
Keywords: attitude, French, gender, habitus, intersectionality, interviews,
migration, multilingualism, socioeconomic background
1 EINLEITUNG
„Multilingualism is at the same time an individual and a social phenomenon“
(Cenoz 2013: 5), und diese Feststellung von Cenoz gilt gleichermaßen für
Gender. Ich thematisiere den Zusammenhang dieser komplexen Faktoren durch
den Fokus auf einen Moment in der Schullaufbahn: Das Fachwahlverhalten
2
zweier Hamburger Schüler beim Übergang in die Oberstufe.
Dabei stütze ich mich auf die praxeologische Wissenssoziologie und die
Dokumentarische Methode, die davon ausgehen, dass – analog zum
Habituskonzept Bourdieus – das implizite, in Kontexten der Sozialisation
informell erworbene Wissen eher handlungsleitend ist als das explizite und
leicht kommunizierbare Wissen.
Ausgehend von diesem methodologischen Ansatz präsentiere ich Ergebnisse, die
bestehende Perspektiven nuancieren: Dass nämlich – zumindest bei den beiden
diskutierten Fällen – lebensweltliche Mehrsprachigkeit nicht automatisch zu
einem positiven Bild von Schulfremdsprachen führt, und dass ein positives Bild
z.B. des Französischen nicht zwangsläufig zur Weiterwahl führt. Vielmehr
werden solche Entscheidungen und Vorstellungen dabei als Funktionen des
Verhältnisses von Habitus und sozialem Umfeld verstanden.
Im Folgenden stelle ich zunächst den theoretischen Hintergrund der
Zusammenhänge von Gender, Französisch und der Fächerwahl zum Übergang in
die Oberstufe vor. Danach thematisiere ich die Einstellung zu Mehrsprachigkeit,
bevor ich im 4. Abschnitt nicht nur die Dokumentarische Methode als
Analyseinstrument vorstelle, sondern auch die dieser Methode
zugrundeliegenden methodologischen Grundannahmen der praxeologischen
Wissenssoziologie. Anschließend skizziere ich den Kontext der Schule, in dem
die beiden Fälle verortet sind und analysiere Passagen der Interviews, um das
Zusammenspiel von Mehrsprachigkeit und sozialer Ungleichheit bei der Wahl
zu rekonstruieren.
2 FRANZÖSISCH, GENDER UND FACHWAHLVERHALTEN
Der Schwerpunkt der Studie, im Rahmen derer dieser Artikel entstanden ist,
liegt auf der Bedeutung von Gender für die Wahl und Wahrnehmung der
französischen Sprache. Französisch ist nach Englisch weiterhin die am
häufigsten gelernte Fremdsprache an deutschen Schulen (Decke-Cornill/Küster
2010: 16). In Französisch-Leistungskursen an deutschen Schulen machen
Jungen im Durchschnitt nur 20% der Schüler aus (vgl. Grein 2012: 175), und
Französisch wird zudem als besonders feminin wahrgenommen (vgl. Bonin
2009). Allerdings liegen bisher noch keine systematischen Studien dazu vor,
3
sondern nur z.B. Berichte aus dritter Hand.
In angelsächsischen Ländern (vgl. z.B. Carr/Pauwels 2006) werden das feminine
Image des Französischen und ökonomische Einschätzungen für ein
vergleichbares Phänomen verantwortlich gemacht. Ein einfacher Transfer von
Ergebnissen aus anderen Ländern ist aber aufgrund der unterschiedlichen
Stereotype und historischen Entwicklungen nur schwer möglich, so dass nicht
klar ist, warum Französisch auch in Deutschland „the monopoly on femininity“
(ebenda: 129) zu haben scheint. Allerdings waren schon im 19. Jahrhundert in
Deutschland moderne Fremdsprachen im Kontrast zu Latein „distinktives
Element weiblicher Bildung“ (Decke-Cornill/Küster 2010: 64). Es ist letztlich
auch nicht klar, ob und wie für die Fächerwahl zwischen Französisch als
Schulfach und Französisch als Sprache, inklusive aller möglichen kulturellen
Konnotationen, unterschieden werden kann.
2.1 Gender und Intersektionalität
Den Begriff Gender statt Geschlecht zu benutzen, heißt, den Blick auf die
soziale Konstruktion – aber dabei zugleich soziale Realität für
Gesellschaftsmitglieder – zu richten, und dies bedeutet wiederum zu
berücksichtigen,
that gender, as one of many important facets of social identity, interacts with race,
ethnicity, class, sexuality, (dis)ability, age, and social status in framing students’
language learning experiences, trajectories, and outcomes (Norton/Pavlenko 2004:
504).
Die systematische Berücksichtigung derartig komplexer sozialer Ungleichheit
wird in den Gender Studies unter dem Label „Intersektionalität“ diskutiert (z.B.
Winker/Degele 2009; McCall 2005). Dabei wird betont, dass es sich nicht um
ein additives Verhältnis, sondern eine wechselseitige Beeinflussung der
Kategorien handelt. Aufbauend auf einer politischen und nicht rein
wissenschaftlichen Genese der Disziplin ist eine Offenheit für unerwartete
Zusammenhänge zentral, um das Ausblenden einzelner Kategorien und damit
neue Diskriminierungen zu verhindern. Intersektionalität ist dabei kein in sich
abgeschlossenes Konzept, sondern wird eher als neues Paradigma der Gender
4
Studies und als anschlussfähig für unterschiedliche methodische
Vorgehensweisen diskutiert: Die Analyse kann demnach auf verschiedenen
Ebenen des Sozialen, z.B. Makrostrukturen, symbolischen Repräsentationen
oder Identitäten durchgeführt werden (Winker/Degele 2009: 18ff.) und dabei
u.a. auf einen dekonstruktiven Charakter in Bezug auf Kategorien oder eine
problembewusste strategische Nutzung von Kategorien wie Mann oder Migrant
zurückgreifen (vgl. McCall 2005: 1773). Mein diesbezügliches Vorgehen stelle
ich in Abschnitt 4 im Zusammenhang mit der Dokumentarischen Methode vor.
2.2 Fächerwahl und Hamburger Profiloberstufe
Das potenziell sehr weitläufige Thema Gender und Französisch wird durch die
Konzentration auf den Übergang von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II
fokussiert. Überraschenderweise ist dieser wichtige Übergang im deutschen
Bildungssystem noch kaum empirisch bearbeitet1, obwohl „[d]ie Regulierung
des Zugangs zur gymnasialen Oberstufe de facto eine Vorselektion für den
Hochschulzugang bewirkt“ (Klomfaß/Stübig/Fabel-Lamla 2013: 149). Der
Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I oder von der Schule ins
Studium wurden dagegen vielfach bearbeitet. Hier handelt es sich mit 15-18-
Jährigen aber um Schüler, bei denen eine andere Einflussgewichtung von
Familie und sozialem Umfeld zu erwarten sind. Die Modellierung des
Wahlverhaltens wird in Abschnitt 4 weiter ausgearbeitet.
Nicht zuletzt aufgrund des Bildungsföderalismus ist auch ein genauer Blick auf
die Regularien dieses Übergangs im Bundesland Hamburg nötig, aus dem meine
Daten stammen: Seit 2009 gibt es in Hamburg die sogenannte Profiloberstufe,
bei der die Schüler nicht mehr einzelne Leistungskurse wählen, sondern mit
Oberstufenprofilen Komplettpakete zur Auswahl haben, die sich von Schule zu
Schule unterscheiden. Da Französisch darin nur selten den Status eines
’Kernfachs’ genießt, muss es entweder als Teil eines Profils – oder als
zusätzliches Fach außerhalb der durch Profil und Curriculum vorgegebenen
Fächer gewählt werden (BSB 2014). So der Fall an den Schulen, an denen ich
meine Interviews durchgeführt habe, wo Französisch nur entweder als Teil des 1 Es liegen Fragebogenstudien von Bittner (2003) und Küster (2007) für die Wahl und Französisch vor, die aber vor allem den Einfluss von Unterrichtsgestaltung betrachten, Gender nur am Rande und Mehrsprachigkeit gar nicht thematisieren.
5
Sprachprofils oder als Zusatzfach angewählt werden kann. Angesichts der
Schulzeitverkürzung wird dies aber häufig als zusätzliche Belastung empfunden.
Durch das Sprachprofil ist die Wahl des Französischen in der Oberstufe zudem
häufig auch mit einer Entscheidung über die Profilwahl verknüpft und
Französisch nicht nur nicht isoliert von anderen Fächern, sondern sogar
institutionell an andere Sprachen gebunden. Für die Schüler stellt sich somit die
Frage, ob sie mehrere Sprachen oder nur Englisch und Deutsch weiter als
Schulfach belegen wollen.Aus diesem Grund betrachte ich im folgenden
Abschnitt die Mehrsprachigkeitsforschung insbesondere mit Bezug auf
lebensweltliche Mehrsprachigkeit in der Schule.
3 MEHRSPRACHIGKEIT
Ich werde dafür erst das von mir verwendete Konzept von Mehrsprachigkeit
skizzieren und danach den Zusammenhang von migrationsbedingter
Mehrsprachigkeit und der Bewertung von Schulfremdsprachen diskutieren.
3.1 Mehrsprachigkeitskonzept
Ich folge hier einem holistischem Verständnis von Mehrsprachigkeit (Cenoz
2013), das mindestens drei Dimensionen umfasst: „the multilingual speaker, the
whole linguistic repertoire, and the social context“ (Cenoz 2013: 11). Das
Konzept des multilingual speaker drückt dabei eine Distanzierung von einer
idealisierten sog. muttersprachlichen Kompetenz aus und zielt auf eine
funktionale Verwendung und ein dynamisches Verständnis aller Sprachen im
repertoire einer Person. In diesem repertoire ist es sinnlos, die Sprachen
konzeptuell voneinander trennen zu wollen,da deren Grenzen untereinander
durchlässig sind (Cenoz 2013: 12). Und in Bezug auf den context sieht Cenoz
die “holistic view of multilingualism […] multilingual competence as linked to
the social context in which language practices take place” (2013: 13), wobei
auch die Kontexte als multimodal konstituiert und schwer zu isolieren gelten.
Dies ermöglicht es, an Mehrsprachigkeit selbst als einen Aspekt komplexer
sozialer Ungleichheit anzuknüpfen. Hier bietet sich die Perspektive einer
„sociolinguistic economy“ (Blommaert/Rampton 2011: 13) an, die den Zugang
zu Sprachen, aber auch den Wert und die soziale Funktion mehrsprachiger
6
Kommunikation berücksichtigt. Je nach Kontext kann so die Perspektive der
Schüler auf Sprachen z.B. als Ressource oder als Bürde verstanden werden. Dies
wird im folgenden Abschnitt aufgegriffen.
3.2 Zur Bewertung von Mehrsprachigkeit
Wie eingangs erwähnt, ist die Bewertung des Französischen und der
Mehrsprachigkeit durch die Schüler wichtig für die Wahl. Dieser Blick wird wie
in den hier vorgestellten Studien häufig im Rahmen der Konzepte der
Einstellung oder der Identität gefasst: In zwei deutschen (Hu 2003: 264; Rück
2009: 132) und zwei österreichischen Studien (Wojnesitz 2009: 221ff; v.a. 223;
Volgger 2010: 190) wurde eine allgemein positivere Beurteilung lebensweltlich
mehrsprachiger SuS auf schulische Fremdsprachen konstatiert. In den Arbeiten
von von Hu (vgl. 2004: 264) und Wojnesitz (vgl. 2009: 189) wurde Französisch
von dieser Schülerschaft allerdings eher kritisch gesehen:
Französisch ist besonders bei den SchülerInnen mit Migrationshintergrund sehr
unbeliebt. Als Gründe führen einige Jugendliche an, die Sprache klinge
„eingebildet“ und „kapriziert“. Besonders türkische Buben lehnen die Sprache ab,
deren Melodie und Klang sich nicht mit ihrem „Männerbild“ vereinen ließe.
(Wojnesitz 2009: 189)
Diese Aussage – wenn auch aus dem österreichischen Kontext – ist zum einen
sehr interessant, da hier eine Intersektion von türkischem Migrationshintergrund
und Gender zu sehen ist, und zum anderen, da der in 5.1 vorgestellte Schüler
Ken2 ein Junge mit türkischem Migrationshintergrund ist. Rück (2009: 132)
berichtet allerdings von besseren Französischnoten der Schüler mit
Migrationshintergrund als bei der als monolingual bezeichneten Gruppe, und
auch bei Volgger (2010: 189f) wurde Französisch von lebensweltlich
mehrsprachigen Schülern positiv gesehen. Welchen ökonomischen oder sozialen
Wert Französisch für diese Schüler hat, scheint sich demnach deutlich zu
unterscheiden.
Hier wurden zwar unterschiedliche Methoden und Daten aus unterschiedlichen
Samples verwendet, aber dennoch sind die Diskrepanzen zwischen den 2 Alle verwendeten Namen sind Pseudonyme.
7
Ergebnissen dieser Studien überraschend. Daher stellen sich folgende Fragen:
1. Wie wirkt sich bei den betrachteten Fällen die Intersektion von Migration und
Gender auf die Bewertung des Französischen und der Mehrsprachigkeit aus?
2. Und wie wirkt sie sich auf die Wahl des Französischen beim Übergang in die
Oberstufe aus?
Um dem nachzugehen und mit den Bewertungen verbundene Konsequenzen für
das Fachwahlverhalten zu ermitteln, blicke ich mit der Perspektive der
Dokumentarischen Methode auf zwei Fälle, d.h. zwei Schüler, die einen
Migrationshintergrund haben und am Ende der Sekundarstufe I Französisch
lernen. Dafür rekonstruiere3 ich die Einbettung der Bewertungen in Habitus und
im sozialen Umfeld. Zunächst stelle ich aber einige methodologische
Grundgedanken der Dokumentarischen Methode vor und skizziere das
methodische Vorgehen, das aus diesen Prämissen folgt.
4 PRAXEOLOGISCHE WISSENSSOZIOLOGIE UND DOKUMENTARISCHE METHODE
4.1 Methodologische Grundannahmen und Wahlentscheidung
Die Dokumentarische Methode (DM) ist eine von Bohnsack (z.B. 2010)
ausgearbeitete Methode der qualitativen und rekonstruktiven Sozialforschung.
Das implizite Wissen wird darin als die alltägliche Handlungspraxis leitend
verstanden und wird in den Milieus der Sozialisation erworben. Diese Milieus
können dabei klassischen sozialstrukturellen Kategorien wie Geschlecht oder
Migrationshintergrund gleichen, müssen es aber keinesfalls, wie z.B. im Falle
von Jugendkulturen. Milieus müssen dabei nicht auf persönliche Bekanntschaft,
sondern können vielmehr auf eine gleiche Bearbeitungsweise diverser
Erfahrungen verweisen. Das implizite Wissen, dass analog zu Bourdieus Habitus
gedacht ist, wird in der DM als Orientierungen bezeichnet, die in einenTeil
eines kohärenten Orientierungsrahmens eingebettet sind, der fast synonym
3 Rekonstruktion meint nach Bohnsack (2010: 20ff.) 1. Implizite Regeln des Alltagshandelns der Teilnehmenden herauszuarbeiten und 2. dabei ein „reflexives Verhältnis“ (ebenda: 25, Herv. im Original) zur eigenen Alltags- und Forschungspraxis zu entwickeln.
8
zu Bourdieus Habitus gedacht ist (vgl. Bohnsack 2012: 126). Da der
Orientierungsrahmen themenübergreifend und allgemein handlungsleitend, nicht
aber domänenspezifisch verstanden wird, sind auch Bewertungen von Sprachen
darin eingebettet. Aus Sicht der DM kann man zwar einer interaktionistischen
Kritik an zu statischen Konzepten von Einstellung (z.B. Liebscher/Dailey-
O‘Cain 2009: 195) zustimmen; die DM hat allerdings den Anspruch,
transsituative Orientierungen aus Mikrokontexten rekonstruieren zu können. Mit
anderen Worten: Wie die Schüler Französisch sehen – Sprache und/oder Fach –
kann man als eine Orientierung denken, die zum jeweiligen
Orientierungsrahmen passen sollte.
Im Bemühen um ein konsistentes Vorgehen, bei dem Grundannahmen und
Analyseinstrumente aufeinander aufbauen (vgl. Reichertz 2007), folgt für die
Fachwahl:
Zu behaupten, dass „das gesellschaftliche Leben entscheidungsoffen[er, A.G.] geworden ist“
(Giddens 1996: 144) [...] bedeutet nicht, zugleich festzustellen, dass Entscheidungen die
bewusste Wahl eines autonomen Subjekts darstellen. Entscheidungsprozesse sind reflexive
Prozesse, über deren Grundlagen nicht mitentschieden wird (Geimer 2013, 104).
Wenn durch den Habitus eine gewisse Kontinuität und Reproduktion sozialer
Unterschiede gewährleistet ist, so bieten die Summe aller in einem sozialen
Kontext vorhandenen Habitus Möglichkeiten für Kontingenzen, so dass weder
absolute Freiheit noch absolute Determination vorliegen. Daher sind nach
Bourdieu
die Schüler, die einen Zweig oder ein Fach wählen, die Familien, die eine Schule
für ihre Kinder wählen, usw., keine Teilchen, die von mechanischen Kräften
bewegt werden und nach dem Zwang von Ursachen handeln; ebensowenig aber
sind sie bewusste und erkennende Subjekte, die sich von Gründen leiten lassen
und in vollem Bewusstsein handeln (Bourdieu 1998: 41. Herv. im Original)
Dabei kann die Wahl durchaus strategisch und gezielt ablaufen – aber die den
Wünschen zugrundeliegenden Zusammenhänge sind den einzelnen SuS kaum
oder nur implizit bewusst.
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4.2 Dokumentarische Methode
Die DM basiert auf diesen sozialtheoretischen Überlegungen und zielt anhand
des skizzierten Unterschiedes von expliziten und impliziten Wissen auf die
Rekonstruktion des Orientierungsrahmens. Orientierungen sollten sich in allen
fokussierten Passagen abzeichnen, unabhängig vom Thema. Der sequenziellen
Analyse, die die Chronologie der Äußerungen und ihre Kokonstruktion durch
den Interviewer mitberücksichtigt, und dem Fallvergleich kommen daher
besondere Bedeutung zu. Auch innerhalb eines Falls wird erst von
Orientierungen gesprochen, wenn sie sich wiederholt und in unterschiedlichen
Passagen haben rekonstruieren lassen (vgl. Nohl 2009: 51ff.). Dementsprechend
werden Milieus erst durch geteilte Orientierungen rekonstruiert, und welche
Erfahrungen und Unterschiede dafür letztlich eine Rolle spielen, ist vorab offen
– womit der Gedanke der Intersektionalität aufgegriffen wird.
5 KONTEXT UND INTERVIEWANALYSE
Zunächst stelle ich dafür den Kontext der Schule der beiden SuS vor, danach
diskutiere ich den Fall Ken und kontrastiere ihn anschließend mit dem Fall
Marta .
Die Schule, an der ich die Interviews geführt habe, liegt in Hamburg und hat
einen hohen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund. Fast alle Schüler, mit
denen ich gesprochen habe, sind im Laufe der Sekundarstufe I von anderen
Schulen auf dieses Gymnasium gewechselt. Ein ungewöhnliches Phänomen,
weshalb ich die Schule die „Wechselschule“ getauft habe. Es gibt drei
Oberstufenprofile: Ein „Sprachenprofil“, eines, das durch Biologie und
Sozialwissenschaften, und schließlich eines, das durch Physik und Philosophie
geprägt ist4.
Ich habe im Herbst 2012 offene Leitfadeninterviews parallel zum Unterricht im
durch eine geschlossene Tür getrennten Vorraum der Französischklasse geführt. 4 In dieser Schule habe ich insgesamt 15 Interviews in der zehnten und elften Jahrgangsstufe geführt. Die Schüler haben sich dafür freiwillig gemeldet, nachdem ich von den jeweiligen Lehrkräften vorgestellt worden bin. Auf Daten aus einer weiteren, eher von Schülern aus der mehrheitsdeutschen Mittelschicht geprägten Schule gehe ich hier nicht ein.
10
Man konnte nicht verstehen, was im Nachbarraum gesagt wurde – trotzdem mag
neben der klaren räumlichen Nähe, aber auch wegen der Vorstellung und
Rekrutierung durch die Französischlehrerin im Unterricht ein deutlicher Bezug
zu Französisch und zur Französischklasse gegeben sein. Die Information vor
dem Interview war nur, dass es um die Motivation und das Lernen der Schüler
gehen sollte. Explizite Fragen nach Gender habe ich erst zum Ende des
Gesprächs gestellt und abschließend als Hauptinteresse benannt, um
Erzählungen und nicht nur Stereotype und theoretisierende Ausführungen zu
hervorzurufen.Als Interviewer habe ich an der Konstruktion der Interviews
mitgewirkt, nicht zuletzt durch eine Machtasymmetrie und die
Normalitätsannahmen, die ich als mehrheitsdeutscher männlicher Akademiker
erfülle.
5.1 Ken
Ken und Marta sind in derselben zehnten (Französisch-)Klasse und geben beide
an, Französisch abwählen zu wollen, wenn auch aus sehr unterschiedlichen
Gründen. Ken ist zum Zeitpunkt des Interviews 16 Jahre alt und hat einen
türkischen Migrationshintergrund. Nach der 6. Klasse ist er aus einer Schule in
einem eher schlecht beleumundeten Viertel an die „Wechselschule“ gekommen.
Ken hat insgesamt nur ca. 30 Minuten gesprochen, und ich habe viel nachfragen
müssen. Da er Türkisch als Schulfach seit der 8. Klasse hat, ist er weder
bezüglich seiner Noten für den Übergang in die Oberstufe, noch bezüglich der
Fremdsprachenanforderung in der Oberstufe auf Französisch angewiesen. Als
Berufsziel gibt er „Flugzeugingenieur“ (Zeile 222 im transkribierten Interview)
an.
Ken distanziert sich über das ganze Interview hinweg komplett von Französisch:
Er beginnt bereits in der Eingangspassage damit, dass Französisch sein einziges
Problemfach ist und hat zum Zeitpunkt der folgenden Passage bereits
klargestellt, dass er es auf jeden Fall abwählen will. In der selben Passage frage
ich nach, was er zuvor damit meinte, „blockiert gegen Französisch“ (101) zu
sein.
11
Darauf erwidert Ken lachend, dass „wir“, also Französisch und er, „nicht für
einander geschaffen“ (123) sind. Da er daran 2 Sekunden lang nichts weiter
anschließt, bitte ich ihn um eine Klärung. Dazu greift er zuerst meine Frage als
rhetorische Frage wieder auf: „Ja, was mein' ich denn?“ (127) kann man
einerseits als Möglichkeit verstehen, Spannung aufzubauen und die
Aufmerksamkeit auf die folgende Aussage zu lenken. Andererseits kann es aber
auch bedeuten, dass meine Frage selbst als lächerlich dargestellt wird, da die
Antwort selbstverständlich ist.
Danach stellt Ken das Wechselspiel von „Französisch nicht können“ und
„Französisch nicht lernen wollen“ als sich gegenseitig verstärkend dar (127-
129). Dabei sind die beiden Facetten „nicht können“ und „nicht wollen“ so eng
miteinander verwoben, dass sie als geschlossenes Gesamtphänomen erscheinen,
an dem man nichts ändern kann. Es wird überdeutlich, dass Ken Französisch
komplett ablehnt.
Auch seine beiden älteren Brüder, die ingenieurswissenschaftliche Studiengänge
belegen, haben ihm bestätigt, dass Französisch für diesen Berufsweg „unnötig“
ist. Während diese Darstellung von Französisch in Bezug auf den Status als
zweithäufigste Schulfremdsprache interessant ist, wird der Bezug zu Kens
lebensweltlicher Mehrsprachigkeit und seiner Bewertung der Sprachen erst im
dritten Zitat relevant. Sowohl die Sequenzialität der Aussagen, wie auch Kens
eigene Schwerpunktsetzung legen aber zunächst eine Beschäftigung mit seiner
Berufsperspektive nahe.
In Bezug auf die Berufsziele ist allerdings teilweise unklar, wer genau spricht –
er selbst, einer der Brüder, beide oder auch der Vater, dem Ken wiederholt
großen Einfluss auf die Bildungsentscheidungen der Kinder zuweist. Vor der
folgenden Passage hat Ken berichtet, dass der Vater ihm den Wechsel auf die
Wechselschule in der sechsten Klasse „vorgeschlagen“ hat, was ich in einer
12
Nachfrage aufgreife.
Der Vater „kümmert sich“ (249) demnach um seine Kinder, denn die „komm' als
erste Stelle“ (Zeile 250), wobei er auf seine vorhergehenden Darstellungen zum
Studium seiner Brüder verweist. Er ironisiert allerdings diese väterlichen Pläne:
Ein Wort mit „M“ als erstem eingeschobenen Buchstaben zu wiederholen, dient
im Türkischen dazu, sich über dieses Wort zu mokieren, weshalb ich „Studium,
Mudium“ (251) als Distanzierung5 sehe. In vielen meiner Interviews war selbst
bei einer Übernahme elterlicher Orientierungen den Schülern eine explizite
Distanzierung von ihren Eltern wichtig, und ich gehe davon aus, dass dies
gleichermaßen bei Ken der Fall ist.
Nach meiner Rekonstruktion von Kens Darstellung liegt in der Familie eine
Aufstiegsorientierung vor, die insbesondere über technische Berufe realisiert
werden soll. Der Vater ist „fast Schichtleiter“ (vgl. Zeile 255f) und die Söhne
müssen und wollen technische Fächer studieren.
Nicht nur sind Ingenieurswissenschaften allgemein männlich konnotiert,
sondern die Mutter wird entschuldigend als „Putzkraft“ und die kleine
Schwester als „Prinzessin“ beschrieben. Dies sind allerdings die einzigen
Verweise auf weibliche Familienmitglieder. So scheint es zwar, als sollte der
genannte Aufstieg über die technischen Berufe der männlichen
Familienmitglieder ablaufen, aber es gibt zu wenige Passagen, um eindeutig
belegen zu können, dass es sich um eine Rekonstruktion anhand der Daten
handelt und nicht um eine Konstruktion meines möglicherweise stereotypen
Bildes patriarchaler Türken. 5 Vgl. diePräsentation zu Mehrsprachigkeit und persönliche Kommunikation mit Prof. Dr. İnci Dirim am 23.11.2013 bei der FörMig-Tagung in Hamburg. Frau Dirim gab an, keinen Verweis auf die rhetorische Qualität des eingeschobenen „M“ zu kennen, bestätigte aber die häufige spöttische Verwendung.
13
Da Kens Blick auf Französisch durch Ablehnung geprägt ist und dies offenbar
im Einklang mit familialen Orientierungen ist, lässt sich nun fragen, wie sich
dies in Bezug auf Mehrsprachigkeit darstellt. Da der Habitus eine
Gesamtformung darstellt, sollten unterschiedliche Themen gleichartig von Ken
behandelt werden.
Vor der folgenden Passage hatte ich Kens Aussage, dass er gern kommuniziert,
provozierend aufgegriffen und gefragt, ob dies nicht auch für Französisch gelte.
Dies hat er mit dem Hinweis verneint, dass er aber „liebend gern“ Deutsch,
Türkisch und Englisch spricht, was ich in meiner Frage in Zeile 302f erneut
aufgreife:
Zunächst geht es um die Klärung und Reformulierung dieser Frage (302-307) –
allerdings stütze ich mich dabei auf seine zuvor wiederholt überdeutlich
geäußerte Ablehnung. Hier nennt er seinen Bezugspunkt direkt zu Beginn seines
längeren Turns: „brauchen“ verwendet er zwischen Zeile 309 und Zeile 314 vier
mal – die bereits zuvor aufgefundene funktionale Orientierung zeigt sich auch
hier, und Kens Nützlichkeitsdenken herrscht auch und gerade bezüglich seiner
Sprachen. Im Falle von Englisch findet sich eine kurze Erzählung zur
Untermauerung der Wichtigkeit, die sich zwar mit „letztens“, „irgendwo“ (beide
312) und drei Mal „da“ (312f.) durch ihre durch große deiktische Vagheit
auszeichnet, deren Schwerpunktsetzung auf dem Gebrauchswert von Sprachen
allerdings deutlich wird.
Die verhältnismäßig knappe Darstellung verweist zum einen auf die
14
Selbstverständlichkeit, die Ken seinem Verhältnis zu Sprache zuschreibt und
aufgrund derer sich jegliche Erklärung erübrigt. Zum anderen ist diese Passage
eingebettet in weitere Beispiele seiner lebensweltlichen Verwendung dieser drei
Sprachen. Insbesondere gegenüber der sehr knappen, aber deutlichen Antwort
auf meine Frage zu „Französisch und Frankreich“ (316), nämlich „@überhaupt
nicht@“ (318) ist dies aber für Kens Sprechen im Interview bereits eine längere
Passage.Hier wird der Kontrast zwischen den einzelnen Sprachen für Ken
deutlich, die er seinem funktionalen Denken gemäß unterschiedlich bewertet,
was er auch vor und nach der zitierten Passage wiederholt.
Die Aufstiegsorientierung über technische Berufe „braucht“ kein Französisch
und daher sind ästhetische Bewertungen oder die Möglichkeit lexikalischen
Transfers vom Türkischen nicht relevant. Auch grenzt Ken sich hier nicht wie
die „türkischen Buben“ bei Wojnesitz (2009: 190) mit Bezug auf seine
Vorstellungen von Männlichkeit von Französisch ab, sondern wegen dessen
fehlenden Nutzens.
Sein Bild von Sprachen ist rein funktional und trennt die Sprachen nach ihrer
lebensweltlichen Relevanz – in diesem sozialen Kontext erhält Französisch
keinen Zugang zu Kens Repertoire. Die Orientierung an Aufstieg und
technischen Berufen sehe ich daher als einen „Geschmack am Notwendigen“
(Bourdieu 1987: 587)6. Gender scheint im Fall von Ken nicht der entscheidende
Faktor für die Abwahl des Französischen beim Übergang in die Oberstufe zu
sein. Seine Mitschülerin Marta ist ein deutlich anderer Fall, bei dem sich dieses
Ergebnis bestätigt.
5.2 Marta
Das Interview mit Marta unterscheidet sich bereits rein formal deutlich von dem
mit Ken, da es wesentlich länger ist und sie ausführlicher auf die
Interviewfragen und aufgeworfenen Themen eingeht. Dies würde allerdings
auch eine ausführlichere Sequenzanalyse erfordern, statt der ich aus
Platzgründen nur knapp die Ergebnisse der Analyse darstelle.
6 Diese Formulierung hat Bourdieu in den 1970er Jahren in Bezug auf die unteren Klassen Frankreichs geprägt. Ein Transfer muss zwar die Unterschiede zu Hamburg 2012 berücksichtigen, eine Analogie zur damit bezeichneten Lebensführung scheint hier aber vorzuliegen.
15
Marta ist 17 Jahre alt, ihre Eltern stammen aus Afghanistan, aber sie hat die
deutsche Staatsangehörigkeit. Drei Monate vor dem Interview, zu Beginn der
zehnten Klasse, ist sie wegen ihres zuvor weiten Schulwegs an die
Wechselschule gekommen.
Sie drückt über das gesamte Interview sehr deutlich ihre Ablehnung gegenüber
der neuen Schule aus, die sich gleichermaßen explizit wie implizit auch auf
andere Themen überträgt, so dass sie insgesamt in einem Modus der
Distinktion spricht. Sie hat allerdings Probleme klarzustellen, worin genau der
von ihr empfundene Milieuunterschied begründet ist. Sie wechselt dabei die
Kategorien und bezieht sich u.a. auf Aufenthaltsstatus, kulturelle Unterschiede,
Religion und persönliche Reife – und verweist häufig allgemein darauf, dass an
der Wechselschule vieles „anders“ ist. Sie positioniert sich explizit in der Nähe
einer deutschen bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft. Von ihren Eltern hat sie
eine große Wertschätzung (sprachlicher) Bildung übernommen, die allerdings in
der Familie an Institutionen delegiert wird.
In das generelle Bemühen um Abgrenzung und Distinktion ist auch Martas
Bewertung von Sprachen eingelassen: Standarddeutsch ist ihr wichtig, ebenso
wie Kompetenzen in mehreren der in Afghanistan gesprochenen Sprachen.
Französisch bezeichnet sie mehrfach als betont „elegant“ (364), „schön“ (361)
und sie hebt es als insgesamt speziell hervor. Spanisch dagegen, das an ihrer
alten Schule „jeder“ (361) wählen wollte, sei „nich so besonders“ (362):
„einfach nur dieses rollende 'R' und fertig“ (362f). Ihre Distinktionsbemühungen
sieht man auch bei dieser unterschiedlichen Bewertung der beiden romanischen
Sprachen deutlich.
Nach ihrer Wahl des Oberstufenprofils gefragt nennt sie allerdings zum ersten
Mal und unvermittelt Gender als Entscheidungskriterium: Da sie Jungen
„ziemlich unkompliziert“ (691) findet und bei den Mädchen vieles „anders“
(693) ist, will sie das ‚Physikprofil‘ wählen. Auch ihre Wahl ist somit
erwartungsgemäß durch eine Distinktion geprägt. Allerdings sehe ich hier den
expliziten Verweis auf das Entscheidungskriterium Gender als eine Konsequenz
der wesentlich schwerer zu explizierenden und breiter angelegten
Milieudifferenz. Zuvor hat sie nämlich Gender nicht erwähnt, dagegen aber z.B.
16
mehrfach den Migrationshintergrund und das Kompetenzniveau ihrer Mitschüler
negativ hervorgehoben.Die Wahl des Physikprofils bedeutet letztlich für Marta
mehr eine Abwahl als nur die Nicht-Wahl des Französischen, da sie das
Sprachprofil und ihre Mitschülerinnen vermeiden will.
6 DISKUSSION
In beiden vorgestellten Interviews sind sich die beiden Schüler sicher, dass sie
Französisch abwählen wollen:
So ist ein wirtschaftlicher Wert des Französischen für Ken nicht auffindbar, was
für ihn die entscheidende Kategorie zu sein scheint – Gender ist dagegen
weniger hervorgehoben. Ich habe stattdessen eine funktionale und auf sozialen
Aufstieg ausgerichtete Orientierung an technischen Fächern rekonstruiert. Es
handelt sich dabei um ein Familienprojekt, dem auch Sprachen untergeordnet
werden. Die sociolinguistic economy kann hier wörtlich genommen werden, da
Ken den wahrgenommenen Gebrauchswert von Deutsch, Türkisch, Französisch
und Englisch betont.
Bei Marta wird dagegen deutlich, dass die Wahlentscheidungen durch ihre
sozialen Beziehungen an der neuen Schule bestimmt sind: Sie folgt einem
Prinzip der Distinktion, das sie z.B. Französisch und Spanisch unterschiedlich
bewerten und darüber hinaus die Absicht der Nicht-Wahl des Sprachprofils
äußern lässt. Wirtschaftliche Kriterien spielen bei Marta keine direkte Rolle,
dagegen aberein zugeschriebener positiver ästhetischer Wert des Französischen.
Allerdings ist auch diese Bewertung in den selben Orientierungsrahmen der
Distinktion eingebunden wie die Abgrenzungsbemühungen von ihren Peers, was
letztlich zur Abwahl führt. Hier scheinen viele Kategorien des Sozialen zu ihrem
Eindruck von Milieudifferenz zu verschmelzen, auch wenn sie aus dieser
Intersektion explizit Gender für die Wahlentscheidung bemüht. An dem
unvermittelten Verweis auf Gender zeigt sich die Bedeutung der Unterscheidung
zwischen explizitem und implizitem Wissen sowie der Offenheit für die
kontextuelle Bedeutung sozialer Kategorien.
Der Wert und die Funktion von Französisch und anderen Sprachen
unterscheiden sich für Ken und für Marta deutlich, was in beiden Fällen auf
übergreifende Orientierungsrahmen zurückgeführt werden kann.
17
Dass es sich um Absichtsbekundungen und noch nicht um eine finale
Entscheidung handelt, bedeutet eine Einschränkung. Auch dass ich die beiden
rekonstruierten Orientierungen noch nicht bei anderen Fällen bestätigen oder
modifizieren konnte, begrenzt die Aussagekraft. Dies betrifft insbesondere
einen klar nachweisbaren Einfluss der beiden offensichtlichen Kategorien
Gender und Migrationshintergrund, die zwar in den Interviews präsent sind, aber
hinter ökonomisch geprägter Aufstiegsorientierung (Ken) und Distinktions-
bemühungen (Marta) zurücktreten.
7 FAZIT
Mit Bezug auf die zuvor diskutierte Literatur kann ich für meine beiden Fälle
feststellen:
1. Auch bei meinen Daten liegen sowohl positive als auch negative
Bewertungen des Französischen durch lebensweltlich mehrsprachige
Schüler vor, die sich möglicherweise durch eine Unterscheidung von
institutionellem Schulfach und Sprache als Repräsentatantin und Teil
kultureller Zusammenhänge noch weiter aufschlüsseln lassen.
2. Diese Bewertungen sind nicht eindeutig an Gender oder einen
Migrationshintergrund gebunden, sondern in dem einen Fall eher an
ökonomische Ziele und und in dem anderen Fall an eine Intersektion
vieler verschiedener sozialer Unterschiede, was zu einer allgemein
empfundenen Milieudifferenz führt.
3. Auch ein positives Bild von Französisch führt nicht automatisch zur
Weiterwahl des Fachs beim Übergang in die Oberstufe.
4. Die positive Bewertung einer (romanischen) Sprache wie Französisch
führt nicht automatisch zur positiven Bewertung einer anderen
(romanischen) Sprache wie Spanisch.
Sowohl Gender als auch ökonomische Fragen erfahren zunehmend Beachtung
bei der Untersuchung von Fremdsprachenerwerb und Mehrsprachigkeit, wenn
auch eine weitere Auseinandersetzung mit dem Wert und der sozialen Funktion
18
romanischer Sprachen für Schülerinnen und Schüler notwendig scheint.
Die sozialen Funktionen, die Sprachen für einzelne Schüler dabei erfüllen,
erweisen sich in meiner Analyse als ausschlaggebend für die Bewertungen und
Wahlentscheidungen bezüglich dieser Sprachen. Wenn daher auch Gender oder
lebensweltliche Mehrsprachigkeit nicht hervorstechen, so fließen sie doch in die
Orientierungen mit ein, die die Wahlentscheidungen und die Bewertungen von
Mehrsprachigkeit beeinflussen In dieser Perspektive lassen sich scheinbare
Widersprüche der Bewertung und Wahl von Sprachen als sinnhaft in die soziale
Lebenswelt der SuS eingebunden begreifen.
Transkriptionskonvention (nach Nohl 2009):
@: Lachen
(1): einsekündige Pause
(.): kurze Pause
(Wort): schwer verständlich
Wort: Betonung
19
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Matthias Grein