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1 MIGRATIONSHINTERGRUND, GENDER UND MEHRSPRACHIGKEIT: EINE INTERSEKTIONALE PERSPEKTIVE AUF ZWEI FRANZÖSISCHLERNENDE UND DEREN FÄCHERWAHL VOR DEM ÜBERGANG IN DIE OBERSTUFE ABSTRACT In der Literatur wird davon berichtet, dass lebensweltlich mehrsprachige Schüler Schulfremdsprachen allgemein positiver beurteilen als mehrheitsdeutsche Schüler, zur Bewertung von Französisch liegen aber voneinander abweichende Befunde vor. Ausgehend von der Beobachtung, dass Jungen deutlich geringer in Französisch-Leistungskursen und dem entsprechenden Studienfach vertreten sind, thematisiere ich in diesem Artikel die Intersektion von Gender, Migrationshintergrund und Mehrsprachigkeit bei der Fächerwahl anlässlich des Übergangs in die Oberstufe. Dafür diskutiere ich anhand zweier Interviews mit einer Zehntklässlerin und einem Zehntklässler einer Hamburger Schule, inwiefern sich dies bestätigt, wenn man a) einen breiteren sozialen Kontext und b) die Wahl der Oberstufenkurse mitberücksichtigt. Dabei wird der soziale Kontext zum einen durch die Überschneidung von Gender mit weiteren Elementen sozialer Ungleichheit wie Migrationshintergrund und sozioökonomischem Hintergrund ausgeweitet. Zum anderen berücksichtige ich Französisch als Teil eines mehrsprachigen Repertoires. Keywords: attitude, French, gender, habitus, intersectionality, interviews, migration, multilingualism, socioeconomic background 1 EINLEITUNG „Multilingualism is at the same time an individual and a social phenomenon“ (Cenoz 2013: 5), und diese Feststellung von Cenoz gilt gleichermaßen für Gender. Ich thematisiere den Zusammenhang dieser komplexen Faktoren durch den Fokus auf einen Moment in der Schullaufbahn: Das Fachwahlverhalten

MIGRATIONSHINTERGRUND, GENDER UND MEHRSPRACHIGKEIT: EINE INTERSEKTIONALE PERSPEKTIVE AUF ZWEI FRANZÖSISCHLERNENDE UND DEREN FÄCHERWAHL VOR DEM ÜBERGANG IN DIE OBERSTUFE

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MIGRATIONSHINTERGRUND, GENDER UND MEHRSPRACHIGKEIT:

EINE INTERSEKTIONALE PERSPEKTIVE AUF ZWEI

FRANZÖSISCHLERNENDE UND DEREN FÄCHERWAHL VOR DEM

ÜBERGANG IN DIE OBERSTUFE

ABSTRACT

In der Literatur wird davon berichtet, dass lebensweltlich mehrsprachige

Schüler Schulfremdsprachen allgemein positiver beurteilen als

mehrheitsdeutsche Schüler, zur Bewertung von Französisch liegen aber

voneinander abweichende Befunde vor. Ausgehend von der Beobachtung, dass

Jungen deutlich geringer in Französisch-Leistungskursen und dem

entsprechenden Studienfach vertreten sind, thematisiere ich in diesem Artikel

die Intersektion von Gender, Migrationshintergrund und Mehrsprachigkeit bei

der Fächerwahl anlässlich des Übergangs in die Oberstufe. Dafür diskutiere ich

anhand zweier Interviews mit einer Zehntklässlerin und einem Zehntklässler

einer Hamburger Schule, inwiefern sich dies bestätigt, wenn man a) einen

breiteren sozialen Kontext und b) die Wahl der Oberstufenkurse

mitberücksichtigt.

Dabei wird der soziale Kontext zum einen durch die Überschneidung von

Gender mit weiteren Elementen sozialer Ungleichheit wie

Migrationshintergrund und sozioökonomischem Hintergrund ausgeweitet. Zum

anderen berücksichtige ich Französisch als Teil eines mehrsprachigen

Repertoires.

Keywords: attitude, French, gender, habitus, intersectionality, interviews,

migration, multilingualism, socioeconomic background

1 EINLEITUNG

„Multilingualism is at the same time an individual and a social phenomenon“

(Cenoz 2013: 5), und diese Feststellung von Cenoz gilt gleichermaßen für

Gender. Ich thematisiere den Zusammenhang dieser komplexen Faktoren durch

den Fokus auf einen Moment in der Schullaufbahn: Das Fachwahlverhalten

matthi
Highlight
matthi
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Grein
Notiz
Grein, Matthias (2015):Migrationshintergrund, Gender und Mehrsprachigkeit: Eine intersektionale Perspektive auf zwei Französischlernende und deren Fächerwahl vor dem Übergang in die Oberstufe, in: Fernández Ammann, Eva Maria/Kropp, Amina/Müller-Lancé, Johannes (edd.): Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit im Unterricht der romanischen Sprachen. Berlin: Frank & Timme, S. 93-112.

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zweier Hamburger Schüler beim Übergang in die Oberstufe.

Dabei stütze ich mich auf die praxeologische Wissenssoziologie und die

Dokumentarische Methode, die davon ausgehen, dass – analog zum

Habituskonzept Bourdieus – das implizite, in Kontexten der Sozialisation

informell erworbene Wissen eher handlungsleitend ist als das explizite und

leicht kommunizierbare Wissen.

Ausgehend von diesem methodologischen Ansatz präsentiere ich Ergebnisse, die

bestehende Perspektiven nuancieren: Dass nämlich – zumindest bei den beiden

diskutierten Fällen – lebensweltliche Mehrsprachigkeit nicht automatisch zu

einem positiven Bild von Schulfremdsprachen führt, und dass ein positives Bild

z.B. des Französischen nicht zwangsläufig zur Weiterwahl führt. Vielmehr

werden solche Entscheidungen und Vorstellungen dabei als Funktionen des

Verhältnisses von Habitus und sozialem Umfeld verstanden.

Im Folgenden stelle ich zunächst den theoretischen Hintergrund der

Zusammenhänge von Gender, Französisch und der Fächerwahl zum Übergang in

die Oberstufe vor. Danach thematisiere ich die Einstellung zu Mehrsprachigkeit,

bevor ich im 4. Abschnitt nicht nur die Dokumentarische Methode als

Analyseinstrument vorstelle, sondern auch die dieser Methode

zugrundeliegenden methodologischen Grundannahmen der praxeologischen

Wissenssoziologie. Anschließend skizziere ich den Kontext der Schule, in dem

die beiden Fälle verortet sind und analysiere Passagen der Interviews, um das

Zusammenspiel von Mehrsprachigkeit und sozialer Ungleichheit bei der Wahl

zu rekonstruieren.

2 FRANZÖSISCH, GENDER UND FACHWAHLVERHALTEN

Der Schwerpunkt der Studie, im Rahmen derer dieser Artikel entstanden ist,

liegt auf der Bedeutung von Gender für die Wahl und Wahrnehmung der

französischen Sprache. Französisch ist nach Englisch weiterhin die am

häufigsten gelernte Fremdsprache an deutschen Schulen (Decke-Cornill/Küster

2010: 16). In Französisch-Leistungskursen an deutschen Schulen machen

Jungen im Durchschnitt nur 20% der Schüler aus (vgl. Grein 2012: 175), und

Französisch wird zudem als besonders feminin wahrgenommen (vgl. Bonin

2009). Allerdings liegen bisher noch keine systematischen Studien dazu vor,

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sondern nur z.B. Berichte aus dritter Hand.

In angelsächsischen Ländern (vgl. z.B. Carr/Pauwels 2006) werden das feminine

Image des Französischen und ökonomische Einschätzungen für ein

vergleichbares Phänomen verantwortlich gemacht. Ein einfacher Transfer von

Ergebnissen aus anderen Ländern ist aber aufgrund der unterschiedlichen

Stereotype und historischen Entwicklungen nur schwer möglich, so dass nicht

klar ist, warum Französisch auch in Deutschland „the monopoly on femininity“

(ebenda: 129) zu haben scheint. Allerdings waren schon im 19. Jahrhundert in

Deutschland moderne Fremdsprachen im Kontrast zu Latein „distinktives

Element weiblicher Bildung“ (Decke-Cornill/Küster 2010: 64). Es ist letztlich

auch nicht klar, ob und wie für die Fächerwahl zwischen Französisch als

Schulfach und Französisch als Sprache, inklusive aller möglichen kulturellen

Konnotationen, unterschieden werden kann.

2.1 Gender und Intersektionalität

Den Begriff Gender statt Geschlecht zu benutzen, heißt, den Blick auf die

soziale Konstruktion – aber dabei zugleich soziale Realität für

Gesellschaftsmitglieder – zu richten, und dies bedeutet wiederum zu

berücksichtigen,

that gender, as one of many important facets of social identity, interacts with race,

ethnicity, class, sexuality, (dis)ability, age, and social status in framing students’

language learning experiences, trajectories, and outcomes (Norton/Pavlenko 2004:

504).

Die systematische Berücksichtigung derartig komplexer sozialer Ungleichheit

wird in den Gender Studies unter dem Label „Intersektionalität“ diskutiert (z.B.

Winker/Degele 2009; McCall 2005). Dabei wird betont, dass es sich nicht um

ein additives Verhältnis, sondern eine wechselseitige Beeinflussung der

Kategorien handelt. Aufbauend auf einer politischen und nicht rein

wissenschaftlichen Genese der Disziplin ist eine Offenheit für unerwartete

Zusammenhänge zentral, um das Ausblenden einzelner Kategorien und damit

neue Diskriminierungen zu verhindern. Intersektionalität ist dabei kein in sich

abgeschlossenes Konzept, sondern wird eher als neues Paradigma der Gender

4

Studies und als anschlussfähig für unterschiedliche methodische

Vorgehensweisen diskutiert: Die Analyse kann demnach auf verschiedenen

Ebenen des Sozialen, z.B. Makrostrukturen, symbolischen Repräsentationen

oder Identitäten durchgeführt werden (Winker/Degele 2009: 18ff.) und dabei

u.a. auf einen dekonstruktiven Charakter in Bezug auf Kategorien oder eine

problembewusste strategische Nutzung von Kategorien wie Mann oder Migrant

zurückgreifen (vgl. McCall 2005: 1773). Mein diesbezügliches Vorgehen stelle

ich in Abschnitt 4 im Zusammenhang mit der Dokumentarischen Methode vor.

2.2 Fächerwahl und Hamburger Profiloberstufe

Das potenziell sehr weitläufige Thema Gender und Französisch wird durch die

Konzentration auf den Übergang von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II

fokussiert. Überraschenderweise ist dieser wichtige Übergang im deutschen

Bildungssystem noch kaum empirisch bearbeitet1, obwohl „[d]ie Regulierung

des Zugangs zur gymnasialen Oberstufe de facto eine Vorselektion für den

Hochschulzugang bewirkt“ (Klomfaß/Stübig/Fabel-Lamla 2013: 149). Der

Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I oder von der Schule ins

Studium wurden dagegen vielfach bearbeitet. Hier handelt es sich mit 15-18-

Jährigen aber um Schüler, bei denen eine andere Einflussgewichtung von

Familie und sozialem Umfeld zu erwarten sind. Die Modellierung des

Wahlverhaltens wird in Abschnitt 4 weiter ausgearbeitet.

Nicht zuletzt aufgrund des Bildungsföderalismus ist auch ein genauer Blick auf

die Regularien dieses Übergangs im Bundesland Hamburg nötig, aus dem meine

Daten stammen: Seit 2009 gibt es in Hamburg die sogenannte Profiloberstufe,

bei der die Schüler nicht mehr einzelne Leistungskurse wählen, sondern mit

Oberstufenprofilen Komplettpakete zur Auswahl haben, die sich von Schule zu

Schule unterscheiden. Da Französisch darin nur selten den Status eines

’Kernfachs’ genießt, muss es entweder als Teil eines Profils – oder als

zusätzliches Fach außerhalb der durch Profil und Curriculum vorgegebenen

Fächer gewählt werden (BSB 2014). So der Fall an den Schulen, an denen ich

meine Interviews durchgeführt habe, wo Französisch nur entweder als Teil des 1 Es liegen Fragebogenstudien von Bittner (2003) und Küster (2007) für die Wahl und Französisch vor, die aber vor allem den Einfluss von Unterrichtsgestaltung betrachten, Gender nur am Rande und Mehrsprachigkeit gar nicht thematisieren.

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Sprachprofils oder als Zusatzfach angewählt werden kann. Angesichts der

Schulzeitverkürzung wird dies aber häufig als zusätzliche Belastung empfunden.

Durch das Sprachprofil ist die Wahl des Französischen in der Oberstufe zudem

häufig auch mit einer Entscheidung über die Profilwahl verknüpft und

Französisch nicht nur nicht isoliert von anderen Fächern, sondern sogar

institutionell an andere Sprachen gebunden. Für die Schüler stellt sich somit die

Frage, ob sie mehrere Sprachen oder nur Englisch und Deutsch weiter als

Schulfach belegen wollen.Aus diesem Grund betrachte ich im folgenden

Abschnitt die Mehrsprachigkeitsforschung insbesondere mit Bezug auf

lebensweltliche Mehrsprachigkeit in der Schule.

3 MEHRSPRACHIGKEIT

Ich werde dafür erst das von mir verwendete Konzept von Mehrsprachigkeit

skizzieren und danach den Zusammenhang von migrationsbedingter

Mehrsprachigkeit und der Bewertung von Schulfremdsprachen diskutieren.

3.1 Mehrsprachigkeitskonzept

Ich folge hier einem holistischem Verständnis von Mehrsprachigkeit (Cenoz

2013), das mindestens drei Dimensionen umfasst: „the multilingual speaker, the

whole linguistic repertoire, and the social context“ (Cenoz 2013: 11). Das

Konzept des multilingual speaker drückt dabei eine Distanzierung von einer

idealisierten sog. muttersprachlichen Kompetenz aus und zielt auf eine

funktionale Verwendung und ein dynamisches Verständnis aller Sprachen im

repertoire einer Person. In diesem repertoire ist es sinnlos, die Sprachen

konzeptuell voneinander trennen zu wollen,da deren Grenzen untereinander

durchlässig sind (Cenoz 2013: 12). Und in Bezug auf den context sieht Cenoz

die “holistic view of multilingualism […] multilingual competence as linked to

the social context in which language practices take place” (2013: 13), wobei

auch die Kontexte als multimodal konstituiert und schwer zu isolieren gelten.

Dies ermöglicht es, an Mehrsprachigkeit selbst als einen Aspekt komplexer

sozialer Ungleichheit anzuknüpfen. Hier bietet sich die Perspektive einer

„sociolinguistic economy“ (Blommaert/Rampton 2011: 13) an, die den Zugang

zu Sprachen, aber auch den Wert und die soziale Funktion mehrsprachiger

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Kommunikation berücksichtigt. Je nach Kontext kann so die Perspektive der

Schüler auf Sprachen z.B. als Ressource oder als Bürde verstanden werden. Dies

wird im folgenden Abschnitt aufgegriffen.

3.2 Zur Bewertung von Mehrsprachigkeit

Wie eingangs erwähnt, ist die Bewertung des Französischen und der

Mehrsprachigkeit durch die Schüler wichtig für die Wahl. Dieser Blick wird wie

in den hier vorgestellten Studien häufig im Rahmen der Konzepte der

Einstellung oder der Identität gefasst: In zwei deutschen (Hu 2003: 264; Rück

2009: 132) und zwei österreichischen Studien (Wojnesitz 2009: 221ff; v.a. 223;

Volgger 2010: 190) wurde eine allgemein positivere Beurteilung lebensweltlich

mehrsprachiger SuS auf schulische Fremdsprachen konstatiert. In den Arbeiten

von von Hu (vgl. 2004: 264) und Wojnesitz (vgl. 2009: 189) wurde Französisch

von dieser Schülerschaft allerdings eher kritisch gesehen:

Französisch ist besonders bei den SchülerInnen mit Migrationshintergrund sehr

unbeliebt. Als Gründe führen einige Jugendliche an, die Sprache klinge

„eingebildet“ und „kapriziert“. Besonders türkische Buben lehnen die Sprache ab,

deren Melodie und Klang sich nicht mit ihrem „Männerbild“ vereinen ließe.

(Wojnesitz 2009: 189)

Diese Aussage – wenn auch aus dem österreichischen Kontext – ist zum einen

sehr interessant, da hier eine Intersektion von türkischem Migrationshintergrund

und Gender zu sehen ist, und zum anderen, da der in 5.1 vorgestellte Schüler

Ken2 ein Junge mit türkischem Migrationshintergrund ist. Rück (2009: 132)

berichtet allerdings von besseren Französischnoten der Schüler mit

Migrationshintergrund als bei der als monolingual bezeichneten Gruppe, und

auch bei Volgger (2010: 189f) wurde Französisch von lebensweltlich

mehrsprachigen Schülern positiv gesehen. Welchen ökonomischen oder sozialen

Wert Französisch für diese Schüler hat, scheint sich demnach deutlich zu

unterscheiden.

Hier wurden zwar unterschiedliche Methoden und Daten aus unterschiedlichen

Samples verwendet, aber dennoch sind die Diskrepanzen zwischen den 2 Alle verwendeten Namen sind Pseudonyme.

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Ergebnissen dieser Studien überraschend. Daher stellen sich folgende Fragen:

1. Wie wirkt sich bei den betrachteten Fällen die Intersektion von Migration und

Gender auf die Bewertung des Französischen und der Mehrsprachigkeit aus?

2. Und wie wirkt sie sich auf die Wahl des Französischen beim Übergang in die

Oberstufe aus?

Um dem nachzugehen und mit den Bewertungen verbundene Konsequenzen für

das Fachwahlverhalten zu ermitteln, blicke ich mit der Perspektive der

Dokumentarischen Methode auf zwei Fälle, d.h. zwei Schüler, die einen

Migrationshintergrund haben und am Ende der Sekundarstufe I Französisch

lernen. Dafür rekonstruiere3 ich die Einbettung der Bewertungen in Habitus und

im sozialen Umfeld. Zunächst stelle ich aber einige methodologische

Grundgedanken der Dokumentarischen Methode vor und skizziere das

methodische Vorgehen, das aus diesen Prämissen folgt.

4 PRAXEOLOGISCHE WISSENSSOZIOLOGIE UND DOKUMENTARISCHE METHODE

4.1 Methodologische Grundannahmen und Wahlentscheidung

Die Dokumentarische Methode (DM) ist eine von Bohnsack (z.B. 2010)

ausgearbeitete Methode der qualitativen und rekonstruktiven Sozialforschung.

Das implizite Wissen wird darin als die alltägliche Handlungspraxis leitend

verstanden und wird in den Milieus der Sozialisation erworben. Diese Milieus

können dabei klassischen sozialstrukturellen Kategorien wie Geschlecht oder

Migrationshintergrund gleichen, müssen es aber keinesfalls, wie z.B. im Falle

von Jugendkulturen. Milieus müssen dabei nicht auf persönliche Bekanntschaft,

sondern können vielmehr auf eine gleiche Bearbeitungsweise diverser

Erfahrungen verweisen. Das implizite Wissen, dass analog zu Bourdieus Habitus

gedacht ist, wird in der DM als Orientierungen bezeichnet, die in einenTeil

eines kohärenten Orientierungsrahmens eingebettet sind, der fast synonym

3 Rekonstruktion meint nach Bohnsack (2010: 20ff.) 1. Implizite Regeln des Alltagshandelns der Teilnehmenden herauszuarbeiten und 2. dabei ein „reflexives Verhältnis“ (ebenda: 25, Herv. im Original) zur eigenen Alltags- und Forschungspraxis zu entwickeln.

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zu Bourdieus Habitus gedacht ist (vgl. Bohnsack 2012: 126). Da der

Orientierungsrahmen themenübergreifend und allgemein handlungsleitend, nicht

aber domänenspezifisch verstanden wird, sind auch Bewertungen von Sprachen

darin eingebettet. Aus Sicht der DM kann man zwar einer interaktionistischen

Kritik an zu statischen Konzepten von Einstellung (z.B. Liebscher/Dailey-

O‘Cain 2009: 195) zustimmen; die DM hat allerdings den Anspruch,

transsituative Orientierungen aus Mikrokontexten rekonstruieren zu können. Mit

anderen Worten: Wie die Schüler Französisch sehen – Sprache und/oder Fach –

kann man als eine Orientierung denken, die zum jeweiligen

Orientierungsrahmen passen sollte.

Im Bemühen um ein konsistentes Vorgehen, bei dem Grundannahmen und

Analyseinstrumente aufeinander aufbauen (vgl. Reichertz 2007), folgt für die

Fachwahl:

Zu behaupten, dass „das gesellschaftliche Leben entscheidungsoffen[er, A.G.] geworden ist“

(Giddens 1996: 144) [...] bedeutet nicht, zugleich festzustellen, dass Entscheidungen die

bewusste Wahl eines autonomen Subjekts darstellen. Entscheidungsprozesse sind reflexive

Prozesse, über deren Grundlagen nicht mitentschieden wird (Geimer 2013, 104).

Wenn durch den Habitus eine gewisse Kontinuität und Reproduktion sozialer

Unterschiede gewährleistet ist, so bieten die Summe aller in einem sozialen

Kontext vorhandenen Habitus Möglichkeiten für Kontingenzen, so dass weder

absolute Freiheit noch absolute Determination vorliegen. Daher sind nach

Bourdieu

die Schüler, die einen Zweig oder ein Fach wählen, die Familien, die eine Schule

für ihre Kinder wählen, usw., keine Teilchen, die von mechanischen Kräften

bewegt werden und nach dem Zwang von Ursachen handeln; ebensowenig aber

sind sie bewusste und erkennende Subjekte, die sich von Gründen leiten lassen

und in vollem Bewusstsein handeln (Bourdieu 1998: 41. Herv. im Original)

Dabei kann die Wahl durchaus strategisch und gezielt ablaufen – aber die den

Wünschen zugrundeliegenden Zusammenhänge sind den einzelnen SuS kaum

oder nur implizit bewusst.

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4.2 Dokumentarische Methode

Die DM basiert auf diesen sozialtheoretischen Überlegungen und zielt anhand

des skizzierten Unterschiedes von expliziten und impliziten Wissen auf die

Rekonstruktion des Orientierungsrahmens. Orientierungen sollten sich in allen

fokussierten Passagen abzeichnen, unabhängig vom Thema. Der sequenziellen

Analyse, die die Chronologie der Äußerungen und ihre Kokonstruktion durch

den Interviewer mitberücksichtigt, und dem Fallvergleich kommen daher

besondere Bedeutung zu. Auch innerhalb eines Falls wird erst von

Orientierungen gesprochen, wenn sie sich wiederholt und in unterschiedlichen

Passagen haben rekonstruieren lassen (vgl. Nohl 2009: 51ff.). Dementsprechend

werden Milieus erst durch geteilte Orientierungen rekonstruiert, und welche

Erfahrungen und Unterschiede dafür letztlich eine Rolle spielen, ist vorab offen

– womit der Gedanke der Intersektionalität aufgegriffen wird.

5 KONTEXT UND INTERVIEWANALYSE

Zunächst stelle ich dafür den Kontext der Schule der beiden SuS vor, danach

diskutiere ich den Fall Ken und kontrastiere ihn anschließend mit dem Fall

Marta .

Die Schule, an der ich die Interviews geführt habe, liegt in Hamburg und hat

einen hohen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund. Fast alle Schüler, mit

denen ich gesprochen habe, sind im Laufe der Sekundarstufe I von anderen

Schulen auf dieses Gymnasium gewechselt. Ein ungewöhnliches Phänomen,

weshalb ich die Schule die „Wechselschule“ getauft habe. Es gibt drei

Oberstufenprofile: Ein „Sprachenprofil“, eines, das durch Biologie und

Sozialwissenschaften, und schließlich eines, das durch Physik und Philosophie

geprägt ist4.

Ich habe im Herbst 2012 offene Leitfadeninterviews parallel zum Unterricht im

durch eine geschlossene Tür getrennten Vorraum der Französischklasse geführt. 4 In dieser Schule habe ich insgesamt 15 Interviews in der zehnten und elften Jahrgangsstufe geführt. Die Schüler haben sich dafür freiwillig gemeldet, nachdem ich von den jeweiligen Lehrkräften vorgestellt worden bin. Auf Daten aus einer weiteren, eher von Schülern aus der mehrheitsdeutschen Mittelschicht geprägten Schule gehe ich hier nicht ein.

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Man konnte nicht verstehen, was im Nachbarraum gesagt wurde – trotzdem mag

neben der klaren räumlichen Nähe, aber auch wegen der Vorstellung und

Rekrutierung durch die Französischlehrerin im Unterricht ein deutlicher Bezug

zu Französisch und zur Französischklasse gegeben sein. Die Information vor

dem Interview war nur, dass es um die Motivation und das Lernen der Schüler

gehen sollte. Explizite Fragen nach Gender habe ich erst zum Ende des

Gesprächs gestellt und abschließend als Hauptinteresse benannt, um

Erzählungen und nicht nur Stereotype und theoretisierende Ausführungen zu

hervorzurufen.Als Interviewer habe ich an der Konstruktion der Interviews

mitgewirkt, nicht zuletzt durch eine Machtasymmetrie und die

Normalitätsannahmen, die ich als mehrheitsdeutscher männlicher Akademiker

erfülle.

5.1 Ken

Ken und Marta sind in derselben zehnten (Französisch-)Klasse und geben beide

an, Französisch abwählen zu wollen, wenn auch aus sehr unterschiedlichen

Gründen. Ken ist zum Zeitpunkt des Interviews 16 Jahre alt und hat einen

türkischen Migrationshintergrund. Nach der 6. Klasse ist er aus einer Schule in

einem eher schlecht beleumundeten Viertel an die „Wechselschule“ gekommen.

Ken hat insgesamt nur ca. 30 Minuten gesprochen, und ich habe viel nachfragen

müssen. Da er Türkisch als Schulfach seit der 8. Klasse hat, ist er weder

bezüglich seiner Noten für den Übergang in die Oberstufe, noch bezüglich der

Fremdsprachenanforderung in der Oberstufe auf Französisch angewiesen. Als

Berufsziel gibt er „Flugzeugingenieur“ (Zeile 222 im transkribierten Interview)

an.

Ken distanziert sich über das ganze Interview hinweg komplett von Französisch:

Er beginnt bereits in der Eingangspassage damit, dass Französisch sein einziges

Problemfach ist und hat zum Zeitpunkt der folgenden Passage bereits

klargestellt, dass er es auf jeden Fall abwählen will. In der selben Passage frage

ich nach, was er zuvor damit meinte, „blockiert gegen Französisch“ (101) zu

sein.

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Darauf erwidert Ken lachend, dass „wir“, also Französisch und er, „nicht für

einander geschaffen“ (123) sind. Da er daran 2 Sekunden lang nichts weiter

anschließt, bitte ich ihn um eine Klärung. Dazu greift er zuerst meine Frage als

rhetorische Frage wieder auf: „Ja, was mein' ich denn?“ (127) kann man

einerseits als Möglichkeit verstehen, Spannung aufzubauen und die

Aufmerksamkeit auf die folgende Aussage zu lenken. Andererseits kann es aber

auch bedeuten, dass meine Frage selbst als lächerlich dargestellt wird, da die

Antwort selbstverständlich ist.

Danach stellt Ken das Wechselspiel von „Französisch nicht können“ und

„Französisch nicht lernen wollen“ als sich gegenseitig verstärkend dar (127-

129). Dabei sind die beiden Facetten „nicht können“ und „nicht wollen“ so eng

miteinander verwoben, dass sie als geschlossenes Gesamtphänomen erscheinen,

an dem man nichts ändern kann. Es wird überdeutlich, dass Ken Französisch

komplett ablehnt.

Auch seine beiden älteren Brüder, die ingenieurswissenschaftliche Studiengänge

belegen, haben ihm bestätigt, dass Französisch für diesen Berufsweg „unnötig“

ist. Während diese Darstellung von Französisch in Bezug auf den Status als

zweithäufigste Schulfremdsprache interessant ist, wird der Bezug zu Kens

lebensweltlicher Mehrsprachigkeit und seiner Bewertung der Sprachen erst im

dritten Zitat relevant. Sowohl die Sequenzialität der Aussagen, wie auch Kens

eigene Schwerpunktsetzung legen aber zunächst eine Beschäftigung mit seiner

Berufsperspektive nahe.

In Bezug auf die Berufsziele ist allerdings teilweise unklar, wer genau spricht –

er selbst, einer der Brüder, beide oder auch der Vater, dem Ken wiederholt

großen Einfluss auf die Bildungsentscheidungen der Kinder zuweist. Vor der

folgenden Passage hat Ken berichtet, dass der Vater ihm den Wechsel auf die

Wechselschule in der sechsten Klasse „vorgeschlagen“ hat, was ich in einer

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Nachfrage aufgreife.

Der Vater „kümmert sich“ (249) demnach um seine Kinder, denn die „komm' als

erste Stelle“ (Zeile 250), wobei er auf seine vorhergehenden Darstellungen zum

Studium seiner Brüder verweist. Er ironisiert allerdings diese väterlichen Pläne:

Ein Wort mit „M“ als erstem eingeschobenen Buchstaben zu wiederholen, dient

im Türkischen dazu, sich über dieses Wort zu mokieren, weshalb ich „Studium,

Mudium“ (251) als Distanzierung5 sehe. In vielen meiner Interviews war selbst

bei einer Übernahme elterlicher Orientierungen den Schülern eine explizite

Distanzierung von ihren Eltern wichtig, und ich gehe davon aus, dass dies

gleichermaßen bei Ken der Fall ist.

Nach meiner Rekonstruktion von Kens Darstellung liegt in der Familie eine

Aufstiegsorientierung vor, die insbesondere über technische Berufe realisiert

werden soll. Der Vater ist „fast Schichtleiter“ (vgl. Zeile 255f) und die Söhne

müssen und wollen technische Fächer studieren.

Nicht nur sind Ingenieurswissenschaften allgemein männlich konnotiert,

sondern die Mutter wird entschuldigend als „Putzkraft“ und die kleine

Schwester als „Prinzessin“ beschrieben. Dies sind allerdings die einzigen

Verweise auf weibliche Familienmitglieder. So scheint es zwar, als sollte der

genannte Aufstieg über die technischen Berufe der männlichen

Familienmitglieder ablaufen, aber es gibt zu wenige Passagen, um eindeutig

belegen zu können, dass es sich um eine Rekonstruktion anhand der Daten

handelt und nicht um eine Konstruktion meines möglicherweise stereotypen

Bildes patriarchaler Türken. 5 Vgl. diePräsentation zu Mehrsprachigkeit und persönliche Kommunikation mit Prof. Dr. İnci Dirim am 23.11.2013 bei der FörMig-Tagung in Hamburg. Frau Dirim gab an, keinen Verweis auf die rhetorische Qualität des eingeschobenen „M“ zu kennen, bestätigte aber die häufige spöttische Verwendung.

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Da Kens Blick auf Französisch durch Ablehnung geprägt ist und dies offenbar

im Einklang mit familialen Orientierungen ist, lässt sich nun fragen, wie sich

dies in Bezug auf Mehrsprachigkeit darstellt. Da der Habitus eine

Gesamtformung darstellt, sollten unterschiedliche Themen gleichartig von Ken

behandelt werden.

Vor der folgenden Passage hatte ich Kens Aussage, dass er gern kommuniziert,

provozierend aufgegriffen und gefragt, ob dies nicht auch für Französisch gelte.

Dies hat er mit dem Hinweis verneint, dass er aber „liebend gern“ Deutsch,

Türkisch und Englisch spricht, was ich in meiner Frage in Zeile 302f erneut

aufgreife:

Zunächst geht es um die Klärung und Reformulierung dieser Frage (302-307) –

allerdings stütze ich mich dabei auf seine zuvor wiederholt überdeutlich

geäußerte Ablehnung. Hier nennt er seinen Bezugspunkt direkt zu Beginn seines

längeren Turns: „brauchen“ verwendet er zwischen Zeile 309 und Zeile 314 vier

mal – die bereits zuvor aufgefundene funktionale Orientierung zeigt sich auch

hier, und Kens Nützlichkeitsdenken herrscht auch und gerade bezüglich seiner

Sprachen. Im Falle von Englisch findet sich eine kurze Erzählung zur

Untermauerung der Wichtigkeit, die sich zwar mit „letztens“, „irgendwo“ (beide

312) und drei Mal „da“ (312f.) durch ihre durch große deiktische Vagheit

auszeichnet, deren Schwerpunktsetzung auf dem Gebrauchswert von Sprachen

allerdings deutlich wird.

Die verhältnismäßig knappe Darstellung verweist zum einen auf die

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Selbstverständlichkeit, die Ken seinem Verhältnis zu Sprache zuschreibt und

aufgrund derer sich jegliche Erklärung erübrigt. Zum anderen ist diese Passage

eingebettet in weitere Beispiele seiner lebensweltlichen Verwendung dieser drei

Sprachen. Insbesondere gegenüber der sehr knappen, aber deutlichen Antwort

auf meine Frage zu „Französisch und Frankreich“ (316), nämlich „@überhaupt

nicht@“ (318) ist dies aber für Kens Sprechen im Interview bereits eine längere

Passage.Hier wird der Kontrast zwischen den einzelnen Sprachen für Ken

deutlich, die er seinem funktionalen Denken gemäß unterschiedlich bewertet,

was er auch vor und nach der zitierten Passage wiederholt.

Die Aufstiegsorientierung über technische Berufe „braucht“ kein Französisch

und daher sind ästhetische Bewertungen oder die Möglichkeit lexikalischen

Transfers vom Türkischen nicht relevant. Auch grenzt Ken sich hier nicht wie

die „türkischen Buben“ bei Wojnesitz (2009: 190) mit Bezug auf seine

Vorstellungen von Männlichkeit von Französisch ab, sondern wegen dessen

fehlenden Nutzens.

Sein Bild von Sprachen ist rein funktional und trennt die Sprachen nach ihrer

lebensweltlichen Relevanz – in diesem sozialen Kontext erhält Französisch

keinen Zugang zu Kens Repertoire. Die Orientierung an Aufstieg und

technischen Berufen sehe ich daher als einen „Geschmack am Notwendigen“

(Bourdieu 1987: 587)6. Gender scheint im Fall von Ken nicht der entscheidende

Faktor für die Abwahl des Französischen beim Übergang in die Oberstufe zu

sein. Seine Mitschülerin Marta ist ein deutlich anderer Fall, bei dem sich dieses

Ergebnis bestätigt.

5.2 Marta

Das Interview mit Marta unterscheidet sich bereits rein formal deutlich von dem

mit Ken, da es wesentlich länger ist und sie ausführlicher auf die

Interviewfragen und aufgeworfenen Themen eingeht. Dies würde allerdings

auch eine ausführlichere Sequenzanalyse erfordern, statt der ich aus

Platzgründen nur knapp die Ergebnisse der Analyse darstelle.

6 Diese Formulierung hat Bourdieu in den 1970er Jahren in Bezug auf die unteren Klassen Frankreichs geprägt. Ein Transfer muss zwar die Unterschiede zu Hamburg 2012 berücksichtigen, eine Analogie zur damit bezeichneten Lebensführung scheint hier aber vorzuliegen.

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Marta ist 17 Jahre alt, ihre Eltern stammen aus Afghanistan, aber sie hat die

deutsche Staatsangehörigkeit. Drei Monate vor dem Interview, zu Beginn der

zehnten Klasse, ist sie wegen ihres zuvor weiten Schulwegs an die

Wechselschule gekommen.

Sie drückt über das gesamte Interview sehr deutlich ihre Ablehnung gegenüber

der neuen Schule aus, die sich gleichermaßen explizit wie implizit auch auf

andere Themen überträgt, so dass sie insgesamt in einem Modus der

Distinktion spricht. Sie hat allerdings Probleme klarzustellen, worin genau der

von ihr empfundene Milieuunterschied begründet ist. Sie wechselt dabei die

Kategorien und bezieht sich u.a. auf Aufenthaltsstatus, kulturelle Unterschiede,

Religion und persönliche Reife – und verweist häufig allgemein darauf, dass an

der Wechselschule vieles „anders“ ist. Sie positioniert sich explizit in der Nähe

einer deutschen bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft. Von ihren Eltern hat sie

eine große Wertschätzung (sprachlicher) Bildung übernommen, die allerdings in

der Familie an Institutionen delegiert wird.

In das generelle Bemühen um Abgrenzung und Distinktion ist auch Martas

Bewertung von Sprachen eingelassen: Standarddeutsch ist ihr wichtig, ebenso

wie Kompetenzen in mehreren der in Afghanistan gesprochenen Sprachen.

Französisch bezeichnet sie mehrfach als betont „elegant“ (364), „schön“ (361)

und sie hebt es als insgesamt speziell hervor. Spanisch dagegen, das an ihrer

alten Schule „jeder“ (361) wählen wollte, sei „nich so besonders“ (362):

„einfach nur dieses rollende 'R' und fertig“ (362f). Ihre Distinktionsbemühungen

sieht man auch bei dieser unterschiedlichen Bewertung der beiden romanischen

Sprachen deutlich.

Nach ihrer Wahl des Oberstufenprofils gefragt nennt sie allerdings zum ersten

Mal und unvermittelt Gender als Entscheidungskriterium: Da sie Jungen

„ziemlich unkompliziert“ (691) findet und bei den Mädchen vieles „anders“

(693) ist, will sie das ‚Physikprofil‘ wählen. Auch ihre Wahl ist somit

erwartungsgemäß durch eine Distinktion geprägt. Allerdings sehe ich hier den

expliziten Verweis auf das Entscheidungskriterium Gender als eine Konsequenz

der wesentlich schwerer zu explizierenden und breiter angelegten

Milieudifferenz. Zuvor hat sie nämlich Gender nicht erwähnt, dagegen aber z.B.

16

mehrfach den Migrationshintergrund und das Kompetenzniveau ihrer Mitschüler

negativ hervorgehoben.Die Wahl des Physikprofils bedeutet letztlich für Marta

mehr eine Abwahl als nur die Nicht-Wahl des Französischen, da sie das

Sprachprofil und ihre Mitschülerinnen vermeiden will.

6 DISKUSSION

In beiden vorgestellten Interviews sind sich die beiden Schüler sicher, dass sie

Französisch abwählen wollen:

So ist ein wirtschaftlicher Wert des Französischen für Ken nicht auffindbar, was

für ihn die entscheidende Kategorie zu sein scheint – Gender ist dagegen

weniger hervorgehoben. Ich habe stattdessen eine funktionale und auf sozialen

Aufstieg ausgerichtete Orientierung an technischen Fächern rekonstruiert. Es

handelt sich dabei um ein Familienprojekt, dem auch Sprachen untergeordnet

werden. Die sociolinguistic economy kann hier wörtlich genommen werden, da

Ken den wahrgenommenen Gebrauchswert von Deutsch, Türkisch, Französisch

und Englisch betont.

Bei Marta wird dagegen deutlich, dass die Wahlentscheidungen durch ihre

sozialen Beziehungen an der neuen Schule bestimmt sind: Sie folgt einem

Prinzip der Distinktion, das sie z.B. Französisch und Spanisch unterschiedlich

bewerten und darüber hinaus die Absicht der Nicht-Wahl des Sprachprofils

äußern lässt. Wirtschaftliche Kriterien spielen bei Marta keine direkte Rolle,

dagegen aberein zugeschriebener positiver ästhetischer Wert des Französischen.

Allerdings ist auch diese Bewertung in den selben Orientierungsrahmen der

Distinktion eingebunden wie die Abgrenzungsbemühungen von ihren Peers, was

letztlich zur Abwahl führt. Hier scheinen viele Kategorien des Sozialen zu ihrem

Eindruck von Milieudifferenz zu verschmelzen, auch wenn sie aus dieser

Intersektion explizit Gender für die Wahlentscheidung bemüht. An dem

unvermittelten Verweis auf Gender zeigt sich die Bedeutung der Unterscheidung

zwischen explizitem und implizitem Wissen sowie der Offenheit für die

kontextuelle Bedeutung sozialer Kategorien.

Der Wert und die Funktion von Französisch und anderen Sprachen

unterscheiden sich für Ken und für Marta deutlich, was in beiden Fällen auf

übergreifende Orientierungsrahmen zurückgeführt werden kann.

17

Dass es sich um Absichtsbekundungen und noch nicht um eine finale

Entscheidung handelt, bedeutet eine Einschränkung. Auch dass ich die beiden

rekonstruierten Orientierungen noch nicht bei anderen Fällen bestätigen oder

modifizieren konnte, begrenzt die Aussagekraft. Dies betrifft insbesondere

einen klar nachweisbaren Einfluss der beiden offensichtlichen Kategorien

Gender und Migrationshintergrund, die zwar in den Interviews präsent sind, aber

hinter ökonomisch geprägter Aufstiegsorientierung (Ken) und Distinktions-

bemühungen (Marta) zurücktreten.

7 FAZIT

Mit Bezug auf die zuvor diskutierte Literatur kann ich für meine beiden Fälle

feststellen:

1. Auch bei meinen Daten liegen sowohl positive als auch negative

Bewertungen des Französischen durch lebensweltlich mehrsprachige

Schüler vor, die sich möglicherweise durch eine Unterscheidung von

institutionellem Schulfach und Sprache als Repräsentatantin und Teil

kultureller Zusammenhänge noch weiter aufschlüsseln lassen.

2. Diese Bewertungen sind nicht eindeutig an Gender oder einen

Migrationshintergrund gebunden, sondern in dem einen Fall eher an

ökonomische Ziele und und in dem anderen Fall an eine Intersektion

vieler verschiedener sozialer Unterschiede, was zu einer allgemein

empfundenen Milieudifferenz führt.

3. Auch ein positives Bild von Französisch führt nicht automatisch zur

Weiterwahl des Fachs beim Übergang in die Oberstufe.

4. Die positive Bewertung einer (romanischen) Sprache wie Französisch

führt nicht automatisch zur positiven Bewertung einer anderen

(romanischen) Sprache wie Spanisch.

Sowohl Gender als auch ökonomische Fragen erfahren zunehmend Beachtung

bei der Untersuchung von Fremdsprachenerwerb und Mehrsprachigkeit, wenn

auch eine weitere Auseinandersetzung mit dem Wert und der sozialen Funktion

matthi
Strikeout

18

romanischer Sprachen für Schülerinnen und Schüler notwendig scheint.

Die sozialen Funktionen, die Sprachen für einzelne Schüler dabei erfüllen,

erweisen sich in meiner Analyse als ausschlaggebend für die Bewertungen und

Wahlentscheidungen bezüglich dieser Sprachen. Wenn daher auch Gender oder

lebensweltliche Mehrsprachigkeit nicht hervorstechen, so fließen sie doch in die

Orientierungen mit ein, die die Wahlentscheidungen und die Bewertungen von

Mehrsprachigkeit beeinflussen In dieser Perspektive lassen sich scheinbare

Widersprüche der Bewertung und Wahl von Sprachen als sinnhaft in die soziale

Lebenswelt der SuS eingebunden begreifen.

Transkriptionskonvention (nach Nohl 2009):

@: Lachen

(1): einsekündige Pause

(.): kurze Pause

(Wort): schwer verständlich

Wort: Betonung

19

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Matthias Grein

[email protected]