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Literatur, Macht und politisches Ereignis. Der Dekabristenaufstand, der Polenaufstand und die ‚Romantik‘

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Basler Studien , zur Kulturgeschichte· Osteuropas

Band 9

Herausgegeben von Andreas Guski und Heiko Haumann

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Jochen-Ulrich Peters, Ulrich Schmid (Hrsg.)

Imperium und Intelligencija

Fallstudien zur russischen Kultur im frühen 19. J ahrhundert

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Zürich

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Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Féirderung der wis­senschaftlichen Forschung

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in Der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 3-907576-68-3

© Pano Verlag Zürich 2004 www.pano.ch Alle Rechte vorbehalten Satz: Michael Anderau, Belzig Druck: Erland, Banská Bystrica

Thomas Grob (Konstanz /Zürich)

Literatur, Macht und politisches Ereignis. Der Dekabristen­aufstand, der Polenaufstand und die ,Romantik'

>>Quand je songe que lO an s sont éeoulés depuis ees malheureux troubles,

i\ me parait que j' ai fai t un rêve. Que d'événements, que de ehangements

en tout, à eommeneer par mes propres idées - ma situation, ete., ete.«

(A. S. Puskin, Brief an P. A. Osipova vom 26. Dez. 1835)

Die Konelation historisch-politischer Ereignisse mit kulturellen, insbeson­dere literarischen Entwicklungen ist ein Problem, dem in zahlreichen slavi­schen Kontexten besondere Relevanz zukommt; daran hat der politische (nationale) Aspekt der slavischen Romantikmodelle einen betdichtlichen Anteil. Die slavistische literaturhistorische Tradition weist denn auch ein ausgepragtes Bewusstsein für politikgeschichtliche Zusammenhange auf, das allerdings auffallend wenig von methodologischer Reflexion begleitet ist. In ganz verschiedenen literaturhistorischen Zusammenhangen ist es so sehr zur Gewohnheit geworden, auf politische Konstellationen und Ereig­nisse zu rekurrieren, dass die dabei konstruierten Kausalbeziehungen gar nicht weiter begründet werden. Doch besteht in diesen Fragen bekanntlich erhohter Klarungsbedarf, und dies theoretisch wie bezogen auf die Spezifik jedes einzelnen Falles: Es gehort zur Komplexitat der Wechselwirkung zwischen kulturellen Bereichen wie der Literatur und politischen Ereignis­sen, dass sie auBerhalb zeitbezogener Fallbeispiele gar nicht betrachtet werden konnen, da nur hochst bedingt überzeitliche Mechanismen dieser Vermittlung auszumachen sind. In ihrem Charakter wie in ihrem AusmaB ist sie abhangig von der in Zeitdiskursen verankerten semantischen Struktur des Ereignisses und von zeitbedingten Wahrnehmungsrastern.

Wenn im Folgenden versucht wird , die Problematik solcher Konelatio­nen in Bezug auf den Dezemberaufstand von 1825 und den polnischen Aufstand von 1830/1831, also die politisch-kulturell herausragenden Ereig­nisse der nach-napoleonischen Zeit auf ,russlandischem' Boden, zu skizzie­ren, dann soll auch die theoretische Problematik angesprochen werden. Der literaturhistorische Akzent liegt dabei auf der Frage, inwieweit und in wel­cher Form die genannten politischen Ereignisse, die selbst einem romanti­schen Kulturraum zugehoren, auf romantische Literaturmodelle Einfluss

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nehmen konnten. Die Ablosung romantischer Sichtweisen auf politische Ereignisse und Gegebenheiten, die dabei beobachtet werden kann, stellt einen wesentlichen Schritt gesellschaftlich-diskursiver Ausdifferenzierung im 19. Jahrhundert dar und besitzt deswegen eine über den literarischen Text weit hinausgehende Relevanz.

Wenn im Folgenden punktuell und exemplarisch argumentiert wird, dann Iiegt dies nicht nur an der Komplexitat der Problematik, sondern auch am Fehlen notwendiger Forschungsliteratur in diskursgeschichtlicher Per­spektive. Dies gilt insbesondere für semantische Diskursfelder, in denen sich Schlüsselbegriffe wie ,Freiheit', ,Held', ,Aufstand', ,Unordnung' be­wegen und die sich in dieser Zeit stark wandeln. Solche interdiskursiven kulturellen semantischen Felder bilden zusammen mit den Aktantenstruktu­ren, in denen sich Wahrnehmung und Narrativierung von Ereignissen orga­nisieren, das Feld, in dem sich Literatur und Politik treffen und in dem sie korrelierbar werden.

l. Das politische Ereignis als Faktum der Literaturgeschichte

Auch in bezug auf das ,Ende' der Romantik sind- in stark schwankender Explizitheit und Konsequenz - Rekurse auf politische Ereignisse üblich. So wird oft in den politischen Ereignissen vom Dezember 1825 und in der da­von gepragten Etablierung des Regierungssystems Nikolajs I. eine ent­scheidende Wende auch in der Literatur erkannt. Entsprechend wird in lite­raturhistorischen Darstellungen haufig ab diesem Moment dem politischen Umfeld eine starkere Aufmerksamkeit gewidmet bezüglich früherer Zeiten.

Dieselbe literaturhistorische Interpunktierung kann jedoch ganz unter­schiedlich gedeutet werden. Die nicht einer ,Schule ' zugehorige Literatur­geschichte von A. Stender-Petersen etwa, die hier durchaus auf einem bis heute wirksamen Hintergrund argumentiert, beginnt die Beschreibung des ,realistischen Zeitalters" mit einer ausgiebigen Darstellung der nikolaiti­schen Verhaltnisse (wobei das Bild Nikolajs differenzierter ausfallt als in den sowjetischen Darstellungen üblich) , die wiederum stark auf den De­zemberaufstand bezogen werden. Der Autor kommt zur Schlussfolgerung: ,lm Jahre 1825 wurde die adlige Romantik zu Grabe getragen."'

Der Aufstand erscheint al s , Katastrophe", die die Kultur , aus dem Traum in die brutale Wirklichkeit" versetzt habe (ebd.); dabei wird das En­de der ,politischen Romantik" (193) mit demjenigen der ,literarischen"

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A. Stender-Petersen, Geschichte der russischen Literatur. München: Beek, 3. A. 1978, 191.

Grob- Literatur, Macht und politisches Ereignis

parallelisiert. Direkte Auswirkungen der nikolaitischen Feindseligkeit ge­genüber allem ,selbstandigen Denken" ( 195), von Überwachung, Zensur oder Philosophiefeindlichkeit auf die Literatur werden als selbstverstand­lich vorausgesetzt:

Der politische Umschwung [ ... ] auBerte sich in der Literatur als Übergang von den erhabenen idealistischen Dichtungen klassi­schen oder romantischen Geprages zu einem schlichten Realismus, der sich am besten in der Prasa auszudrücken vermochte (ebd., 200).

Doch kann eine ahnliche Perspektive auch zu entgegengesetzten Folgerun­gen führen. So erlautert V. M. Markovic in einem Vorwort aus dem Jahr 1990, dass es vollstandig ,gesetzmaBig" sei, wenn sich nach der dekabristi­schen Niederlage das lnteresse an der Phantastik sprunghaft verstarkt habe: die ,geistige Atmosphare des russischen Lebens" habe sich verandert, und mit der siegreichen Reaktion habe auch die poslost' triumphiert, so dass ein ehrenhafter und denkender Mensch - hier wird Gercen zitiert - um sich herum für ein Jahrzehnt nur noch ,Niedrigkeiten, Unterwürfigkeit, Grau­samkeit und Neid" gesehen habe.2 ,Unweigerlich" habe sich unter diesen Bedingungen ein ,Hang zum Wunderbaren" (zazda cudesnogo) entwi­ckelt.3 Mit der gangigen Realismusthese (die Markovic selbst verficht) ist dies kaum zu vermitteln. Auf gewisse Weise steht diese Position noch der­jenigen G. A. Gukovskijs nahe, der den Unterschied zwischen der westli­chen und der russischen Romantik in der Beziehung der ersteren zur bür­gerlichen franzosischen Revolution sah, wahrend die russische ihren ,re­volutionaren Aufschwung" erst spater gehabt und sich deswegen ,optimis­tischer, aktiver" ausgepragt habe. Den 14. Dezember 1825 sieht er als scharfe Grenze zwischen diesem Modell und dem ephemeren Neo­Byronismus, einem literarischen ,Weltschmerz" und der ,reaktionaren Romantik" eines Kukol 'nik. Gegen di ese , sekundare" Romantik ha be si eh nun allerdings der ,kritische Realismus" durchgesetzt (den er bei Puskin sogar noch früher ansetzt).4

2 Gercens Wahmehmungsmodell triigt hier selbst romantische Spuren. Von der ,ro­mantikverHingemden' Rolle des Exi1s wird noch die Rede sein.

V. M. Markovic, ,Dychanie fantazii". In: Russkaja fantasticeskaja p roza epochi romantizma ( 1820-1840 g g.) . L. 1990, 5-47, hier 11 f.

4 G. A. Gukovskij, Puskin i russkie romantiki . Ocerki po istorii russkogo realizma. Moskva 1995, 11 f. Die erste Fassung von Gukovskijs Monographie erschien 1946.

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Diese etwas willkürlich ausgewiihlten, auf ihre Weise jedoch typischen Beispiele zeigen, dass die Ereignisse von 1825 und ihre Folgen zu Kausali­sierungen herangezogen werden, ohne dass Einigkeit über die Art der Auswirkungen bestehen würde: Sie ,erkliiren' das, was man ohnehin schon zu wissen glaubt. Doch sind auch so eindeutig erscheinende Ereignisse wie der Dezemberaufstand in ihrer kulturellen Auswirkung schwer zu fassen; gerade mit Rekurs auf den Dezemberaufstand konnte man in literaturhisto­rischen Periodisierungen die vermeintliche Schwelle von 1825 ebenso als ,Ende' der Romantik wie als deren Beginn deuten.s Neuere Literaturge­schichten halten sich meist zurück, den Aufstand zur Epochengrenze zu deklarieren. Allerdings scheinen sie in einer Zeit, die generell misstraui­scher geworden ist gegenüber politisch motivierten literaturhistorischen Modellierungen (wie gegenüber priizise lokalisierten Epochengrenzen ge­nerell), das Problem eher zu umgehen. Denn dieses bleibt virulent: Die An­nahme, der Dezemberaufstand hiitte keine Auswirkungen auf die Literatur gehabt, ist offenkundig unsinnig. So ist die Frage nach der Wirkung eines für die russische Adelskultur so bedeutenden politischen Ereignisses gerade für eine literaturhistorische Perspektive unumgiinglich. Dies muss keines­wegs den Rückfall in fremdbestimmte literaturhistorische Kategorien be­deuten: Es gilt weiterhin, dass ein ,Ende' der Romantik wie literarische Wendepunkte generell gleichzeitig in verschiedenen, inner- wie auBerlitera­rischen Perspektiven zu betrachten sind. Gerade in der Wechselwirkung von Literatur und Politik jedoch, die sich anhand solcher Ereignisse exem­plarisch beobachten liisst, zeigt sich ein gutes Stück auch der interdiskursi­ven Verwurzelung und damit der kulturellen Relevanz von Literatur.

Dem Gewicht, das russistische literaturhistorische Darstellungen dem Dezemberaufstand zuweisen, steht eine auffallende Missachtung der polni­schen Ereignisse von 1830/1831 entgegen, die in ihrer Wirkung allerdings schwer zu trennen sind von der franzi:isischen Julirevolution (was hier nicht diskutiert werden kann). Im Folgenden wird die These entwickelt, dass die­se beiden politischen Ereignisse nicht n ur auf ganz unterschiedliche W eise, sondern auch unterschiedlich stark auf die Literatur und angrenzende kultu­relle Felder ,eingewirkt' haben, und dass erst das zweite Ereignis in Russ­land romantische Wahrnehmungsmodelle des Politischen und in der Folge auch literarische Konventionen zu erschüttern vermochte. W as insgesamt­wie jede Form des ,Einflusses' - unmessbar bleibt, liisst sich zumindest

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So behandelt z. B. der Band Istorija romantizma v russkoj literature, der 1979 von der Akademie der Wissenschaften herausgegeben wurde, die Periode von 1825 bis 1840.

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strukturell begründen und an Fallbeispielen belegen. ])ie Asymmetrie der Wirkung auf Polen und Russen wird hier ein entscheidendes Moment sein und dient deshalb als Leitlinie in der Darstellung auch der Verhiiltnisse vor 1831.

11. Die Poetizitiit des Politischen

Überlegungen zum Komplex von Politik bzw. politischen Ereignissen und Literatur sind mit B li ek auf di e , byronistischen' polnisch-russischen Ro­mantikmodelle, die durchsetzt sind von Elementen des Politischen, von ganz besonderer Relevanz. Das Erbe sozialgeschichtlicher Ansiitze erweist sich hier als eher problematisch, stellen diese doch für die Komplexitiit der Wirkung politisch-sozialer Verschiebungen auf die Literatur kein hinrei­~hend priizises methodisches Instrumentarium zur Verfügung. Neben der verbreiteten Bevorzugung von Ereignissen, die in den Schemen von ,Fort­schritt' und ,Reaktion' unterzubringen sind (was auf die russische Situation vor den vierziger Jahren kaum anwendbar ist), verleiten sie zu Vorannah­men wie derjenigen, dass groBe politische Erschütterungen auch groBe kulturelle Folgen haben müssen. Nicht erst seit dem berühmten ,Schmet­terlingseffekt' aus der sog. Chaostheorie, die sich mit der Evolution kom­plexer Systeme beschiiftigt, sollte aber klar sein, dass es dafür keine Grundlage gibt.

Eine differenzierte Betrachtung der Wirkung gesellschaftspolitischer Veriinderungen auf die Literatur muss von der maximalen Eigendynamik kultureller Bereiche und von einem maximalen Kontingenzfaktor in Aus­maB und Form einer eventuellen Einwirkung ausgehen. Als Orientierung bietet sich hier vor allem ein systemtheoretisch fundierter Autopoiesis­Begriff an, wie ihn N. Luhmann in seine Theorie implementierte. Dieser meint nicht nur, dass Systeme sich selbst erhalten müssen, sondern auch, dass iiuBere Faktoren auf ihre Struktur nur insoweit einwirken ki:innen, als sie systemintern beobachtbar sind.

Entgegen der von systemtheoretischer Seite immer wieder geiiuBerten Ansi eh t, di e russische Literatur des frühen 19. J ahrhunderts sei nicht wie die westliche als ,ausdifferenziert' zu beachten,6 reagiert diese Literatur in

6 So etwa D. Kretzschmar, ,Zur Codierung ,iisthetischer Kommunikation' in der russischen Gesellschaft des 18. und frühen 19. Jahrhunderts". In: D. Ketzschmar l Ch. Veldhues (Hrsg.), Textbeschreibungen und Systembeobachtungen. Neue Stu­dien zur russischen Literatur im 20. Jahrhundert. Dortmund: Projekt Verlag 1997, 115-145.

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hohem MaBe autonom auf gesellschaftliche Vedinderungen. Als Beleg da­für mag der Erfahrungswert gelten, dass keinerlei Automatismen für inner­literarische Effekte auBerliterarischer Phanomene zu erkennen sind; literari­sche Entwicklungen bleiben in Russland keineswegs weniger unvorhersag­bar als im W esten. Solche Effekte kon nen in direkter Kausalitat, sie konnen aber auch paradox verlaufen, sie konnen verzogert oder gar nicht eintreten; für alle Varianten würde man leicht Beispiele finden. Umgekehrt sind ,Ü­bergriffe' auf auBerliterarische Systeme (und gerade auf das Politische) in der polnisch-russischen Romantik von innerromantischen Paradigmen ab­hangig. Dies gilt sogar für den Literaturbetrieb, der - was im europaischen Rahmen der Zeit nicht aus dem Rahmen fallt - tatsachlich stark politisch kontrolliert war; in ahnlicher Weise hat es Historiker immer wieder er­staunt, dass sich unter der repressiven Herrschaft Nikolajs l. eine in vielen Aspekten ,modeme' Óffentlichkeit herausbilden konnte.

Anerkennt man die methodische Notwendigkeit der Zurückhaltung ge­genüber unexplizierten Konelationen und insbesondere gegenüber Kausali­sierungen, so rücken systemintern beobacht- und begründbare Entwick­lungsmechanismen, die auBerliterarisch motiviert sein konnen, in den Vor­dergrund der Betrachtung. Eine ,autopoietische' Betrachtungsweise, die davon ausgeht, dass Literatur systemexterne Phanomene als ,interne' re­produzieren muss (was zu den Grundoperationen jeder Literatur gehort), muss sich dabei keineswegs auf literaturinterne Phanomene i m traditionel­len Sinn beschranken. Doch stellt sie sich zuerst einmal die Frage nach den Bedingungen der Moglichkeit einer Transmission: denn diese sind offen­sichtlich historisch wandelbar.

Bezüglich einer ,romantischen' Perspektive auf ein politisches Ereignis (wobei mit ,romantisch" hier immer das byronistische, im russischen wie polnischen Kontext dominierende, europaisch gesehen spate Romantikmo­dell gemeint ist) bedeutet di e s zuallererst, dem Kriterium des ,Poetischen' in der zeitgenossischen Wortbedeutung Rechnung zu tragen; dieses kann sich auf Ereignisse, Handlungen und Helden ebenso beziehen wie auf Ka­tegorien des ,Lebens' und der Biographie. Das zentrale Kriterium in der romantischen Wahrnehmung historisch-politischer Ereignisse ist, immer idealtypisch gesprochen, ihre Sujettauglichkeit, deren Kríterium eben das ,Poetische' ist. Zum ,romantischsten' und damit bevorzugten historischen Ereignis wird in dieser Perspektive der ,Befreiungskampf' in allen Formen:

- die erwahnte nachzeitliche Promovierung des Dezemberaufstands zum epochemachenden Ereignis hat selbst romantische Wurzeln.

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Paradoxerweise liegt die Eigenheit des ,poetischen' Polítischen in der asthetisierten und autoreflexiv ausgeríchteten Romantik gerade in der (ten­tativen) Aufhebung von Systemgrenzen der Literatur. Dies widerspricht nur scheinbar der romantischen ,Autonomie' des Àsthetischen.7 Denn die ,au­tonome' Perspektive erstreckt si eh au eh au f di e anderen wahrgenommenen Bereiche. Wenn das Politische auf seiner ,poetischen' Modellierbarkeit be­ruht, dann unterliegt es asthetischen Kriterien: die Poesie überschreitet ihre Grenzen, um wiederum in der Poesie anzukommen. Dieses Verhaltnis wird sich im Realismus umkehren,s weswegen L. N. Tolstoj in den Sevasto­pol' skie rasskazy oder in Vojna i mir die Darstellung des Krieges weitge­hend dadurch ,realistisch' macht, dass er íhn gezielt de-romantisiert und in diesem Sínne de-asthetisiert. Beiden Sichtweisen ist gemeinsam, dass der ideale Typus eínes poetischen Ereignisses seinen Ort eher in der , Wirklích­keit' als im líterarischen Text hat.

In ihrer - weit über die Literatur hinaus wirksamen - Orientierung, Er­eignisse anhand poetischer Sujetfahigkeit zu beurteilen, reagiert die ro­mantische Wahrnehmung eher auf das akute, einmalige Ereignis und auf die herausragende Personlichkeit als auf statische oder gar statistische Ver­haltnisse: Erst der Rebell oder der Aufstand machen soziale Verhaltnisse sichtbar. Dass dies auch für die Geschichtsbetrachtung gilt, muss ange­sichts der Bedeutung Walter Scotts für diese Zeit kaum erlautert werden. Napoleon kann deswegen für Russen wie für Polen der politische Held der Epoche sein (weswegen Tolstoj noch in Vojna i mir gegen seinen Mythos ankampft). Das Prímat des ,Lebens' und des Helden kann daran abgelesen werden, dass die Byron-Faszination von Puskin und seiner Generation sich schwergewichtig auf di e Person, die ,poetisch' gestaltete Biographie be­zieht und darauf, dass seine Texte eng mit dieser verbunden zu sein schei­nen. Kritik an Texten Byrons muss deswegen - wie die politische an Na-

7 Systemtheoretisch argumentierende Literaturwissenschaftler tendieren (wie Luh­mann selbst) dazu , die Autonomie der modernen Literatur an autoreflexiven Strukturen zu messen. Dabei ist gerade die auf Selbstreflexion gründende romanti­sche Autonomiekonzeption, auf die Luhmann durchgehend verweist, auf Figuren der Transzendierung angewiesen, sei dies zum Philosophisch-Religiiisen oder zum Gesellschaftlichen.

In diesem Sinne bewiihrt sich die Unterscheidung von ,primaren' (wie der Reali­mus) und ,sekundaren' (wie die Romantik) Epochen, wobei erstere die Realiüit nach textlichen Kriterien, letztere die Texte als Verlangerung der Realitat wabr­nehmen sollen (s. R. Dering-Smimova, I. P. Smimov, Ocerki po istoriceskoj tipo­logii ku/' tury . ... -> realizm -> (. . .) -> postsimvolizm ( avangard) -> ... Salzburg 1982 [NRL Almanach Sonderband 1], bes. S. 9 ff.

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poleon - nicht automatisch eine Schmãlerung seiner Faszination bedeuten, und es ist n ur folgerichtig, dass der durchaus kritische Byron-Verehrer Puskin noch dessen Tod unter diesem Gesichtspunkt der Poetizitat beur­teilt. Seine Ausführungen an Vjazemskij, in denen er ein ,Verblassen" von Byrons Genie nach seiner Jugend und eine übertriebene Naivitat in den po­litischen Ansichten (der Griechenland-Begeisterung) feststellt, beginnt mit den Worten, er freue sich über Byrons Tod ,als über einen erhabenen Ge­genstand der Poesie".9

lll. Der Dekabristenaufstand a/s romantisches (Krypto-)Sujet: Die Poeti-zitiit der Niederlage

Wenn man die ,Poetizitat' im Sinne romantischer Sujetbildung als zentrales Element romantischer Wahrnehmung und Einschatzung politischer Ereig­nisse ansetzt - wobei offen bleiben muss, von welcher Reichweite diese Betrachtungsweise über die Literatur hinaus war -, dann muss der De­kabristenaufstand ein romantisches Ereignis erster Güte darstellen. Seine konspirative, geheimnisumwitterte Anlage, di e ,edlen', uneigennützigen Ziele und die- insbesondere in der spãteren Wahrnehmung -- wagemutige Ausführung bilden ein beinahe ideales romantisches Narrativ; dass es aus Zensúrgründen literarisch nicht umgesetzt werden konnte, verlieh ihm um­so mehr eine ,romantische' Aura. Kern dieses Narrativs (in das sich spater clie Aufopferung der Dekabristenfrauen einfügen wird) ist die Niederlage, die zwar ein Scheitern der politischen Ambitionen bedeutete, nicht aber die Aufhebung der Poetizitat des Ereignisses. Im Gegenteil IieBe sich argu­mentieren, class der prototypische romantische Held nicht gezwungen ist, seine Absichten zu verwirklichen (er würde sonst wohl entweder zum Ty­rannen oder zum unertraglichen Ironiker an der Macht).lO Der Dekabrist ist gerade durch sein Scheitern von der Beweislast der Realp;litik enÚastet. In der unabschlieBbaren Perspektive seiner Handlungen, ja in der Nicht- \ Realisierbarkeit seiner Plane erweist sich sein Anteil an der ,Totalitat' , der

9 A. S. Puskin, Polnoe sobranie socinenij. T. 13. M.-L. 1937 [Neuausg. M. 1996], 99 (Briefvom 24./25. J uni 1824). Man vergleiche dazu den geradezu hymnischen lyri­schen Nachruf auf Napoleons Tod (,Napoleon"; PSS, t. 2, 192-194), der bereits 1821 entstand und von Puskin noch 1826 und 1829 (wenn auch teilweise etwas ge­kürzt) in Gedichtsammlungen aufgenommen wurde.

10 Erst postromantisch wird ihm genau diese Rolle, die ihn unweigerlich entlarvt, zu­gemutet; so etwa in Büchners Leonce und Lena (1836).

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ihn zum Helden qualifiziert: darin liegt das ,fragmentarische' Erbe des By- l ronismus aus der frühen Romantik.

Das politische Scheitern, die Opferrolle gegenüber der politischen Macht gehort zum Grundbestand byronistischer Sujets. Nirgendwo ist der byronsche Freiheitsheld so sehr Held wie im Kerker:

Etemal Spirit of the chainless Mind! Brightest in dungeons, Liberty! thou art, For there thy habitation is the heart-The heart which lo v e o f thee alo ne e an bind [ ... ].t t

Auch Puskin eroffnete mit dem Kavkazskij plennik die byronistische W en­de in der russischen Romantik mit einem Gefangenen, dessen Lage auf schillernde Weise mit der politischen ,Exilierung' des Autors korrespon­dierte. Die gescheiterten Dekabristen waren, hãtte dies die Zensur nicht verhindert, zu mustergültigen romantischen Helden geworden. Dies reali­sierte sich in der mündlichen Kultur der Salons der Zeit, aber auch in den polnischen romantischen Texten nach 1831 - wenn auch dort unter neuen Vorzeichen.

!V. Kontinuitiiten: Romantische Bildlichkeiten politischer Hoffnung und Enttiiuschung

Die Reduktion der romantischen Heldenmythologie auf einige wenige nar­rative Charakteristika wie Aktantenkonstellationen mag als unzulassige Vereinfachung erscheinen; sie soll hier jedoch nur helfen, die Problematik klarer herauszuarbeiten. Es stellt sich namlich die Frage, wie ein derart alle romantischen Kriterien erfüllendes Ereignis - das selbst, nicht weniger als spater der polnische Aufstand, romantisch inspiriert w ar- hatte verandernd auf die dominant romantische Zeitwahrnehmung einwirken oder gar das Ende der Romantik einll:iuten konnen. Letzteres wãre im Grunde nur durch eine Zerstorung des Narrativs moglich, d. h. etwa dadurch, dass die realpo­litische Deutung - die eine Kritik des zwar poetischen, aber dilettantischen Unterfangens implizieren konnte- die ,poetische' verdrangen würde. Dies ist ein Phanomen, das sich nach 1830/31 beobachten lasst; darauf komme i eh zurück. N ach 1825 jedoch scheint es dafür keinerlei Anzeichen z u g e­ben. Hier scheinen umgekehrt die Tragik der Gescheiterten und Verbannten

11 ,Sonnet on Chillon" (zit. nach: The Works of Lord Byron. Ware, Herfordshire : Wordsworth Editions 1994, 326).

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und ihre Einbettung in romantische Narrative (zu denen die Verbannung wesentlich gehort) solche Formen der politischen Kritik zu verunmogli­chen.

Drei erganzende Hinweise bezüglich der Situation nach 1825 sind hier notwendig. Zum ersten war die Diskussion um die gesellschaftlichen Per­spektiven der Dekabristen mit dem 14. Dezember 1825, den darauf folgen­den Untersuchungen und den Verurteilungen keineswegs verstummt; ,de­kabristische' Positionen waren in den hochsten politischen und gesell­schaftlichen Kreisen verankert und wurden in einzelnen Punkten - wie der Ablehnung der Leibeigenschaft - prinzipiell sogar von Niko!aj L geteilt. In ihren Fokus rückten nun jedoch vorwiegend die Mittel, mithilfe derer die Verhaltnisse verandert werden sollten. Es ist durchaus einleuchtend, wenn M. Aronson 1936 in seinem Artikel zu Mickiewiczs Konrad Wallenrod und Puskins Poltava vor dem Hintergrund der politischen Diskussionen nach 1825- und dabei insbesondere der Diskussion um die politischen Ziele und

• Mittel der Dekabristen - den ersten Text als verhülltes politisches Pro­gramm und den zweiten als Antwort darauf liest;12 bekanntlich stand Mi­ckiewicz den Dekabristen personlich wie ideell nahe.t3

Zweitens macht sich keineswegs sofort nach der Niederschlagung des Aufstands der Eindruck durchgehender Repression breit. Zur politischen Atmosphare der Jahre zwischen 1825 und 1831 gehort wesentlich nicht nur die als Befreiung erfahrene Entmachtung der unter dem spaten Alexander dominierenden politischen Figuren, sondern auch beispielsweise die rasche Konektur des restriktiven Zensurstatuts aus dem Jahr 1826, die zu weitrei­chenden Hoffnungen Anlass gab. Aronson weist zu Recht auf eine gewisse Stilisierung Nikolajs zum Reforrnzaren hin, die keineswegs nur Puskin er­fasste und sich etwa in einer Vielzahl von Bearbeitungen der historischen Rolle Peters L niederschlug.t4 Die Hoffnungen gründeten in Reformbemü­hungen Nikolajs zwischen 1826 und 1830, als die Ereignisse in París und Polen diesen Bestrebungen ein Ende setzten. Puskin war, wie V. Listov überzeugend darlegt, über das geheime Reformkomitee aus erster Hand in­forrniert; ob seine Haltung, der polnische Aufstand müsse moglichst schnell niedergeschlagen werden, tatsachlich nur der Befürchtung entsprang, die

12 M. Aronson, ,Konrad Vallenrod" i ,Poltava". In: Vremennik Puskinskoj komissii, vyp. 2. M.-L. 1936, 43-56.

13 Vgl. den zusammenfassenden Eintrag ,Dekabrysci" von M. Zieliriska in: J. M. Rymkiewicz, D. Siwicka u. a., Mickiewicz encyklopedia. Warszawa: Horizont 2001, 103-105.

14 Aronson, 44 f.

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Reformen konnten daran scheitern, kann wohl nicht mehr geklart werden. 15

Vielleicht ist das düstere Bild des Tyrannen auf dem russischen Zarenthron, das sich bei Mickiewicz (und in der Folge bei anderen polnischen Exilro­mantikern) nach 1831 findet, eine Antwort auch auf diese Illusionen der russischen Kollegen- und auf seine eigenen.16

Zum Dritten bedarf die gangige Annahme, der Freiheitskult der jungen russischen und polnischen Romantiker vor 1825 nâhre sich aus ihren politi­schen Hoffnungen, insbesondere dann einer Korrektur, wenn daraus der Umkehrschluss gezogen werden soll, ohne diese politischen Perspektiven, die mit der Begeisterung der Frühromantiker für die franzosische Revolu­tion verglichen werden konnen, falle auch der romantische Impetus dahin. Auch hier ist einzuwenden, dass der romantische Held in der Regel kein ,Sieger' ist (sogar die zur geforderteten politischen Tat schlieBiich doch unfahigen Helden der groBen polnischen Texte nach 1831 werden dies fort­führen). Vielmehr zeichnet ihn gerade die Uneinholbarkeit seiner Katego­rien aus, was für das romantische Politische generell gilt: Die Perspektivie­rung am ,Idealen' impliziert nicht unbedingt konkrete Formen der Verwirk­lichung. Andererseits kann angenommen werden, dass ein prinzipielles und definitives Duchstreichen aller politischen Perspektiven wohl auch die prinzipielle romantische Transzendierung der Realisierung von Idealen verunmoglichen würde. Der romantische Gefangene ist idealiter deshalb ein Held, weil er über Vergangenheit und mogliche Zukunft, zumindest aber über sei ne ,Sehnsucht' mit der Freiheit verbunden bleibt.i7

15 Listovs bestes Argument dafür ist die AuBerung Puskins im berüchtigten Brief an E. M. Chitrovo (9. 12. 1830), Russland brauche Ruhe (s. Wiktor Listow, ,A. S. Puskin i pol'skoe vosstanie 1830-1831 godov." In: Acta Polono-Ruthenica /l/ [1998], 73-80). Listov sammelt, mit Blick auf Puskin, die wichtigsten Eckdaten zu den Ref01mbemühungen.

16 Aus dem Tagebuch M. Malinowskis, das detailliert Mickiewiczs Petersburg­Aufenthalt festhalt, geht hervor, dass man noch im Herbst 1828 einige Hoffnung hatte, Nikolaj würde Polen die Selbstverwaltung zugestehen. So berichtet Mali­nowski, Bulgarin habe ihm von seiner Absicht erzahlt, sich diesbezüglich {,w sprawie odbudowania naszej Rzeczypospolitej") an den Zaren zu wenden, was den Zuhorer nicht erstaunt, sondem in seiner Hoffnung bestatigt: »Wszystko, co mówil napelnilo me serce wielkª radosciª« (M. Malinowski, Dziennik. Wilno 1914, 41; Eintrag vom 12.12.1827).

17 So auch im bereits zitierten ,Gefangent>n von Chillon" Byrons, sei es im bereits anzitierten Motto (, ... May none those marks efface! l For they appeal from tyran­ny to God!" Byron, 326), sei es im Bild des Vogels in der Betrachtung des Gefan­genen {,Or if it were, in winged guise, l A visitant from paradise" , 329). Byrons

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lntelligencija und lmperium

So bleibt nach 1825 vielleicht nicht der Charakter der politischen Er­wartungen an sich, sehr wohl jedoch.das Zusammengehen von politischem und literarischem Diskurs erhalten; weiterhin gehort das Politische zu den Kembereichen der Poetisierung. Die Dichtung übemimmt auch die Funkti­on, den Aufstand und seine kulturelle ,Aura' im kollektiven Gedachtnis zu bewahren, was zu den bekannten ,asopischen' Aussageformen führt. Als , Beispiel dafür sei auf zwei ganz unterschiedliche Texte verwiesen, die bei­de unzweifelhaft auf die Dekabristen anspielen und erstaunlich parallele -und ungebrochen ,romantische' - Bildlichkeiten verwenden. Der erste ist Puskins 1828 verüffentlichtes Gedicht Arion, das meist dann zitiert wird, wenn es darum geht, die anhaltende Verbundenheit Puskins mit den De­kabristen zu zeigen.l8 Es wurde vermutlich im Juli 1827 geschriebenl9 und lehnt sich an Herodots Legende des nach einem Schiffbruch von einem Delphin geretteten Sangers Arion an. Puskin betont dabei besonders die freundschaftliche Beziehung in der untergegangenen Besatzung. Die Ich­Figur, der auf dem Boot von ,leichtsinnigem Glauben" erfüllte Sanger, ist der einzige Überlebende:

Ha 6eper Bhi6porneH rpo3oJO, 5J: rJi!MHbl rrpe)KHHe ITOJO 11 pH3Y BJJa)KHyJO MOJO Cywy Ha comn~e ITOA CKaJJOJO. (PSS t. 3, 58)

Deutlicher noch wird die Anspielung im Entwurf:

Ha 6eper Bht6porneH rpo30JO -fHMH H3ÕaBJJeHJi!51 ITOJO ... (ebd., 593)

Für unseren Kontext sind beide Varianten aufschlussreich. Das Ereignis kann hier in ungebrochener Weise ,poetisch' wiedergegeben werden, dies in einer verhüllenden Form, die sich im Sinne romantischer Kommunikati­onsmodelle an ,Eingeweihte' richtet. Das lyrische Ich definiert sich dabei

18

Ironie liegt darin, dass er den Gefangenen die Sehnsucht nach der Freiheit verlieren liis s t, bevor er doch noch freikommt.

S. etwa T. G. Cjavlovskaja, ,Otkliki na sud'by dekabristov v tvorcestve Puskina". In: V. G. Bazanov, V. E. Vacuro (Hrsg.), Literaturnoe nasledie dekabristov. Le­ningrad 1975, 195-218, hier 210.

19 Puskin, PSS t. 3, 593.

150

j

' 1'-

Grob- Literatur, Macht und politisches Ereignis

über die Kontinuitatsbeziehung zu der Mannschaft über die alten Gesange, die die ,Hymnen der Befreiung" sind.

Die Bildlichkeit von Schiff und Sturm gehort über den russischen Kon­text hinaus zum Kernfundus romantischer Selbstbestimmung und Poeto­logie; der jugendliche Lermontov wird in Parus (1832) den Bildkomplex mitsamt seinen politischen Konnotationen noch einmal zitieren. Auch der Schiffbruch hat daran einen bedeutenden Anteil. Eine gleichsam , verspa­tete' Verwendung dieses semantisch so aufgeladenen Bildkomplexes findet sich bei einem ehemaligen Dekabristen: in Marlinskijs umfangreicher Er­zahlung Fregat Nadef.da (1833). Auch hier wird in einer verhüllenden Form der gescheiterte Aufstand thematisiert.2ü Zwischen dem Fregattenka­pitan Pravin und der verheirateten Fürstin Vera entwickelt sich eine Lie­besgeschichte, die tragisch endet: Pravin verlasst am Hohepunkt der Er­zahlung trotz eines angekündigten Stunnes sein Schiff, trifft seine Geliebte und verursacht damit, dass das Schiff schwer beschadigt wird und einige seiner Leute umkommen. Doch endet auch die Liebesbeziehung in der Ka­tastrophe: Das Paar wird vom Ehemann überrascht, Pravin, der sich als Verbrecher fühlt, stirbt an seinen Verletzungen, die er sich zuzog, als er das bedrohte Schiff retten wollte. V era stirbt bald danach.

Ich mochte híer nur ein Moment an diesem Text hervorheben, der teil­weise wie ein Pratext zu Tolstojs Anna Karenina wirken konnte. Der im strengen Sinne tragische Konflikt Pravins liegt in der Paradoxierung seiner Loyalitat, die ihm gleichsam in den Namen eingeschrieben ist. Der Voll­blut-Seemann muss sich gegen seine Pflicht und Bestimmung- gegen sein Schiff- entscheiden oder gegen seine Liebe. Beides jedoch wird gleicher­maBen mit romantischen Insignien versehen, beides verlangt eine uneinge­schrankte, zum Absoluten drangende Hingabe. Gerade weil Pravin ein ,ro­mantischer' Held ist, der sich durch die Absolutheit seiner ,Leidenschaf-

20 Überaus detailliert diskutiert dies L. G. Leighton, , Bestuzhev-Marlinskii 's ,The Frigate Hope ': A Decembrist Puzzle". In: Canadian Slavonic Papers, vol. XXII [1980], no. 2, 171-186. Leighton sieht in der Erzahlung drei kommunikative Ebe­nen: die Abenteuergeschichte für das breite Publikum, di e Allegorie auf Bestuzevs eigene Rolle im Dekabristenaufstand und den ,hidden text devised for those rea­ders who could be expected to have a special knowledge of the Decembrist conspi­racy". Ob man Leightons kriminalistischer Dechiffrierung bis in alle Details folgen will, bleibt für unseren Zusammenhang unerheblich. Vgl. zu ,Arion": Ders., ,Puskin and Marlinskij: Decembrist Allusions". In: Russian Literature X/V (1983), 351-382.

151

lntelligencija und lmperium

ten', die ihn mit dem Sturm verbindet, auszeiehnet, muss er seheitem.21 Die zur romantisehen Leidensehaft erhobenen Loyalitaten werden in den per­manent evozierten Bildern von Meer, Wellen und StUJm zusammengeführt:

J1 Tbl, Mope, 6ypHbiM Apyr MOeJ:í IOHOeTH! KaK ropH'fO Jli06HJl H

TC6H B eTapmiy, KaK TIOeTOHHHO Jli06JliO AOHhJHe! ( ... ) Mope, Müpe! Te6e XOTeJl H BBepHTb :>KH3Hb MOIO, TIOeBHTHTb erroeOÕHOeTH. 5J: 6bi IIpHBOJlhHO AhiWaJl TBO.HMH yparaHaMH.22

Diese Bildliehkeit kulminiert im Sturm, der in diesem Kontext zweifellos politisch konnotiert ist. Er paradoxiert die Situation Pravins und ambigui­siert zentrale Elemente, was die Katastrophe der Nadeida (der Name des Sehiffes bezieht sieh wahrseheinlieh allegorisierend auf Russland, nieht auf dekabristisehe Ziele)23 ausléist. Diese Ambiguitat vermag zwar nicht das Pathos der Bildliehkeit oder die Axiologie zu sprengen, sie befallt jedoeh aueh die Liebe. Diese gleieht einerseits dem Meer:

J1I060Bh ero ÕbiJla rny6oKa KaK Mope, Ku:ny<Ja KaK Mope (146).

Anderereits ,blendet" sie, denn sie verleiht einen ,dunklen Glauben" (,temnuju veru") daran, dass die Naturgesetze für sie au13er Kraft gesetzt werden kéinnten (148). Sie gerat in ihrem romantisehen Absolutheitsdrang sogar in den assoziativen Dunstkreis von Parasitismus und Morbiditat:

O! Jli060Bh- 'Iy:>KeHAHOe paeTeHHe . . . ÜHo eKopo pa3paeTaeTeH no eepAU,y, 11 eKopo Bbi:>KU:BaeT BOH Bee Apyru:e qyBeTBa! (143)

Dabei zersehellt nieht der romantisehe Traum an der Wirkliehkeit - man denke etwa an C. D. Friedriehs Bild Das Eismeer. Die gestrandete Hoff­nung (1824), auf dem das zerstéirte Schiff unter den starren Eismassen kaum noeh zu erkennen ist -, sondern die zerstéirerisehe Kraft resultiert aus zwei vom Text in Analogie gesetzten romantisehen Kraften, die zur Kolli­sion gebraeht werden.

21

22

»fli060Bb eCTb CTpaCTb 11CKJJJO'li1TeJibHa51: eH HeCTepmtMa MbiCJ!b O MHO:>KeCTBe 11m1 pa3/jeJJe<< (ebd., 129).

A. A. Bestuzev-Marlinskij, Sohranie soéinenij v dvuch tomach. T. 2. M. 1958, 138 f.

23 Nach Leighton , der sich auf V. G. Bazanov beruft, nimmt Marlinskij sogar ein Schiff zum Vorbild, das ,Nikolaj I." hieB (L. G. Leighton, Frigate Hope, 178 f.).

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Grob- Literatur, Macht und politisches Ereignis

Dass dabei ein politiseher Diskurs geführt wird, wird an der bedeu­tendsten romantisehen Ikone des Politisehen manifest: an Napoleon. Aueh er erscheint im Zeiehen dieser Ambivalenz. Unter einem Motto aus einem (polniseh zitierten) Mickiewiez-Gedieht24 wird das unendliehe Weiterdran­gen der mensehliehen Leidensehaften gesehildert. Wenigen allerdings, so der Erzahler, sei es gegeben, ,wie ein Komet" die versehiedensten Leiden­sehaften zu durehlaufen (122); méiglieh ist dies vor allem dem Liebenden und dem Diehter. Als gro13es Beispiel erseheint jedoeh Napoleon, die Aus­geburt des revolutionaren Vulkans, der auf dem Lavagestein St. Helenas

geendet habe:

KaKoJ:í BenH<JeeTBeHHhiM, MHoroMhieneHHhiJ:í rraMHTH.HK, KaKoJ:í 'fYA­Hbit'r pucpM eyAh6hi e Bei.QeeTBeHHOeTuiO! .. EarpHHhie o6naKa, TO'f­HO OrHeBbie AYMhl, TOJliiHTeH BOKpyr qeJla TBOero, HeiipHCTYIIHbiW yTee e B. EneHbl ... ( ... ) IlpH )!(.Jii3HH - OH TaiQHJl 3a eBoeJ:í KOJleC­HHU,eJ:í 110 rpH311 HapOAhi. Ilo eMepT11 - era reHHM YHOei1T HaiiiH IIOMbieJlbl B o6JlaCTb rpOMOB, CBOIO OT'fi13Hy. (123 f.)

Bei aller ,realpolitischen' Distanz bleibt die Poetisierung Napoleons un­gebroehen; aueh die Liebenden werden mit ihm vergliehen, und analog zu

ihm wird Pravin ein ,poetiseher' Tod zugestanden. Liest man diese Erzahlung als Reflexion auf den romantisehen Dezem­

beraufstand und Bestuzevs Beteiligung daran, dann wird eine distanzieren­de Perspektive deutlich, in der sieh Reue und Sehuldgefühl mit Selbstreeht­fertigung und Behauptung der grundsatzliehen Position verbinden. Doeh dominiert wie einige Jahre früher bei Puskin die Kontinuitat, die sieh am deutliehsten in der Poetisierung der Gesehiehte selbst zeigt: Im Stil wie in den Zitaten aus der lyrisehen Dichtkultur der zwanziger Jahre wird hier die ungeteilte romantisehe Kultur prasent gehalten. Dem Umfeld der drei13iger Jahre entsprieht dies allerdings nieht mehr; Marlinskijs ,Romantik' der dreiBiger Jahre verdankt sieh vorwiegend der raumliehen Distanz zum lite­rarisehen Gesehehen in den Hauptstadten und der Tatsaehe, dass das Exil aueh in diesem Falle die romantischen Gesten am Leben erhalt.

24 >>Utrudzilem usta daremnem uzyciem, l Teraz je z twemi chc~ stopié ustami, l I chc~ rozmawiaé tylko serca biciem, l I westchnieniami , i calowaniami, l I tak roz­mawiaé godziny, dni, lata l Do koríca swiata i po korícu swiata« (Bestuzev­

Marlinskij, 122).

153

Intelligencija und Imperium

V. Primat des Poetischen: Die Einheitlichkeit des Diskursraums nach 1825

Eines der gewichtigsten Argumente dafür, dass das Scheitern des De­kabristenaufstands romantische semantische Komplexe und politische wie poetische Aktantisierungen eher anregte oder perpetuierte als zerstürte, ist in der zwischen diesen Kulturen vorher und nachher nie zu beobachtenden Symbiose zu sehen, in der sich russische und polnische Romantiker in den Jalu·en v?r und nach 1825 begegneten. Nicht, dass es keine gruppenspezifi­schen Dtfferenzen gegeben hatte, doch schien man sich in einem einheitli­chen lntentionsraum zu befinden. Die ersten und tiefsten Bekanntschaften Mickiewiczs in Petersburg, die übrigens von Bulgarin vermittelt waren, fanden gerade in dekabristischem Umfeld statt, zu dem auch A. A. Bestu­zev gehorte. Doch unterhielt er beste Beziehungen zu ganz unterschiedli­chen russischen Kreisen von Bulgarin und Grec über den spater sogenann­te~ Puskin-Kreis und die Brüder Polevoj bis zu den Moskauer Ljubomudry. Dte ?ffene Gruppenstruktur des literarischen Feldes wird belegt durch die r~lattv oberflachliche Struktur der Auseinandersetzungen der spaten zwan­ztger Jahre (Bulgarin vs. Puskín, Polevoj vs. Puskin), die Puskins Position des ,ersten Dichters' nicht tangierten und von bedingter asthetischer Reichweite waren. Die Einigkeit des Milieus blieb bis zu Mickiewiczs Ab­r~ise im Mai 1829 ungebrochen. Sie erstaunt deswegen, weil eine, wenn mcht die zentrale Position in der Selbstdefinition dieser Gruppen weiterhin von der Freiheitsthematik besetzt wurde, die von Polen und Russen unter­schiedlich politisch gefüllt wurde. Wohl nicht zufallig geht sie jedoch nach 1825. schwergewichtig vom Politischen an den Dichter und den Dichtungs­begnff zurück, und es folgen die Jahre der philosophischen Dichter­erhohungen durch die jungen getmanophilen Moskauer und der berühmten poetologischen Gedichte Puskins, in denen die dichterische Autonomie so betont wird.

Die personlichen Beziehungen Mickiewiczs wahrend seiner Aufent­halte in Moskau und Petersburg - besonders eng scheinen sie zu Vja­zemskij, I. Kireevskij, aber auch etwa zu Chomjakov und Sevyrev gewesen zu sein - sind detailliert aufgearbeitet und brauchen hier nicht resümiert zu v.:erden.25 Es ist dies die Zeit der Auseinandersetzung um den ,National­?tchter' und der wohl einzige historische Moment, in dem diese Kategorie m Anwendung auf die Gegenwart diskutiert wurde; bereits in den frühen

25 S. etwa W. Lednicki, ,Mickiewicz's stay in Russia and his friendship with Push­kin". In: W. Lednicki (Hrsg.), Adam Mickiewicz in world literature. Berkeley, Los Angeles 1956, 13-104.

154

Grob- Literatur, Macht und politisches Ereignis

1830er Jahren waren solchermaBen erhohte Dichterbilder nur noch retro­spektiv moglich,26 was dieser Periode spater die Aura des ,Goldenen Zeit­alters' und Puskin seinen ersten Rang im Kanon verlieh. Die Freundschaft zwischen Puskin und Mickiewicz wird bereits von Zeitgenossen als Begeg­nung zweier poetischer Gestirne, zweier unangefochtener Reprasentanten ihrer nationalen Poesie inszeniert.27 Diese Inszenierung referiert konse­quent auf personliche Begegnungen in literarischen Kreisen, die in der Re­gel in der Beschreibung von Mickiewiczs Improvisationen gipfeln.28 Die­ses Setting reflektiert den ,synthetischen' Charakter dieser Atmosphare.

Die Szenerien, in denen Mickiewiczs Aufnahme bei den russischen Kollegen dargestellt wird, gehorchen noch den Gesellschaftsmodellen von personlichem Kontakt zwischen Dichter und Publikum, von Freundeskreis und Salon als kulturellen Zentren; zu den aktiv gepflegten Formen der Aufnahme Mickiewiczs gehorte auch eine rege Übersetzungstatigkeit.29 Von Unstimmigkeiten ist in der Memoirenliteratur kaum die Rede. Die offensichtlichen Differenzen in der politischen Haltung - Puskin machte aus seiner imperialen Haltung Polen gegenüber nie ein Hehl, so wie jeder­mann wusste, dass Mickiewicz wegen antirussischer Aktivitaten Repressi­onen erfuhr - verschwanden hinter der Einigkeit in Fragen der Dichtung und des Dichters und des weitgehenden common sense über grundsatzliche gesellschaftliche Positionen. W. Lednicki vermutet, die russischen Jahre des verbannten Mickiewicz seien wohl seine glücklichsten gewesen;30 sein Aufgehen in diesem Milieu weckte jedenfalls den Argwohn ehemaliger Vetrauter, die ,richtig' verbannt waren.31 Der offene Dekabristenfreund Mickiewicz mit seiner mehrmonatigen Arresterfahrung und dem Nimbus

26 Diese Schwelle markiert E. A. Baratynskijs Gedicht Poslednij poêt (1835), das in einem betont retrospektiv-nostalgischen Gestus das Problem des Verschwindens des Dichters im ,zeleznyj vek" noch einmal ,poetisch' darstellt.

27 So zitiert Ks. Polevoj in seinen Erinnerungen- die auch den improvisierenden Mi­ckiewicz zeigen - nicht zuflillig dessen Aussage: >>Pouchkine est le premier poete de sa nation<<; Puskin sei in Mickiewiczs Gesellschaft auBerst bescheiden aufgetre­ten (Zapiski Ks. A. Polevogo, SPb. 1888, 167 ff., Zitat 173).

28 Spates Zeugnis dieser zum Stereotyp gewordenen Szenerie ist das entsprechende Bild Mjasoedovs aus dem Jahr 1908 (s. etwa Lednicki, 21 f.).

29 Mickiewicz berichtet darüber stolz in einem Brief an Odyniec vom 22. Marz 1828.

30 Lednicki, 30. 31 Ebd., 28 f.; vgl. M. Janion, Zycie posmiertne Kom·ada Wallenroda. Warszawa:

PIW 1990, 38 f, 48 ff.

155

Intelligencija und Imperium

des , Verbannten' 32 wurde gleichsam al s Stellvertreter der verurteilten rus­sischen Dichter aufgenommen; in der russischen Literatenwelt besetzte er so den Platz des von der Aura eines romantischen Heldenschicksals umge­benen Dichters, den Puskin mittlerweile eingebüBt hatte. Mickiewicz wurde von den des Polnischen meist kaum miichtigen Moskauern und Petersbur­gern mit einer Begeisterung empfangen, die kaum je einem nichtrussischen Dichter zuteil wurde. 33

Deutlich zeigt sich die integrative Kraft dieses Milieus auch in der Aufnahme von Mickiewiczs 1825- also bereits in Russland- begonnenem Konrad Wallenrod. Erstaunlich genug, dass dieser in das 14. Jahrhundert zurückprojizierte Text um einen Helden, der sein Leben und seine Ehre op­fert, um über das Mittel des Verrats seine Nation gegen eine Besatzungs­macht zu retten, überhaupt in Russland gedruckt werden konnte (er er­schien im Februar 1828 in Petersburg); dafür hatten sich nicht zuletzt pol­nische Kreise eingesetzt.34 Dass Puskin den politischen Subtext von Mickiewiczs Text nicht erkannt haben konnte, ist undenkbar, benutzte Mi­ckiewicz doch dieselben Formen der poetisch verdeckten Aussage wie er selbst. Auch Novosil'cev bemerkte diese ,versteckten' Bedeutungs­schichten, und prompt klagte er Mickiewicz - und zudem Grec und Bulga­rin, der für den Text Werbung machte- beim Zaren an; eine ausgedehnte Rechtfertigung, die vermutlich aus Bulgarins Hand stammt und aktuelle politische Lektüren abstreitet, führte dazu, dass dieser die Sache auf sich beruhen lieB. 35 Darüber, dass Konrad Wallenrod in russischen literarischen Kreisen Unstimmigkeiten ausgelüst hiitte, ist nichts bekannt. Die russische Rezeption war (im Gegensatz zur polnischen) ungeteilt begeistert,36 und der Text wurde zu einem wichtigen Baustein für den auBergewohnlichen

32 33

So erinnert sich auch der spate Vjazemskij; vgl. ebd., 18.

Einige Zeugnisse sind gesammelt bei Lednicki, 18 ff. 34 Den Berichten M. Malinowskis zufolge war der Druck des Wallenrod ein standiges

Thema unter Polen in Petersburg; engagiert zeigte sich insbesondere Bulgarin (Malinowski, 32 f., 36 f., 40 f., 72).

35

36

156

N. D., ,N. I. Grec, F. V. Bulgarin i A. Mickevic. Materialy dlja biografij". In: Russkaja starina 1903 l 4, 333-351. In der Hauptsache richtet sich Novosil'cevs Anzeige gegen die polnischen Verbindungen (und insbesondere diejenige zum To­warzystwo szubrawców) von Bulgarin, Grec und Senkovskij. Novosil'cevs Ver­dacht, Konrad Wallenrod konnte einen antirussischen Patriotismus fordern, be­wahrheitete sich tatsachlich im Aufstand.

S. St. Chwin, ,Wstt;p". In: A. Mickiewicz, Konrad Wallenrod. Wroclaw u. a. 1990 (Biblioteka narodowa, 72), CXVff. Ausführlicher: B. Galster, Para/ele romantycz­ne. Polsko-rosyjskie powinowactwa literackie. Warszawa: PWN 1987, 105-145.

Grob- Literatur, Macht und politisches Ereignis

Ruf Mickiewiczs in Russland. Bulgarin konnte in der genannten Rechtfer­tigung darauf verweisen, dass die Kritiken im Moskovskij telegrafN. Po1e­vojs nicht weniger begeistert waren als seine eigenen. Es ist offensichtlich, dass Puskin mit dem politischen Subtext nicht einverstanden sein konnte. Wenn er diesem jedoch seine Mazepa-Figur entgegenstellte und über die­sen Text mit Mickiewicz selbst im Gespriich war, dann zeigt das deutlich, dass hier ein politisch-poetischer Dialog in einerh als einheitlich empfun­denen Diskursraum stattfand, in dem sich politische Differenz in der primiir gesetzten ,poetischen' Grundeinstellung aufhob.

Dieser gemeinsame Kosmos wurde denn auch von russischer Seite nach dem Bruch von 1831 immer wieder als Freundschaft vergangener Zeiten beschworen. Sogar Mickiewicz, der spiiter - davon wird noch die Rede sein - diese Zeit gleichsam umdefinierte, stilisiert sich und Puskin im ,Ust~p" zu den Dziady li! (,Pomnik Piotra Wielkiego") zum eng befreun­deten Dichterpaar. Puskin wird im zu Lebzeiten ungedruckten Gedicht ,On mezdu nami zi1" (1834) nicht nur die ehemalige Freundschaft betonen, sondern auch die gemeinsamen Zukunftstriiume (,Kor):la Hapo):lhi, pacrrpH rrma6hiB, l B BeJIMKYID ceMhfO coe):IMH5ITC5I"). Puskin macht deutlich, was sie bei aller ,Fremdheit" (,Cpe):lh rmeMeHM eMy qy)!(oro") damals verband - die gemeinsamen (politischen) Zukunftsvorstellungen und, vor allem, die Poesie:

[ ... ] C HMM )J,eJIMJIMCh Mhl M <IJ1CThiMM Me<ITaMM H rreCH5IMM [ ... ).37

V!. Der polnische Aufstand als Sprengung romantischer Kategorien

Es fragt sich, inwiefern sich der po1nische Aufstand von demjenigen der Dekabristen in seiner kulturellen Wirkung unterscheidet. In beiden Fiillen

' haben wir es mit einem personell wie ideell hoch romantischen, ,poeti­schen' Ereignis z u tun, mit einem Freiheitskampf gegen e ine , tyrannische' Staatsgewalt, der eine - im Falle Polens allerdings ungleich blutigere -Niederlage erleidet und in Repression endet. Wiederum spielen innere Probleme seitens der Aufstiindischen (etwa der gewisse organisatorische Dilettantismus, die internen Uneinigkeiten, die missachtete soziale Frage und die fehlende Integration der Bauernschichten) für die unmittelbare (wie

37 Alle Stellen Puskin, PSS, t. 3, 331.

157

~- .

lntelligencija und lmperium

die literarisierte) Wahrnehmung ebensowenig eine Rolle wie das Moment der Gewalt. Bei beiden Ereignissen erfolgt eine rückblickende Narrativie­rung, die weitgehend von romantischen Mustern gepragt ist: ynzulanglich­keiten auf der Seite der Helden würden diese Form der Narration ebenso stüren wie eine breite gesellschaftliche Analyse.

Was die beiden Ereignisse unterscheidet, ist zunachst eine folgen­schwere ÃuBerlichkeit: Die wesentlichen Akteure des polnischen Auf­stands entzogen sich den russischen Sanktionen, was die zensurfreie litera­rische Thematisierung aus Exilperspektive em1oglichte. Etwas zur , GroBen Emigration" Ana1oges hatte es bezüglich des Dekabristenaufstandes nicht gegeben, dessen Diskursivierung in die Zonen von ,asopischen' Subtexten und Mehrdeutigkeiten verwiesen worden war. 1831 wird das politische Er­eignis auf der polnischen Seite zur Voraussetzung einer neuen Belebung der literarischen Romantik, wie sie keine andere europaische Literatur nach 1830 erlebte; dieser mochte, was die Produktion bedeutender Texte betrifft, relativ kurze Zeit andauern, doch hatte er enorme Auswirkungen auf die gesamte folgende polnische Literatur- und Kulturgeschichte. Wiederum sind es gerade die Niederlage und die Exilsituation, die als ,romantikerhal­tende' Rahmenbedingungen wirken.

Auf der russischen Seite wirken ganz andere Dynamiken, die nicht we­niger auf narrativ organisierten Wahrnehmungsstrukturen des Po1itischen beruhen. Im Gegensatz zu 1825 Offnet sich zwischen den Perspektiven ein Graben. Dieser ist weniger den politischen Differenzen selbst zuzuschrei­ben (die es vorher schon gab) als der Form der Narrativierung der Ereignis­se von 1831. Die heldenzentrierte Aktantenstruktur des Byronismus38 und dessen suggestive Korrelierung von Dichter und He1d projizieren in ,poeti­sierte' historisch-po1itische Ereignisse einen bestimmten Standpunkt des Dichters. Der Dichter kann die Rolle des Beobachters im Grunde nur erfül­len, indem er- und sei es a1s Stimme des He1den - auch Akteur ist. Byron demonstrierte - etwa in den ambigen Figuren wie dem He1den aus Lara, der die Conrad-Figur aus dem Corsair fortschreibt und auch Mickiewczs Konrad beeinflusste -, wie gerade die Introspektion einem He1den Tiefe und schillernde Uneindeutigkeit verleihen konnte. Bezüg1ich politischer Ereignisse, die nur bedingt Ironisierung zu1assen, verscharfte sich diese Konstellation, und so wurde es für Mickiewicz zum person1ichen Problem, sich als ,nationa1er' Dichter nicht personlich am Aufstand beteiligt zu ha-

38 Zur Byronschen Synthetisierung romantischer Heldentypen vgl. zusammenfassend G. Hoffmeister, Byron und der europiiische Byronismus. Dannstadt: WBG 1983, 22 ff.

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Grob- Literatur, Macht und politisches Ereignis

ben (noch einmal zeigt sich hier die unterschwellige Prioritat des textuali­sierten ,Lebens' vor dem Text selbst). Narrative dieses Musters tendieren bei aller Komplexitat des He1den zu einer klaren Aktantentruktur, insbe­sondere was die Positionen Held, Gegenspieler (der im Gegensatz zum He1den anonymisiert und etwa durch die Verhaltnisse reprasentiert sein kann) und zu eneichendes Ziel anbelangt.

In dieser Form der Sujetkonstruktion sind narrative Einheiten und Strukturen, die über politische Ereignisse gelegt werden (erst recht über solche, deren Zeitzeuge man war), von der Position des Beobachters bzw. Erzahlers, von der ,auktorialen' Se1bstprojektion in das Erzah1te (bis hin zu Byrons physischer Tei1nahme am griechischen Freiheitskampf) abhangig. Dies wird sich im Realismus andern: Tolstoj kann, um noch einma1 auf das Beispiel von Vojna i mir zurückzukommen, in aufwendigen Umarbeitun­gen Profil und Konstellation seiner Figuren immer wieder verandern und komplizierte axiologische ,Mischfiguren' konstruieren; in seiner histori­schen Konstruktion kann sogar bis zu einem gewissen Grad offen bleiben, wer die ,positive' historische Kraft reprasentiert (sie wird bei ihm ,anony­misiert', weswegen er konsequent Napo1eon de-romantisiert). Diese - und sei es zum Schein- neutrale Perspektive bleibt dem ,romantischen' Modell im Blick auf die poetisierte Politik und Geschichte verwelu:t.

Unter den Bedingungen romantischer Aktantisierung entwicke1t das bei Marlinskij inszenierte Moment der gespaltenen Loyalitat eine gefiihrliche Sprengkraft. Im dekabristischen Romantikmodell der zwanziger Jahre, ver­standen auch als Verhaltensmodell, mussten nationale und staatliche Loya-1itat letztlich zusammenfallen - und sei es g1eichsam utopisch verlangert oder sogar im Akt der Beseitigung ,falscher' staatlicher Macht. Man defi­nierte sich nicht nur als ku1turell-asthetische, sondern auch a1s politisch­gesellschaft1iche ,A vantgarde', un d in d er Werte-Mythologie standen Ehre und nationale Loyalitat hoher als die Verbundenheit mit einer bestimmten Nation: Der eigene Patriotismus wertete nicht den fremden ab, sehr wohl aber den ,Nichtpatriotismus'. Der Dekabristenaufstand erzeugte zwar einen

.'\' Konflikt der Perspektiven bzw. Loyalitaten - gegenüber der Sache der Freiheit einerseits, dem Staat andererseits -, doch suchte man gerade die Verbindung, und so schlossen sich diese Positionen keineswegs aus, so wie man nach dem Aufstand auch als dekabristisch gesinnter Mensch ohne weiteres loyaler Staatsdiener b1eiben konnte. In literarischen Kreisen ka­men dekabristische Sympathien einem aristokratischen romantischen Be­wusstsein sogar entgegen. Dem entspricht vor 1831 die Lage der nationa1 gesinnten Polen in Russland, die teilweise von staatlicher Seite mit Arg-

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Intelligencija und Imperium

wohn beobachtet wurden, gesellschaftlich jedoch in hohem MaBe akzep­tiert waren, da ihr ,Patriotismus' - der in manchmal befremdlichem Aus­ma/3 auch Marlinskijs Helden kennzeichnet- ein anerkannter Wert war.

Mit dem polnischen Aufstand veranderten sich diese Bedingungen ka­tegoria!. Dieses Ereignis war in seiner Anlage wie in seiner Aufnahme durch romantische Narrative gesteuert un d damit e in , Text', der dadurch, dass er im ,Leben' spielte, an Romantizitat nur gewann. Es verweigerte sich in hohem Ma/3 der ,neutralen' Beobachtung durch Zeitgenossen und erlaubte eine Rezeption nur über die Identifikation, sprich über die auto­projektive Übernahme einer Aktantenposition. Konnten sich im Dekabris­tenaufstand noch alle ,Geichgesinnten' auf der Seite der gescheiterten Hel­den positionieren, war im hier entstehenden Narrativ eine Heldenposition nur den aufstandischen Polen moglich. Dies verschob die Referenzen nati­onaler und staatlicher Loyalitat ins Paradoxe: Wahrend es eben noch selbst­verstandlich, ja verpflichtend gewesen war, dass auch die polnischen ,Freunde" national gesinnt waren - alles andere hatte sich dem Vorwurf des Renegatentums ausgesetzt -,39 so wurde nun das Konzept polnischer nationaler Loyalitat unabhangig von Fragen der Staatsform gegen die russi­sche Staatsloyalitat gewendet und an eine polnische Staatlichkeit geknüpft. Damit lie/3 sich polnischer Patriotismus mit russischer Staatsloyalitat kaum mehr vereinbaren.

Vll.Die Zersplitterung des semantischen Universums: Drei Gruppen- drei Welten

Was die politisch-semantischen Codes und die darauf aufbauenden indivi­duellen und gruppenspezifischen Selbstverstandigungen anbetrifft, stellt die Situation nach 1831 ein Problem dar in erster Linie für die in Russland ver­bliebenen Polen - insbesondere diejenigen auBerhalb der polnischen Ge­biete -, in zweiter Linie für die exilierten Polen und erst in dritter Linie für die Russen, deren eigene nationale Loyalitat nicht berührt schien. Doch ist es gerade die narrativierte Form dieses Ereignisses und seiner Wahrneh­mung, die auch für sie massive, wenn auch zunachst diskretere Konsequen­zen hat. Ich versuche zu skizzieren, wie sich für die drei Gruppen nach

39

160

Dies führt etwa dazu, dass Senkovskij, nachdem er sich von seinem polnischen Hintergrund losgesagt hatte, gleichzeitig antirussische Gesinnungen sowie der Ver­rat an der polnischen Herkunft vorgeworfen wurden. Gehort es noch zu den Merk­malen der kaukasischen Helden Marlinskijs, dass sie unbestechliche Vertreter ihrer eigenen Kultur sind, wird er zum Intriganten ohne Überzeugung stilisiert.

Grob- Literatur, Macht und politisches Ereignis

1831 die politische Semantik, in der sie sich bewegen, und insbesondere deren romantische Eckpfeiler verschieben.

a) Die Polen in Russland. Die Lage dieser Gruppe problematisiert sich durch den Aufstand am auffallendsten. Sie gerat gleichsam unter General­verdacht und damit unter erhohten Loyalitatszwang; bereits ein Gesprach über die ,polnische Sache' wurde in Gesellschaft bei Androhung physi­scher Sanktionen unmoglich. W er nicht auswanderte (zumindest auf polni­sches Gebiet) oder seiner nationalen Loyalitat abschwor, verlor zumindest seine Offentliche russische Stimme.40 Ein bezeichnendes Beispiel dafür bietet der bis dahin nur teilweise russifizierte Pole Senkovskij, der bis kurz vor dem Aufstand beste Beziehungen zu einigen Führerfiguren des Auf­stands (etwa zu Lelewel) gepflegt hatte und wahrend dessen Petersburg­Aufenthalten mit Mickiewicz, den er aus der Studienzeit in Wilna kannte, verkehrte. Bei Senkovskij, der neben seiner wissenschaftlichen Karriere zunehmend seine russische Publizistik im Auge hat, geht die radikale Ab­sage an den Aufstand einher mit der Lossagung vom polnischen Hinter­grund. Dies gestaltet sich literarisch als komplexer Prozess, in dessen Ver­lauf sich die Autorfigur Senkovskij - er hatte seit der Mitte der zwanziger Jahre orientalische Übersetzungen und Erzahlungen publiziert - in eine Vielzahl meist clownesker Masken aufspaltete (die berühmteste war ,Baron Brambeus'), hinter denen eine ,eigentliche' Stimme kaum mehr zu rekon­struieren ist.41 Senkovskij wird mit dieser auktorialen Spaltung und seiner Tendenz zu ,uneigentlichen' Redeweisen- die Zeitgenossen sprachen von Zynismus - zum einflussreichen Faktor in der russischen Literatur nach 1832; nicht ganz ohne Grund galt er im Rückblick der 1830er Jahre insbe­sondere den Moskauer Kreisen als Zerstürer der literarischen Kultur der zwanziger Jahre.42

40 Ein eigenes Problem stellen hier die weiter polnisch publizierenden Autoren dar, die sich mit den Verhaltnissen arrangieren (müssen). Dies kann hier nicht berück­sichtigt werden.

41 V g!. dazu Th. Grob, Autormystifikation, kommunikatives Framing und gespaltener Diskurs. Baron Brambeus als ,postromantische' metadiskursive Konstruktion. In: S. Frank l R. Lachmann u. a. (Hrsg.), Mystifikation- Autorschaft- Original. Tü­bingen: Gunter Narr 2001, 107-134. Im gro/3eren Kontext: Ders., Russische Post­romantik. Epochenkrise und Metafiktionalitat in der Prasa der 1830er Jahre und das Problem der literaturhistorischen Modellierung. Ms. Hab., Konstanz 2002, 244 ff.

42 Ebd., 284 ff.

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b) Die Polen im Exil. Die ,Wirkung' des Aufstandes auf die ,GroBe Emi­gration', di e sich seinetwegen überhaupt bildete und aus ihm ihre kulturelle Legitimitat schüpfte, lasst sich hier ebensowenig wie der damit verbundene Impetus für romantische Schreibweisen beschreiben. Das AusmaB dieses politischen Ereignisses auf die literarisch-kulturelle Entwicklung steht für diese Gruppe ohnehin auBer Frage. Hier ist ein Element von besonderer Bedeutung. lndem der Aufstand zum ,epochalen' Ereignis wird, wird gleichzeitig die nahe Vergangenheit überschrieben und damit eine Zasur konstruiert. Es mag auf den ersten Blick erstaunen, dass solche Überschrei­bungsprozesse nach 1831 auf der exilpolnischen Seite sichtbar werden, de­ren Wahmehmung des ,romantischen' Aufstands ja keinen Bruch aufweist und auch literarisch an einer Kontinuitat orientiert ist.

Anders als im Falle Senkovskijs ,spaltet' sich hier der neue, in der textlichen Realisierung , wiedergeborene' Dichter nicht, so wie er si eh nicht vom Autor ablüst; doch definiert er sich nun ganz über den nationalen Auftrag, und so muss er sich eine neue Genese und Rechtfertigung als Dichter schaffen. Dies wird deutlich am maBgebenden Beispiel Mickie­wiczs, der nach 1831 mehr oder weniger explizit seine eigene Geschichte neu interpunktiert und die Phase seines Russlandaufenthaltes konsequent um- und überschreibt.

Dies geschieht im dritten Teil der Dziady. Textkonstitutiv wird hier die Verwandlung Gustavs zu Konrad, der wiederum als Gefangener vorgeführt wird. Ich verweise hier nur auf das Detail der Datierung, mit der der Text -der in byronistischer Manier die Grenzen zwischen Autor und Heldenfigur verschwimmen lasst- diese Wandlung prominent begleitet. Zur Inschrift des ,Gefangenen" Gustav zum Ende des Prologs: ,Gustavus obiit ( ... ) hic natus est Conradus" gehort die Datumsangabe ,M.D.CCC.XXIII. calendis novembris. calendis novembris", die sich bekanntlich auf Mickiewiczs Verhaftung in Wilna bezieht. Da demselben Prolog eine christologisch un­termalte Invektive gegen das zaristische Russland und eine Anklage der ,Leiden" des polnischen Volkes vorangestellt ist, verdoppelt sich der Ur­sprungsmoment der neuen dichterischen Perspektive, die sich einerseits aus den Wilnaer Ereignissen von 1823, andererseits aus dem Aufstand von 1831 begründet; dem entspricht, dass der neue Teil der Dziady zwischen diejenigen aus den frühen zwanziger Jahren gesetzt wird. Mickiewicz schreibt sich hier selbst als Akteur, namlich als Repressionsopfer, in die neue politische Mythologie ein, und es vollzieht sich biographisch die An­nihilierung der Jahre seines Russlandaufenthaltes, semantisch die Eliminie-

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rung einer poetisch akzeptablen Position jenseits des uneingeschrankten Widerstandes gegen den Zarismus.

Analoges geschieht auf der Ebene der Textsemantik. V. E. Vacuro hat an Beispielen wie der Bildlichkeit des ,gefrorenen Wasserfalls' und ahnli­cher Wintermotive herausgearbeitet, wie Mickiewicz Motive aus Lektüren von russischen Dichtern (besonders Baratynskij), die er wahrend seines Russlandaufenthalts personlich kannte, zitierend verwendet, um sie nun im Sinne einer groBen oppositiven Axiologie von Lebendigem und Starrem politisch umzudeuten, wobei letzteres zum Merkmal der russischen Tyran­nei wird.43 Die Semantik des ,Gefrorenen' deutet die romantischen Bild­lichkeiten von , Wasser' un d ,Sturm' um: Di e russische Macht wird zum Ort des Bosen und besetzt die romantische Sujetposition der zu bekamp­fenden , Tyrannei ·, wahrend P o l en diejenige des (heldenhaften) Opfers übernimmt. Jedes Tolerieren ihres Handelns wird damit zum Mitlaufertum. Gerade in der Projektion des politischen Anderen vermengen sich Natio­nales und Staatliches in einer ganz neuen Weise. Denn wahrend der Held selbst in byronistischer Weise differenziert bleibt, hat dieses Andere alle Schattierungen verloren, so wie die politische Sache Polens gleichsam die gesamte Aktantenstruktur besetzt. Dass dieses Vorgehen die Gefahr mit sich bringt, altes ,Romantische' monothematisch auszurichten, zeigt sich spatestens bei Slowacki, bei dem die inneren Gegenlaufigkeiten romanti­scher Sujetkonstruktionen diese vereinheitlichenden, der Gefahr der Sche­matisierung ausgesetzten Zuschreibungen von innen aufzulüsen beginnen.

In der Wendung eines bisher gemeinsamen poetisches Vokabulars- zu dem auch das Motiv des Konigsmordes gehort - gegen die ehemaligen Freunde zeigt sich ein Gestus der Aneignung und ,Privatisierung' der ro­mantischen Tradition. Alternative Positionen werden nicht einmal als Ge­genspieler in die Szenerie aufgenommen - diese Rolle ist von der russi­schen Macht besetzt, die wiederum in der mythisierten Figur des Zaren re­prasentiert ist -, sondern hochstens als Gegensatz zum Romantischen bzw. Poetischen überhaupt, der in allen Romantikmodellen durch das Gewohnli­che, Unbedeutende, Mechanisch-Fremdbestimmte reprasentiert war. Diese Rolle kommt nun den russischen Dichterkollegen zu. Folgerichtig wird

43 V. E. Vacuro, ,Mickevic i russkaja literaturnaja sreda 1820-ch gg. Razyskanij a." In: V. N. Baskakov (Hrsg.), Literaturnye svjazi slavjanskich narodov. Leningrad 1988, 22-57, hier S. 47 ff. Für unseren Zusammenhang von besonderer Bedeutung ist die Rekonstruktion der Auseinandersetzung zwischen Mickiewicz, Vjazemskij und Puskin um die Falconet-Statue von Peter l ., die Vacuro insbesondere mit Bat­juskovs ,Progulka v Akademiju chudozestv" verbindet (ebd., 45--47).

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Mickiewicz nach seinem Aufenthalt kaum mehr russische Literatur wahr­nehmen, und vielleicht liegt hier sogar der Grund dafür, dass er sich bereits 1832 von seinem eigenen Konrad Wallenrod abwendet.44

Mickiewiczs Gedicht an die ehemaligen Freunde aus dem ,Ust~p" (,Do przyjaciól Moskali") demonstriert, ~ie in den nachaufstandischen Texten Trennungslinien gezogen werden, die das romantische Aktantenge­füge auf ihre Weise neu ausfüllen und die eigene Vergangenheit neu zu-

. schreiben. Das ,Wy", mit dem das Gedicht beginnt, gilt nur noch den ver­folgten Dekabristen, die parallel zu den verfolgten Polen erscheinen (,o mych przyjaciól smerciach, wyganiach, wi~zieniach"); genannt werden denn auch nur Ryleev und Bestuzev. Die nicht reprimierten Freunde sind nicht mehr Teil der Dialogform - sie erscheinen als ,die anderen" (,lnnych moze dotkn~la ... "),in dritter Person, ohne Namen und als diejenigen, die von der Macht verführt worden sind. Die Pointe des vornehmlich auf Puskin gemünzten Angriffs besteht darin, dass er ihm nicht nur eine ,ge­kaufte Sprache" (platnym j~zykiem) unterstellt, sondern auch, dass er sich am Leiden seiner Freunde erfreue (,1 cieszy si~ ze swoich przyjaciól m~czenstwa"). Auf die eigene Zeit in Russland wird angespielt als auf eine Zeit der Gefangenschaft (,pókim byl w okuciach") und des wallenrodschen verstellenden Schweigens (milczkiem), das den ,Despoten" trügen sollte; kein Wort fallt hier davon, dass Mickiewicz in dieser Zeit (in der er die polnische literarische bzw. literaturkritische Situation al s provinziell ein­schatzte) zum berühmten und gefeierten Dichter wurde, geschweige denn, dass er wahrend dieser Zeit in den besten Salons der Hauptstadte verkehrte, eine eigene Zeitschrift plante45 oder dass für ihn beinahe eine Professur in Moskau geschaffen worden ware.46 Russland ist das Land des Eises (nad krainª lodów), das auf seinen Frühling wartet, der nur von auBen, von Sei­ten der freien Véilker kommen kann (od wolnych narodów). Die von auBen eindringenden Lieder sind es - es sind, das macht der Kontext deutlich, die eigenen (,Poznacie mi~ po glosie!") -, die von der Freiheit künden (zwastujª wolnosé). Damit ist der romantische Schlüsselbegriff der Freiheit für die eigene Position auf eine Weise narrativ reklamiert, die der Gegen­seite Analoges nicht mehr zugesteht. Die Moglichkeit des Dichters, der in Rollen erscheint (wieszcz, zolnierz, prorok), die groBtenteils noch kurz zu-

44 Chwin, CXXXIIIf. 45 Sie sollte den Titel Iris tragen; s. J. M. Rymkiewicz u. a., Mickiewicz encyklopedia,

202. Die entsprechende Eingabe drang immerhin bis zum zusHindigen Minister vor.

46 Lednicki, 27.

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vor auch Puskin verwendet hatte, wird für Russland nach dem Aufstand (aber zurückdatiert auf 1825) nicht mehr für moglich gehalten.

Die Figur der romantischen Überschreibung und Usurpierung ist ein entscheidendes Moment in Mickiewiczs einigermaBen aggressivem Dialog mit Puskin (dessen Aggressivitat sich gegen das aufstandische Polen, aber nicht gegen Mickiewicz selbst richtet). Mickiewicz, der sich zum National­dichter profiliert, rekurriert auf den für Puskins eigenes Selbstverstandnis als Dichter so wichtigen Dekabristenmythos; hier erscheinen denn auch die ersten Figuren von nach Sibirien Verbannten.47 Er analogisiert die beiden Aufstande und stellt sie unter eine gemeinsame narrative Axiologie: Wer gegen die Polen ist, muss auch gegen die Dekabristen gewesen sein. Histo­risch vereinnahmt dies unzulassig die dekabristischen Positionen, die ge­genüber Polen uneinheitlich waren. Der Vorwurf historischer Inkorrektheit kann Mickiewicz jedoch nicht treffen, der sich innerhalb eines poetischen Systems in der Tradition romantischer historischer Narrative und Mythisie­rungen bewegt.48 Doch óffnet sich gerade hier die argumentative Kluft, an der Puskin, von Mickiewicz sozusagen als Dichter entmachtet, ansetzen wird.

e) Di e Russen. Es kan n nicht quantifiziert werden, wie sehr Puskin und die russischen Kreise, die davon wussten, von Mickiewiczs Angriffen be­einflusst waren, geschweige denn, wie sehr diese Veranderungen auf den russischen Diskurs zurückwirkten. _Puskin kommentierte jedoch die Angrif­fe Mickiewiczs - der für ihn nicht zuletzt aufgrund der Improvisationen eine Art Idealtypus des romantischen Dichters dargestellt hatte - auffallend zurückhaltend, ja beinahe resignativ (und nicht óffentlich). Wesentlich schwerer als die Form der persónlichen Auseinandersetzung wiegt, dass Mickiewiczs Umdeutung einer Lektüre des Aufstands entsprach, der man sich innerhalb romantischer Wahrnehmungsparadigmen ohnehin kaum ent­ziehen konnte: die militarische Niederschlagung eines nationalen Freiheits­aufstandes konnte man nur als ,antiromantischen' Akt deuten.

Was sich einigermaBen prazise beobachten lasst, ist die Verschiebung im romantisch gepragten semantischen Kosmos. Puskin, der sich durch sei­ne óffentliche Stellungnahme gegen das aufstandische Polen in Mickie­wiczs Darstellung de m groBten V orwurf aussetzt, der in sein em roman-

47 Vgl. den Beitrag von G. Ritz in diesem Band.

48 Traditionell wird die Diskussion historischer ,Inkonsequenzen" nicht nur bezüglich der Dziady (vgl. M. Zieliriska, Polacy, rosjanie, romantyzm. Warszawa: IBL 1998, 71 ff.), sondern auch des Wallenrod geführt (Chwin, VIIIff. und XXIXff.); zum freien Umgang mit dem historischen Material vgl. Janion, 43 ff.

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tisch-aristokratischen Wahrnehmungsrahmen überhaupt geauBert werden konnte: demjenigen der Kauflichkeit, kann hier wiederum als Musterfall dienen. Das Erstaunliche liegt dabei daran, dass er Mickiewiczs Rollen­verteilung weitgehend akzeptiert zu haben scheint.

Ich verkürze auch hier die Problemlage. Puskin, ein Meister der An­spielung, lobt in den Anmerkungen zum Mednyj vsadnik Mickiewicz für das ,Ust~p"-Gedicht ,Oleszkiewicz". Dieses geht demjenigen ,an die rus­sischen Freunde" direkt voraus und spielt am Vorabend der Überschwem­mung vom November 1824. Es bindet die bevorstehende Naturkatastrophe · - ganz im Sinne der beschriebenen ,Rückdatierung' - in die neue Russ­land-Semantik ein (das Gedicht, das Russland als Land der Spione zeigt, beginnt mit einem neuerlichen Bild des Frostes: ,Gdy si~ najt~zszym mro­zem ni e bo zarzy ... "). Ei n Pole, geheimnisvolle Zwischenfigur zwischen Künstler, Seher und Magier, weissagt die Katastrophe, die den ,assyrischen Thron" und die Stadt Babylon erschüttern werde. Der zweite Teil richtet sich an den Zaren, der zum Despoten geworden sei und sich der Macht Sa­tans ausgeliefert habe. Die sich anbahnende Überschwemmung erscheint als Strafe für Hybris und Despotismus, wobei weitere, noch schrecklichere Prüfungen folgen würden.

Puskin (der kein Augenzeuge der Überschwemmung gewesen war, wahrend Mickiewicz am Tag danach anreiste) bemangelt in seiner Replik die faktische ,Ungenauigkeit" dieses Gedichts. Auf die Behauptung, seine eigene Beschreibung sei wahrheitsgemaBer (vernee), folgt eine Nachbe­merkung, die bei aller moglichen Ironie einen unüberhorbar resignativ­nostalgischen Unterton aufweist. Denn dem eigenen Text, der immerhin in der formalen Tradition des romantischen Poems steht, fehle es, so der Au­tor, vor lauter ,Richtigkeit" an Poesie:

[ ... ] B HeM 11 HeT 51pK11X KpaCOK llOJibCKOfO !103Ta (Puskin, PSS t. 4, 288).

Was klingt wie hofliches Understatement, ist ein gezieltes Signal. Der Verweis auf Mickiewicz ware für die eigentliche Beschreibung obsolet, beschreibt doch Mickiewicz in allgemeinen Bildern das Aufkommen des Hochwassers, nicht mehr aber dieses selbst. Die Referenz muss andere Gründe haben, und diese konnen nur in der damit erOffneten Opposition von Poetizitat und Faktizitat liegen. Diese Opposition wiederholt ein we­sentliches Moment von Puskins Wahrnehmung des polnischen Aufstandes; immerhin handelt es sich bei Mednyj vsadnik nicht zuletzt um eine Erorte­rung ,revolutionarer' historischer Ereignisse und ihrer zerstorerischen Ei-

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gendynamik.49 Puskins briefliche Kommentare über den Polenaufstand entbehren jedoch der historischen Dialektik, die er der Entstehung der Pu­gacev-Aufstande zukommen lasst, wo der Zusammenhang zwischen staat­lichen OrdnungsmaBnahmen und dem Aufstand reflektiert wird. Bezüglich Polen betont er dafür bereits vor der endgültigen Niederschlagung in einem Brief an Vjazemskij den poetischen- und das heiBt hier auch: den romanti­schen - Charakter des Aufstandes. Er schildert die Szene des heroischen Todes eines polnischen Offiziers und fügt an:

Bee ::JTO xopowo B rro::JTI1qecKOM OTHorneHI111. Ho Bce-TaKI1 11x Hai"(OÔHO 3agyll111Tb, 11 Hailla MegJieHHOCTb Myqi1TeJibHa. (ebd., t. 10, 273)

Es wurde bereits erwahnt, dass der Hinweis auf das notwendige Tempo der Niederschlagung durch die Besorgnis um die Reformen motiviert sein mochte; dennoch erstaunt das AusmaB des Unverstandnisses für dieses ro­mantische Ereignis, dessen Wahrnehmung ganz von imperial-politischem Denken bestimmt wird. Damit bringt Puskin sich selbst demonstrativ in die Position des Gegenspielers romantischer Freiheitsnarrative. So wird die Legitimitat dieser Narrative selbst unterwandert. Die hierarchisierte Oppo­sition von Poetizitat und Staatsrason mündet in den Aufruf zur militari­schen Gewalt gegen erstere; dies ist in die alten Narrative nicht mehr zu integrieren. Einen solchen Gegensatz von Poetizitat und Politik kannte der Kavkazskij plennik mit seinem berüchtigten Nachspann nicht, ebensowenig historische Werke wie Boris Godunov oder Poltava (wo die Hinweise auf di e historische Korrektheit gegen den westlichen, byronschen Mazep(p )a gewendet sind und den eigenen dichterischen Text legitimieren). Alle diese Texte funktionierten reibungslos im romantischen Kontext - auch im per­sonlichen Kontakt mit Mickiewicz. Mednyj vsadnik, geschrieben im Okto­ber 1833, ist wohl der letzte groBere ,poetische' Text Puskins, der diese Spannungen in gewisser Weise aufzuheben vermag. Doch teilen sich hier die Diskurse: Mit dem Text ein eng verflochtenes System bilden einerseits der Prosatext Kapitanskaja docka (an diesem Roman, der direkt das ,ro-

49 Vgl. dazu die Analyse im Bereich semantischer Felder zu ,Ordnung' und ,Unord­nung' (etwa am Beispiel von ,MHTe)(("), aber auch zu ,Freiheit' u. a. in: R. Nicolo­si, Th. Grob, ,Russland zwischen Chaos und Kosmos. Die Überschwemmung, der Petersburger Stadtmythos und A. S. Puskins Verspoem ,Der eherne Reiter'". In: D. Groh u. a. (Hg.), Naturkatastrophen. Zu ihrer Wahrnehmung, Deutung und Dar­stellung von der Antike bis in das 20. Jahrhundert. Tübingen: Schi:iningh (Literatur und Anthropologie, Bd. 13), 367-394.

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mantische' Dubrovskij-Projekt abli:ist, arbeitet Puskin bereits 1833), ande­rerseits di e historiographischen Arbeiten u m Pugacev. Au eh gattungsge­schichtlich treten hier das ,Poetische' und das ,Faktische' auseinander, was Raum schafft für die Abli:isung romantischer Narrative in der Geschichts­betrachtung.

V///. Poesie vs. Politik: Das Ende der Einheit

Dass Poesie und Politik mit dem polnischen Aufstand derart in Konflikt geraten, sprengt das byronistisch-dekabristische Modell, dem diese Verbin­dung vorher gehorchte. Um den damit sich vollziehenden Bruch mit Byron zu verdeutlichen sei ei n letztes Mal auf dessen Prisoner of Chillon verwie­sen, den schon Zukov kij ins Russische übertragen hatte. Dort erlautert By­ron in seinem Vorwort, er habe beim Schreiben des Poems über die histori­sche Figur noch zuwenig Bescheid gewusst. Die nun angefügte historische Korrektur zeichnet, dokumentarisch unterlegt, das Bild François de Bonni­vards, der als historisches Vorbild für die Figur des Helden diente und nun in einem faktisch-historischen Diskurs als republikanischer Freiheitsheld und ,martyr de sa patrie" vorgestellt wird. Damit verstarkt Byron noch die Einheit von Historiographie und Poesie: die Korrektur gilt nicht der Un­glaubwürdigkeit der Poetizitat, sondern weist auf das letztliche Primat des ,Lebenstextes' gegenüber der poetischen Erfindung. Es ist dabei für Byron keine Frage, dass diese sich erganzen und potenzieren müssen.

Inwieweit Puskins sich hier andeutende W ende für den russischen lite­rarischen Diskurs als maJ3gebend oder typisch betrachtet werden kann, muss an dieser Stelle offen bleiben. Mit Sicherheit handelt es sich jedoch nicht um eine Erfahrung, die mit persi:inlicher und individueller Spezifik begründet werden kann. Die Position der Macht lieB für die Russen ein ei­nigermaBen breites Spektrum an politischer Meinung zu den Ereignissen in Polen zu; dies beweisen die Auseinandersetzung Puskins mit Vjazemskij, die nicht zu einem Bruch in der Beziehung führte, oder die bekannte Polen­freundlichkeit Konstantins, des alteren Bruders des Zaren. Der Tatsache jedoch, dass man in der gewohnten ,romantischen' Wahrnehmung histori­scher Ereignisse nun auf der falschen Seite stand - was auch für den staatsloyalen Vjazemskij galt -, konnte man jedoch nicht entgehen. Dass dies romantisch narrativierte Wahrnehmungsmuster des Politischen auf­bricht, ist keine allzu gewagte Spekulation.

Offenkundig ist, dass nach 1832 der groBe Umbruch stattfindet, der in­nerhalb weniger Jahre im Diskurs wie im Feld der russischen Literatur

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gleichsam keinen Stein auf dem anderen belassen wird. 50 Er wird sic~ gri:iBtenteils über die Verschiebung in i:ikonomischen Parametern abwJ­ckeln, und der zur Lossagung von seiner polnischen Vergangenheit ge­zwungene Senkovskij wird mit seinen Brambeus-Texen, vor allem aber ab Januar 1834 mit seiner Biblioteka d/ja Ctenija einen entscheidenden Mark­stein setzen. W as Puskin anbelangt, so erkHirt die beginnende Marginalisie­rung des Poetischen vielleicht den elegischen Ton seines Rückblickes auf die Zeit mit Mickiewicz in ,On mezdu nami zil" (1834). Der Feindseligkeit (HaM eTan sparoM) und dem ,Gift" der Verse des boshaft gewordenen Dichters (3no6Horo rro:3Ta) hat er auBer der Hoffnung auf ein Wunder (6o)l(e! ocsHTH B ueM cepA~e) wenig entgegenzusetzen, und eine alternative poetische Konzeption schon gar nicht. Was bleibt, ist der- in der •. Ver­sachlichung' der spaten Puskin-Elegien5 1 umso auffallendere - elegtsche Ton selbst. Die ,elegische' Erinnerung gilt hier nicht nur der Freundschaft mit Mickiewicz, sondern auch dem poetischen Raum, der sie verband- und

damit der eigenen romantischen Vergangenheit.

so Vgl. dazu ausführlich Th. Grob, Russische Postromantik.

51 s. dazu W. Schmid, ,Zur Evolution der spaten Elegik Puskins". In: Wiener 5/a­

vistischer Almanach, Bd. 32 (1993), 89-113.

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