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261 Kommen sie nie zurück? Möglichkeiten einer Re-Evolution von Sven Bradler Haarige Angelegenheiten Kommen sie nie zurück? Sie – gemeint sind Merkmale und Eigenschaf- ten unserer Vorfahren oder der Vorfahren einer jeden anderen Spezies – Merkmale und Eigenschaften, die im Zuge der Evolution verloren gingen. Sie gingen aber nicht verloren, wie man etwa seine Brieftasche verliert. Diese Merkmale waren dem Besitzer einfach nicht mehr von Nutzen, sondern geradezu eine Last oder ein Hindernis, weil sich die Umwelt veränderte oder ein neuer Lebensraum besiedelt wurde. In der Stammes- geschichte der Organismen gab und gibt es mannigfaltige Gründe für anatomische Veränderungen und für Reduktionen. Die Wirbeltiere bil- deten ihre Kiemen zurück, als sie aus dem Wasser stiegen, um das Land zu besiedeln. Und obwohl die Landwirbeltiere wiederholt zum Wasser- leben zurückkehrten, haben weder Krokodile, Pinguine, Seehunde oder Wale jemals wieder die ursprünglichen Atemorgane ihrer Vorfahren er- worben. Aber ist es für einen Organismus grundsätzlich unmöglich, ver- lorene Merkmale zu re-evolvieren? Die Leiter der Evolution wieder hin- abzusteigen? Evolution quasi umzukehren? Die Vorstellung, dass wir zumindest teilweise in unsere evolutive Ver- gangenheit zurückkehren können, dass unsere animalischen Vorfahren verborgen in uns schlummern und geweckt werden könnten, ist ein aus- gesprochen faszinierender Gedanke und ein häufig verwendetes Motiv des Horrorgenres. Als klassisches Beispiel sei auf Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde (The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde) des schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson verwiesen. In dieser 1886 veröffentlichten Novelle stößt der angesehene Arzt Dr. Henry Jekyll bei seinen Forschungen auf einen Trank, mit dessen Hilfe er die dunkle Seite seiner Seele befreien kann und sich in den boshaften Mr. Hyde verwandelt, der zu allerlei Greueltaten imstande ist. In zahlreichen Fil- men und Theaterstücken wird er verkörpert von einer übermäßig be- haarten Gestalt mit einem kräftigen archaischen Kiefer und bedroh- lichem Gebiss, tierische Laute ausstoßend und kaum des aufrechten Ganges mächtig. Im Zuge der Verwandlung entwickelt sich der Protago- nist also vom Gentleman zur wilden Kreatur und steigt somit einige Jahr-

Kommen sie nie zurück? Möglichkeiten einer Re-Evolution

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Kommen sie nie zurück?Möglichkeiten einer Re-Evolution

vonSven Bradler

Haarige Angelegenheiten

Kommen sie nie zurück? Sie – gemeint sind Merkmale und Eigenschaf-ten unserer Vorfahren oder der Vorfahren einer jeden anderen Spezies – Merkmale und Eigenschaften, die im Zuge der Evolution verloren gingen. Sie gingen aber nicht verloren, wie man etwa seine Brieftasche verliert. Diese Merkmale waren dem Besitzer einfach nicht mehr von Nutzen, sondern geradezu eine Last oder ein Hindernis, weil sich die Umwelt veränderte oder ein neuer Lebensraum besiedelt wurde. In der Stammes-geschichte der Organismen gab und gibt es mannigfaltige Gründe für anatomische Veränderungen und für Reduktionen. Die Wirbeltiere bil-deten ihre Kiemen zurück, als sie aus dem Wasser stiegen, um das Land zu besiedeln. Und obwohl die Landwirbeltiere wiederholt zum Wasser-leben zurückkehrten, haben weder Krokodile, Pinguine, Seehunde oder Wale jemals wieder die ursprünglichen Atemorgane ihrer Vorfahren er-worben. Aber ist es für einen Organismus grundsätzlich unmöglich, ver-lorene Merkmale zu re-evolvieren? Die Leiter der Evolution wieder hin-abzusteigen? Evolution quasi umzukehren?

Die Vorstellung, dass wir zumindest teilweise in unsere evolutive Ver-gangenheit zurückkehren können, dass unsere animalischen Vorfahren verborgen in uns schlummern und geweckt werden könnten, ist ein aus-gesprochen faszinierender Gedanke und ein häufig verwendetes Motiv des Horrorgenres. Als klassisches Beispiel sei auf Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde (The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde) des schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson verwiesen. In dieser 1886 veröffentlichten Novelle stößt der angesehene Arzt Dr. Henry Jekyll bei seinen Forschungen auf einen Trank, mit dessen Hilfe er die dunkle Seite seiner Seele befreien kann und sich in den boshaften Mr. Hyde verwandelt, der zu allerlei Greueltaten imstande ist. In zahlreichen Fil-men und Theaterstücken wird er verkörpert von einer übermäßig be-haarten Gestalt mit einem kräftigen archaischen Kiefer und bedroh-lichem Gebiss, tierische Laute ausstoßend und kaum des aufrechten Ganges mächtig. Im Zuge der Verwandlung entwickelt sich der Protago-nist also vom Gentleman zur wilden Kreatur und steigt somit einige Jahr-

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hunderttausende die evolutive Leiter hinab. Ein vergleichbares klassisches Motiv ist das der Werwölfe, also jener Menschen, die sich von einem Wolf gebissen bei Vollmond in wolfsähnliche Kreaturen verwandeln und anschließend dunkle Wälder und abgelegene Landstriche auf der Suche nach menschlichen Opfern durchstreifen. Nun bilden Wölfe nicht ge-rade die evolutive Vorstufe des modernen Menschen, doch zeigen der-artige Mythen, die tief in das Mittelalter zurückreichen, einen fließenden Übergang des Menschen in das Tierreich. Die Suche nach dem missing link ist offenbar nicht erst eine Erfindung des 19. Jahrhunderts.

Die sagenhaften Werwölfe sind mit großer Sicherheit inspiriert wor-den von den medizinhistorisch als ›Wolfsmenschen‹ bezeichneten Haar-menschen. Haarmenschen sind ebenfalls überliefert seit dem frühen Mittelalter. Im Europa des 16. Jahrhunderts verweilten sie als mensch-liche Kuriositäten an den königlichen Höfen Frankreichs, Italiens und der Niederlande und wurden im 19. Jahrhundert auf Jahrmärkten als sen-sationelle ›Bärenmenschen‹, ›Affenmädchen‹ oder ›Löwenjungen‹ der Schaulust ihrer Umgebung ausgesetzt. Von damaligen Gelehrten wahl-weise bezeichnet als Homo silvestris, also Waldmenschen, oder Homo hirsutus – genauer: als Homo caudatus hirsutus in Linnés 10. Ausgabe der Systema Naturae von 1758 – haben Menschen dieser auffälligen Gestalt schon früh beachtliches Interesse seitens der Medizin auf sich gezogen und wurden entsprechend häufig und ausführlich dokumentiert. Im-merhin sind 50 derartige Fälle bis dato bekannt geworden. Die meisten Betroffenen weisen von Geburt an kräftige Behaarung an gewöhnlich unbehaarten Stellen wie dem Gesicht auf und eine enorme Haardichte auf Rücken, Brust und Gliedmaßen mit Ausnahme der Lippen, Hand-flächen und Fußballen, und dies gleichermaßen im männlichen wie im weiblichen Geschlecht.

Als Krankheitsbild der Hypertrichosis wird dieses Phänomen in der modernen Medizin diagnostiziert.1 Ein genetischer Defekt gilt hierfür als ursächlich, womit sich die Hypertrichosis deutlich vom Hirsutismus ab-grenzt, einem hormonell bedingten übermäßigen Haarwachstum bei weiblichen Individuen. Mittlerweile werden neun verschiedene Typen der Hypertrichosis unterschieden, von denen das Ambras-Syndrom, eine besonders exzessive Form, auf den frühesten sicher dokumentierten Fall von Hypertrichosis zurückgeht. Hierbei handelt es sich zugleich um einen der bekanntesten Fälle, nämlich den des ›Wolfsmenschen der Kanaren‹, auch bekannt als ›Wilder Mann von Teneriffa‹, Pedro Gonsalvus (Abb. 1).

1 D. Garcia-Cruz, L. E. Figuera and J. M. Cantú: Inherited hypertrichoses. Clinical Genetics 61, 321-329 (2002).

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Abb. 1: Pedro Gonsalvus, Österreich, um 1582 (unbekannter Maler, Kunsthistori-

sches Museum Wien, Sammlungen auf Schloss Ambras).

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Pedro Gonsalvus wurde 1537 auf Teneriffa geboren und war ein Gu-antsche, also ein Ureinwohner der Kanarischen Inseln. Im Alter von ge-rade einmal zehn Jahren gelangte er als Geschenk französischer Korsaren an den königlichen Hof von Heinrich II. von Frankreich. Dort genoss er höfische Erziehung, lernte Latein, bekleidete ein Hofamt und erlangte hohes gesellschaftliches Ansehen. Der haarige Guantsche wurde schließ-lich mit einer schönen jungen Pariserin verheiratet. Aus der Ehe gingen im Laufe der Jahre wenigstens sieben Kinder hervor, von denen fünf ebenfalls behaart waren, zwei Jungen und drei Mädchen.2 Einige Zeit nach dem Tod des Königs wurde der Haarige mitsamt seiner Familie wie eine Kostbarkeit von Hof zu Hof gereicht. So gelangte er unter dem Titel Don Pietro Gonzales Selvaggio (Don Pietro Gonzales Wilder) im Mai 1591 an den Herzogshof des norditalienischen Parma. Aus dieser Zeit stammen zahlreiche Porträts der Familienmitglieder, die später Eingang fanden in Werke wie die Monstrorum Historia von 1642 des italienischen Naturforschers Ulisse Aldrovandi (1522-1605) und in die Bildersamm-lung Animalia Rationalia et Insecta (zwischen 1575 und 1590) des flämi-schen Miniaturmalers Joris Hoefnagel (1542-1601). Auch das bekannte Ölbildnis der Tognina, Pedros Tochter Antonietta Gonsalvus (Abb. 2), entstand während des Aufenthaltes der Haarigen in Parma. Auf dem Blatt, das die Porträtierte in den Händen hält, wird in knappen Worten die Geschichte der Familie Gonsalvus beschrieben:

Von den Kanarischen Inseln wurde Don Pietro, ein wilder Mann, zum erlauchten Heinrich, König von Frankreich, gebracht. Heute be-findet er sich beim erlauchten Herzog von Parma, dem ich, Antoni-etta, gehörte, und jetzt bin ich bei Donna Isabella Pallavicina, der Frau Marchesa von Soragna.3

In der berühmten Sammlung der Wunderkammer des Schlosses Ambras bei Innsbruck, zusammengetragen von Herzog Ferdinand II. von Tirol, finden sich vier Gemälde der Familie Gonsalvus. Eines davon zeigt Pedro Gonsalvus (Abb. 1) in feine Gewänder gehüllt mit gekämmtem Haar, allerdings dargestellt in einer Höhle oder Grotte, als sei dies das geeignete Ambiente für den Haarmenschen, der einerseits gesellschaftliches Anse-hen am königlichen Hof genießt, zum anderen jedoch auch in der Wild-

2 R. Zapperi: Der Wilde Mann von Teneriffa. Die wundersame Geschichte des Pedro Gonzalez und seiner Kinder. München: C. H. Beck 2004.

3 »Dall’isole Cannare fue condotto al Serenissimo Enrico re di Francia Don Pietro huomo salvatico che de presente si trova presso il Serenissimo duca di Parma del quale fui io Antonetta, et hora me trovo a presso alla Signora Donna Isabella Pallavicina Signora Marchesa di Soragna.«

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nis und dort am verborgensten aller Orte zu Hause ist.4 In dem Bild kommt wiederum der Mythos des Wilden zum Ausdruck und dessen Zwitterhaftigkeit: halb Mensch, halb Tier.

4 Es ist nicht auszuschließen, dass die Höhle, in der die haarigen Mitglieder der Gonsalvus-Familie porträtiert wurden, schlichtweg Bezug auf die Herkunft des Guantschen Pedro Gonsalvus nehmen, denn schließlich lebten die Ureinwohner des Kanarischen Archipels in den Höhlen der Inseln. Vgl. C. Hertel: Hairy issues. Portraits of Petrus Gonsalus and his family in Archduke Ferdinand II’s Kunstkammer and their contexts. Journal of the History of Collections 13, 1-22 (2001).

Abb. 2: Bildnis der Tognina, Antonietta Gonsalvus (zugeschrieben der Malerin

Lavinia Fontana [1552-1614], Museum von Blois, Frankreich).

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Anders gedeutet und unter Berücksichtigung des Evolutionsgedan-kens: Pedro Gonsalvus als Bindeglied zu unseren tierischen Vorfahren? Ist die Haarfamilie die Evolutionsleiter tatsächlich wieder ein Stück weit herabgeklettert? Manche meinen ja,5 natürlich nur hinsichtlich der ex-zessiven Behaarung, und machen hierfür die Aktivierung eines ›schlafen-den‹ Gens aus früher Vorzeit verantwortlich. Für einige Fälle der Hy-pertrichosis ist mittlerweile eine Mutation auf dem X-Chromosom nachgewiesen,6 also eine Veränderung des Erbgutes auf dem weiblichen Geschlechtschromosom. Genauer gesagt wird vermutet, dass es sich um eine Rückmutation handelt, also die Reaktivierung eines Gens, das ir-gendwann in unserer evolutiven Stammlinie aufgrund einer Mutation seine Funktion verlor und damit für die weitgehende ›Nacktheit‹ des modernen Menschen sorgte. Das erneute spontane Auftreten eines Merk-mals, das bei entfernten Vorfahren vorhanden war und im Laufe der Evolution verloren ging, wird allgemein als Atavismus bezeichnet (latei-nisch atavus: Vater des Urgroßvaters, Vorfahre). Das Auftreten von Hy-pertrichosis steht in dem Verdacht, atavistischen Ursprungs zu sein. Allerdings ist derzeit noch zu wenig über die molekularen Mechanismen bekannt, die die Differenzierung in die unterschiedlichen Haarformen und deren Verteilung über die Körperoberfläche steuern, um entschei-den zu können, ob tatsächlich ein reaktiviertes ›Urzeitgen‹ für das Am-bras-Syndrom verantwortlich ist. Atavismen sind seltene Ereignisse, die ausgesprochen wenige Individuen betreffen, und deren vereinzeltes Auf-treten hat noch nicht zwangsläufig etwas mit Re-Evolution zu tun.

Louis Dollo und sein ›Gesetz‹

Biologiestudenten lernen bereits in den ersten Semestern: »Re-Evolution ist verboten, denn sie verstößt gegen Dollos Gesetz«. Gesetz? Die Natur-wissenschaft ist immer auf der Suche nach Gesetzmäßigkeiten, aber anders als etwa in der Physik sind allgemeingültige Gesetze in der Evolutions-biologie die Ausnahme. Die beständigsten Tendenzen in der Evolution werden dennoch gerne als ›Gesetze‹ bezeichnet. Hierzu gehört die Regel, die der belgische Paläontologe Louis Dollo (1857-1931, Abb. 3) im Jahre 1893 aufstellte und die besagt, dass Evolution irreversibel ist:7

5 B. K. Hall: Atavisms and atavistic mutations. Nature Genetics 10, 126-127 (1995).6 L. E. Figuera, M. Pandolfo, P. W. Dunne, J. M. Cantú and P. I. Patel: Mapping of

the congenital generalized hypertrichosis locus to chromosome Xq24­27.1. Nature Ge-netics 10, 202-207 (1995).

7 L. Dollo: Les lois de l’évolution. Bulletin de la Société Belge de Géologie, Paléon-tologie et Hydrologie 7, 164-166 (1893).

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Ein Organismus ist nicht in der Lage, auch nicht teilweise, zu einem Zustand zurückzukehren, der bereits bei seinen Vorfahren verwirk-licht war.8

Mit dieser knappen Definition der Dollo’schen Regel, wir wollen den Tatbestand einmal so nennen, dürfen wir uns aber nicht zufrieden geben, denn es werden hier zwei Aspekte von Irreversibilität vermengt, die von-einander getrennt betrachtet werden müssen. Der amerikanische Paläon-tologe und Evolutionsforscher Stephen Jay Gould (1941-2002) beleuch-tete eingehend den wissenschaftlichen Kontext, in dem Dollo seine

8 »un organisme ne peut retourner, même partiellement, à un état antérieur, déjà réalisé dans la série de ses ancêtres« (Ebda., S. 165).

Abb. 3: Der belgische Paläontologe Louis Dollo (1857-1931). Zeichnung: Sven

Bradler.

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Irreversibilitätsregel formulierte.9 Louis Dollo, der ab 1882 am Brüsseler Museum wirkte, betrachtete die Erforschung der Phylogenie (Stammes-geschichte) als oberstes Ziel seiner paläontologischen Arbeit und inter-pretierte morphologische Strukturen großenteils vor dem Hintergrund der funktionellen Anpassung an die Umwelt. Konvergente, also unab-hängig voneinander entstandene Strukturen von Organismen aus ver-schiedenen evolutiven Linien (oder Vorfahren und Nachfahren aus einer Linie) müssten, so Dollo, trotz Anpassung an identische Umweltbedin-gungen aufgrund ihrer jeweiligen voneinander verschiedenen Historie unterscheidbar sein. Dollos folgende Definition von Irreversibilität aus dem Jahre 1905 (aus einer Arbeit zum primären und sekundären Vier-füßergang bei Dinosauriern) beschreibt dies treffend:

Ein Organismus kehrt niemals exakt in ein früheres Stadium zurück, selbst dann nicht, wenn er Lebensbedingungen vorfindet, unter de-nen er bereits gelebt hat. Aber aufgrund der Unzerstörbarkeit der Ver-gangenheit […] behält er immer einige Spuren der Zwischenstadien bei, die er durchlaufen hat.10

Ein Beispiel: Knochenfische und Wale gehören zu den Wirbeltieren und sind Wasserbewohner. Sie kommen häufig nebeneinander im gleichen Lebensraum vor. Dennoch haben die Flossen der Wale einen völlig ande-ren Aufbau als die der Knochenfische. Die Wale können ihre Abstam-mung von den Säugetieren nicht leugnen, denn sie haben unzählige Merkmale (›Spuren‹) der evolutiven Zwischenstufen beibehalten. Und – wie anfangs erwähnt – kein wasserlebendes Säugetier hat jemals sekundär Kiemen (zurück)erworben.

Nach Goulds Ansicht gilt es, zwei grundlegende Auffassungen von Irreversibilität sensu Dollo zu unterscheiden. Die erste ist eine a priori­Annahme: »Ein Organismus kehrt niemals vollständig in ein früheres Stadium seiner Stammesgeschichte zurück.« Würde er dies dennoch tun, wären wir, nebenbei gesagt, auch gar nicht in der Lage, dies festzustellen. Darüber hinaus bedarf diese fundamentale Feststellung keiner weiteren Diskussion: Evolution ist ein historischer, einmaliger Vorgang und nicht umkehrbar. Die zweite Auffassung von Irreversibilität ist hingegen eine überprüfbare Hypothese: »Ein komplexer Bestandteil eines Vorfahren

9 S. J. Gould: Dollo on Dollo’s Law: Irreversibility and the status of evolutionary laws. Journal of the History of Biology 3, 189-212 (1970).

10 »An organism never returns exactly to a former state, even if it finds itself placed in conditions of existence identical to those in which he already lived. But by virtue of the indestructibility of the past […] it always keeps some trace of the intermediate stages through which it has passed« (Ebda., S. 196).

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kehrt niemals in exakt der gleichen Form bei einem Nachfahren zurück.« Letztere Auffassung ist diejenige, die uns hier interessiert.

Zum hundertjährigen Bestehen der Dollo’schen Regel und zu deren Bestätigung veröffentlichte Gould gemeinsam mit einer Mitarbeiterin eine Studie über die Evolution von Schneckenhauswindungen bei einer fossilen Meeresschnecke.11 Das geläufigste Erkennungsmerkmal einer Schnecke ist zweifelsohne ihre kalkige Schale, das Schneckenhaus, das gewöhnlich aus einer Reihe ausgesprochen regelmäßiger spiralförmiger Windungen besteht. Das Schneckenhaus hat im Wesentlichen die Auf-gabe, seinen Bewohner vor Verletzungen und – zumindest bei Land-schnecken – vor Sonneneinstrahlung und Austrocknung zu schützen. Das Haus ist ein recht kompaktes Gebilde und ermöglicht der Schnecke eine angemessen rasche Fortbewegung, sofern man von ›rasch‹ bei einer Schnecke überhaupt reden möchte. Um als Schnecke schneller voran-zukommen, bleibt einem nicht viel anderes übrig, als das Haus zu redu-zieren, wie es so häufig in der Schneckenevolution geschehen ist. Andere Schnecken verzichten dagegen auf ihre Mobilität und bringen ganz un-gewöhnliche Gehäuse hervor, so etwa die meeresbewohnenden Wurm-schnecken oder Vermetidae (Abb. 4). Diese Tiere heften sich dauerhaft an einen Untergrund und haben in Anpassung an diese neue Unbeweglich-

11 S. J. Gould and B. A. Robinson: The promotion and prevention of recoiling in a maximally snaillike vermetid gastropod: A case study for the centenary of Dollo’s Law. Paleobiology 20, 368-390 (1994).

Abb. 4: Australische Wurmschnecken (Vermetidae). Links: Petaloconchus capera-tus. Rechts: Serpulorbis sipho (Sammlung des Australischen Museums, Sydney).

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keit die regelmäßig gewundene, kompakte Schale zugunsten eines läng-lichen röhrenförmigen Gehäuses mit unregelmäßigen Spiralen und Dre-hungen aufgegeben. Auf diese Weise sind sie in der Lage, Hindernisse flexibel zu umwachsen und trotz ihrer Sesshaftigkeit Nahrung zu er-reichen, die sie aus dem Wasser filtrieren oder mit Schleimnetzen fangen. Die Vermetidae existieren seit dem Eozän, also seit etwa 50 Millionen Jahren, und sind fossil gut überliefert. Inmitten der Vielfalt unregelmäßig gewundener Wurmschnecken existierte im Pliozän, vor etwa fünf Mil-lionen Jahren, eine Schneckenpopulation der Gattung Petaloconchus mit verblüffend regelmäßigen Schneckenhauswindungen. Waren hier die komplexen Spiralwindungen einige Millionen Jahre nach ihrem Verlust in exakt gleicher Form zurückgekehrt? Fragmente dieser Schalen, so Gould, hielte man ohne Überlieferung spezifischer Merkmale der Ver-metidae leicht für das Gehäuse einer ›gewöhnlichen‹ Schnecke. Könnte es aber nicht sein, dass diese fossile Wurmschnecke ein primär gewun-denes Gehäuse besaß, die regelmäßigen Schneckenhauswindungen ihrer Vorfahren also niemals aufgegeben hatte? Gould schloss dies mit gutem Grund aus. Die relativ junge Population von Petaloconchus ist ganz sicher kein früher Zweig im Stammbaum der Vermetidae, und die regelmäßigen Spiralwindungen müssen demnach tatsächlich sekundär entstanden sein. Was nun auf den ersten Blick wie ein Verstoß gegen das Dollo’sche Prin-zip erscheint, ist tatsächlich ein gutes Beispiel für dessen Gültigkeit. Nach sorgfältiger biometrischer Vermessung der Gehäusewindungen von Peta­loconchus kommen Gould und seine Co-Autorin zu dem Schluss, dass diese Windungen in einigen bedeutsamen Aspekten von dem Zustand bei einer ursprünglich regelmäßig gewundenen Schnecke abweichen. Das evolutive Erbe aus Jahrmillionen sessiler Lebensweise mit all den erworbenen spezifischen Eigenschaften einer Wurmschnecke lässt es nicht zu, dass die regelmäßigen Petaloconchus-Windungen zum exakt ur-sprünglichen Zustand zurückkehren. Fast, aber eben doch nicht ganz. Die evolutive Geschichte hat ihre Spuren hinterlassen und ist unumkehr-bar im Sinne Dollos.

Von Schneckenhäusern und Schreckenflügeln

Limpets break Dollo’s Law (»Pantoffelschnecken brechen Dollos Gesetz«), so lautete im Jahre 2004 ein Übersichtsartikel in der Zeitschrift Trends in Ecology and Evolution.12 Hatte Stephen Jay Gould gerade noch nach-

12 M. Pagel: Limpets break Dollo’s Law. Trends in Ecology and Evolution 19, 278-280 (2004).

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gewiesen, dass die Wurmschnecken sich an die Dollo’sche Regel hielten, so kamen nun die Pantoffelschnecken daher, um sie zu widerlegen. Das Forscherteam Rachel Collin und Roberto Cipriani hatte eine genetische Verwandtschaftsanalyse der heute lebenden Formen durchgeführt und dabei einen Verstoß gegen das Dollo’sche Prinzip aufgedeckt.13

Es bedarf an dieser Stelle einer kurzen Erläuterung des Grundprinzips der biologischen Systematik, des sogenannten »Parsimonie-Prinzips«. Für die Rekonstruktion der Verwandtschaftsbeziehungen von Organis-men werden vorwiegend heute lebende Arten betrachtet. Fossilien tragen zwar wesentlich zum Verständnis der Stammesgeschichte bei, aber sie sind leider in vielen Fällen nicht so häufig – oft fehlen sie ganz –, wie man es sich wünscht. Deshalb ist es der Vergleich der heute existenten Diversität, der unsere Kenntnis vom Baum des Lebens prägt. Die Daten, die der Systematiker aus der vergleichenden Untersuchung von Organis-men gewinnt, seien es anatomische, molekulare oder verhaltensbiologi-sche, werden nach dem Parsimonie-Prinzip ausgewertet. Es ist dies das Prinzip der sparsamsten Erklärung, ein denkökonomisches Prinzip, das für eine bestimmte Beobachtung eine naheliegende Erklärung sucht und un nötige Zusatzannahmen vermeidet. Ganz konkret: Besitzen zwei Ar-ten ein gemeinsames Merkmal, so ist es sparsamer anzunehmen, dies gehe auf eine Ursache zurück, nämlich einen gemeinsamen Vorfahren, der dieses Merkmal schon besessen hat, als eine zweimalige unabhängige Entstehung dieses Merkmals zu vermuten, auch wenn dies, zugegebener-maßen, niemals völlig auszuschließen ist. Der Systematiker sucht also nach Stammbäumen, die möglichst wenige evolutive Schritte erfordern. Bei Verwendung zahlreicher Merkmale oder solcher unterschiedlicher Qualität – beispielsweise anatomische versus molekulare Merkmale – kann es zu Widersprüchen kommen, und viele gleichermaßen sparsame Hypothesen stehen dann in Konkurrenz zueinander. Dies ist ein alltäg-liches Problem in der Stammesgeschichtsforschung und häufig Gegen-stand leidenschaftlicher Diskussionen. Die Pantoffelschnecken bilden da keine Ausnahme.

Die Calyptraeidae, wie diese Schnecken in der Fachsprache heißen, sind marine Schalentiere mit flachen Gehäusen und einem großen Saug-fuß. Von unten betrachtet erinnern sie tatsächlich an einen Pantoffel. Von den etwa 200 bekannten Arten besitzen nur etwa ein Dutzend ein typisches Schneckenhaus mit regelmäßigen Spiralwindungen, beispiels-weise die Gattung Trochita (Abb. 5). Bei der überwiegenden Mehrheit

13 R. Collin and R. Cipriani: Dollo’s law and the re­evolution of shell coiling. Proceed-ings of the Royal Society of London B 270, 2551-2555 (2003).

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der Pantoffelschnecken sind die Spiralwindungen weitgehend zurück-gebildet, und das Gehäuse besitzt keine einzige umgängige Windung mehr, sondern ist bestenfalls leicht gebogen (Abb. 6). Hierzu zählt die Gattung Crepidula mit ihren zahlreichen Arten. Die Schneckensystema-tiker waren bislang der Auffassung, dass Trochita mit ihrem regelmäßig gewundenen Haus noch den ursprünglichen Habitus der Vorfahren bei-behalten hat und eine entsprechend ›basale‹ systematische Stellung inner-halb der Calyptraeidae einnimmt. Crepidula und ihre ›ungewundenen‹ Ver-wandten, so nahm man an, seien hingegen ›moderne‹ Pantoffelschnecken, die alle von einem einzigen Vorfahren abstammen, der die Schalenwin-dungen verloren hatte (Abb. 7 oben). Zugleich befänden sich letztere Formen in einer evolutiven Sackgasse, zumindest was den Schalenbau angeht, da Crepidula nicht zu einem gewundenen Schneckenhaus zu-rückkehren könne. Dieses evolutive Szenario erscheint höchst plausibel, denn es folgt zum einen dem Parsimonieprinzip (einmaliger Verlust der Spiralwindungen), zum anderen ist auch dem Dollo’schen Prinzip Ge-nüge getan (keine Rückkehr zu Spiralwindungen).

Doch die Daten von Collin und Cipriani stellen diese Hypothese auf den Kopf. In dem neu berechneten molekularen Stammbaum befindet sich Trochita nicht an der Basis, sondern auf einem späten Ast inmitten der ungewundenen Pantoffelschnecken (Abb. 7 Mitte und unten). ›Auf dem Weg‹ zum Trochita-Ast zweigen insgesamt zehn Linien mit Crepi­dula-Arten und anderen ungewundenen Pantoffelschnecken ab. Hier widersprechen sich nun die beiden Prinzipien. Wenn Dollos Regel gilt, dann müssten alle gemeinsamen Vorfahren von Trochita und den übri-gen Pantoffelschnecken ein gewundenes Gehäuse besessen haben (schwarze Äste in Abb. 7 Mitte), und in den beiden basalen Ästen sowie

Abb. 5: Das Gehäuse der Pantoffelschnecke Trochita calyptraeiformis bildet die

für Schnecken typischen regelmäßigen Spiralwindungen. Ansicht von oben (links),

unten (Mitte) und von der Seite (rechts).

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Abb. 6: Ungewundene Gehäuse von Pantoffelschnecken der Gattung Crepidula

jeweils von unten (links) und von oben (rechts) betrachtet. Aus: Hardy’s internet

guide to marine gastropods.

allen acht Crepidula-Seitenzweigen der Pantoffelschnecken wären un-gewundene Gehäuse unabhängig voneinander (konvergent) entstanden (rote Dreiecke in Abb. 7 Mitte). Eine äußerst unsparsame und entspre-chend unwahrscheinliche Hypothese. Die sparsamere Hypothese ist hin-gegen, dass die Stammart der Pantoffelschnecken ein ungewundenes

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Abb. 7: Stammbäume der Pantoffelschnecken (Calyptraeidae) und Evolution der

Schneckenhauswindungen. Nach Collin und Cipriani (Proceedings of the Royal

Society of London B 270, 2003, s. Fußnote 13) und anderen Autoren, verändert.

Erläuterungen siehe Text.

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Gehäuse entwickelte (rotes Dreieck in Abb. 7 unten), und nach einer langen Zeit ›ungewundener‹ Evolution ist auf einem Ast, nämlich bei Trochita, das gewundene Gehäuse re-evolviert worden (schwarzer Stern in Abb. 7 unten). Dies wäre gemäß Dollo aber nicht möglich. Welchem Prinzip schenkt man nun mehr Gewicht?

Es mag zunächst paradox erscheinen, aber es existiert tatsächlich so etwas wie die Dollo-Parsimonie. Ein Verfahren, nach dem ein Merkmal nur ein einziges Mal innerhalb eines Stammbaumes entsteht, dann aber wiederholt verloren gehen darf. Es wird somit der sparsamste Stamm-baum ohne Verletzung der Dollo’schen Regel errechnet. Dollo hat in diesem Verfahren somit Priorität, doch dieses grundsätzliche ›Verbot‹ von Re-Evolution wird nicht weiter begründet und ist wahrscheinlich unberechtigt.

Der Fossilbericht liefert zusätzliche Hinweise für die Re-Evolution der Spiralwindungen. Crepidula existiert seit 60 bis 100 Millionen Jahren, Trochita ist dagegen erst seit etwa 20 Millionen Jahren nachgewiesen. Nun ist nicht auszuschließen, dass von Trochita, die deutlich weniger Arten umfasst als Crepidula, schlichtweg keine älteren Fossilien gefunden wurden. Vielleicht ist es aber auch ein deutlicher Hinweis darauf, dass Trochita viel später entstanden ist, eben als Nachfahre ungewundener Crepidula-Schnecken. Die Autoren der Studie zumindest favorisieren diese Re-Evolution gewundener Gehäuse bei den Trochita-Schnecken. Und die Hinweise darauf häufen sich derzeit, dass auch komplexe Merk-male zurückkehren – sprich: re-evolviert werden können.

Als ein weiteres Beispiel möchte ich nun eine Gruppe von Organismen nennen, die mir besonders vertraut ist, die Insekten. Eine der erfolg-reichsten evolutiven Linien unseres Planeten sind die geflügelten Insek-ten oder Pterygota. Sie machen etwa 60 % der beschriebenen Arten im Tierreich aus. Wenn sich evolutiver Erfolg in Artenreichtum misst, so sind die Pterygota eine ausgesprochen erfolgreiche Gruppe. Der Grund hierfür liegt nach verbreiteter Ansicht in dem Besitz von zwei Paar Flü-geln, die es ihren Besitzern erlauben, in kurzer Zeit große Distanzen zu-rückzulegen, Hindernisse zu überwinden, sich auf diese Weise rasch aus-zubreiten und neue Lebensräume zu besiedeln. Ferner dienen Flügel der Flucht vor Räubern und anderen Gefahren sowie dem Auf finden von Paarungspartnern und Nahrungsquellen. Einige Insekten verwenden ihre Flügel zur Lauterzeugung, so etwa die Grillen und Laubheuschre-cken, um das andere Geschlecht anzulocken, Rivalen zu vertreiben und Feinde abzuschrecken, häufig unterstützt durch Aufstellen der Flügel, was Größe vortäuscht und den Gegner beeindrucken soll. Alles in allem

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Abb. 8: Männchen der australischen Gespenstschrecke Extatosoma tiaratum im

Flug. Foto: Christoph Seiler.

Abb. 9: Zwei weibliche Wandelnde Blätter (Phyllium bioculatum) aus Südostasien.

Foto: Christoph Seiler.

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sind Flügel also äußerst wertvolle und vorteilhafte Gebilde. Die Pterygota umfassen eine Fülle von allgegenwärtigen Insekten wie Li bellen, Heu-schrecken, Wanzen, Käfer, Bienen und Wespen, Fliegen und Schmetter-linge. Zu den Pterygota gehören aber auch Läuse und Flöhe, die ihre Flügel wiederum verloren haben, als Folge der parasitischen Lebensweise. Tatsächlich haben sich bei den geflügelten Insekten tausendfach Flügel-reduktionen ereignet.14 Es gibt flügellose Heuschrecken, Käfer, Wespen und auch Fliegen.

Eine Gruppe von Insekten, bei denen sich der Flügelverlust ganz be-sonders häufig ereignet haben soll, sind die Stab- und Gespenstschrecken (Abb. 8), zu denen auch die Wandelnden Blätter gezählt werden (Abb. 9). Diese Insekten werden als Phasmatodea (lateinisch phasma: Gespenst) zu-sammengefasst, und der Einfachheit halber werde ich sämtliche Phasma­todea im Folgenden als Stabschrecken bezeichnen. Stabschrecken sind pflanzenfressende, häufig sehr große und überwiegend nachtaktive In-sekten. Die Mehrheit der etwa 3500 bekannten Arten ist in den Tropen und Subtropen beheimatet, wo die Tiere tagsüber regungslos auf Sträu-chern und Bäumen verharren und auf ihre Tarnung als Zweig oder Blatt vertrauen. Etwa die Hälfte aller Arten ist ungeflügelt oder hat stark ver-kürzte Flügel (Abb. 10) und ist somit flugunfähig.

Um die verwandtschaftlichen Beziehungen der heute lebenden Stab-schrecken aufzuklären und die Frage zu beantworten, wie häufig die Flügel im Laufe der Stabschrecken-Evolution verloren gingen, führten wir eine phylogenetische Analyse durch,15 die methodisch vergleichbar ist mit der zuvor beschriebenen Pantoffelschnecken-Studie. Von 37 Arten der Stabschrecken aus aller Welt – und zwar geflügelten und ungeflügel-ten Vertretern aus nahezu sämtlichen traditionellen Unterfamilien – erhoben wir genetische Daten und berechneten einen Stammbaum (Abb. 11). Anschließend betrachteten wir die Verteilung der geflügelten und ungeflügelten Tiere auf den Verzweigungen und rekonstruierten die Evolution der Flugorgane. Zu unserer Überraschung stellten wir fest, dass die frühen Zweige des Baumes durchweg ungeflügelte Stabschrecken (rot) tragen, wohingegen die späteren Äste zu den flugfähigen Formen (blau) führen. Erwartet hatten wir allerdings, dass die frühen Zweige von geflügelten Formen gebildet werden, denn schließlich stammen die Stab-schrecken von anderen geflügelten Insekten ab. Erst nach sechs ungeflü-

14 D. L. Wagner and J. K. Liebherr: Flightlessness in insects. Trends in Ecology and Evolution 7, 216-220 (1992).

15 M. F. Whiting, S. Bradler and T. Maxwell: Loss and recovery of wings in stick in­sects. Nature 421, 264-267 (2003).

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gelten Seitenzweigen treten Äste mit geflügelten Insekten auf. Bei strikter Anwendung des Parsimonie-Prinzips ist nur eine Interpretation möglich: der Vorfahre der Stabschrecken hatte die Flügel verloren und nach einer langen Zeit ›ungeflügelter‹ Stammesgeschichte sind in einigen Linien die Flügel re-evolviert worden (blaue Sterne in Abb. 11). Diese zurückgekehr-ten Flügel sind jedoch keine Neubildungen, sondern entsprechen in Lage und Anatomie denen anderer geflügelter Insekten, sind somit deren Flü-

Abb. 10: Weibchen der Gespenstschrecke Phaenopharos khaoyaiensis aus Thai-

land in Abwehrstellung mit aufgestellten Flügeln. Die stark verkleinerten Flugor-

gane befähigen nicht mehr zum Fliegen. Foto: Christoph Seiler.

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Abb. 11: Stammbaum der Stab- und Gespenstschrecken und Evolution der Flug-

organe. Nach Whiting, Bradler und Maxwell (Nature 421, 2003, s. Fußnote 15),

verändert.

geln homolog. Wir hatten demnach einen weiteren Fall auf gedeckt, der das Dollo’sche Prinzip zu widerlegen schien. Genauer: Wir lieferten Ar-gumente dafür, dass komplexe Merkmale sehr wohl in exakt16 der glei-chen Form wie bei den Vorfahren zurückkehren können. Wie war das möglich? Wir hatten die Vermutung, dass ein Kontrollgen der Flügelent-

16 Über den Begriff exakt lässt sich natürlich streiten. Stabschreckenflügel haben ihre Eigenheiten, die sie von allen anderen Insektenflügeln unterscheiden. Diese Unterschiede sind jedoch nicht bedeutsamer als die zwischen den Flügeln ver-schiedener Insektengruppen, in deren Evolution die Flügel zweifelsohne durch-gängig vorhanden waren.

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wicklung in der frühen Evolution ›verstummte‹ und nach langer Zeit bei einigen Stabschrecken reaktiviert wurde, gleichsam ein Atavismus.

Die Studie löste eine rege Diskussion unter Evolutionsbiologen aus und stieß zum Teil auf harsche Kritik und Ablehnung.17 Es sei sehr viel einfacher, eine Struktur mehrfach zu verlieren, als sie auch nur ein ein-ziges Mal erneut zu bilden, so die Meinung vieler Skeptiker. Unter Be-rücksichtigung dieses Aspektes sei die weniger sparsame Hypothese, nämlich der ungewöhnlich häufige Verlust der Flügel, die korrekte. Doch wie viel aufwendiger ist die Neuentstehung von Flügeln im Vergleich zu deren Reduktion? Dies lässt sich bislang nicht beantworten. Vielleicht sind die notwendigen genetischen Veränderungen in beide Richtungen gleichermaßen gering.

Und was veranlasst geflügelte Insekten überhaupt, ihre Flügel zurück-zubilden? Wie ich zuvor dargelegt habe, verleihen Flugorgane zahlreiche Vorteile. Doch die Ausbildung und Unterhaltung der Flügel kann auch nachteilig sein, denn sie verursacht Kosten. Die Ressourcen, die einem Organismus zur Verfügung stehen, sind nicht unbegrenzt, und die Ent-wicklung der Flügel verschlingt nicht unerhebliche Energie.18 Wenn also Feinde fehlen, Nahrung allgegenwärtig ist und in ausreichendem Maße zur Verfügung steht und zum Auffinden eines geeigneten Paarungspart-ners keine großen Distanzen zurückgelegt werden müssen, warum sollte ein Insekt eine so kostspielige Struktur wie Flugorgane aufrechterhalten? Tatsächlich wird die Flugfähigkeit regelmäßig von Inselbewohnern auf-gegeben. Dort fehlen häufig Feinde, und der begrenzt zur Verfügung stehende Raum erfordert keine hohe Mobilität seiner Bewohner. Weib-chen mit verkleinerten Flügeln produzieren häufig mehr Eier als solche mit langen Flügeln. Die Energie wird also in die Nachkommen statt in die Flugorgane investiert. Bei Stabschrecken steht die Flügelbildung außer dem in Konkurrenz zu einem weiteren Bedürfnis der Tiere: der Regeneration verlorener Gliedmaßen. Die langen und häufig grazilen Beine von Stabschrecken können leicht von Räubern ergriffen werden oder bleiben während des Wachstums, bei dem die Tiere regelmäßig ihre starre Haut abstreifen müssen, in dem alten Panzer stecken. Um sich aus einem derartigen Dilemma befreien zu können, haben Stabschrecken eine Sollbruchstelle an den Beinen entwickelt, mit deren Hilfe die jewei-lige Ex tremität ohne weitere Verletzung abgeworfen werden kann. Ein

17 G. Stone and V. French: Evolution: Have wings come, gone and come again? Cur-rent Biology 13, R436-R438 (2003).

18 D. A. Roff: The evolution of flightlessness: Is history important? Evolutionary Eco-logy 8, 639-657 (1994).

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neues Bein wächst an dieser Stelle nach, solange die Insekten noch jung sind. Stabschrecken, die zudem Flügel ausbilden, entwickeln, wenn sie gleichzeitig ein Bein erneuern müssen, kleinere Flügel als solche, die zu-vor kein Bein verloren haben.19 Bein- und Flügelentwicklung konkurrie-ren demnach miteinander. Keine Flügel zu haben, kann also auch in die-sem Fall ein Vorteil sein.

Spricht diese Erkenntnis nun für einen häufigen Flügelverlust bei den Stabschrecken oder für einen einmaligen Verlust mit anschließender Re-Evolution? Vermutlich für Ersteres, denn den ursprünglichsten Stab-schrecken fehlt die elegante Fähigkeit zum ›Beinabwurf‹ noch. Oder konnte sich die Regenerationsfähigkeit der Beine erst entwickeln, nach­dem die Flügel verloren gegangen waren? Liefert der Fossilbericht auch hier wertvolle Informationen? Ein geflügelter Ahne von heute ungeflügel-ten Stabschrecken könnte die Hypothese einer Re-Evolution leicht zum Einsturz bringen. Doch die bislang spärlichen Fossilfunde entsprechen dem heutigen Bild: ›Ursprüngliche‹ Stabschrecken waren schon vor 50 Mil lionen Jahren ungeflügelt und Vorfahren geflügelter Stabschre-cken besaßen auch schon damals Flügel.20 Die Kontroverse dauert an.

Von Hühnern und Zähnen

Die Kritiker der Re-Evolutions-Hypothese führen als gewichtiges Ge-genargument an, die ungenutzten genetischen Grundlagen und verant-wortlichen Entwicklungspfade der entsprechenden Merkmale könnten wohl kaum über evolutiv lange Zeiträume erhalten geblieben sein. Gene-tische Information, die nicht länger abgelesen wird, ist nicht dem Selek-tionsdruck unterworfen, da sie keine funktionstüchtigen Resultate mehr liefern muss. Folglich können sich auf derartigen verstummten oder dor-manten, also ›schlafenden‹ Genen im Laufe der Generationen Mutationen anreichern, die keinen Nachteil für ihre Besitzer haben (neutrale Muta-tionen) und an die Nachfahren weitervererbt werden. Der Informations-gehalt eines solchen Gens ist im Laufe der Zeit jedoch derart gemindert, dass es seine Fähigkeit schließlich gänzlich verliert, ein spezifisches Pro-tein zu codieren und damit die Bildung einer bestimmten Struktur zu regulieren, so etwa die Entwicklung von Flugorganen. Stellen Sie sich

19 T. L. Maginnis: Leg generation stunts wing growth and hinders flight performance in a stick insect (Sipyloidea sipylus). Proceedings of the Royal Society of London B 273, 1811-1814 (2006).

20 S. Wedmann, S. Bradler and J. Rust: The first fossil leaf insect: 47 million years of specialized cryptic morphology and behavior. Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA 104, 565-569 (2007).

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vor, Sie würden von diesem Text eine Kopie anfertigen und nach jedem Kopiervorgang einen Buchstaben in dem kopierten Text wahllos aus-tauschen. Wie oft könnten Sie diesen Vorgang wiederholen, bis der Text keinen Sinn mehr macht? Eine vergleichbare Frage stellte sich auch das amerikanische Forscherteam um den Molekularbiologen Rudolf Raff.21 Raff und seine Mitarbeiter untersuchten den Informationsverlust in ver-stummten Genen, sogenannten Pseudogenen, über die Zeit und kamen zu dem Schluss, dass es bis zu sechs Millionen Jahre möglich ist, ein schlafendes und noch funktionsfähiges Gen zu reaktivieren. Die Reak-tivierung eines solchen Gens nach über zehn Millionen Jahren sollte aber selbst bei geringen Mutationsraten ausgeschlossen sein. Die Information und damit Funktionstüchtigkeit des Gens wäre dann unwiederbringlich verloren gegangen. Demnach wäre die Re-Evolution von Spiralwindun-gen bei Pantoffelschnecken und von Flügeln bei Stabschrecken nahezu unmöglich.

Allerdings besteht der Verdacht, dass latente entwicklungsbiologische Netzwerke einschließlich der zugrunde liegenden genetischen Informa-tion auch über deutlich längere Zeiträume intakt bleiben. Hinweise dar-auf liefern Atavismen. Säugetiere wie Wale und Delphine haben im Zuge der erneuten Eroberung des aquatischen Lebensraumes ihre Vorderbeine zu großen flossenähnlichen Flippern umgewandelt und die Hinterextre-mitäten weitgehend reduziert. Äußerlich treten im hinteren Körper-abschnitt keinerlei sichtbare Strukturen auf, im Innern sind jedoch noch verkümmerte Reste des Beckengürtels und der Oberschenkel vorhanden. Allerdings besitzt noch einer unter 5000 ausgewachsenen Pottwalen ata-vistische Hinterextremitäten, die zuweilen bemerkenswert vollständig sind.22 Unterschenkelknochen bis zu 80 cm Länge und zahlreiche Knochen des Fußes können entwickelt sein. Bei den Delphinen sind die Hinterextremitäten nur vorübergehend embryonal angelegt und werden bei ausgewachsenen Tieren auch im Körperinneren völlig reduziert, den-noch berichteten japanische Fischer 2006 von einem Tümmler mit einem zweiten Paar hintere Flipper (Abb. 12).23 Es darf als gesichert gelten, dass der letzte gemeinsame Vorfahre der Wale und Delphine vor über 30 Mil-lionen Jahren seine Hinterbeine verloren hat. Somit ist das Entwick-lungsprogramm der Hinterextremitäten in diesen Fällen deutlich länger

21 C. R. Marshall, E. C. Raff and R. A. Raff: Dollo’s law and the death and resurrec­tion of genes. Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA 91, 12283-12287 (1994).

22 B. K. Hall: Developmental mechanisms underlying the formation of atavisms. Bio-logical Reviews 59, 89-124 (1984).

23 M. Le Page: The ancestor within. New Scientist 193, Heft 2586, 28-33 (2007).

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Abb. 12: Ein Delphin, der 2006 vor der japanischen Küste gefangen wurde, hat

neben den stets vorhandenen großen Flippern im Brustbereich hinten ein zweites

Paar Flipper ausgebildet. Gewöhnlich sind die Hinterbeine bei diesen Meeressäu-

gern vollständig reduziert.

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erhalten geblieben, als in der zuvor geschilderten Studie postuliert. Es lässt sich leicht argumentieren, dass im hinteren Körperabschnitt der Meeressäuger schlichtweg das Entwicklungsprogramm der Vorderextre-mitäten abläuft, da die Entwicklungsmaschinerie die ganze Zeit vorhan-den und funktionstüchtig sein muss.

Atavismen müssen nicht immer spontan sein, also natürlichen Ur-sprungs, sondern lassen sich auch experimentell auslösen. Die Betrach-tung experimenteller atavistischer Strukturen kann zur Einschätzung der Zeiträume äußerst aufschlussreich sein, in denen ungenutzte Entwick-lungsprogramme intakt bleiben. Edward J. Kollar und Christopher Fi-sher berichteten im Wissenschaftsmagazin Science im Februar 1980 von einem aufsehenerregenden Experiment.24 Die beiden Wissenschaftler entnahmen äußeres Gewebe (Epithel) aus dem Kiefergewebe von fünf Tage alten Hühnerembryonen und kombinierten es mit innerem Kiefer-gewebe (Mesenchym) von 16 bis 18 Tage alten Mäuseembryonen und beobachteten anschließend die Entwicklung von Zähnen. Dieses Ergeb-nis war erstaunlich, und die Studie erlangte als ›hen’s teeth‹-Experiment große Berühmtheit. Hierzu einige Erklärungen und Bemerkungen: An der Zahnbildung sind zwei Gewebe beteiligt. Das außen liegende Epithel bildet den harten Zahnschmelz und das darunter befindliche Mesen-chym das knöcherne Zahnbein oder Dentin. Das Mesenchym ist aber nur dann zur Dentinbildung in der Lage, wenn es vom darüberliegenden Epithel biochemische Signale erhält. Das Epithel ist somit Auslöser dieses Vorgangs, jedoch benötigt es zur weiteren Entwicklung und Bildung von Zahnschmelz wiederum Signale aus dem Mesenchym. Epithel und Me-senchym können also nur gemeinsam einen Zahn bilden und müssen zu diesem Zweck chemisch kommunizieren. Es ist schon verwunderlich, dass Gewebe aus Vögeln und Säugetieren einander überhaupt verstehen, noch erstaunlicher ist dies aber, weil kein heute lebender Vogel Zähne besitzt. Das Epithelgewebe aus Vögeln ist dennoch in der Lage, die Zahnbildung im Mesenchym von Mäusen auszulösen. Die Vögel haben einst Zähne besessen, was an Fossilfunden des Urvogels Archaeopteryx eindeutig abzulesen ist (Abb. 13). So uneinig sich die Wissenschaft derzeit auch ist, wann der letzte gemeinsame zahntragende Vorfahre der heu-tigen Vögel lebte, so betrachten wir hier wenigstens einen Zeitraum von 60 Millionen, nach anderer Ansicht bis zu 100 Millionen Jahren. Die evolutive Trennung der Linie der Vögel und Säugetiere einschließlich ih-rer reptilienartigen Vorfahren ist noch deutlich älter und erfolgte vor

24 E. J. Kollar and C. Fisher: Tooth induction in chick epithelium: Expression of qui­escent genes for enamel synthesis. Science 207, 993-995 (1980).

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über 300 Millionen Jahren. In all dieser Zeit haben die beiden Gewebe-typen offenbar nicht ›verlernt‹, miteinander zu kommunizieren. Ein Hinweis auf außerordentlich konservierte Entwicklungsmechanismen und zugleich darauf, dass mit dem Verschwinden einer Struktur nicht zwangsläufig die zugrunde liegenden genetischen Elemente verloren gehen.

Stephen Jay Gould war von dem Experiment und dessen Ergebnis derart beeindruckt, dass er dem Atavismus einen Aufsatz mit dem Titel

Abb. 13: Archaeopteryx-Rekonstruktion. Illustration: John Gurche.

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Hen’s Teeth and Horse’s Toes in dem gleichnamigen Essayband widmete.25 Darin brachte Gould seine Begeisterung für das Phänomen zum Aus-druck und übte Kritik an der Geringschätzung des Atavismus seitens der Wissenschaft, die das Auftreten atavistischer Strukturen bis dato als kuri-osen entwicklungsgeschichtlichen Rückschritt abtut:

Atavismen spiegeln die enorme, latente Kapazität genetischer Systeme wider, nicht primär die Einschränkung und Limitierung verursacht von der Vergangenheit eines Organismus.26

Charles Darwin (1809-1882) hatte dem Atavismus bereits in The Origin of Species Beachtung geschenkt, denn schließlich liefern atavistische Merk-male Argumente gegen die separate Schöpfung der Organismen, und in späteren Werken vermutete er darin sogar eine wichtige Ursache für bio-logische Variabilität:

Wenn ein Merkmal, das in einer Rasse verloren gegangen ist, nach einer großen Anzahl von Generationen wiederkehrt, so ist die wahr-scheinlichste Hypothese nicht die, dass ein Individuum jetzt plötzlich nach einem mehrere hundert Generationen älteren Vorgänger zurück-strebt, sondern die, dass in jeder der aufeinanderfolgenden Genera-tionen das fragliche Merkmal noch latent vorhanden gewesen ist und nun endlich unter unbekannten günstigen Verhältnissen zum Durch-bruch gelangt.27

Diesen Absatz aus dem fünften Kapitel von The Origin betitelte Darwin ganz wertfrei mit »reversions to long-lost characters«, wohingegen wir in der deutschen Übersetzung »Rückschlag zu längst verloren gegangenen Charakteren« zu lesen bekommen.28 Derart negativer Beiklang hat Tradi-tion, und Synonyme wie »throwback« (Rückschlag) oder »pas-en-arrière«

25 S. J. Gould: Hen’s Teeth and Horse’s Toes. Further Reflections in Natural History. New York, London: W. W. Norton & Company 1983.

26 »Atavisms reflect the enormous, latent capacity of genetic systems, not primarily the constraints and limitations imposed by an organism’s past« (Ebda., S. 181f.).

27 »When a character which has been lost in a breed, reappears after a great number of generations, the most probable hypothesis is, not that one individual suddenly takes after an ancestor removed by some hundred generations, but that in each successive generation the character in question has been lying latent, and at last, under unknown favourable conditions, is developed« (Ch. Darwin 1859 [1872], The Origin of Species, S. 118).

28 Charles Darwin: Gesammelte Werke. Übersetzt aus dem Englischen durch den Zoologen Julius Victor Carus (1823-1903), autorisierte deutsche Erstausgabe. Stuttgart: E. Schweizerbart’sche Verlagsbuchhandlung 1874-1888.

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(Rückschritt) sind in Lehrbüchern jüngsten Datums nach wie vor zu fin-den und charakterisieren den Atavismus als eine Form von entwicklungs-biologischem Versagen. Gould vertrat eine strikt gegenteilige Meinung und unterstrich die positiven Aspekte. Der Atavismus sei eine potentielle Quelle rascher evolutiver Veränderung und somit eine mögliche Ursache für makroevolutive Sprünge von Organismen. Geringe genetische Ver-änderungen, etwa die Rückmutation in einem entsprechenden Kontroll- oder ›Master‹-Gen, könnten drastische anatomische Veränderungen in einem Organismus hervorrufen.

Goulds Begeisterung teilten allerdings nur wenige Autoren, und kri-tische Stimmen zogen sogar die Ergebnisse von Kollar und Fisher in Zweifel. Unter den Skeptikern war auch Rudolf Raff, der vermutete, dass Kontamination, also Verunreinigung des Mäusemesenchyms durch Epi-thelzellen aus der Maus, für die ›Hühnerzähne‹ verantwortlich war. Raff zufolge waren es also die Mäusezellen selbst und nicht Epithelzellen aus dem Huhn, die die Zahnbildung auslösten. In späteren Studien wurde ein Protein identifiziert (Bmp4, Bone morphogenetic protein 4), welches in den Epithelzellen des Huhns fehlt und für die Zahnentwicklung not-wendig ist. Demnach konnte es sich bei den ›hen’s teeth‹ nur um ein Artefakt handeln. Doch 2006 verstummten die Kritiker schließlich. In einer natürlich auftretenden Mutante von Hühnern, der talpid2-Mu-tante, ohne jeglichen Einfluss durch Mausgewebe oder sonstige Manipu-lation beobachteten Wissenschaftler die Entwicklung von Zähnen.29 Die Zähne der Föten ähnelten in frappierender Weise den Zähnen von Kro-kodilen, was kaum überrascht, da die Krokodile unter den heute leben-den Organismen die Nächstverwandten der Vögel sind. Wir müssen also anerkennen, dass ein latentes Zahnentwicklungsprogramm in Vögeln tatsächlich über eine enorme Zeitspanne hinweg erhalten geblieben ist. Eine Erklärung hierfür liefert Rudolf Raff selbst: In seiner Studie räumte er ein, dass Gene auch länger als 10 Millionen Jahre funktionstüchtig bleiben können, aber nur unter der Voraussetzung, dass sie in weiteren Entwicklungsnetzwerken eines Organismus benötigt werden. Diese Eigen schaft eines Gens, für die Ausprägung einer Vielzahl von Merkma-len verantwortlich zu sein, bezeichnet man als Pleiotropie. Entwicklungs-gene scheinen sogar in der Regel pleiotrop zu sein und fungieren quasi als Schalter, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten und an unterschiedlichen Orten der Entwicklung unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Pleiotrope

29 M. P. Harris, S. M. Hasso, M. W. J. Ferguson and J. F. Fallon: The development of archosaurian first­generation teeth in a chicken mutant. Current Biology 16, 371-377 (2006).

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Gene dürfen nur sehr eingeschränkt mutieren, da sie andernfalls ihren vielfältigen Aufgaben nicht mehr nachkommen könnten.

Bislang ist über die Flügelentwicklung bei Stabschrecken wenig be-kannt, doch dank zahlreicher detaillierter Studien an der Taufliege Dro­sophila weiß man, dass eine Reihe beteiligter Gene auch in anderen Ent-wicklungsprozessen aktiv ist. Diese pleiotropen Gene sind auch für die Unterdrückung der Flügelentwicklung relevant. Näher untersucht wurde dies bei einer weiteren Insektengruppe, den Ameisen.30 Ameisen sind hinsichtlich ihrer Flügelausbildung polymorph: Innerhalb einer Art tre-ten Individuen mit und ohne Flügel auf. Geschlechtstiere (Königinnen und Könige) entwickeln Flügel, wohingegen die sterile Arbeiterkaste flü-gellos bleibt. Die Flügelentwicklung der Arbeiterinnen wird im Larven-stadium unterbrochen, und zwar je nach Ameisenspezies an verschie-denen Punkten des genetischen Entwicklungsnetzwerkes. Beteiligt sind hierbei Gene mit den Namen engrailed und spalt, die auch an der frühen Entwicklung des Embryos sowie bei der Bildung des Gehirns und zahl-reicher anderer Organe der Insekten mitwirken. Die Funktionsfähigkeit dieser in hohem Maße pleiotropen Gene bleibt also auch bei flügellosen Insekten erhalten, und ein erneutes Aktivieren der Gene zum richtigen Zeitpunkt könnte aufs Neue Flügel hervorbringen.

Ob und in welchem Maße ein Gen aktiv ist, wird durch regulatorische Abschnitte im Erbgut geregelt, sogenannte cis-regulatorische Einheiten. Diesem regulatorischen Erbgut schenken die molekularen Entwicklungs-biologen zunehmend ihre Aufmerksamkeit. Einige Wissenschaftler wie der amerikanische Entwicklungsbiologe Sean Carroll halten die Muta-tionen in den cis-regulatorischen Einheiten für die bedeutsamste Ursache von evolutiven anatomischen Neuerungen31 und weniger die Mutationen auf den codierenden Genen selbst, wie man jahrzehntelang annahm. Kurz gesagt, die tierischen Organismen verfügen über ein Repertoire konservierter Entwicklungsgene, und die morphologische Diversität kommt durch die räumlich und zeitlich unterschiedliche Rekrutierung dieser Gene zustande. Möglicherweise verlagert sich somit das Problem des Informationsverlustes lediglich von einem inaktiven, vermeintlich mutierenden Gen auf dessen spezifische regulatorische Einheiten. Letz-tere dürften durch Anreicherung von Mutationen im Laufe der Zeit in dem gleichen Maße funktionslos werden wie ein Pseudogen.

30 E. Abouheif and G. A. Wray: Evolution of the gene network underlying wing polyphenism in ants. Science 297, 249-252 (2002).

31 S. B. Carroll: Evolution at two levels: On genes and form. PLoS Biology 3, e245 (2005).

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Nach vorn im Rückwärtsgang?

Atavismen und Re-Evolution sind zwei Erscheinungsformen des gleichen Phänomens: der Wiederkehr vormals verlorener Strukturen und Eigen-schaften. Während Atavismen einzelne Individuen betreffen, treten re-evolvierte Merkmale bei allen Individuen einer Population, einer Art oder gar Artengruppe auf. Nun gilt es, beide Formen zu verknüpfen und vom Atavismus schließlich zum re-evolvierten Merkmal zu gelangen. Damit ein atavistischer Merkmalszug nicht als Kuriosität innerhalb einer Art so rasch wieder verschwindet, wie er spontan entstand, muss sich das Merkmal zunächst auf die Nachkommen vererben lassen. Es muss sich in den folgenden Generationen durchsetzen und in der Population anrei-chern können, bis das Merkmal schließlich bei allen Individuen vorhan-den ist. Dann sprechen wir von einem taxischen oder phyletischen Atavis-mus (siehe Fußnote 5), also einem re-evolvierten Merkmal. Tatsächlich handelt es sich hierbei um einen Evolutionsvorgang, denn das spontan entstandene Merkmal ist der Selektion, der Auslese, unterworfen, und nur wenn es keinen Nachteil für seinen Besitzer hat, besser noch einen klaren Vorteil, wird es sich innerhalb einer Spezies durchsetzen können. Berechnungen von Populationsgenetikern zeigen, dass die Häufigkeit einer wiedererwachten Genvariante, wenn deren Träger nur einen ein-prozentigen Selektionsvorteil innerhalb der Population besitzen, in ge-rade einmal 350 Generationen von einem Hundertstel auf ein Viertel aller Individuen anwachsen kann.32 Bei größerem Selektionsvorteil sogar bedeutend schneller. Unter der Annahme jährlicher Generationsfolgen wäre es also denkbar, dass sich ein Millionen Jahre lang schlummerndes Gen nach Reaktivierung in nur wenigen hundert Jahren über eine ganze Spezies ausbreiten kann.

Hier möchte ich nun einen Bogen schlagen zum Anfang meines Bei-trages, zu Pedro Gonsalvus und seiner Haarigkeit. Pedro Gonsalvus ist möglicherweise ›Opfer‹ (es ist in der Tat schwer, hier einen neutralen Begriff zu verwenden) eines spontanen Atavismus geworden, den er an wenigstens fünf seiner Kinder weitergab. Die Söhne Enrico und Orazio wurden wiederum Väter behaarter Kinder (siehe Fußnote 2). Doch dann verliert sich die Spur haariger Nachkommen. Durchgesetzt hatte sich diese Eigenschaft in der damaligen Population offenbar nicht.

Ein anderer, gut untersuchter Fall von Hypertrichosis der Gegenwart berichtet von einer großen mexikanischen Familie, in der mittlerweile fast 30 Fälle in 5 Generationen bekannt geworden sind (siehe Fußnote 6). Spontan aufgetreten war die Hypertrichosis bei einem weiblichen Indi-

32 M. W. Strickberger: Genetics. New York: MacMillan 1976.

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viduum, und in der vierten Generation besitzen mittlerweile 18 Männer und Frauen die Haarigkeit ihrer Urgroßmutter. Somit hat sich das Merk-mal in der menschlichen Population bereits kräftig vermehrt. Mit der übermäßigen Haarigkeit sind zudem keinerlei nachteilige physische Be-einträchtigungen verbunden. Die Mutation – wie eingangs bemerkt, liegt sie auf dem weiblichen X-Chromosom – scheint also ausschließlich die Körperbehaarung zu betreffen und könnte tatsächlich die Reakti-vierung eines ›Urzeitgens‹ ausgelöst haben. Im Gonsalvus-Clan kann die verantwortliche Mutation des Erbgutes im Übrigen nicht auf dem X-Chromosomen gelegen haben, da in diesem Fall nur die Töchter die übermäßige Behaarung geerbt hätten. Die genetischen Ursachen sind also in beiden Fällen unterschiedlich, haben jedoch ein sehr ähnliches Erscheinungsbild, das dominant vererbt wird. Könnte sich dieses Merk-mal denn nun in unserer menschlichen Population in der Weise aus-breiten, dass es zu einem phyletischen Atavismus wird? Dazu müsste es positiv selektiert werden, seinem Träger irgendeinen Vorteil bieten, bei-spielsweise als Fell zum Schutz vor Wärmeverlust auf einem abkühlenden Planeten. Oder das Merkmal müsste sexuell selektiert werden, die über-mäßige Behaarung also von dem Paarungspartner als ausgesprochen attraktiv empfunden werden. Beide Szenarien erscheinen derzeit äußerst abwegig. Theoretisch ist die Re-Evolution eines ›Felles‹ jedoch möglich, und zumindest die Anfangsphase eines solchen Ereignisses beobachten wir vielleicht derzeit in Mexiko.

Was bedeutet dies nun für das Dollo’sche Prinzip? Zunächst einmal ist dieses nach wie vor gültig hinsichtlich der Irreversibilität von Evolution in Form der indestructibility of the past, der Unzerstörbarkeit der Vergan-genheit. Das Beispiel der Hypertrichosis zeigt dies eindrucksvoll. Das Behaarungsmuster weicht zum einen von dem typischen Fell der übrigen Primaten ab und zum anderen ist es wiederum ursprüng licher als bei den uns nächstverwandten Menschenaffen, die im Gegensatz zu Pedro Gon-salvus ein weitgehend unbehaartes Gesicht haben. Für manche ist dies ein Hinweis darauf, dass es sich bei Hypertrichosis nicht um einen Ata-vismus handelt, sondern um etwas Neues, ein konvergentes Merkmal.33 Meines Erachtens sind die beobachteten Unterschiede lediglich ein bei-spielhafter Beleg dafür, dass die intermediären Spuren der Evolution er-halten geblieben sind, nicht Schritt für Schritt umgekehrt wurden. Dies ist vergleichbar mit der Wurmschnecke, die kein perfekt gewundenes Gehäuse mehr hervorgebracht hat. Aus Sicht der Molekularbiologie ist

33 J. Verhulst: Atavisms in Homo sapiens: A Bolkian heterodoxy revisited. Acta Bio-theoretica 44, 59-73 (1996).

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Dollos ›Gesetz‹ schlichtweg eine Aussage über die statis tische Unwahr-scheinlichkeit, dass eine größere Zahl von Mutationsschritten umkehr-bar ist.34 Die Wahrscheinlichkeit hierfür wird schon bei einigen Schritten verschwindend gering, wohingegen ein einzelner Mutationsschritt leicht rückgängig gemacht werden kann. In einem aktuellen Systematik-Lehr-buch ist allerdings zu lesen:

Aus physikalischer Sicht muss Evolution irreversibel sein, da Evolu-tionsvorgänge die Entropie der Umgebung erhöhen und dieser Pro-zess nicht umkehrbar ist. Was der Systematiker als ›Rückmutation‹ bezeichnet, ist physikalisch nicht die Rückkehr in den älteren Zu-stand, sondern die Entstehung eines neuen Zustandes, der dem älte-ren ähnlich ist.35

Diese Definition von Irreversibilität ist wenig hilfreich, da sie lediglich aussagt, dass wir physikalisch in der Zeit nicht zurückgehen können. Demnach wären selbst reversible chemische Reaktionen irreversibel, und ganz sicher hatte Dollo eine derartige Definition nicht im Sinn. Tatsäch-lich vertrat Louis Dollo die Meinung, dass einfache evolutive Schritte sehr wohl umkehrbar sind.

Doch wie steht es nun um den zweiten Aspekt der Dollo’schen Regel, die Forderung, dass komplexe Merkmale nicht in gleicher Form zurück-kehren können? Wenn nun ein einzelner Mutationsschritt, also ein einfacher evolutiver Schritt, die Bildung eines zuvor unterdrückten kom-plexen Merkmals auslösen kann, dann ist die Rückkehr von komplexen Merkmalen entgegen Dollos Annahme durchaus möglich. Dollo war das Wesen der zugrunde liegenden Genetik nicht bekannt, und er vermute te, dass zur Bildung einer komplexen Struktur eine Vielzahl (unabhängiger) Schritte vonnöten sei. Um 1900 glaubte man, das Fehlen eines Merkmals bedeute auch das Fehlen der entsprechenden genetischen Anlage. Doch diese presence-absence-Hypothese hatte schon in der Mitte des vergange-nen Jahrhunderts lediglich historische Bedeutung.36 Zoologen und An-thropologen diskutierten bereits damals ausführlich die Rolle unrealisier-ter latenter Anlagen im Evolutionsgeschehen, sprachen von latenten Potenzen und führten für diejenigen Gene, die in der Entwicklung eines

34 R. Dawkins: The blind watchmaker. New York: W. W. Norton & Company 1986.

35 J.-W. Waegele: Grundlagen der Phylogenetischen Systematik. München: Dr. Fried-rich Pfeil 2000.

36 G. Osche: Über latente Potenzen und ihre Rolle im Evolutionsgeschehen. Ein Beitrag zur Theorie des Pluripotenzphaenomens. Zoologischer Anzeiger 174, 411-440 (1965).

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Organismus als ›ungeweckte Möglichkeiten‹ ruhen, die Bezeichnung Kryptotypus ein. Warum sind wir dann heute derart überrascht, dass Merkmale re-evolvieren können? Schon aus theoretischen Erwägungen sollte uns dies nicht wundern: Es ist zweifelsfrei von Vorteil, flexibel auf Veränderungen in der Umwelt reagieren zu können, evolvierbar zu sein. Evolvability ist die Fähigkeit eines Organismus, vererbbare Merkmals-variabilität zu erschaffen, und derartige Evolvierbarkeit ist ihrerseits ein Produkt der Evolution.37 Es hat sich demnach als vorteilhaft erwiesen, evolvieren zu können. Vormals reduzierte Merkmale – wie etwa die Flug-organe bei Stabschrecken – nicht wiedererlangen zu können, stellt hin-gegen eine Einschränkung der Evolvierbarkeit dar, gleichsam eine Sack-gasse in der Evolution.

Die Beispiele für ›Dollo’sche Gesetzesbrüche‹ mehren sich derzeit ein-drucksvoll, und die neuen Belege sind umfangreich und aussagekräftig. Wir sollten in unserer Wahrnehmung des Phänomens Atavismus Charles Darwin folgen. Darwin sah darin eine Quelle für Variabilität von Orga-nismen und verglich latente Merkmale mit einem Text, der mit unsicht-barer Tinte auf Papier geschrieben steht – bereit, evolviert zu werden, wann immer dies durch bestimmte Bedingungen begünstigt wird.38 Die molekulare Entwicklungsbiologie und Genomforschung machen rasante Fortschritte und lassen darauf hoffen, dass diese unsichtbare Tinte in absehbarer Zukunft lesbar sein wird. Das Aufdecken taxischer Atavismen sollte hierbei von größtem Interesse für die Evolutionsbiologie sein.

37 M. Kirschner and J. Gerhart: Evolvability. Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA 95, 8420-8427 (1998).

38 Ch. Darwin: Variation of animals and plants under domestication. Vol. 2, London: John Murray 1868.