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Christoph Ulf Formen von Konsumption, Lebensstilen und Öffentlichkeiten von Homer bis Theognis Zusammenfassung: Der nicht nur auf die Nutznießung materieller Güter zu be- schränkende Begriff der Konsumption wird außerhalb der Altertumswissen- schaften seit längerem erfolgreich dazu benutzt, um unterschiedliche Lebens- stile mit ihren jeweiligen Lebenssituationen kausal in Verbindung zu bringen. In diesem Artikel wird der Begriff auf den Umgang mit Texten, Prestigegütern und sozialen Regeln angewandt. Als Beispielsfälle dienen die in die Ilias ein- gegangenen orientalischenTexte, die von Sappho und Xenophanes unter- schiedlich bewerteten lydischen Güter und das Verständnis sozialer Regeln bei Theognis, um ausgehend von der in den homerischen Epen festzustellenden Relativität des BestenTypen von Konsumption voneinander abzugrenzen und dabei auch den jeweiligen Spielraum für die Gestaltung von Lebensstilen zu umschreiben. Summary: The term consumptionincludes the use of material and non-materi- al goods. For some decades it has been successfully employed by several scien- tific disciplines to examine causal relationships between the various life styles and the respective historical circumstances. This paper applies the term to the way texts, prestige-goods and social rules are used in different situations. As case studies serve the orientaltexts included in the Iliad, the Lydian goods as they are differently estimated by Sappho and Xenophanes, and the way how Theognis interprets social rules. Starting from the principle of the relativity of the best, as it can be detected in the Homeric epics, various types of consump- tion are discerned to give way for circumscribing the leeway open for creating individual lifestyles. Keywords: Konsumption, Lebensstil, Homer, Sappho, Xenophanes, Theognis DOI 10.1515/klio-2014-0040 Innerhalb der römischen Elite hat Elke Stein-Hölkeskamp für die Zeit der späten römischen Republik und besonders der frühen Kaiserzeit auf Lebensentwürfe aufmerksam gemacht, die gegenüber der Beteiligung am politischen Konkur- Christoph Ulf: Universität Innsbruck, Zentrum für Alte Kulturen, Institut für Alte Geschichte und Altorientalistik, Langer Weg 11, A6020 Innsbruck, E-Mail: [email protected] Klio 2014; 96(2): 416 436 Bereitgestellt von | Universitaet Innsbruck / Universitaets- und Landesbibliothek Tir Angemeldet | [email protected] Autorenexemplar Heruntergeladen am | 06.02.15 16:37

Formen von Konsumption, Lebensstilen und Öffentlichkeiten von Homer bis Theognis

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Christoph Ulf

Formen von Konsumption, Lebensstilenund Öffentlichkeiten von Homer bis Theognis

Zusammenfassung: Der nicht nur auf die Nutznießung materieller Güter zu be-schränkende Begriff der Konsumption wird außerhalb der Altertumswissen-schaften seit längerem erfolgreich dazu benutzt, um unterschiedliche Lebens-stile mit ihren jeweiligen Lebenssituationen kausal in Verbindung zu bringen.In diesem Artikel wird der Begriff auf den Umgang mit Texten, Prestigegüternund sozialen Regeln angewandt. Als Beispielsfälle dienen die in die Ilias ein-gegangenen ‚orientalischen‘ Texte, die von Sappho und Xenophanes unter-schiedlich bewerteten lydischen Güter und das Verständnis sozialer Regeln beiTheognis, um ausgehend von der in den homerischen Epen festzustellenden‚Relativität des Besten‘ Typen von Konsumption voneinander abzugrenzen unddabei auch den jeweiligen Spielraum für die Gestaltung von Lebensstilen zuumschreiben.

Summary: The term ‚consumption‘ includes the use of material and non-materi-al goods. For some decades it has been successfully employed by several scien-tific disciplines to examine causal relationships between the various life stylesand the respective historical circumstances. This paper applies the term to theway texts, prestige-goods and social rules are used in different situations. Ascase studies serve the ‚oriental‘ texts included in the „Iliad“, the Lydian goodsas they are differently estimated by Sappho and Xenophanes, and the way howTheognis interprets social rules. Starting from the principle of the ‚relativity ofthe best‘, as it can be detected in the Homeric epics, various types of consump-tion are discerned to give way for circumscribing the leeway open for creatingindividual lifestyles.

Keywords: Konsumption, Lebensstil, Homer, Sappho, Xenophanes, Theognis

DOI 10.1515/klio-2014-0040

Innerhalb der römischen Elite hat Elke Stein-Hölkeskamp für die Zeit der spätenrömischen Republik und besonders der frühen Kaiserzeit auf Lebensentwürfeaufmerksam gemacht, die gegenüber der Beteiligung am politischen Konkur-

Christoph Ulf: Universität Innsbruck, Zentrum für Alte Kulturen, Institut für Alte Geschichte undAltorientalistik, Langer Weg 11, A–6020 Innsbruck, E-Mail: [email protected]

Klio 2014; 96(2): 416–436

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renzkampf sozial akzeptierte Alternativen darstellten. An die Stelle einer politi-schen Karriere konnte Betätigung als Redner, Aktivitäten im Literaturbetriebund/oder die Inszenierung des eigenen Hauses als Ort einer kultivierten Lebens-atmosphäre treten. Stärker vom archäologischen Material herkommend hatErich Kistler auf andere Ausprägung von Lebensstilen sowohl in Griechenlandals auch in Rom hingewiesen, nämlich auf die Forderung nach Mäßigung ge-genüber dem Leben im Genuss.1 Beiden Ansätzen ist der Hinweis darauf ge-meinsam, dass die verschiedenen antiken Gesellschaften nicht uniform waren,sondern die Möglichkeit zur Entscheidung zwischen unterschiedlichen Lebens-stilen boten. Eine solche Unterschiedlichkeit war in der Vergangenheit meistnur unter dem Aspekt von Devianz und Außenseitertum ins Blickfeld geraten.Dieser Blickwinkel wird durch die genannten Studien aber insofern entschei-dend erweitert, als die hier erörterten unterschiedlichen Lebensentwürfe inner-halb des sozial Anerkannten bleiben. Dieser Gedankengang soll im Folgendendadurch weiter verfolgt und auch verfeinert werden, dass der Begriff der Kon-sumption als Instrument zur Differenzierung zwischen verschiedenen Lebenssti-len in antiken Kontexten benützt wird. Dafür ist eine knappe Betrachtung desBegriffs nötig.2

Der häufig gebrauchte Begriff der Konsumgesellschaft vermittelt die Vorstel-lung, dass in der gegenwärtigen Welt der Verbrauch von durch Kauf erworbe-nen Gütern zu einem Wert für sich geworden sei, der allen anderen Wertenübergeordnet werde. Diese Art der Eingrenzung des Wortes Konsum stellt eineoffensichtliche Verkürzung eines weiteren Wortinhaltes dar. Denn selbst wennman dem zustimmte, dass der Verbrauch von Gütern in der modernen Welt einemarkant größere Rolle spielt als in früheren Zeiten, so heißt das nicht, dass die-ser intensivierte Konsum als eine gleichsam absolute Größe keinem anderen alsdem ökonomischen ‚Gesetz‘ von Angebot und (induzierter) Nachfrage unterlie-gen würde.

Demgegenüber wurde in der modernen Konsumforschung eine Reihe vonMerkmalen herausgearbeitet, die jede Art von Konsum begleiten.3 Konsum be-deutet nicht einfach nur den Verbrauch von Gütern, sondern das ‚in GebrauchNehmen‘ eines Gutes. Dieses Gebrauchen vermittelt einem Gut durch die Art derKonsumption eine erst durch diesen Prozess hervorgerufene eigene Bedeutung.

1 Stein-Hölkeskamp (2003); (2011); Kistler (2006); (2009).2 Dieser Artikel geht in seinem Kern auf einen Vortrag zurück, der bei der von Werner Tietz ander LMU München organisierten und von ihm konzipierten Tagung „Konsum in den Gesell-schaften der Klassischen Antike“, 24.–25. 11. 2011, gehalten wurde, deren Beiträge leider nichtgeschlossen publiziert werden konnten.3 Vgl. dazu z. B. die verschiedenen Beiträge in Warde (2010).

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Welche Bedeutung auf diese Weise erzeugt wird, ist jedoch nicht willkürlich,sondern orientiert sich an verschiedenen (moralischen, sozialen, ästhetischen,politischen usw.) Standards der Gruppe bzw. Gruppen, in die der jeweilige Kon-sument eingebunden ist. Die Konsumption von Gütern wird dadurch auch zueinem kommunikativen Akt, durch den sich der Konsument innerhalb seinerGruppe positioniert. Daher kann Konsum dazu dienen, soziale Bindungen her-zustellen oder zu bestätigen, aber auch solche Bindungen zu vermeiden, odergar, sich gegen geltende Regeln des Konsums zu stellen.

Diese Zusammenhänge zeigen, dass Konsum kein Verhalten ist, das sichallein aus Vorgängen der Produktion und der Befriedigung von grundlegendenBedürfnissen, also rein ökonomisch mit Hilfe der Annahme eines rationalen Ak-teurs ableiten ließe. Es ist im Gegenteil so, dass – wie das bekannte Zitat vonArjun Appadurai lautet – Güter ein „social life“ haben.4 Der so kenntlich ge-machte soziale Konnex zwischen Konsumption und Gütern kann mit dem vonPierre Bourdieu entwickelten Konzept des sozialen Feldes noch weiter auf-gehellt werden. Konsum ist ein Mittel, um symbolisches Kapital zu erwerben,mit dessen Hilfe eine Position im sozialen Feld behauptet oder auch erst er-reicht werden kann. Auf diese Weise verbindet sich Konsum mit dem Habituseiner Person, oder anders formuliert: Konsumption wird zum Grundbestandteileines jeden Lebensstils.5 Das Konzept des sozialen Felds ist deshalb für das Fol-gende von Bedeutung, weil es davon abhält, mit der einfachen Opposition ‚aris-tokratisch‘ – ‚bourgeois‘ bzw. ‚Aristokratie‘ – ‚Demos‘ zu operieren, wie dasnach wie vor häufig getan wird.6

Vor dem Hintergrund des Zusammenspiels von Regeln des sozialen Felds,von Konsumption und Lebensstil werden die Konsumenten zu kulturellen Ak-teuren, welche die Regeln, die das soziale Feld konstituieren, bewusst oder un-bewusst zur Realisierung ihrer verschiedenen Ziele und Wünsche benützen.7 Mitdem Blick auf gegenwärtige Gesellschaften werden unterschiedliche Typen vonKonsumenten unterschieden. Yiannis Gabriel und Tim Lang sprechen z. B. von:chooser, communicator, explorer, identity-seeker, hedonist or artist, victim, re-bel, activist und citizen. Diese verschiedenen Typen machen die Möglichkeitender Wahl, aber auch die Notwendigkeit der Selektion des ‚In Gebrauch Neh-

4 Appadurai (1986).5 Vgl. dazu Kistler – Ulf (2012) bes. 42–54 (mit Lit.).6 So z. B. Ferrari (2010) 17, unter Berufung auf die einflussreiche Untersuchung von Kurke(1992).7 Zum Begriff des ‚kulturellen Akteurs‘ vgl. Kistler – Ulf (2012), zu den anthropologischen Mo-dellen, mit denen die verschiedenen Möglichkeiten der Distinktion durch Konsumption erfasstwerden, vgl. Dietler – Hayden (2001).

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mens‘ von Gütern in modernen Gesellschaften sichtbar. Daraus leitet sich diefolgende griffige Feststellung ab: „Consumption is not just a means of fulfillingneeds but permeates our social relations, identities, perceptions and images.“8

Es stellt sich nun die Frage, ob Konsumption in diesem Sinn als Mittel zurAnalyse antiker Gesellschaften bzw. kultureller Räume geeignet ist. Die Antwortdarauf muss sich aus der Anwendung des Begriffs ergeben. Das soll im Folgen-den auf drei unterschiedlichen Feldern, der Konsumption von Texten bzw. Moti-ven, von ‚orientalischen‘ Gegenständen und von sozialen Regeln exemplarischversucht werden.9

‚Orientalische‘ Texte –konsumiert von Ilias-Dichter

Die Ilias Homers ist nicht bloß eine Erzählung über einen Krieg; sie ist die Be-schreibung und Kommentierung der komplexen Verhältnisse in unterschiedli-chen sozio-politischen Einheiten, die sich aus den Troern, den Achäern, aberauch den (olympischen) Göttern konstituieren. In jeder dieser Einheiten sindinterne Spannungslinien zu beobachten, über die auch unter Verweis auf dieVergangenheit debattiert wird.10 Es ist auffällig, dass an wichtigen Stellen dieserDebatten bzw. des mit ihnen in direkter Verbindung stehenden Ablaufs der Er-eignisse in der Erzählung Motive an zentralen Stellen ausgewählt und im obigenSinn konsumiert werden, die aus Texten des Vorderen Orients stammen.11 Diestrifft für jede der drei miteinander verflochtenen Stränge der Ilias-Erzählung zu,für die Ereignisse und Handlungen unter den Göttern, die Abläufe unter denTroern und die unter den Achäern. Das Schlachtfeld dient dazu, dem Leser/Hö-rer die Möglichkeit zu geben, die Auswirkungen der jeweiligen Debatten und

8 Gabriel – Lang (2006) 1.9 Die Anwendung des Begriffs Konsumption ist kein völlig neues Unterfangen; vgl. z. B. Fox-hall (1998).10 Die näheren Begründungen für das Folgende finden sich bei Ulf (2010); (2012a); (2012b). Zuden bekanntlich komplexen Debatten über die homerischen Texte, ihre Genese und historischeAussagekraft vgl. die Handbücher mit der dort angegebenen Literatur: Morris – Powell (1997);Fowler (2004); Rengakos – Zimmermann (2011); Finkelberg (2011).11 Zur Vielfalt der ‚orientalischen‘ Motive in den homerischen Epen vgl. Burkert (2003); West(1997); Morris (1997). Zur weiter differenzierenden Analyse von einzelnen Motiven Rollinger(1996); (2004). Natürlich ist der Begriff ‚orientalisch‘ bzw. ‚Orient‘ ein Konstrukt, weswegen derBegriff bei jeder Verwendung eine nähere inhaltliche Festlegung benötigte; doch wird der Ein-fachheit halber darauf verzichtet.

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der sich daraus ergebenden Entscheidungen beobachten zu können. Unter demAspekt der Konsumption stellt sich die Frage, welche Bedeutung den Motivenaus den vorderorientalischen Texten in der Ilias-Erzählung gegeben wird undob sich daraus die Art der Konsumption dieser Motive durch den Ilias-Dichterableiten lässt.

Zur Beantwortung dieser Frage werden, so weit das in einem Schema mög-lich ist, die Hauptpunkte der drei Erzählstränge voneinander abgehoben, abergleichzeitig über ihren Bezug zum Schlachtfeld auch deren Verknüpfung dar-gestellt.

Durch die schematische Visualisierung des Schlachtablaufs wird deutlich,wie direkt Erfolg und Misserfolg innerhalb der Schlacht mit den ‚internen‘ Ab-läufen unter den Achäern und Troern verbunden sind. Um exemplarisch dar-stellen zu können, wie ‚orientalische‘ Motive in den Text integriert werden, wirddie Übersicht durch die Abläufe unter den Göttern ergänzt.

Der zeitliche Ablauf der Geschehnisse ist so angeordnet, dass die Debatteunter den Göttern die Vorkommnisse unter den Menschen insofern präfiguriert,als auch die Relationen zwischen den Göttern infrage gestellt und verändertwerden. Die dabei geführten Diskussionen bestimmen die Möglichkeiten desHandelns der Götter auf dem Schlachtfeld. Hier lässt sich feststellen, dass fürdie Darstellung der Polarität von Gewalt und sozialer Bindung, die die Relatio-nen der Götter zueinander lange Zeit bestimmen, Motive aus der aus der Sicht

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der Ilias in der Vergangenheit liegenden ‚orientalischen‚ Götterwelt herangezo-gen werden. Nur einige wichtige seien hier genannt: Die Revolte der Götter ge-gen Zeus (Il. 1, 397–401), Zeus’ Kampf gegen Typhoeus (Il. 1, 781–783), die Fes-selung des Zeus (Il. 5, 385–391), die goldene Kette (Il. 8, 18–27), die Anspielungauf die Leiden der Götter durch Dione (Il. 8, 426), Okeanos und Tethys als ersteGötter (Il. 14, 201) oder die Verteilung der Macht durch Los (Il. 15, 187–193). Erstals im 15. Buch das Grundprinzip für die soziale Ordnung unter den olympi-schen Göttern durch eine von Hera vermittelte Vereinbarung zwischen Poseidonund Zeus festgelegt und dann auch noch in einer Versammlung der Götter be-stätigt wurde, verschwinden die ‚orientalischen‘ Motive aus der Argumentationder Götter und werden durch neue ‚iliadische‘ ersetzt.

Diese Art des Gebrauchs von vorhandenen Motiven und der mit ihr verbun-dene Bedeutungswandel lassen sich als Phänomene der Intertextualität auffas-sen, aber eben auch in dem eingangs beschriebenen Sinn als eine Anweisung,wie die ‚orientalischen‘ Motive konsumiert werden sollten.12 Diese besteht imKern darin, die Anwendung von Gewalt im Streit als negativ zu charakterisierenund anstelle dieses Lebensstils einen anderen zu empfehlen, nämlich gegen-sätzliche Auffassungen durch die Gegenüberstellung von Argumenten in der Öf-fentlichkeit zu benennen und mit Blick auf das allgemeine Wohl zu einer ge-meinsamen Lösung des Konflikts zu gelangen. Damit werden in der Benützung

Abb. 2

12 Diese Perspektive findet sich im Grundzug auch bei Patzek (2004), wo die Intellektualität‚Homers‘ aufgezeigt wird als Grundlage für die Kritik an der Herrschaft der basilees.

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und gleichzeitigen Abwehr ‚orientalisch-fremder‘ Motive Regeln für den Konsumdieser Motive formuliert und damit auch allgemeine Regeln für die Lebensfüh-rung vorgetragen.

Prestigegüter – unterschiedlich konsumiertvon Sappho und Xenophanes

Näher an das umgangssprachliche Verständnis von Konsumption kommt man,wenn man die Art und Weise betrachtet, welche Bedeutung lydischen Gütern ingriechischen Städten Kleinasiens zugemessen wurden. Das soll hier nur an zweiBeispielen vorgeführt werden, an der begehrten lydischen Mitra, von der Sap-pho spricht, und an der Kritik, die Xenophanes an den lydischen Luxusgüternübt.

In Fragment 98a Voigt beschreibt Sappho, dass zur Zeit ihrer Mutter derschönste Schmuck für Mädchen das purpurne Band für das Haar war, dass esaber für blonde Haare wie die ihren noch besser war, sie mit Girlanden hellerBlumen zu schmücken. Dann erwähnt Sappho, dass erst jüngst eine Mitra ausSardes mit verschiedenen Farben in Mode kam. In Fragment 98b Voigt heißt esdann, dass sie nicht in weiß, woher sie eine solche Mitra bekommen soll, diesich ihre Tochter Kleis wünscht. Und in diesem ebenfalls stark fragmentarischenText deutet sich an, dass „der Mytilenäer“ dafür verantwortlich sei. Deshalb hät-ten die Kleanaktiden fliehen müssen, und anscheinend Sappho mit ihnen.13

Sappho beschreibt den Wunsch ihrer Tochter ganz unbefangen. Er fügt sichin einen Lebensstil, der für Sappho ganz selbstverständlich zu sein scheint. DieMitra ist darin einfach ein wertvolles Gut, das ganz in diese Art der Lebensfüh-rung eingepasst ist. Doch Sappho stellt noch einen zweiten Bezug her. Die Mitraist nicht nur ein Schmuckstück für junge Mädchen, sondern stellt ein symboli-sches Kapital dar, über das auch Sappho selbst verfügen möchte. Denn die Mög-lichkeit des Erwerbs des fremden Gutes ‚Mitra‘ signalisiert die Zugehörigkeit zurElite in Mytilene – oder vielleicht genauer: zu einer der ‚Verwandtschaftsgrup-pen‘, den Kleanaktiden.14 Anders formuliert: die Möglichkeit, das fremde Gut

13 Zu diesen komplexen und vielfach nur zu vermutenden Zusammenhängen vgl. Ferrari(2010) 1–23.14 Vgl. zu dieser Diskussion Rösler (1980) 26–33; Tsomis (2001) 201–204; Ferrari (2010) 12–13.Zu der sich in der Verwendung des Terminus ‚Verwandtschaftsgruppen‘ ausdrückenden, abden 1980/90er Jahren stärker differenzierenden Einschätzung der Elite bzw. von Eliten in dergriechischen Archaik vgl. Ulf (2001); Duplouy (2006).

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konsumieren zu können, erlaubt erst den Lebensstil, der die Mitgliedschaft zurElite in Mytilene nach außen sichtbar macht. Daher geht der Besitz der Mitraweit über die Befriedigung des Wunsches eines einzelnen Mädchens hinaus; erist ein wesentliches Merkmal der Zugehörigkeit und sozialen Distinktion.

Noch ein im Kontext von Konsumption wichtiger Sachverhalt kommt hinzu.Die Mitra ist ein fremdes Gut, über dessen konkrete Bedeutung im lydischenKontext wir nicht genau Bescheid wissen. Für Sappho jedoch steht die Bedeu-tung der lydischen Mitra eindeutig fest; sie ist ein Gut, das seinen besonderenPrestigewert gerade daraus bezieht, dass es aus der Fremde kommt. Daher ist esgleichgültig, wie die Mitra in Lydien verwendet und bewertet wurde. Das fremdeGut ist völlig in die eigene sozio-politische, aber natürlich auch kulturell-ästhe-tische Welt eingepasst worden. Wenn man damit die plausible Annahme verbin-det, dass auch die Gedichte der Sappho in der Öffentlichkeit bei einem Fest vor-getragen wurden und nicht ‚private‘ Gedichte sind, dann ist die Konsumptionder Mitra durch Sappho ein Beleg für die Verbindung der Wahl eines materiel-len Gutes und der Wahl von sozialen Regeln, die eine Konsumption erst aus-macht.15

Die bekannte im Fragment 3 des Xenophanes geäußerte Kritik am Lebens-stil der Vornehmen in Kolophon steht dazu in direktem Widerspruch. Doch soll-te man sie nicht auf das Unbehagen eines aus seiner Stadt vertriebenen intellek-tuellen Kritikers reduzieren, der auf eine rationalere Durchdringung der Weltdrängt und dabei auch ökonomisch sinnloses Verhalten brandmarkt.16 SeineKritik am Lebensstil, dem allein die vorliegende Analyse gilt, ist diffiziler undsteht für mehr.

Anders als Sappho beurteilt Xenophanes die lydischen Objekte und den mitihrer Benützung einhergehenden Lebensstil deutlich negativ, obwohl ihr Cha-rakter als Prestigegüter außer Zweifel steht. Ein wichtiges Mittel dafür ist dieKennzeichnung dieser Objekte als fremd, „von den Lydern gelernt“. DieseFremdheit ist die Ursache für eine nutzlose Feinheit.17 All das, Fremdheit, Nutz-losigkeit und Verfeinerung, verbindet Xenophanes mit dem Habitus der (brei-ten) Elite und folgert daraus nicht nur die Ablehnung der Güter, sondern auchdieser Elite. Der Grund für die Ablehnung wird sinnlich – optisch: mit echtemPurpur gefärbte Mäntel, besonders gepflegte Frisuren, und auch mit dem Ge-

15 Zur Analogie zu Alkmans Louvre Partheneion (frg. 3 Calame) vgl. Krummen (2010) bes.201–207; Krummen (2013) bes. 33–38.16 In diesem Sinn aber z. B. Latacz (1991) 542–545; Lesher (1992) 61–65, 73–77.17 So wie von Kurke (1992) wird Xenophanes häufig für die Auffassung herangezogen, dassdie Ablehnung des Fremden die Ablehnung des ‚Ostens‘ sei – ein Begriff, der moderne, abernicht antike Denkmöglichkeiten widerspiegelt; bei Xenophanes ist davon nicht die Rede.

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ruchsinn – fassbar: Die Angehörigen der Elite sind nicht wohlriechend, sondernsie triefen vor Duft. Die von Xenophanes befürwortete ‚richtige‘ Situation wirdals unausgesprochenes Gegenbild erkennbar: ohne fremden Prunk, aber auchohne eine – umfangreiche (chilioi) – Elite, die sich gebärdet, wie das Tyrannentun – und die dadurch die Tyrannis hervorgebracht haben.18

Damit ist klar, dass die Konsumption der Güter Regeln folgt, die Signifikanzbesitzen, weil sie den Ort einer Person im sozialen Feld bestimmen und damitdas sozio-politische Feld insgesamt konstituieren.19

Dies lässt sich mit einem Argument noch stützen, das sich Harold Zellnerverdankt. Zellner untersucht die Art des Argumentierens bei Sappho und siehtin ihrem poetischen Stil die logische Struktur des modus tollens realisiert.20 Die-ser besagt, dass die Geltung eines Umstandes erst durch einen anderen, ausihm notwendigerweise folgenden Umstand bestätigt wird. Wenn diese Folgesi-tuation jedoch nicht zustande kommt, dann kann auch der erste Umstand nichtexistieren. Übertragen auf den Zeichencharakter der Mitra bei Sappho heißt das,dass dann, wenn der Erwerb einer Mitra möglich ist, die politische Situation inOrdnung ist. Da die Mitra aber nicht erhältlich ist, muss die politische Situationin Unordnung sein.

Die Konsumption sozialer Regeln –ein Problem für Theognis

Was hier über Sappho gesagt wird, gilt mit umgekehrten Vorzeichen auch fürdie Argumentation des Theognis. Jeder Lebensstil steht als Zeichen für eine be-stimmte Lebenshaltung bzw. einen Habitus, der als Marker für eine Position imsozialen Feld fungiert. Beides, der polysemische Charakter des fremden Gutsund die Notwendigkeit, ein ganzes soziales Feld in den Blick zu nehmen, bestä-tigt sich, wenn die Bedeutung der Konsumption an einem Beispiel bei Theognisund am Ende unter anderem Aspekt als oben noch einmal bei Homer betrachtetwird.

Ungeachtet aller Textprobleme, die sich mit den Elegien des Theognis ver-binden – die ersten Elegien (v. 1–76) bieten ohne Zweifel eine sinnvolle Abfolge

18 Zur Bedeutung von chilioi als Ausdruck der Vielzahl und nicht eines – von Ulrich von Wila-mowitz in die Debatte eingeführten – ‚Verfassungstyps‘ und der Einschätzung dieser ‚Vielen‘als Wegbereiter der Tyrannis vgl. schon Bowra (1941) 121–124.19 Dazu Kistler (2012) 62–64.20 Zellner (2010).

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von Gedankenschritten. An eine Einleitung schließt die Überlegung an, wie derLehrer selbst lernt und was das Ziel des Lernens ist (v. 19–30). Der Blick richtetsich dann auf den Schüler und die Orte des Lernens (v. 31–38). Dem hier ent-wickelten Bild werden das Verhalten der Lenker der Stadt (hegemones) und de-ren Ziele gegenübergestellt (v. 39–52). Dann folgt die Charakterisierung des Ver-haltens der laoi (v. 53–60), um am Ende das Verhalten desjenigen zubehandeln, der in diesem Umfeld zu den ‚Guten‘ zu zählen ist (v. 71–76). Damitverbindet sich dann die für Positionierung im sozialen Feld wichtige Frage an,wer zu den hetairoi zu rechnen ist (v. 77–100).21

In der rechtfertigenden Beschreibung, woher Theognis als Belehrender sei-ne Kenntnis des richtigen Verhaltens bezieht, formuliert er zuerst Regeln, wiemit tradiertem Wissen umgegangen werden soll (v. 25–30). Obwohl man esnicht allen (städtischen Bürgern: astoi) recht machen kann, selbst wenn manmit allen bekannt ist – es gibt eine Regel, an die man sich halten soll: Lernenur von den ‚Guten‘. An diese erste Regel schließt sich gleich eine zweite an,dass nämlich die Qualität des Guten nicht an einer bestimmten Art von Erfolggemessen werden kann. Das Gute bestätigt sich nicht im Erreichen des einemIndividuum in der Öffentlichkeit zugemessenen Ansehens (time), der hier be-werteten persönlichen Qualität (arete) oder dem in diesem Forum erreichten Ge-winn (aphenos). Denn dafür können auch schlechte Taten und Unrecht (aischrakai adika erga) der Grund sein.

In Konsequenz davon rät Theognis (v. 31–52): halte dich fern von denschlechten Männern (kakoi andres), der Umgang mit schlechten Männern ver-dirbt den Verstand (noos). Die früher esthloi waren, sind jetzt deiloi (v. 57–58).Daher die Forderung: sei immer bei den (wirklich) Guten (agathoi). Was damitgemeint ist, lässt sich direkt in Lebensstil übersetzen mit dem Rat: trinke mitdiesen (meta toisin pine), und: halte dich an diejenigen, die über große Kraft(dynamis) verfügen.22 Folgt man diesen Regeln nicht, dann wird das negativeGegenbild Realität. Es gehört zu ihm, dass sich die Schlechten über die Normstellen (hybrizein), mit der Folge, dass sie den Demos verderben (phtheirein); sieschanzen (didosin) die Rechtssprüche (dikas) den Ungerechten (adikoisi) zu, umdaraus materiellen Vorteil (kerdos) zu ziehen und Macht (kratos) zu gewinnen.23

Das bedeutet am Ende für die Polis Schaden, Zwist (stasis) und Mord unter den

21 Zu den möglichen darüber hinausgehenden Zusammenhängen zwischen den einzelnen Ge-dichten vgl. z. B. Hasler (1959) und jetzt bes. Selle (2008) 148–158, 185–196.22 Zum Kontext der Mäßigung, in dem diese Forderung steht, vgl. Kistler (2012) 65–67.23 Die adikoi scheinen aus den laoi zu kommen, die keine Regeln (gnomai) beachten und sichgegenseitig betrügen und dabei verlachen (v. 59–60); nur im Detail, nicht im Grundzug etwasanders Stein-Hölkeskamp (1997) 23–27.

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Gruppen, die die Polis konstituieren (emphyloi phthonoi), und schließlich dieEtablierung von Monarchen (mounarchoi).

Es ist offensichtlich, dass diese Handlungsanweisungen nicht einfach ‚Le-bensweisheiten‘ darstellen. Sie sind ganz eindeutige Stellungnahmen für das‚Richtige‘, den richtigen politischen Zustand. Es ist auch klar, dass die Befol-gung bzw. die Nicht-Befolgung dieser Regeln in unterschiedliche Lebensstilemündet. Theognis gibt demjenigen, dem er das Prädikat ‚gut‘ zuerkennt, einenLebensstil vor, dessen Regeln eindeutig festzustehen scheinen. Danach ist eseine grundlegende Regel, sich keinem voll anzuvertrauen, aber von AnderenNutzen zu ziehen (v. 61–76). Mit dieser eigenwilligen sozialen Zurückhaltungstimmt überein, dass er auch den sich daraus ergebenden Lebensstil keinemöffentlichen Urteil zugänglich machen will. Denn das in der Öffentlichkeit er-zielte Ansehen ist gemäß seinen Anweisungen kein zutreffender Maßstab fürdie Qualität des ‚Guten‘ (v. 97–99).24

Das sind nicht nur allgemeine Anweisungen zum Verhalten, sondern tat-sächlich Konsumptionsregeln. Denn der geforderte Habitus setzt bestimmte For-men des Konsums auch im engeren Sinn voraus. Das zeigt ganz deutlich dieAufforderung, nur mit den Guten beisammen zu sein und mit diesen – dasheißt wohl auch: nach deren Regeln – zu trinken. Dazu gehört auch eine be-stimmte Kleidung, die jene nicht kennen, die keine astoi sind, sondern vondraußen in die Stadt kamen (v. 53–60). Diese sind offensichtlich ‚falsch‘ geklei-det, oder waren das auf jeden Fall einmal. An ihren Hüften scheuerten raueZiegenfelle, eine Kleidung, die direkt mit der Unkenntnis von Rechtsentschei-dungen und Verhaltensnormen, von dike und nomos, in Zusammenhang gesetztwird. Diese jämmerlichen Männer (oizyroi andres) und ihre Konsumptionsregelnübernehmen bei Theognis die Funktion der fremden, aus Lydien kommendenGüter, die in der Argumentation von Sappho und Xenophanes eine so wichtigeRolle spielen.

Wegen dieser Sichtweise des bzw. der Anderen hat die räumliche Näheoder Distanz des Fremden in der Argumentation keine Bedeutung. Theognissieht keinen Unterschied zwischen den neuen ‚falschen‘ Guten und den hege-mones (bes. v. 45–46).25 Seine Kritik an ihrem Konsumverhalten richtet sich ge-gen das Abweichen von der von ihm gesetzten Norm mit der Begründung, dassdaraus Unheil für die gesamte Polis folge (v. 49–52). Mit diesem gravierendenVorwurf soll jeder Einwand gegen die von ihm propagierte Norm erstickt wer-den.

24 Zum Problem der ‚falschen Freundschaft‘ vgl. Donlan (1985) 230–237, der einen festerenAdelsbegriff voraussetzt, als das hier getan wird; vgl. dazu oben Anm. 14.25 Diese Sicht deckt sich mit dem Resümee bei Stein-Hölkeskamp (1997) 28–29.

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Die von Theognis hergestellte Opposition von nur vorgeblich neuen ‚Guten‘und den wirklich ‚Guten‘ ist nicht neu.26 Charakteristisch für Theognis ist dieAusschließlichkeit, mit der den beiden Gruppen positive und negative Qualitätzugeordnet wird. Diese verhindert jede Relativierung des Guten: es gibt nur eineLebensführung, d. h. einen Lebensstil bzw. nur eine richtige Konsumption dersozialen Regeln, die das soziale Feld konstituieren (sollen).27

Die homerischen Epen:Die Relativität der Lebensstile

Es ist auffällig, weil es nicht zur gängigen Annahme passt, dass die homerischenEpen die Werte einer Aristokratie transportieren würden: In den homerischenEpen wird im Kontext menschlichen Handelns keine Form der Konsumption alsdie allein richtige propagiert. Was das Beste ist, hängt von den jeweils gegebenenUmständen ab. Das häufig als Elitebegriff aufgefasste Adjektiv agathos ist in sei-nem Grundzug eben keine Bezeichnung für eine soziale Kategorie.28 Denn weragathos bzw. esthlos ist, wird an seiner ‚performance‘ erkannt, d. h. daran, wel-chen Konsumptionsregeln die jeweilige Person folgt. Die sich daraus ableitendenHabitus-Typen können im Folgenden nur kursorisch beschrieben werden.29

Im Hintergrund der Beurteilung einer Person steht eine Bewertungsskalavon ganz negativ (kakistos) bis ganz positiv (aristos bzw. agathos). Die Zuschrei-bung eines bestimmten Wertes auf dieser Skala erfolgt nicht nur einmal undlegt dann die Position der Person im sozialen Feld endgültig fest. Im Gegenteil:die Einstufung einer Person kann je nach Umfeld unterschiedlich ausfallen. Da-für ist der jeweilige Bezugspunkt entscheidend, auf den die Skala ausgerichtetwird.

26 Allgemein dazu Selle (2008) 274–276. Der Gegensatz beruht hier weniger auf ökonomischenUnterschieden wie an anderen Stellen – dazu Stein-Hölkeskamp (1989) 86–93 – als auf gegen-sätzlichen Auffassungen über die ‚richtigen‘ sozio-politischen Regeln; dazu Donlan (1999) 77–95, der allerdings von einer Art von traditionellem Regelwerk für eine griechische „upper-class“ausging.27 Die Argumentation tendiert hier dazu, Theognis nicht als Verteidiger eines älteren Adelska-nons zu sehen, sondern als jemanden, der den Veränderungen der eigenen Zeit gegenüber einneues Konzept entwirft, das mit dem bekannten ‚Gefühl‘ des Verlustes eines ehemals besserenWelt operiert; zu diesem Fragenkomplex vgl. Stein-Hölkeskamp (1989) 134–138.28 Zum Folgenden vgl. Ulf (1990b) 29–40; (2011) 258–265, 271–275; zur umfangreichen Debattevgl. den Überblick von van Wees (2011).29 Vgl. Ulf (1990b) 39–40.

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Stellt zum Beispiel ein Ethnos den Bezugspunkt für die Bewertung dar,dann erscheinen viele als Beste. Wird aber das Bezugsfeld durch Erweiterungoder den Wechsel des Bezugspunktes verändert, dann wird denselben Personendiese Qualität des Besten nicht zuerkannt. So ist Asteropaios nur unter denPaionen der Beste in kratere hysmine (Il. 21, 207), keineswegs unter allen Troern.Wegen der Summe seiner Qualitäten, im Kampf und im Redewettstreit, ist Thoasder och’ aristos unter den Aitolern (Il. 15, 279–305); er ist das aber nur, weil dieÄlteren und Besseren, Oineus und seine Söhne und zudem Meleager, schon totsind (Il. 2, 638–644). Ähnlich wird Aias beschrieben, der der meg’ aristos unterden Achaiern ist, aber nur solange sich Achill vom Kampf fernhält (Il. 2, 768).Oder: Thoas ruft die im Lanzenkampf Besten zusammen, um Hektor abzuweh-ren (Il. 15, 281–284); diese sind aber nicht solche, die in allen Angelegenheitendie Besten sind; eindeutig gilt das für Euphorbos, der ein Bester im Lanzen-kampf ist, aber dies nur unter den Troern.

In den Epen findet sich auch die Art der Charakterisierung als Bester, wiesie bei Xenophanes im Vordergrund steht. Das deutet sich bei Agamemnon an.Er ist zwar der aristos unter allen Heroen (Il. 2, 579 f.), dennoch Achill an Kamp-feskraft unterlegen. Epeios ist im Faustkampf der Beste von allen Achaiern, imKampf ist er nicht zu gebrauchen (Il. 23, 665–670). Noch stärker: Diomedes istder Beste an Kampfesmut (menos); doch hat dieser auch einen negativen Bei-geschmack, weil sein Kampfesmut in Wüten und Rasen mündet (Il. 5, 84–435;6, 96–101); und offensichtlich: Aias, Sohn des Oileus, ist auch ein Bester, abernur im verderblichen Streit (Il. 23, 483: neikos aristos).

Mit dieser negativen Konnotation des Besten korreliert die Möglichkeit, derQualität als aristos verlustig zu gehen. In diese Gefahr geraten die bei den Schif-fen versammelten verwundeten Anführer der Achäer (Il. 16, 23). Dasselbe gilt fürdie Freier der Penelope ab dem Zeitpunkt, als sie sich über das normengerechteVerhalten hinwegsetzen. Auch deswegen werden sie gegenüber Odysseus undTelemach zu poly cheirones (Od. 21, 325, 331–333). Und aus dem Blickwinkel sol-cher Situationen erfolgen schließlich Charakterisierung von Personen ex negati-vo. Paris kann nur die Kithara spielen (Il. 9, 186–189), die Söhne des Priamos sindnur Sänger, Tänzer und Lügner (Il. 24, 260–264), Nastes oder Nireus sind nurschön; Iros ist nur groß (Il. 2, 671–675; Il. 17, 50–52; Od. 18, 1–4), Antinoos hat nurdas Aussehen eines basileus, aber nicht die zugehörigen Sinne (phrenes; Od. 17,415–416, 454); Odysseus ist aus Sicht des Kyklopen nur oligos, ein outidanos undakikys (Od. 9, 513 ff.). Und der gravierendste aller dieser Vorwürfe ist es, den Blickfür das allgemein Beste verloren zu haben. Das wird Agamemnon, Hektor, aberauch Odysseus vorgeworfen; der Begriff dafür ist kakotes.30

30 Ulf (1990b) 38.

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Diese verschiedenen positiven und negativen Zuschreibungen beziehen sichauf konkrete Fähigkeiten und Qualitäten, die nicht einfach nur als Charakter-eigenschaften von einzelnen Individuen, aber auch nicht als bloße Typisierun-gen oder Rollenfiguren gesehen werden dürfen, deren sich der Autor bedient,um seinen Text aufzubauen. Es sind für den Leser/Hörer erkennbare Formender Konsumption, die unterschiedliche Lebensstile zur Folge haben. So unter-scheidet sich z. B. Paris, von dem gesagt wird, ein guter Tänzer zu sein, in sei-ner Lebensführung deutlich von Hektor; sein Lebensstil ist im Kontext desKriegs um Troia nicht von Vorteil. Das ist in der friedlichen Welt der Phäakenanders, wo die ‚Tanzkunst‘ als eindeutig positives Merkmal erscheint. Auf deranderen Seite ist Aias, der ‚Turm in der Schlacht‘, nicht von besonderer Gestalt,aber eben ein wuchtiger Kämpfer, dessen Lebensführung sich wohl mit demmilitärischen Führer deckt, von dem Archilochos sagt, dass er nichts gemeinhat mit den eleganten Herren, die in der Schlacht nichts taugen. Und die auchim Sport so geübten Phäaken – wofür wiederum eine eigene Lebensführungvonnöten ist – stehen in der Nähe von Epeios, dem Boxer, der im Kampf nichtzu gebrauchen ist.

Die jeweilige Situation bzw. Perspektive bestimmt also, welche der mögli-chen Lebensstile Anerkennung genießen. Denn grundsätzlich können alle ge-nannten Qualitäten, die Fähigkeit des Ratschlags in der Versammlung, beson-dere Qualitäten im Krieg, oder die Fähigkeiten im Sport, der Musik oder imTanz kydos verleihen. Die Formulierung, dass Götter wie Hermes, Apoll, Posei-don oder Hera charis und kydos zuordnen (Od. 15, 319–320, Il. 15, 326–327, Il.14, 357–358), erklärt nur, warum eine Person über bestimmte Qualitäten ver-fügt. Tatsächlich ist es die Öffentlichkeit, die für die Zuerkennung von kydosund damit in Zusammenhang stehend auch Ruhm (euchos) und Ansehen (time)verantwortlich ist (Il. 22, 393–394). Deshalb heißt es, dass die Agora kydianeiraist; sie verleiht den Männern kydos (Il. 1, 490).31 Damit verweist der Text übersich selbst hinaus auf die Lebenswelt der Hörer/Leser. Ihre Erfahrungen undEinschätzungen und ihr eigener Lebensstil lassen sich nicht mehr vom Texttrennen. Sie müssen sich an diesen Stellen selbst fragen, ob ihre Konsumptionder geltenden Verhaltensregeln für sie den Erwerb von symbolischem Kapitalzur Folge hat bzw. welche Art von Konsumption sie selbst für die richtige hal-ten.

31 Ulf (1990b) 41–49. Zur Bedeutung von kydos als dem von Menschen an Menschen verliehe-nen, nicht einem sich wie von selbst ausbreitenden Ruhm Kurke (1992) 111–112.

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Typen der Konsumption –Spielräume für Lebensstile

Eben so wenig wie der troianische Krieg oder die Fahrt des Odysseus nach Itha-ka reale historische Ereignisse darstellen, sind auch die einzelnen Figuren derErzählung direkte Abbilder von historischen Personen. Doch um das angestreb-te breite Spektrum von möglichen historischen Situationen in der Erzählungvorführen zu können, wird die angedeutete Fülle an Figuren und Lebensstilenbenötigt. Der Unterschied zwischen diesen nebeneinander gestellten Formender Konsumption in den homerischen Epen und den eindeutigen Stellungnah-men für die ‚richtige‘ bei Sappho, Xenophanes und Theognis ist auffällig undverlangt nach einer Erklärung. Diese soll durch eine Zusammenstellung derGrundelemente der Argumentationen versucht werden.

Gut desKonsums

KategorieFremdheit

Bewertungdes Habitus

Ort derBewertung

Konsumptions-regel

Ilias (Götter) OrientalischeTexte

OhneBedeutung

Ablehnungvon Gewalt

Versammlungder Götter

Neue sozialeRegel:Aushandlungstatt Gewalt

Sappho Mitra Begehrtes Gut Schmuck Fest(der Frauen)

Bestätigung desluxuriösenGüterkonsums

Xenophanes SozialeRegeln

ImportierteVerfeinerungen

PrunkTyrannis

Agora als(nicht funktio-nierende)‚Öffentlichkeit‘

Ablehnungeines luxuriösenGüterkonsums

Theognis SozialeRegeln

Fremd istschon dasAndere inder Nähe

UnrechtMonarchie

Die ‚Guten‘ imSymposion/inder Hetairie

Propagierungvon neuen so-zialen Regeln.Propagierungeines gemäßig-ten Güterkon-sums

HomerischeEpen

IndividuelleFähigkeiten

OhneBedeutung

Erfolgt inRelation zurSituation

Versammlungder Männer

Relative Akzep-tanz individuel-ler Lebensstile

Durch diese Übersicht wird noch klarer sichtbar, dass in den homerischen Ependie Kategorie ‚Fremdheit‘ des Gutes keine Rolle spielt. Das ‚In Gebrauch Neh-

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men‘ sowohl der Motive aus orientalischen Texte als auch der jeweiligen indivi-duellen Fähigkeiten wird ausschließlich an ihrem Nutzen gemessen, der darausfür die Allgemeinheit gezogen werden kann. In diesen Kontexten wird kein Ver-gleich mit anderen vorgenommen oder eine Grenze gezogen, welche die eigeneWelt von einer fremden trennt. Doch gerade diese Opposition von ‚Innen‘ und‚Außen‘ ist für Sappho, Xenophanes und Theognis von großer Bedeutung. DieArgumentation von Sappho und Xenophanes geht von der Existenz einer ande-ren Welt, der der Lyder, aus, beurteilt deren Produkte jedoch gegensätzlich. Diegegensätzliche Einschätzung beruht nicht auf dem Gebrauchswert der Güter,sondern ist offensichtlich eine Folge unterschiedlicher politischer Gegebenhei-ten.

Sappho, ob Angehörige der Kleanaktiden oder nicht, will zurück nach Myti-lene und damit den früheren Zustand wiederherstellen. Eine Bedrohung durchdie Lyder spielt in diesem Kontext keine Rolle. Der luxuriöse Lebensstil trägt inihrer Perspektive die Züge der idealen oder auch nur rechten Ordnung, ähnlichwie bei Alkman. Anders Xenophanes. Ihm steht wohl die Eroberung von Kolo-phon durch Harpagos im Jahr 546 vor Augen.32 Der für Sappho erstrebenswerteund luxuriöse Lebensstil erscheint aus seinem Blickwinkel als Folge des Verlus-tes der Freiheit Kolophons; deshalb sind diejenigen, die aus der neuen SituationProfit gezogen haben und einen luxuriösen Lebensstil pflegen (können), nichtsanderes als selbst Tyrannen. Das lässt sich noch durch die andere, viel zitierteÄußerung des Xenophanes (frg. 2) unterbauen, dass die zum luxuriösen Lebens-stil sich fügende Ausübung von Sport der Polis nicht nützt, sondern nur scha-det. Die Vielzahl (chilioi) der (potentiellen) ‚Tyrannen‘ scheint allerdings daraufhinzudeuten, dass nicht viele die Dinge so sahen wie Xenophanes.

Bei Theognis ist das Fremde anders definiert als bei Sappho und Xenopha-nes; es findet sich schon ganz in der Nähe. Es sind die – weder im Text desTheognis noch in der historischen Realität – leicht zu fassenden Männer, dievon außerhalb der Stadt kommen und früher in Ziegenfelle gekleidet gewesensein sollen und welche die nach Theognis gültigen Normen nicht beachten, son-dern (bewusst) übertreten. Das erinnert an Vorwürfe Solons an die Reichen undihre Hybris, aber auch an seine Klage über die innere Zerrissenheit der Polis.Setzt man nicht eine eindeutige soziale Stratifizierung der Polis in Aristokratenund andere einfach voraus, dann ist es nicht eindeutig, wer diese Männersind.33 Denn die hegemones und die von draußen Kommenden sind nicht klar

32 Die Argumentation dafür bei Bowra (1941) 125–126.33 Die Überlegungen von Kurke (1989), dass der Kleinhandel auf der Agora von den Schlech-ten (von draußen) betrieben wird, die sich dabei betrügen und einander auslachen, zeigen nurdie Schwierigkeit, eine klare Grenze zu dem Fernhandel zu ziehen, der auch den ‚Aristokraten‘

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voneinander zu trennen. Auf keinen Fall sind sie alle wie bei Xenophanes Vor-läufer von Tyrannen; doch so, wie sie sich verhalten, so die Prognose, könntenaus ihnen Alleinherrscher (mounarchoi) kommen.

Auch wenn die Argumentationen von Sappho, Xenophanes und Theognisim Einzelnen differieren, ist ihnen die Forderung nach einem Lebensstil, der die‚richtige‘ Konsumption von konkreten Gütern und Regeln impliziert, gemein-sam. In diesem Punkt bleiben die homerischen Epen viel allgemeiner. Hier wirdnicht für einen bestimmten Lebensstil argumentiert, sondern es wird nur einebestimmte Verhaltensweise abgelehnt, nämlich jenseits der Normen Gewalt aus-zuüben, woraus interner Streit entsteht.34 Damit eröffnen die Texte große Spiel-räume für Konsumption und Lebensstil. Darüber, welche Lebensstile in der je-weiligen Situation als passend einzuschätzen sind, entscheidet eine – politisch– definierte Öffentlichkeit in Gestalt der Versammlung der Götter oder der Men-schen.

Die Öffentlichkeit, die Sappho vor Augen steht, scheint jene zu sein, diesich über Alkman von Sardes/Sparta oder auch Asios von Samos rekonstruierenlässt: das Fest für eine Göttin, zu dem sich die Frauen versammeln.35 Die Mäd-chen stehen hier wie ihr mögliches Analogon, die Statuen der Koren, in einereigenen Öffentlichkeit, die von der allgemeinen der homerischen Epen deutlichabzuheben ist. Durch sie ist der Lebensstil vorgegeben, den Sappho explizitwünscht und gutheißt.36

Xenophanes opponiert gegenüber dem in Kolophon anscheinend für einengroßen Teil der Kolophonier angestrebten und auf der Agora öffentlich präsen-tierten Lebensstil. Unter den für ihn geltenden politischen Umständen ist dasUrteil darüber als ‚fremd‘ das Stärkste, das er formulieren kann. Im Fragment 2nennt er, was dagegen zu setzen ist: agathe sophie (frg. 2, 14) und damit wohlauch einen Lebensstil, der weder mit den purpurgekleideten ‚Vielen‘ noch mitden Athleten zu tun hat, die von der Polis so vieler Ehrungen für wert erachtet

offen stehen soll, und lassen sich als indirekte Bestätigung für das Verschwimmen der beidenGruppen ansehen.34 Vgl. Ulf (1990a); van Wees (2007).35 Krummen (2013).36 Denkt man hier weiter, dann sind auch die Festprozessionen zu den prächtigen Festen inden großen Heiligtümern zu berücksichtigen, die sich auf den ab Beginn des 6. Jahrhundertseigens dafür angelegten Straßen fortbewegen und die von Statuen gesäumt sind, mit denen ei-gene Lebensstile und Konsumregeln öffentlich präsentiert werden; dazu nun überzeugendMohr (2010); (2013); und Duplouy (2006) bes. 217–249 (Kap. 6), der treffend von einer „recon-naissance sociale“ spricht, die in solchen Kontexten in Gang gesetzt wird; Crielaard (2009) bes.60–71 (67: „arena for social differentiation and intra-elite competition“).

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werden.37 Theognis geht insofern von einer anderen Situation aus, als für ihndie Polis gegenwärtig in Gefahr ist. Schlechte hegemones bestimmen jetzt dieGeschicke in der Stadt. Eine Folge dieser direkten Gefahr ist eine andere Defini-tion dessen, was fremd ist. Deswegen ist schon das Nahe fremd und negativkonnotiert, nämlich die Menschen, die außerhalb der Stadt leben. Ungeachtetdieser klaren Abgrenzung bleibt eine Schwierigkeit: die Kategorien des Gutenund Schlechten sind nicht klar zu scheiden. Deshalb vermittelt Theognis denEindruck, dass die Öffentlichkeit, von der er spricht, die Mitglieder im Symposi-on bzw. der Hetairie,38 kein ausreichendes Forum zu Beurteilung des Lebens-stils ist.39 Daher sein Rat zur Vorsicht auch demjenigen gegenüber, der als ‚gut‘erscheinen mag; denn es gibt nur wenige (wirklich) Gute (v. 77–80). Das letzteUrteil darüber, wer das ist, beansprucht er allein für sich.

So unterschiedlich die skizzierten Urteile über Lebensstile ausfallen, esbleibt ihnen eines gemeinsam: Sie gehen von Spielräumen aus, die eine Wahlzwischen unterschiedlichen Formen der Konsumption und Lebensstile erlauben.Doch die Dimensionen der Spielräume und die Wahl für einen bestimmten Le-bensstil werden unterschiedlich angesetzt, weil sie von den sozio-politischenGegebenheiten mit ihren unterschiedlichen Öffentlichkeiten in hohem Maß be-stimmt sind. Erst eingehendere Untersuchungen der Verhältnisse zwischen die-sen Gegebenheiten und den als denkbar angesehenen Lebensstilen unter demAspekt der Konsumption – ohne den Rückgriff auf einfache Definitionen vonAristokratie und auf eine evolutiv gedachte Entwicklung zu einer sich steigern-den Rationalität – werden präzisere Rückschlüsse auf die Lebensrealität unddie in ihr enthaltene ‚Liberalität‘ der antiken Gesellschaften zulassen.

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37 Die Charakterisierung des Xenophanes als „pragmatic utilitarian“, wie sie Marcovich (1978)Zitat: 21, vornahm, scheint passend. Zur ähnlichen Argumentation bei Theognis vgl. Selle(2008) 285–288.38 Es zeigt sich hier, dass der Hinweis auf den Kontext ‚Symposion‘ ebenso wenig ausreichtwie der Verweis auf eine einfache Opposition zwischen Aristokratie und Nicht-Aristokratie, umdie konkret gemeinte Öffentlichkeit zu erfassen.39 Pratt (1995) argumentiert, dass das ‚Siegel‘, mit dem Theognis seine Elegien versah, nur da-zu gedacht war, dass seine Verse nicht „unbeobachtet“ (v. 20) verändert werden konnten. Einesolche Einstellung fügt sich gut zur hier vertretenen Argumentation, dass Theognis eine völligeigenständige Position vertreten will.

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