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ELEKTRONISCHER SONDERDRUCK Inhalt Band 63 Jahrgang 2013 2. Halbband Michael Borgolte Karl der Große Sein Platz in der Globalgeschichte ............ 167 Barbara Schlieben In Exilio. Innen-, Außen- und Zwischenansichten frühmittelalterlicher Exilanten ......................... 189 Kai-Henrik Günther Christlich-muslimische Friedensschlüsse im Hochmittelalter. Eine Annäherung ................................ 205 Tristan Oestermann Gott, die Macht und die Portugiesen. Die Bedeutung der Konversion des Königreichs Kongo zum Christentum im Jahr 1491 ........... 227 Stefan Winter Aufstieg und Niedergang des osmanischen Wüstenemirats (15361741): Die Mawali-Beduinen zwischen Tribalisierung und Nomadenaristokratie 249 Moritz Neuffer Der plan totaldes Charles de Brosses. Die Histoire des navigations aux terres australes zwischen Naturgeschichte und kolonialer Anthropologie ............... 265 Folker Reichert Tommy-Polka. Die erste japanische Gesandtschaft in den Vereinigten Staaten ....... 285 Resümees .................................... 303 Autoren ..................................... 309

Aufstieg und Niedergang des osmanischen Wüstenemirats (1536-1741): Die Mawali-Beduinen zwischen Tribalisierung und Nomadenaristokratie

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ELEKTRONISCHERSONDERDRUCK

Saec 13/2 / p. 167 / 13.5.2014

InhaltBand 63 – Jahrgang 2013 – 2. Halbband

Michael BorgolteKarl der Große – Sein Platz in der Globalgeschichte . . . . . . . . . . . . 167

Barbara SchliebenIn Exilio. Innen-, Außen- und Zwischenansichtenfrühmittelalterlicher Exilanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Kai-Henrik GüntherChristlich-muslimische Friedensschlüsse im Hochmittelalter.Eine Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

Tristan OestermannGott, die Macht und die Portugiesen. Die Bedeutung der Konversiondes Königreichs Kongo zum Christentum im Jahr 1491 . . . . . . . . . . . 227

Stefan WinterAufstieg und Niedergang des osmanischen Wüstenemirats (1536–1741):Die Mawali-Beduinen zwischen Tribalisierung und Nomadenaristokratie 249

Moritz NeufferDer „plan total“ des Charles de Brosses.Die Histoire des navigations aux terres australes zwischenNaturgeschichte und kolonialer Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . 265

Folker ReichertTommy-Polka.Die erste japanische Gesandtschaft in den Vereinigten Staaten . . . . . . . 285

Resümees . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

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BEITRAG aus: SAECULUM 63.2/2013ISBN 978-3-412-22426-4, ISSN 0080-5319 © 2014 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE, WIEN KÖLN WEIMAR

Aufstieg und Niedergang des osmanischen Wüstenemirats(1536–1741): Die Mawali-Beduinen zwischen Tribalisierung

und Nomadenaristokratie

Stefan Winter

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Stammeswesen und segmentärerGesellschaft zählt seit jeher zu den wichtigsten Betätigungsfeldern der Anthro-pologie; für Historiker jedoch ist dies aufgrund der Quellenlage selten mehr alseine Nebenbranche gewesen. Auch in der Nahost-Geschichte, wo als Stämme(arab.: qabila, ashira) bezeichnete Verbände sowohl im Gründungsepos des Is-lam als auch im Aufstieg fast jeder mittelalterlichen Dynastie ein wichtige Rollegespielt haben, geben die herkömmlichen Chroniken und biographischen Lexikawenig Auskunft über die interne Organisation und politische Evolution der be-duinischen, turkmenischen oder kurdischen Nomadengesellschaften, welche denstädtischen Eliten stets als permanente, geradezu naturgegebene Bedrohung er-schienen. Erst mit dem Osmanischen Reich, dessen Archivalien es erlauben, dasständige „Überwachen und Strafen“ von widerspenstigen Volksgruppen durchden frühmodernen Staat näher zu verfolgen, haben Historiker begonnen, dieBeziehung zwischen vermeintlich puren und zeitlosen Stammesgesellschaftenund historisch gewachsener politischer Autorität zu hinterfragen und z.B. aufdie Stammesrazzia als frühosmanische Militärstrategie zu verweisen, Mobilitätals Wesensmerkmal der gesamten osmanischen Gesellschaft zu charakterisierenund die Ansiedlung von Stämmen als obrigkeitliche Disziplinierungs- und Mo-dernisierungstaktik zu erklären.1 Bislang hat jedoch niemand die Herausforde-rung David Sneaths angenommen, das ganze Konzept von „lineage“ und „seg-mentary society“ fallen zu lassen und stattdessen auch die nomadischen Völkerdes Nahen Ostens einfach als eine von Adelsständen (Aristokratien) beherrschte,wirtschaftlich und sozial differenzierte Klassengesellschaft zu verstehen.2

Ein Aspekt der osmanischen Stammesverwaltung und -geschichte, der in derWissenschaft noch gar nicht berücksichtigt wurde, ist das çöl beylik oder „Wüs-tenemirat“. Als staatliche Institution – vielleicht sogar als staatliche Fiktion, dadas Amt des „Emirs“ eher abstrakt blieb – diente das çöl beylik als Schnittstelle

1 Rudi Lindner, Nomads and Ottomans in Medieval Anatolia (Bloomington, Indiana: Research In-stitute for Inner Asian Studies 1983); Stefan Winter, Osmanische Sozialdisziplinierung am Beispielder Nomadenstämme Nordsyriens im 17.–18. Jahrhundert, Periplus: Jahrbuch für außereuropäischeGeschichte 13 (2003), 51–70; Yonca Köksal, Coercion and Mediation: Centralization and Sedentar-ization of Tribes in the Ottoman Empire, Middle Eastern Studies 42 (2006), 469–491; Reşat Kasaba,A Moveable Empire: Ottoman Nomads, Migrants, and Refugees (Seattle: University of WashingtonPress, 2009).2 David Sneath, The Headless State: Aristocratic Orders, Kinship Society, and Misrepresentations ofNomadic Inner Asia (New York: Columbia University Press, 2007).

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zwischen einem der größten Beduinenvölker Nordsyriens und Mesopotamiens,den Mawali, und der osmanischen Militär- bzw. Provinzverwaltungshierarchie.Die Schriftstücke, welche durch dieses amtliche Verhältnis mit der Zeit erzeugtwurden, bieten eine Fülle von Details zur teilweise sehr lokalen Geschichte desnordsyrischen Hinterlandes, die selbstverständlich nicht in den Chroniken undanderen Literaturquellen erwähnt werden; die Transformation dieses Verhältnis-ses zwischen dem 17. und der Mitte des 18. Jahrhunderts, wie im Folgenden ge-zeigt werden soll, gibt darüber hinaus Aufschluss über den Wandel der osma-nischen governance an sich während der Frühen Neuzeit.Dieser Beitrag verfolgt drei Ziele. Der erste Teil erörtert die Geschichte der

Abu-Rish-Emire, den ersten Inhabern des çöl beyliks unter osmanischer Herr-schaft. Die Abu-Rish sind historisch relativ gut erfasst, und wie es in der Osma-nistik so oft der Fall ist, werden ihre spezifischen Erfolge im 16. Jahrhundert alsIdealtypus und Maßstab für die Institution an sich genommen und alle späterenVeränderungen weitgehend übersehen oder ignoriert. Die Abu-Rish wurdenaber um 1681 von einer mit ihnen verwandten Familie, den al-‘Abbas, ersetzt,zu einer Zeit, als die „Hohe Pforte“ (die osmanische Regierung) begann, sichintensiv mit der Ansiedlung von Stämmen im syrisch-anatolischen Grenzlandzu befassen. Im zweiten Teil soll deshalb das sehr umfangreiche Archivmaterialzu dieser Siedlungskampagne herangezogen werden, nicht nur um den Umgangder Osmanen mit Nomaden und Stämmen zu beleuchten, sondern auch um dieBeziehungen der ‘Abbas als designierten Fürsten des Wüsteninneren mit ver-schiedenen lokalen Akteuren darzustellen. So hatten sie zum Beispiel währendihrer Amtszeit zunehmend Kontakt mit anderen Stämmen in Nordwestsyrien,erst in der Umgebung von Aleppo und am Ende sogar im ‘alawitisch-bevölker-ten Küstengebirge. Im Laufe dieser Verschiebung, wie schließlich im dritten Teilgezeigt werden soll, ist die Bezeichnung, und damit wahrscheinlich auch das ei-gentliche Konzept, des osmanischen „Wüstenemirats“ hinfällig geworden. DieEntmachtung der ‘Abbas wurde von einem ungewöhnlich hohen Maß an Ver-handlungen und Konsenssuche zwischen verschiedenen städtischen und ländli-chen Notabeln im Norden des Landes begleitet. Dies, so unsere abschließendeThese, könnte auf ein neues politisches Interesse, vielleicht auch einen neuen Stilim ländlichen Verwaltungswesen seitens der osmanischen Behörden in der zwei-ten Hälfte des 18. Jahrhunderts hinweisen.

Die Abu-Rish-Emire: Stammesführer oder Nomadenaristokratie?

Die Abu-Rish-Familie ist ab 1536 belegt, sowohl in osmanischen Urkunden wieauch in den Berichten europäischer Reisender, die im 16. und 17. Jahrhundertdurch ihr Stammesgebiet kamen oder die Provinzstadt ‘Ana am Mittleren Eu-phrat besuchten, wo die Abu-Rish ihren Hauptsitz hatten (etwa 100 km östlich

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der syrischen Grenze im heutigen Irak). Dennoch gibt es so gut wie keine Dar-stellung ihrer Geschichte, abgesehen von einem kurzen und wenig konklusivenArtikel von Nejat Göyünç.3 Bruce Masters vermutete, wahrscheinlich StephenLongrigg folgend, dass „Abu Rish“ bzw. „Abu Risha“ (wörtlich: „Inhaber derFeder“) gar kein Eigenname, sondern ein Titel gewesen sei, der grundsätzlichdem „tribal shaykh of the Mawali“ zuerkannt wurde.4 Abgesehen davon, dassdem in den osmanischenQuellen widersprochen wird (da „Abu-Rish“ sehr wohleinen bestimmten Emir und dessen Nachfahren bezeichnet), würde dies auchbedeuten, dass die Osmanen somit einfach eine schon existierende Stammesfüh-rerschaft legitimierten. Das ist aber insofern problematisch, als z.B. auch dasAmt des „amir al-‘arab“ (Fürst der Araber), welches das çöl beylik lediglich wei-terführte, immer schon eine Kreation der Zentralregierung war und nicht etwaeine autonome Führungsposition unter den Beduinen. Das älteste bezeugte Auf-treten eines amir al-‘arab stammt aus dem 12. Jahrhundert, als die seldschuki-schen Gouverneure von Mosul die Oberhäupter der Banu-Numayr engagierten,um die Nomaden des Mittleren Euphrat für sie zu besteuern und in Zaum zuhalten.5 Dieses Fürstentum, wie Mustafa Hiyari gezeigt hat, erreichte seinehöchste Blüte unter den Mamluken, als die Emire (die nun meist den Al-Fadlentstammten) einen regulären militärischen Rang genossen und in Kairo mitKostbarkeiten beschenkt wurden, während sie im Auftrag des Staates die Pilger-karawane sowie verschiedene Handelsstraßen (hauptsächlich in Südsyrien) si-cherten.6

Die Abu-Rish treten erst nach der osmanischen Eroberung Syriens auf, nochgenauer gesagt nach dem osmanischen Feldzug im Irak und der Befriedung desEuphrat-Tals im Jahr 1534–1535.7 Schon im Jahr darauf ist ein Muhammad AbuRish als Statthalter von ‘Ana erwähnt;8 in einem Befehl an den Provinzgouver-

Aufstieg und Niedergang des osmanischen Wüstenemirats (1536–1741)

3 Nejat Göyünç, Einige osmanisch-türkische Urkunden über die Abū Rīše, eine šeyh-Familie derMawālī im 16. Jahrhundert, in: Holger Preißler undHeide Stein (Hrsg.), Annäherung an das Fremde:XXVI. Deutscher Orientalistentag vom 25. bis 29.9.1995 in Leipzig (Stuttgart: Franz Steiner, 1998),430–434; siehe auch Albert de Boucheman, Note sur la rivalité de deux tribus moutonnières de Syrie,les „Mawali“ et les „Hadidiyn“, Revue des études islamiques 8 (1934), 22–25.4 Bruce Masters, The Origins of Western Economic Dominance in the Middle East: Mercantilismand the Islamic Economy in Aleppo, 1600–1750 (New York: New York University Press, 1988),116–117; vgl. Stephen Longrigg, Four Centuries of Modern Iraq (Oxford: Oxford University Press,1925), 39.5 Stefan Heidemann, Die Renaissance der Städte in Nordsyrien und Nordmesopotamien: StädtischeEntwicklung und wirtschaftliche Bedingungen in ar-Raqqa und Harrān von der Zeit der bedui-nischen Vorherrschaft bis zu den Seldschuken (Leiden, etc.: Brill, 2002), 271.6 Mustafa Hiyari, The Origins and Development of the Amirate of the Arabs during the Seventh/Thirteenth and Eighth/Fourteenth Centuries, Bulletin of the School of Oriental and African Studies38 (1975), 509–524.7 Stefan Winter, The Province of Raqqa under Ottoman Rule, 1535–1800, Journal of Near EasternStudies 68 (2009), 253–267.8 Göyünç, Einige osmanisch-türkische Urkunden, 431.

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neur von Aleppo erklärt die Hohe Pforte jedoch „den Gesinnungslosen namensAbu Rish“ 1552 erstmals zu „einer der wichtigsten Staatsangelegenheiten“ undverlangt, dass er „und die korruptesten und schlimmsten Aufrührer unter seinenVerwandten und Anhängern gefasst werden.“ Was mit diesen aber geschehensollte, erstaunt etwas und illustriert aufs Beste, welche begrenzten Mittel demfrühneuzeitlichen Staat in der Herrschaft über die ländliche Peripherie letztend-lich zur Verfügung standen: Die Familienmitglieder, die noch nicht in den Ge-nuss einer staatlichen Pension (dirlik) gekommen waren, sollten von nun an einein Höhe von 20.000 Piastern erhalten; denjenigen, die eine solche schon besaßen,wurde sie auf 30.000 Piaster aufgebessert, und die anderen, die eine noch größereStaatspfründe (zeamet) innehatten, sollten ebenfalls eine großzügige Erhöhungerhalten.9 Nur wenige Jahre später erfahren wir, dass Abu Rish („Sohn vonMud-lij“) inzwischen wieder als sancakbey (d.h. Kommandant; Distriktgouverneur)von ‘Ana fungierte und in dieser Kapazität an die Hohe Pforte geschrieben hatte,um den Cousin des Gouverneurs von Salamya (am Rand der syrischen Steppenahe Hama) für das Amt des çöl beyis vorzuschlagen. Fast gleichzeitig schlug erauch einen Bruder desselben Gouverneurs für eine andere Pfründe vor, und dieVermutung liegt nahe, dass es sich bei allen dreien umMitglieder der erweitertenAbu-Rish-Familie handelte.10

Die osmanischen „Registerbücher wichtiger Staatsangelegenheiten“ (mühim-me defterleri) geben in den darauffolgenden Jahren wiederholt Auskunft über dieBeziehungen der Abu-Rish mit der Hohen Pforte, auf die hier nicht im Einzel-nen eingegangen werden soll. Immer wieder verurteilen es die Behörden, wennAnhänger der Abu-Rish Karawanen und Ortschaften überfallen haben oder an-dere Stämme unterdrücken, aber genauso oft sieht man verschiedene Familien-mitglieder als Gouverneure von ‘Ana bzw. Salamya bestätigt oder zu bestimmtenmilitärischen Diensten aufgefordert. Was die mühimme-Register jedenfalls klarzeigen ist, wie weit die Abu-Rish eine autonome Wirtschaftsbasis besaßen, aufder ihre wachsende politische Macht aufbaute. So sollte z.B. das Schießpulver,das für den 1565er Feldzug gegen den Iran benötigt wurde, nach Aleppo ge-schickt und dort auf hunderte von Kamelen verladen werden, die von den Abu-Rish angemietet wurden; 1572 bemerkte die Hohe Pforte, dass Abu Rish „imSommer und Winter in der Gegend von Damaskus oder Bagdad“ verweile, sodass sich sein Neffe Mulham auflehnen konnte „und mit fünfhundert Beritte-nen“ die Umgebung vor allem von Nusaybin (in Nordmesopotamien, heute ander türkisch-syrischen Grenze) unsicher gemacht habe. Wenige Jahre späterwurde Abu Rishs Sohn Muhammad, der wohl den Vater als Familienoberhauptersetzt hatte, von einem Scheikh aus der Provinz Bagdad als Garant (kefil) für die

Stefan Winter

9 Handschriftensammlung des Topkapı-Sarayı-Museums (TSMK), Istanbul: Kamil-Kepeci-Register888, Nr. 244.10 Başbakanlık Osmanisches Archiv (BOA), Istanbul: Mühimme Defteri (MD) 2:145, 221.

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Zahlung des jährlichen Tributs seines Stammes angegeben, was ebenfalls auf einebeachtliche Akkumulation von Kapital bzw. Tieren seitens der Abu-Rish hin-weist.11 Die beste Illustration des Status der Abu-Rish stammt aus dem Jahr 1577,als die Hohe Pforte gerade einen neuen Krieg gegen die Safawiden vorbereiteteund der Hofsekretär und berühmte Chronist Mustafa Ali Briefe an elf autonomePrinzen und Fürsten verfasste, um sie – teils unter Androhung massiver Vergel-tung – zur tatkräftigen Unterstützung der osmanischen Sache zu verpflichten.Der elfte und letzte dieser Briefe ging an Muhammad Abu Rish, „den ruhmrei-chen Schützer der Araberstämme, den General der Steppenreiter des Zeitalters“,der sich zwar schon länger in Aufruhr gegen die Regierung befand, aber demman nun versprach, die „unstimmigen Vorfälle und üblen Handlungen des ver-gangenen Jahres“ zu vergessen, wenn er der Kampagne „drei- bis viertausendKamele und von dem reichlichen Proviant […], welcher sich bei den Araber-stämmen vorfindet“ zur Verfügung stelle. Ein einzigartiges Miniaturgemäldevon Muhammad Abu Rish, welches die im Besitz des Topkapı-Palastes befind-liche illuminierte Handschrift von Mustafa Alis Nusretname („Siegesbuch“)schmückt, zeigt den Emir so, wie ihn sich die osmanischen Hofbeamten des16. Jahrhunderts wohl vorgestellt haben: als einen von Rassepferden und Kame-len umgebenen Araberkönig vor seinem goldbestickten Wüstenzelt.12

Aufstieg und Niedergang des osmanischen Wüstenemirats (1536–1741)

11 MD 5:166; MD 19:135–136; MD 26:318.12 TSMK: Hs. Hazine 1365, Fol. 28b–30b.

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Die Abu-Rish haben zweifelsohne sehr von der Einverleibung Nordsyriensund Mesopotamiens durch das Osmanische Reich im 16. Jahrhundert profitiert.Ihre traditionellen Weidegebiete waren nunmehr strategisch von Wichtigkeit,und die Osmanen waren auf lokale Partner angewiesen, die ihre Armeen versor-gen und die Nomadenbevölkerung einigermaßen unter Kontrolle halten konn-ten; durch ihre Anerkennung als bey von ‘Ana oder Salamya (später auch vonDeyr-Rahbe, ebenfalls am Mittleren Euphrat) wiederum wurde ihr Status als„Emire“ über die einheimische Gesellschaft offiziell verbrieft. Es ist aus der os-manischen Geschichte bekannt, dass manche sogenannten „Stämme“ wie z.B.die turkmenischen Boz-Ulus gar keine selbstständigen Konföderationen, son-dern eigens von der Regierung geschaffene Verwaltungseinheiten darstellten,13

und es ist berechtigt zu fragen, ob das Abu-Rish-Emirat nicht auch in ersterLinie das Produkt eines colonial impact der Osmanen war. Nach Morton Fried(1975) haben Anthropologen Stämme als solche zunehmend als „Sekundar-erscheinungen“ des Staates gedeutet, die erst durch den friedlichen oder kriege-rischen Kontakt mit einem höher entwickelten politischen System entstehen;Neil Whitehead (1992) geht sogar so weit, Stammeskriege grundsätzlich als Re-sultat des Eingriffs einer Kolonialmacht zu sehen und deshalb ausnahmslos von„colonial tribes“ zu sprechen.14 Dies sollte uns bezüglich der Abu-Rish auchnicht erstaunen: In seiner sehr umfangreichen Ethnographie der arabischen Be-duinenstämme schreibt schon Max von Oppenheim, dass die Mawali (denen dieAbu-Rish entstammten und deren Name so viel wie „Klienten“ bedeutet) einenrelativ rezenten Zusammenschluss von nordarabischen Nomadengruppen dar-stellten, der seinen Sieg über die bisher dominanten Al-Fadl seiner frühen Part-nerschaft mit den Osmanen verdankt habe.15

Was jedoch auffällt ist, dass die Abu-Rish zu diesem Zeitpunkt (das heißt imausgehenden 16. Jahrhundert) von den Osmanen gar nicht als „Stammesführer“angesehen werden. Der Name „Mawali“ kommt in den osmanischen Quellenüberhaupt noch nicht vor: Die Behauptung, die Abu-Rish-Emire seien deren„tribal shaykhs“ gewesen, ist also eine Rückprojektion aus dem 17. und späterenJahrhunderten. Offenkundig bildeten die Abu-Rish eine Art Aristokratie unterder ländlichen, viehzüchtenden Gesellschaft Nordsyriens und Nordmesopota-miens, aber für die Osmanen waren sie vornehmlich die Fürsten von ‘Ana undSalamya. Vor allem werden sie noch nicht als übergeordnete „Wüstenemire“ auf-

Stefan Winter

13 Tufan Gündüz, Anadolu’da Türkmen Aşiretleri: Bozulus Türkmenleri (1540–1640) (Istanbul: Bil-ge, 1997), 43–44.14 Morton Fried, The Notion of Tribe (Menlo Park: Cummings, 1975), bes. 100; Neil Whitehead,Tribes Make States and States Make Tribes: Warfare and the Creation of Colonial Tribes and Statesin Northeastern South America, in: Whitehead and R. Brian Ferguson (Hrsg.), War in the TribalZone: Expanding States and Indigenous Warfare (Santa Fe: School of American Research, 1992),127–150.15 Max von Oppenheim, Die Beduinen, Band I: Die Beduinenstämme in Mesopotamien und Syrien(Leipzig: Otto Harrassowitz, 1939), 305–315.

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gefasst, sieht man von dem einmaligen Gebrauch des Titels für den Cousin desGouverneurs von Salamya ab. Der Begriff, der bedauerlicherweise nicht in Meh-met Pakalins Lexikon osmanischer Termini vorkommt, wird erstmals vom Hof-chronisten Naima für Ahmad ibn Abu Rish benutzt, als dieser 1638 bei Nizib(am oberen Euphrat) zu Sultan Murad IV. stößt, um mit seinem Gefolge denimperialen Feldzug gegen die Safawiden im Irak zu unterstützen.16 Dass es sichhier um eine Fortsetzung oder Wiederbelebung des klassischen „Emirats derAraber“ handelt, wird dadurch deutlich, dass Naima Abu Rish beliebig „çölbeyi“, „emir-i Urban“ („Fürst der Beduinen“) oder auch „çöl hakimi“ („Herr-scher der Wüste“) nennt. Insbesondere der letzte Begriff erinnert an den Titel„König der Araber“, mit dem europäische Reisende bisweilen die Abu-Rish ver-sahen; noch mehr erinnert er aber an die zur selben Zeit gebräuchlich gewordeneDesignation von Feudalherren in den nahgelegenen kurdischen sancaks als „ha-kim“, das heißt als erbliche Fürsten halbautonomer Provinzen. Die Schwächungder osmanischen Zentralgewalt über den Osten des Reiches, welche im frühen17. Jahrhundert aufgrund der sogenannten Celali-Aufstände und der safawi-dischen Okkupation des Irak erfolgte, dürfte letztendlich den Abu-Rish zu einervergleichbaren Position der ethnisch-regionalen Herrschaft über die „Wüste“bzw. über „die Araber“ verholfen haben.In diesem Sinne könnte es hier durchaus angebracht sein, von einer „Tribali-

sierung“ der viehzüchtenden Gesellschaft Nordsyriens und Mesopotamiens zusprechen – nicht jedoch wie Fried, Whitehead und andere es verstehen, als Ini-tiative eines agressiven Kolonialstaates, sondern eher wie Sneath es beschreibt, alsZerfallserscheinung oder Feudalisierung der staatlichen Gewalt. Ihren sozialenStatus als Aristokraten und ihre wirtschaftliche Macht über andere ländlicheGruppen der Region verdankten die Abu-Rish vielleicht nicht in erster LiniedemOsmanischen Reich, aber die staatlichen Pensionen und Ämter, die sie inne-hatten, das wiederbelebte „Wüstenemirat“ und überhaupt der Mawali-„Stamm“

an sich waren reine Produkte des imperialen Kontexts des späten 16. bzw. des17. Jahrhunderts.

Osmanische Stammespolitik und die al-‘Abbas

Von den Abu-Rish hört man nach der osmanischen Wiedereroberung des Iraknur noch sporadisch. Ein Emir der Familie, Shibli ibn Abu Rish, machte sich1643 mit seiner zügellosen Ausbeutung von Dörfern nahe Aleppo unbeliebtund wurde von der Hohen Pforte zurechtgewiesen;17 im Jahr darauf erlitt der

Aufstieg und Niedergang des osmanischen Wüstenemirats (1536–1741)

16 Naima Mustafa Efendi (gest. 1716), Târih-i Na’îmâ, Hrsg. Mehmet İpşirli (Ankara: Türk TarihKurumu, 2007), 874, 876, 887.17 MD 89:77.

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Provinzgouverneur von Aleppo eine schmähliche Niederlage, als er meinte, dençöl beyi ‘Assaf ibn Abu Rish bei einem Festmahl außerhalb der Stadt überwälti-gen zu können, und stattdessen von den Arabern in die Flucht geschlagen wurde.Er wurde seines Amtes enthoben und danach hüteten sich die örtlichen Auto-ritäten, den Wüstenemiren allzu sehr in die Quere zu kommen.18 Leider gehtaus den osmanischen Quellen nicht klar hervor, wann die Herrschaft der Abu-Rish zu Ende geht und in welcher Hinsicht das çöl beylik an sich im späten17. Jahrhundert Veränderungen unterlag. Naima gibt beiläufig an, dass ‘Assaf1650 von einem „ortsfremden“ Kurden ersetzt wurde;19 noch 1666 spricht dieHohe Pforte jedoch von den „Untertanen“ (reaya) der Abu-Rish.20 Die letzteurkundliche Erwähnung der Familie stammt aus dem Jahr 1689, als eine Gruppevon Arabern nach Aleppo kam und sich vor Gericht beschwerte, dass eine Rei-tertruppe der Abu-Rish ihre Häuser überfallen und besetzt und auf sonstigeWeise die Dorfbewohner unterdrückt hätte.21

Zu diesem Zeitpunkt waren die Abu-Rish jedoch nicht mehr als Wüstenemireanerkannt. Laut dem Bericht des Abbé Carré, der 1674 das Euphrat-Tal bereiste,hatten sie sich mit den „Türken“ (das heißt den Osmanen) überworfen und gal-ten nunmehr als die „schlimmsten und berüchtigtsten Banditen“ des Landes und„Anführer der niederträchtigsten Art von Räuberbande“.22 Die Chronik des li-banesischen Maroniten-Patriarchs Istfan Duwayhi, eine der wenigen zeitgenös-sischen arabischen Quellen, gibt ihrerseits an, dass 1681 der amtierende amir al-‘ArabMulham al-Zahir (?) gefangen genommen, hingerichtet und mit einem jun-gen Stammesführer namens al-‘Abbas ersetzt wurde.23 Dies erscheint jedoch we-nig exakt (und Duwayhi ist notorisch ungenau mit Daten), zumal im Başbakan-lık-Archiv in Istanbul eine Petition erhalten ist, welche die Notabeln von Urfaschon 1680 an die Hohe Pforte gerichtet haben und in der sie sich über den çölbeyi Emir ‘Abbas, der gleichzeitig auch der sancak beyi von Salamya war, undseinen Sohn Husayn beschweren: früher hätten die zwei nie Probleme gemacht,nun hätten sie aber in den letzten vier Jahren begonnen, Dörfer in der Umgebungvon Urfa anzugreifen und Vieh zu stehlen.24 Interessanterweise ist dieses Doku-ment auch das erste, das den çöl beyi als Oberhaupt der „Mevali Urbanı“ (Ma-wali-Araber oder Mawali-Beduinen) identifiziert, was auf einen neuen Grad derWahrnehmung und Kenntnis der lokalen (Stammes-) Gesellschaft seitens derosmanischen Regierung hinzuweisen scheint.

Stefan Winter

18 Naima, Târih, 1020–1022.19 Naima, Târih, 1280.20 BOA: Şikayet Defteri (ŞD) 4:174.21 ŞD 13:138.22 Zitiert nach Norman Lewis, Taïbe and El Kowm, 1600–1980, Cahiers de l’Euphrate 5–6 (1991),71–72.23 Istfan Duwayhi (gest. 1704), Tarikh al-Azmina, Hrsg. Butrus Fahd (3. Auflage, Beirut: Dar LahadKhatir, 1976), 570.24 BOA: Ali Emiri IV. Mehmed 1661; vgl. Ali Emir IV. Mehmed 1836.

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Die Übertragung des Wüstenemirats an die ‘Abbas-Familie koinzidiert je-denfalls mit einem noch nie dagewesenen Interesse der Hohen Pforte für dasnordsyrisch-mesopotamische Hinterland. 1683 unternahm der Großwesir eineaufwendige Sanierung der Zitadelle von Raqqa; wenige Jahre später wurde dieProvinz zum Mittelpunkt eines großangelegten Siedlungsprojektes (Rakka iska-nı), in dem nomadische Stämme aus dem gesamten Reich am Mittleren Euphratund im Balikh-Tal sesshaft gemacht werden sollten.25 Die ‘Abbas-Emire, mehrnoch als die Abu-Rish vor ihnen, scheinen hier eine unmittelbare Rolle in derAufsicht über andere Gruppen gespielt zu haben. Natürlich hatten auch sie stetsein ambivalentes Verhältnis zum Staat: Schon 1688 bekam z.B. Husayn al-‘Ab-bas den Befehl, Dörfer in der Gegend von ‘Ayntab (Gaziantep) gegen die ständi-gen Übergriffe türkischer oder kurdischer Banden (und nicht, wie bezüglich desSiedlungsprogramms oft behauptet wird, gegen die ‘Anaza-Beduinen) in Schutzzu nehmen.26 Gleichzeitig wurde ihm selber aber auch immer wieder vorgewor-fen, andere Dörfer oder Stämme unterdrückt zu haben – wobei solche Anklagenunter Umständen auch einfach ein Resultat seiner Pflichtausübung waren. Eben-falls im Jahr 1688 wurde Husayn al-‘Abbas Einhalt geboten, nachdem sein un-faires und exzessives Erheben von Steuern in christlichen Dörfern nahe Alepposogar von den muslimischen Notabeln der Stadt kritisiert worden war. Ein paarJahre später wurde ihm angelastet, die gewaltsame Erpressung von Gelderndurch Qays-Araber im Umland von ‘Ayntab erlaubt zu haben.27 In diesen Fällenist es nie ganz klar, ob die ‘Abbas eigenmächtig oder nicht doch im Interesse desStaates handelten.In ähnlicher Weise beschwerte sich aber Husayn al-‘Abbas selber bei der Ho-

hen Pforte, als sein eigener Bruder Hamd al-‘Abbas 1689 Hunderte von Stam-mesmitgliedern versammelt und mit ihnen begonnen hatte, Dörfer und Reisendebis in die Umgebung von Damaskus anzugreifen und auszuplündern.28 Über dasnächste Jahrzehnt wurde die Rivalität, aber dann auch wieder die offenkundigeKomplizenschaft zwischen den al-‘Abbas Brüdern zu einem der wichtigstenProbleme der osmanischen Regierung in Syrien, geht man von der reinen Mengeder diesbezüglichen Verwaltungskorrespondenz aus. 1694/1695 wurden sie bei-de zusammen beschuldigt, zahlreiche Dörfer und Stämme zwischen Aleppo undSalamya überfallen zu haben, woraufhin ein ausgedehnter Feldzug mit Einheitenaus der ganzen Region von Maraş bis nach Jerusalem, Nablus und Shawbak (imheutigen Jordanien) gegen sie vorbereitet wurde; schon im folgenden Jahr jedochwurde Husayn wieder als çöl beyi und Distriktgouverneur von Salamya undDeyr-Rahbe eingesetzt, nachdem die Provinzgouverneure von Bagdad und Raq-

Aufstieg und Niedergang des osmanischen Wüstenemirats (1536–1741)

25 Winter, The Province of Raqqa, 260–263.26 ŞD 11:206.27 ŞD 11:405; ŞD 23:168.28 MD 98:192.

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qa für ihn interveniert hatten.29 Aber auch dieses Mal gab es bald wieder Ärger,sodass wir 1700 genau die umgekehrte Situation vorfinden: Nun war Hamd al-‘Abbas in allen Ehren als Gouverneur von Salamya und Deyr-Rahbe im Amt,während Husayn beschuldigt wurde, Beduinenangriffe in der Umgebung vonAleppo geführt zu haben.30 In einem Dokument von 1716/1717 werden dannsämtliche Mitglieder des ‘Abbas-„Stammes“ („Beni Abbas kabilesi“) als Bandi-ten bezeichnet; als „Fürst der Mawali-Beduinen“ galt zu diesem Zeitpunkt eingewisser Shibli, der seinerseits auch wieder das Gouverneursamt von Salamyaund Deyr-Rahbe bekleidete.31 Bald darauf werden beide Brüder erneut wegenihrer Übergriffe, diesmal in der Gegend von Homs und Hama, angeführt; ihrAufstand nahm ein immer größeres Ausmaß an, bis sie sogar begannen, osma-nische Barken auf dem Euphrat anzugreifen.32 Trotz alledem konnten sie danachdie Gunst der Regierung wiedererlangen, insbesondere nachdem sie einen erneu-ten Feldzug gegen die Iraner 1727 logistisch unterstützt hatten; in einem Befehlvon 1734, wohl kurz vor seinem Tod, wird Hamd al-‘Abbas erstaunlicherweisesogar mit dem Titel „Pascha“ angeredet.33

Unser Ziel ist es nicht, hier die gesamte Provinzkorrespondenz der HohenPforte bezüglich der ‘Abbas aufzuarbeiten. Wie die Abu-Rish vor ihnen hattendie ‘Abbas-Emire trotz wiederholter Konflikte mit den Reichsbehörden den ef-fektiven Status von erblichen Landesfürsten. Worin sie sich vielleicht unterschei-den, ist in ihrer expliziteren Verantwortung für den gesamten Mawali-„Stamm“

so wie in ihrem scheinbar intensiveren Kontakt mit anderen lokalen Akteuren.Schon 1690 bekam z.B. Husayn al-‘Abbas den Befehl, mit den kurdischen undturkmenischen „Stammeshäuptlingen und -offizieren“ (boy beyleri ve kethüda-ları) der Region eine Kompanie zu bilden und am Feldzug des Großwesirs AliPaşa gegen den Iran teilzunehmen; wenige Jahre danach wurde ihm aufgetragen,dem Gouverneur von Raqqa in der Ansiedlung von kurdischen und turkme-nischen Stämmen am Balikh Hilfe zu leisten.34 Im Rahmen des Siedlungspro-gramms wurde ihm später sogar explizit vorgeworfen, „die zur Siedlung vor-gesehenen Gruppen zu seinen eigenen Untertanen gemacht zu haben“ („tavaif-iiskanı kendüye tebaiyet itdirmek“).35

Auch danach konnten bestimmte Individuen, etwa wenn man sie der Räubereioder ähnlicher Vergehen bezichtigte, als „Anhänger“ der ‘Abbas bezeichnet wer-den, das eigentliche Wüstenemirat scheint jedoch langsam hinfällig geworden zu

Stefan Winter

29 ŞD 17:547; MD 106:197–198; MD 108:292.30 ŞD 30:38; MD 111:449.31 MD 125:132.32 MD 127:353, 372; MD 129:316. Siehe auch Cengiz Orhonlu, Dicle ve Fırat Nehirlerinde Nakliyat,in: ders., Osmanlı İmparatorlugunda Şehircilik ve Ulaşım (Izmir: Ege Üniversitesi, 1984), 126–127.33 MD 134:12, 84; MD 140:45.34 MD 99:116; MD 104:6.35 MD 110:644.

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sein. Bis zum großen Aufstand von 1716 wurden die ‘Abbas zwar noch als Gou-verneure bestimmter Distrikte oder als beys der Mawali-Beduinen anerkannt,aber nicht mehr als übergeordnete Vertreter der ganzen nomadischen Bevölke-rung im Sinne des früheren „Emirats der Araber“. Nach einer längeren Strafkam-pagne wurde Hamd al-‘Abbas 1725 wieder zum sancak bey von Deyr-Rahbeund Salamya ernannt, jedoch ohne irgendwelche Autorität über andere Stämme,abgesehen von den Mawali, und musste dafür auch noch seinen Sohn Hasan alsGeisel des Provinzgouverneurs nach Aleppo schicken.36 Um diese Zeit begannwahrscheinlich auch die schon von Norman Lewis festgestellte Verlagerung desSchwerpunkts der Mawali nach Westen.37 Konkret wird dies z.B. anhand derTatsache, dass um 1728 ein Streit zwischen Hamd al-‘Abbas und anderen Mawa-li-Fürsten in der Gegend von Hama bedeutende Steuerausfälle verursachte undsomit zur Schwächung des Verbandes beigetragen zu haben scheint; HamdsSohn suchte Zuflucht bei den Shawi-Arabern im Bük Gebeit bei Raqqa und zogab 1730 mit deren Hilfe mehrfach auf Raubzüge in die Umgebung von Aleppoaus.38 Zu etwa der gleichen Zeit leistete Hamd demmächtigen alawitischen Fürs-ten ‘Ali ibn Shillif Unterstützung, als dieser dazu ansetzte, das gesamte Küsten-bergland von Jabala in Nordwestsyrien zu unterwerfen. In ‘Ali Shillif hoffteHamd vermutlich einen einflussreichen neuen Verbündeten gegen seine eigenenRivalen zu finden, vor allem gegen den Mawali-Führer Genç Mehmed, mit demer sich anschließend das Gouverneursamt von Salamya und Deyr-Rahbe teilenmusste und der seinerseits die Gegend von Hisn al-Akrad (Crac des Chevaliers)im südlichen Alawitengebirge zu seinem Stützpunkt gemacht hatte.39

Sowohl der Aufstieg der ‘Abbas-Emire wie paradoxerweise aber auch der Nie-dergang des çöl beyliks an sich sind wahrscheinlich mit der Wichtigkeit, die derosmanische Staat im 18. Jahrhundert der Stammeskontrolle und -ansiedlungs-politik beimaß, zu erklären. Der Begriff wird wahrscheinlich letztmalig über-haupt in Zusammenhang mit der allmählichen Entmachtung der ‘Abbas ange-führt: 1738, kurz nach dem Tod von Hamd al-‘Abbas, beschwerten sich dieChefs der kurdischen Reşwan-Nomaden bei der Hohen Pforte über ihreschlechte Behandlung durch die Wüstenemire, denen sie bislang immer einenFestbetrag gezahlt hatten, um mit ihren Schafherden in Deyr-Rahbe und Sala-mya zu überwintern, die aber jetzt einen exorbitanten Aufpreis verlangten. DieReşwan, die ihren Hauptsitz in der Provinz Maraş hatten, aber zum Teil überganz Anatolien verstreut lebten, werden in den Verwaltungsakten des 18. Jahr-hunderts häufiger als jede andere Konföderation erwähnt und können als wich-

Aufstieg und Niedergang des osmanischen Wüstenemirats (1536–1741)

36 MD 133:60.37 Lewis, Taïbe and El Kowm, 72.38 MD 134:383; MD 135:20; MD 136:51; MD 137:29.39 MD 136:83–84; MD 145:233.

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tigste Subjekte der osmanischen Siedlungsinitiative überhaupt gelten.40 Schon1694 war die Hohe Pforte einmal eingeschritten, um die Reşwan vor den Über-griffen der ‘Abbas in Raqqa zu schützen, und auch 1727/1728 beeinträchtigtendie Kämpfe unter den Mawali-Fürsten in der Nähe von Hama die Reşwan, als siezu ihrem Winterweidegebiet in der Steppe ausziehen wollten.41 Dementspre-chend bekamen dieses Mal die Provinzgouverneure von Aleppo und Raqqa Be-fehl, den Reşwan eine militärische Eskorte bis zum Euphrat zu stellen, damit sienicht durch den Kampf der Söhne von Hamd al-‘Abbas um dessen Nachfolge inMitleidenschaft gezogen würden. Vor allem sollte als çöl beyi jetzt der „reifsteund passendste“ dieser Söhne ausgesucht werden, dessen Hauptaufgabe es nun-mehr sei, die Interessen der Reşwan und der anderen „Siedlungsstämme“ (tavaif-iiskan) zu wahren.42

Das Wüstenemirat als osmanischer Middle Ground?

Das Interesse der ansässigen Bevölkerung scheint jedenfalls ein Leitsatz gewesenzu sein, als die ‘Abbas drei Jahre später endgültig aus ihren Ämtern verwiesenund von Genç Mehmed ersetzt wurden. Ein bemerkenswerter Befehl, der 1741an Genç Mehmed erging und der in den Registerbüchern der „Evamir-i Sulta-niye“ (Sultansdekrete) von Aleppo enthalten ist, erzählt gewissermaßen die gan-ze Geschichte der ‘Abbas-Familie nach: Als sancak beyi von Deyr-Rahbe undSalamya, so der Befehl, hatte Hamd al-‘Abbas ursprünglich den Auftrag, dieganze Region und besonders die Reşwan-Stämme zu beschützen. Dann aberhabe sein Bruder Husayn begonnen, Dörfer in der Umgebung von Aleppo aus-zuplündern, und wurde daraufhin in der Zitadelle der Stadt eingesperrt, bisHamd beim Provinzgouverneur für ihn intervenierte und ihn wieder freikaufte.Husayn sei jedoch bald zu seinen alten Gewohnheiten zurückgekehrt, so dassman Hamd zur Last legte, nicht nur die Beduinen nicht gebändigt, sondern vorallem auch die erforderlichen Steuern von Husayn nicht eingetrieben zu haben.Außerstande, seine Autorität unter den Stämmen durchzusetzen, sei er daraufhinaus seinem Amt geflohen.43

Was in diesem Dokument Augenmerk verdient, ist weniger die Darstellungder Ereignisse als der legale Grund, der für Hamds Eliminierung angegebenwird: Nach Husayns erstem Aufstand hatte Hamd nämlich vor dem Richtervon Aleppo eine formelle kefalet oder Bürgschaft für Husayns Verhalten geleis-tet, womit seine Unfähigkeit, ihn letztendlich zu kontrollieren, mehr noch als ein

Stefan Winter

40 Stefan Winter, Die Kurden Syriens im Spiegel osmanischer Archivquellen (18. Jh.), ArchivumOttomanicum 27 (2010), 228–231.41 ŞD 17:547; MD 134:327.42 Zentrum für Historische Dokumente, Damaskus: Evamir-i Sultaniye/Aleppo (ESA) 3:331.43 ESA 4:125.

260 Saeculum 63/II (2013)

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administratives oder politisches Problem schlichtweg einen Vertragsbruch be-deutete. Das Fordern einer kefalet Garantie ist typisch für viele Steuerpacht-oder sonstige Regierungsverträge in Syrien und anderswo im OsmanischenReich im 18. Jahrhundert und kann als Mittel gesehen werden, sowohl die fis-kalische wie auch die polizeiliche Verantwortung lokaler Würdenträger auf wei-tere Mitglieder ihrer Familien-, Stammes- oder Dorfgemeinschaft zu verteilen,um so wenigstens auf dem rechtlichen Niveau die einheimische Bevölkerungnebst den „Notabeln“ (ayan) in die Regierungspraxis miteinzubeziehen.Der Eindruck einer ausgedehnteren kollektivenVerantwortungwird verstärkt,

wennman den Transfer des beylik, das indes nur noch dieMawali und nicht mehrdie gesamte „Wüste“ betrifft, an Genç Mehmed betrachtet. Dem gleichen Doku-ment zufolge sollte nämlich vorerst der Provinzgouverneur vonRaqqa den geeig-netsten „beyzade“ („Fürstensohn“) der Mawali vorschlagen, einen, der die Reş-wan und andere Stämme der Gegend am besten schützen würde; schon alleindieser Ausdruck lässt mehr auf ein erbliches Amtsverhältnis mit dem Staat (imSinne von David Sneaths „Aristokratie“) als auf eine autarke Stammesführer-schaft schließen. Als nächstes sollte die Wahl des Gouverneurs „der Gesamtheitder Prominenten“ (vücuh) von Aleppo zur „Konsultation“ (müşavere) und Zu-stimmung vorgelegt werden; die Wahl musste aber auch von den Reşwan undschließlich von den „Ältesten und Wortführern“ (ihtiyar ve söz sahibleri) derMawali selbst akzeptiert werden. Genç Mehmeds Ernennung wurde schließlichin Anwesenheit der Mawali-Ältesten während einer Gerichtssitzung (meclis) inAleppo ratifiziert, so dass letztendlich die ganze Gemeinschaft für ihn haftete.Danach, und für den Rest des 18. Jahrhunderts, hört man kaum noch von den

Mawali. 1750 wurde der Provinzgouverneur von Aleppo nochmals angewiesen,die Reşwan gegen die übertriebenen Forderungen der Mawali-beys zu verteidi-gen; 1759 beschwerten sich die Mawali wiederum über ihre exzessive und ge-walttätige Ausbeutung durch den Gouverneur, und in den darauf folgendenJahren werden sie hauptsächlich in Zusammenhang mit Steuern und Finanzenerwähnt.44 Das çöl beylik wird noch sehr vereinzelt als Synonym für die Mawa-li-Führerschaft genannt, kommt aber als eigenständige Institution nicht mehrvor.45 Von den ‘Abbas hört man wohl 1781 zum letzten Mal, als ein gewisserHusayn ibn ‘Abbas mit einer Gruppe von Mawali und anderen Beduinen Dörferin der Gegend von ‘Ayntab ausraubte; er wird selbstverständlich nicht mehr alsStammes-bey, nicht einmal mehr als beyzade angeführt. Die Mawali werden1784 noch einmal genannt, jedoch nur imKontext der osmanischen Politik gegendie neueste regionale Herausforderung, den Aufstand des kurdischen Milli-Ver-bandes unter dem mächtigen Kriegsherrn Milli Timur.46

Aufstieg und Niedergang des osmanischen Wüstenemirats (1536–1741)

44 MD 154:329; MD 161:103, 339; MD 162:87–88, 378.45 Vgl. ESA 8:141.46 MD 178:304; MD 180:116.

Saeculum 63/II (2013) 261

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Das çöl beylik, lässt sich zusammenfassend sagen, scheint als Modell der Stam-meskooptation und -kontrolle, welches die Osmanen ursprünglich von ihrenseldschukischen, ayyubidischen und mamlukischen Vorgängern in Syrien über-nommen hatten, im späten 18. Jahrhundert ausgedient zu haben. Bekam das Amthauptsächlich mit den Abu-Rish-Emiren einen institutionellen Charakter, indemes an ihre sancak-beyi-Posten in ‘Ana, Salamya und Deyr-Rahbe gekoppelt wur-de, koinzidierte seine Übertragung an die ‘Abbas-Familie mit einer fundamen-talen Neuorientierung der Ziele und Methoden osmanischer governance imnordsyrischen Hinterland am Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts. Mitder Einführung einer imperialen Stammesansiedlungspolitik erhielt vor allemder Provinzgouverneur von Raqqa weitgehende neue Befugnisse über die ruraleGesellschaft der ganzen Region, welche die Autorität des einstigen Wüstenemi-rats wahrscheinlich redundant, ja sogar störend machte. Das iskan-Programmbezweckte in erster Linie die Unterbringung und Versorgung von Nomadenwie den anatolischen Reşwan oder später die Eindämmung der Milli-Kurden,und hierzu hatten die çöl beyis an sich keinen besonderen Beitrag mehr zu leisten.Cengiz Orhonlu sowie die Mehrzahl westlicher Historiker gehen davon aus,dass eines der Ziele der Siedlungspolitik darin bestand, der Nordmigration ara-bischer Beduinen entgegenzuwirken. Die Beduinen jedoch fallen in den eigentli-chen Dokumenten durch ihre Abwesenheit auf. Erst im Laufe des 19. Jahrhun-derts, als tatsächlich vermehrt die ‘Anaza aus der Arabischen Halbinselbegannen, in die landwirtschaftlichen Randgegenden Syriens und Anatoliensvorzudringen, sollten die Reste des Mawali-Verbandes in dieser Hinsicht wiedereine effektive Rolle spielen.Sowohl die Abu-Rish wie auch die ‘Abbas verfügten über eine autonome,

hauptsächlich auf der mobilen Viehzucht (und dem Viehraub) beruhende Wirt-schaftsbasis, die sie zum Rang eines Landadels erhob und sie gewissermaßen alslokale Partner der Osmanen prädestinierte. Andererseits hingen ihre dirlik-Pen-sionen und jeweiligen Auszeichnungen als Distriktgouverneur, çöl beyi oder„Emir der Araber“ immer vom übergeordneten Staat ab. Was den Mawali-„Stamm“ angeht, der ja erst in den Verwaltungsakten des 18. Jahrhunderts auf-tritt, kann man durchaus im Sinne David Sneaths feststellen: „the organization ofcommoners into groups under named heads is more likely to have been an ad-ministrative act than the result of some indigenous kinship structure.“47 Der Auf-stieg sowie der Niedergang des çöl beyliks entsprachen letzten Endes einem be-stimmten historischen Moment, und die ‘Abbas fielen nicht so sehr dem ewigenDruck anderer Stämme oder ihren eigenen internen Zwistigkeiten zumOpfer alseinem geschichtlichen Prozess, den man in Anlehnung an Richard Whites Er-kenntnis einer Akkomodation von Franzosen und Algonquin in Nordamerikazu etwa dem gleichen Zeitpunkt vielleicht als „neuen Middle Ground“ bezeich-

Stefan Winter

47 Sneath, Headless State, 59.

262 Saeculum 63/II (2013)

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nen kann: ein neues Begegnen und Aushandeln (hier buchstäblich, im Gerichtvon Aleppo und Ähnliches) von Autorität und Macht zwischen einem immerweiter vorrückenden imperialen Zentrum, einer autochthonen, aber bislang nichtinstitutionalisierten lokalen Führungsschicht und anderen, durch größere wirt-schaftliche und militärische Verschiebungen in Bewegung gebrachten noma-dischen Bevölkerungselementen.48 Von Natur her konnte so einMiddle Groundnur temporär sein, eine Übergangsphase vor dem endgültigen Zusammenstoß, inunserem Fall zwischen dem zentralisierenden osmanischen Staat und den weitbedeutenderen Stammesbewegungen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts.Als letzte Inhaber des klassischen osmanischen çöl beyliks walteten somit die‘Abbas über eine zum Scheitern verurteilte, aber dennoch kritische Institutionder Frühmodernisierung im Nahen Osten.

Aufstieg und Niedergang des osmanischen Wüstenemirats (1536–1741)

48 Richard White, The Middle Ground: Indians, Empires and Republics in the Great Lakes Region,1650–1815 (Cambridge: Cambridge University Press, 1991).

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