Sozial ungleiche Erkrankungsrisiken bei Kindern und … · 2013-03-18 · Welche Folgerungen...

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Oster-Seminar-Kongress für pädiatrische Fortbildung Brixen, 2. April 2012

Sozial ungleiche Erkrankungsrisiken bei

Kindern und Jugendlichen – Welche Folgerungen ergeben sich für

ärztliches Handeln?

Prof. Dr. Johannes Siegrist

Institut für Medizinische Soziologie Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Soziale Differenzierungen

Menschen erhalten

auf Grund ihrer Stellung im gesellschaftlichen Beziehungsgefüge

von begehrten materiellen und/oder immateriellen Gütern

regelmäßig mehr oder weniger als andere.

Individuelle Differenzierungen

Menschen unterscheiden sich durch

natürliche, biologische Merkmale

individuell erworbene Merkmale.

Ungleichheiten

Chance, bestimmte individuelle Merkmale zu erlangen

Chance, bestimmte soziale Positionen zu erreichen

Was ist ‚soziale Ungleichheit‘?

Messung sozialer Ungleichheit: Soziale Schichten

Soziale Schichten: Personengruppen, die sich hinsichtlich zentraler Statusmerkmale in einer gleichen oder ähnlichen Lage befinden und damit vergleichbare Lebenschancen und Lebensstile aufweisen.

Zentrale Statusmerkmale (‚meritokratische Triade): • Höhe der Bildung • Stellung im Beruf • Höhe des (Erwerbs)einkommens

Konstruktion von Schichtindizes bzw. Indikatoren • Problematisch allerdings: Statusinkonsistenz; neue soziale

Ungleichheiten

Quelle: Hradil S (2009) In: Richter M, Hurrelmann K (Hg) Gesundheitliche Ungleichheit, Weisbaden, S. 38

Soziale Schichtung der deutschen Gesellschaft

Quelle: The Marmot Review, London 2010

Sozioökonomische Benachteiligung (Aggregatdaten Wohnbezirke) und behinderungsfreie

Lebenserwartung in England 1999-2003

Lebenserwartung nach Wohnregion Washington D.C. (2000)

Quelle: http://www.commissiononhealth.org/PDF/769f7dcc-46a7-4953-b149-44931d0995e8/CommissionMetroMap.pdf

Quelle: Huisman et al. 2006

0

5

10

15

20

25

30

35

austria

switerland

englandnorway

denmarkfinland

belguimfra

nceitaly

spain

death

rate

Hoch

Niedrig

Schicht:

Bildung und Mortalitätsraten (pro 1000 py) Männer 60-69 Jahre

Quelle: M. Marmot & M.J. Shipley (1996), Brit Med J, 313: 1177.

0,40,60,8

11,21,41,61,8

22,2 leitende Dienste

gehobeneeinfacheUn-/Angelernte

40-64 Jahre

Sterberate (rate ratio)

64-69 Jahre 70-89 Jahre

Sozialer Gradient der Mortalität (Sterberate (rate ratio; 25 Jahre) nach Höhe der beruflichen Stellung

(Whitehall-Studie; N=18.000))

Quelle: Lampert T et al (2007) Aus Politik und Zeitgeschichte 42: 11-18 (SOEP-Daten)

Vorzeitige Sterblichkeit vor dem 65. Lebensjahr nach sozialer Schicht (Einkommen): Deutschland 1995-2005

0,93

0,94

0,95

0,96

0,97

0,98

0,99

1

312 336 360 384 408 432 456 480 504 528 552 576 600 624 648

Alter in Jahren (Monaten)

Ant

eil Ü

berle

bend

er

26 30 34 38 42 46 50 54

Angestellte

Arbeiter

Quelle: Kuh et al 2002

Sozialschicht der Eltern und kumulative Sterberaten (201 Todesfälle) bei 4271 Männern und Frauen (26

bis 54 Jahre, geboren 1946)

Sozialer Gradient von Morbidität und Mortalität: Erklärungsansätze und Varianzaufklärung*

Ungleicher Zugang zum medizinischen Versorgungssystem

Ungleiche Ausprägung gesundheitsschädigender Verhaltensweisen

Ungleiche Startchancen während Schwangerschaft und früher Kindheit

Ungleiche materielle und psychosoziale Stressoren im Erwachsenenalter

15%

40%

20%

25%

*eigene Berechnungen nach vorliegenden Studien

ca.

Die Lebenslaufperspektive sozial ungleicher Erkrankungsrisiken

• Latenzmodell: – Soziale Benachteiligung der Eltern manifestiert sich v.a. in

ungünstigem Schwangerschaftsverlauf (fötale Programmierung) und in prekären materiellen und sozioemotionalen Bedingungen sensitiver postnataler Entwicklungsphasen des Kindes

• Kumulationsmodell: – Die in früher Kindheit durch soziale Benachteiligung der

Eltern erworbene Vulnerabilität wird durch eigene soziale Benachteiligung im Lebenslauf (Bildung, Beruf, Wohnlage etc.) verstärkt und erhöht dadurch die Krankheitslast

Prägung lebenslanger Krankheitsdispo-sitionen im Mutterleib:

– Durch Suchtmittel, Fehl- bzw. Mangelernährung und chronischen Stress: intrauterine Dysregulationen (u.a. Programmierung des fetalen Fettgewebes)

Kurz- und langfristige Auswirkungen: – Niedriges Geburtsgewicht – Geringe Körpergröße – Adiposity rebound Übergewicht – Erhöhte Typ-II-Diabetes- und

kardiovaskuläre Risiken

Latenzmodell: Fötale Programmierung

Körpergröße und soziale Schicht in drei UK-Kohorten

Quelle: Marmot M, Wilkinson RG (2006) Social determinants of health. Oxford: p. 39.

KHK-Risiken in Abhängigkeit vom Berufsstatus des Vaters (HNR-Studie)

Quelle: Richter M, Hurrelmann K (Hg.) (2009) Gesundheitliche Ungleichheit. Wiesbaden: 188

Kombinierter Effekt von Körpergröße und sozialer Benachteiligung auf KHK-Risiko (584 Frauen,

Stockholm, 1991-1994)

Quelle: Marmot M, Stansfeld SA (2002) Stress and the heart. BMJ, London, p. 30.

Helle Balken: Körpergröße >160cm Dunkle Balken: Körpergröße <160cm

Kumulationsmodell

Soziale Benachteiligung der Eltern

Geringere Gesundheit/Leistungsfähigkeit im Kindesalter

Geringerer sozialer Aufstieg

Höhere soziale Belastungen

Höhere gesundheitliche Gefährdung im Erwachsenenalter

Soziale Benachteiligung der Eltern

Geringere Gesundheit/Leistungsfähigkeit im Kindesalter

Geringerer sozialer Aufstieg

Höhere soziale Belastungen

Höhere gesundheitliche Gefährdung im Erwachsenenalter

Entwicklungsaufgaben

Emotionale Entwicklung Bindung, Urvertrauen, Beziehungsfähigkeit

Kognitive und (vor)sprachliche Entwicklung

Moralische Entwicklung Normen und Werte, Autonomie und Identität

Motivationale Entwicklung Ziele setzen und verwirklichen, Belohnungsaufschub und Leistung

These: Bei Eltern/Alleinerziehenden mit sozialer Benachteiligung: geringere Chancen erfolgreicher Bewältigung und dadurch erhöhte Gesundheitsgefährdung bei Kindern

Bedeutung gelungener primärer Sozialisation für die Kindergesundheit

Emotionale Bindungssicherheit beim Säugling / Kind: wesentliche Bedingungen gesunder psychischer Entwicklung (Rolle der Affektregulation)

Einfühlsame Bedürfnisbefriedigung durch die Mutter: entscheidende Determinante der Bindungssicherheit

Geringer sozialer Rückhalt (durch Partner) und defizitäres Elternverhalten (einschließlich Misshandlungsgefahr): wichtigste Einflussfaktoren auf Qualität der Mutter-Kind-Beziehung

Diese Einflussfaktoren finden sich häufiger bei sozial benachteiligten Gruppen (höchstes Risiko: ungewollte Frühschwangerschaft)

Beeinträchtigung der Mutter-Kind-Beziehung in früher Kindheit

Quelle: P. Fonagy in D. Blane et al. (eds.): Health and Social Organization, London 1996

Familien im Wandel

0

5

10

15

20

25

30

hoch niedrig0

5

10

15

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hoch niedrig

Sozialer Status bei Geburt und kritische Lebensereignisse (Mädchen: 1958 Birth Cohort Study; Graham 2000)

Scheidung der Eltern Teenager-Schwangerschaft

%

Gravierende Lebensereignisse nach sozialer Schicht (England)

Leukozyten-Telomerenlänge bei jungen Erwachsenen (N=94) mit (PSG) bzw. ohne (CG) mütterlichen Stress während Schwangerschaft

Quelle: Entringer S et al (2011) PNAS 108: E513-E518

• Gesamtsterblichkeit • Suizid • Psychiatrische Krankheiten • Gewaltopfer • Alkohol-bedingte Störungen

Quelle: G. Ringbäck Weitoft et al. (2003), Lancet, 361: 289.

Relatives Risiko 1991 – 1998

1.21(*)

2.43* 2.08* 2.02* 2.42*

1.54* 1.83* 2.52* 1.62* 2.18*

Mädchen Jungen

(*) p < 0.10, * p < 0.05

Schwere Gesundheitsprobleme/Frühsterblichkeit bei 6-18-jährigen Kindern Alleinerziehender in Schweden

(N=65.085 vs. 921.257)

Entwicklungsstörungen bei Einschülern nach sozialer Schicht

Quelle: Lampert T et al (2009) In: Richter M et al. Gesundheitliche Ungleichheit: 229.

Problemver- dichtung in

der Adoleszenz

(C)

Krise des Selbst-Konzepts und Selbstwert-

Gefühls (D)

gesundheits- schädigendes

Verhalten

(F)

sozio- ökonomische

soziokulturelle Benachteiligung

(A)

peer group; sozialer Druck; Aufforderungs-

Situationen (E)

unvollständige familiale

Sozialisation

(B)

Entwicklung gesundheitsschädigenden Verhaltens in der Adoleszenz

Tabakkonsum von 15- bis 16-jährigen Schülern nach Schulform (2003)

Gesundheitsschädigendes Verhalten (Rauchen + Übergewicht + Bewegungsmangel) nach sozialer

Schicht und Alter

0

0,5

1

1,5

2

2,5

3

3,5

18-39 Jahre 40-59 Jahre

Oberschicht (Ref.)

obere Mittelschicht

Mittelschicht

untere Mittelschicht

Unterschicht

Quelle: U Helmert, F Schorb 2006, in: M Richter et al: Gesundheitliche Ungleichheit

Deutschland 2001-2005 (Bertelsmann-Gesundheitsmonitor)

0,5

1

1,5

2

2,5

1 2 3 1 2 3

Hohe Anforderung / Geringe Kontrolle

Quelle: M. Kivimäki et al. (2002), BMJ, 325: 857.

Hohe Verausgabung / Niedrige Belohnung

Terzile (Belastung):

1 = keine; 2 = mittlere; 3 = hohe #adj. für Alter, Geschlecht, Berufsgruppe, Rauchen, körperliche Aktivität, systol. Blutdruck, Cholesterin, BMI

* *

Haz

ard

ratio

# Psychosozialer Arbeitsstress und Herz-Kreislauf-

Sterblichkeit: Finnische Industriearbeiterstudie

Quelle: N. Wege et al. (2008) JECH 62: 338-341

0

1

2

3

4

5

6

7

8

Stress -/Position +

Stress -/Position -

Stress+/Position +

Stress+/Position -

Odd

s ra

tio

*

* Synergie-Index - 1.99 [1.02-3.85]

Arbeitsstress (Gratifikationskrisen), berufliche Position und depressive Symptome (HNR-Studie,

Basiserhebung, N=1811 Männer und Frauen 45-65 J.)

Maßnahmen medizinischer und gesundheitspolitischer Prävention

Schwangerschaft und frühe Kindheit • Gezielte Gesundheitsberatung bei Schwangeren • Motivierung zu Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen • Elterngespräche in prä- und postnataler Phase (h.a.

Impfempfehlungen, Unfallprävention*) • Monitoring und Durchführung von sowie Folgerungen aus U1-U6 • Aufsuchende Dienste (z.B. Familienhebammen) • Elterntraining-Programme bei sozialen Risikogruppen • Finanzielle Hilfen für Alleinerziehende • Krippenplätze mit guter Betreuung, kombiniert mit

Beschäftigungsoptionen

*www.bzga.de/kindersicherheit; www.Kindersicherheit.de

Maßnahmen medizinischer und gesundheitspolitischer Prävention

Kindergarten-/Einschulungsalter • Ausbau von Screening zu Entwicklungsstörungen und Risiken

chronischer Krankheiten • Schulungsprogramme für Elternkranker Kinder (>1 Mio) sowie • Mitwirkung bei Initiierung von Frühförderung und

kompensatorischen Maßnahmen • Unterstützung gesundheitsfördernder Aktivitäten in Kindergärten

und Schulen (Vorträge, Medienbeiträge, Teamarbeit) • Soziales Kompetenztraining (Schule, Eltern) • Verhältnispräventive Maßnahmen (Ernährung, Bewegung,

Suchtmittel) • Stärkere Koordinierung von Gesundheits- und Sozialdiensten

(kommunal, z. B. ÖGD-NRW)

Schlussfolgerung

• Sozial ungleiche Erkrankungsrisiken bei Kindern und Jugendlichen stellen nach wie vor (und wieder stärker?) ein zentrales Problem der Gesundheitspolitik dar.

• Kinder- und Jugendärzte können mit den skizzierten und weiteren Maßnahmen zur Verringerung des Problems einen wertvollen, wenn auch begrenzten Beitrag leisten.

• Es besteht weit reichender gesellschaftspolitischer Handlungsbedarf (v.a. Bildungs-, Beschäftigungs-, Sozial-, Finanzpolitik) in Ergänzung zu einer stärkeren Präventivorientierung des Gesundheitssystems!

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