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Adoleszenzkrise -
Eine psychiatrische
Diagnose?
05. Mai 2017
Dr. med. Gianni Zarotti
gianni.zarotti@hin.ch
Psychiatrisches Kolloquium Fruhlingsemester 2017 -
Psychiatrie und Psychotherapie entlang der
Lebensspanne
Womit haben wir es zu tun?
• „Programmierte Verrücktheit“ (Strauch, 2003)
stammhirngesteuertes Erleben und Handeln als Diskrepanz zu
Intelligenzleistungen (Computer, Mathematik, etc.)
• Ablösung – Lockerung der Ursprungsbeziehungen, Autonomie-
Abhängigkeitskonflikt, Peer-Group-Kontakte, Egozentrizität, etc.
• Mangelnde Über-Ich – Ausrüstung (Wertevorstellungen im Fluss)
• Mangelnde Frustrationstoleranz
• Gesteigertes Risikoverhalten (siehe oben)
• Selbstwertkonflikte
• Versorgungskonflikte
• Identitätskonflikte
Adoleszenzentwicklung
„physiologische“ Symptombildungen
• Schulleistungseinbrüche
• Soziale Ängste
• Hypochondrische Ängste
• Beziehungsvorstellungen
• Zwänge
• Essstörungen
• Dysmorphophobie
• Selbstverletzungen
• etc…..
Adoleszenzentwicklung
• Freundeskreis aufbauen
• Die körperlichen Veränderungen akzeptieren
• Geschlechtsspezifische Rollen aneignen
• Engere, intime Beziehungen aufnehmen
• Sich von den Eltern ablösen
• Entscheidungen hinsichtlich Berufswahl treffen
• Vorstellungen über eigene Partnerschaft und Familie entwickeln
• Sich selbst kennen lernen und beurteilen
• Eigene Weltanschauungen und Einstellungen entwickeln und vertreten
• Zukunftsperspektiven und Lebensziele entwickeln
Adoleszenzentwicklung
Entwicklungsaufgaben
Flammer, Alsaker, 2002
Adoleszenzentwicklung
Verschiedene tiefgreifende Veränderungen in dieser
Lebensphase:
• Pubertät (Sexualreife)
• Veränderungen im kognitiven Bereich
• Auseinandersetzung mit Autorität,
Ich-Entwicklung, Identitätsfindung, Entwicklung von
sozialer Kompetenz, etc.
Adoleszenzentwicklung
Pubertät (Sexualreife)
Unter dem Einfluss hypothalamischer Releasing-Hormone
verstärkte Ausschüttung von Testosteron/Oestrogenen
Veränderung primärer und sekundärer
Geschlechtsmerkmale, Muskel- und Fettverteilung,
Behaarung, etc.
Wachstumsschub des Körpers
Beginn Pubertät bei Mädchen 10 – 12 Jahre
bei Jungen 11 – 13 Jahre
Adoleszenzentwicklung
Pubertät (Sexualreife)
Säkulare und individuelle Akzeleration oder Retardierung.
Abhängig von Umweltbedingungen
Auseinandersetzung mit und Annahme der Geschlechtsrolle.
Akzeptanz des Körpers.
Aufnahme und Gestaltung intimer Beziehungen.
Adoleszenzentwicklung
Quelle: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2010
Adoleszenzentwicklung
Quelle: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2010
Adoleszenzentwicklung
Sexualität und Pornokonsum im Internet:
Hypothese: der Pornokonsum durch Jugendliche verändert
deren Bild von Zärtlichkeit, Sexualität tiefgreifend.
Online-Interview bei 350 Jugendlichen 13-18 Jahre m und w
• 61% der Mädchen und 93% der Jungs hatten willentlichen
Kontakt zu pornographischen Inhalten.
• Nur 14% der Jungen und 9% der Mädchen waren der
Ansicht, Pornographie zeichne ein realistisches Bild
menschlicher Sexualität.
• Es zeigte sich keinerlei Zusammenhang zwischen der
Intensität des Konsums und obigem Befund.
Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 2009
Adoleszenzentwicklung
Veränderungen im kognitiven Bereich
• Entwicklung des abstrakten Denkens
• Entwicklung logischer Situationsanalysen
• Entwicklung realistischer Vorstellungen von der Zukunft,
Entwicklung von Zielen und Perspektiven
• Entwicklung moralisch-ethischer Prinzipien
• Erwägen von hypothetischen Situationen und
Verwendung von Metaphern
Adoleszenzentwicklung
Erkenntnisse der Hirnforschung
Dramatische Um- und
Neustrukturierung wesent-
licher, für rationale Planung,
Emotionalität und Impuls-
steuerung zuständiger Hirn-
areale
Adoleszenzentwicklung
Erkenntnisse der Hirnforschung
Adoleszenzentwicklung
Zwei wesentliche Zeitpunkte der Gehirnentwicklung:
• Pränatal/frühkindlich und
• in der Adoleszenz (ca. 14. bis 18. Lebensjahr):
• Untergang zahlreicher Verschaltungen (bis 300000/sec.)
nach dem Prinzip „use it or lose it“ (pruning).
• Neuorganisation durch myelinisierte, schnellere,
effizientere Verschaltungen fortschreitend von hinteren zu
den frontalen Gehirnregionen, deren Entwicklung zuletzt
abgeschlossen ist.
Adoleszenzentwicklung
Konsequenzen für die Adoleszenz
Durch den Umbau des präfrontalen Kortex vorübergehend
verminderte Fähigkeit zu
• rationaler (Handlungs)Planung
• Triebverzicht oder –aufschub, Prioritätensetzung
• Impulssteuerung
• Einhaltung moralisch-ethischer Prinzipien
• etc.
Bei Jugendlichen daher stärkere Beteiligung der Amygdala:
Emotionale Bewertung von Situationen (Bauchentscheide)
Adoleszenzentwicklung
Konsequenzen für die Adoleszenz
Nucleus accumbens (Belohnungssystem)
Ebenfalls von Neustrukturierung betroffen, geringere
Antwortstärke für gleichen Effekt wie bei Erwachsenen.
Daher stärkere Stimuli nötig: gesteigertes Risikoverhalten,
„sensation seeking“-Verhalten, z.B. Substanzkonsum,
Selbstverletzungen, Veränderungen des Körpers
(Piercing, Tatooing) etc..
Adoleszenzentwicklung
Konsequenzen für die Adoleszenz
Entwicklungsphase mit erhöhter Vulnerabilität,
erhöhter Anfälligkeit für psychiatrische Störungen:
• Dissoziale Verhaltensauffälligkeiten
• Angst-, Zwangs-, somatoforme Störungen, Depressionen,
Suizidalität
• Psychosen (Schizophrenie, mono- und bipolare
Affektstörungen, etc.)
• Persönlichkeitsstörungen
Adoleszenzentwicklung
Prodrom als Zustand der Adoleszenz?
Adoleszenzentwicklung
Auseinandersetzung mit Autorität,
Ich-Entwicklung, Identitätsfindung, Entwicklung von
sozialer Kompetenz, Erlangen der Unabhängigkeit,
Entwicklung von Selbstvertrauen, Aufbau eines
Wertesystems
„Wer bin ich, was bin ich, wie bin ich, wie sehen mich
andere, wie sehe ich andere?“
Adoleszenzentwicklung
Zweite Individuation (Blos, 2001):
Wiederbelebung der Ambivalenz (Wiederannäherung):
Heftige Gefühlsschwankungen: Liebe/Hass,
Aktiv/Passiv, weiblich/männlich, Neugier/Des-
interesse, Abhängigkeit/Autonomie
Rivalität zwischen idealisierter Elternimago und
unzureichendem Selbstbild.
Entidealisierung elterlicher Objektrepräsentanzen.
Verzicht auf Eltern als primäre Liebesobjekte.
Adoleszenzentwicklung
„Ich möchte behaupten, dass der Prozess der
Entidealisierung von Objekt und Selbst den quälendsten und
schmerzlichsten Einzelaspekt des Erwachsenwerdens
darstellt.“ (Blos 1979)
Adoleszenzentwicklung
„Ohne Freunde und Freundinnen (Peers) aufzuwachsen ist
unter heutigen modernen Lebensbedingungen ein
Hinweis auf belastete Entwicklungswege“ (Fend, 2000).
Funktionen der Peer-Gruppe:
• Emotionales Wohlbefinden
• Übungsfeld Perspektivenübernahme, Probehandeln, etc.
• Stütze zur Individuation, Solidarität
• Üben von „Identitäten“ in geschutztem Rahmen
• Lernen von Beziehungsfähigkeit (Bindung,
Verantwortlichkeit, Fairness, Intimität)• Prosoziale Motivation, Hilfe, Einsatz für Andere, etc.
Adoleszenzentwicklung
Bezogene Individuation (Stierlin)
Individuation kann nur gelingen in der Auseinandersetzung
mit und in Abgrenzung von den Eltern, die dafür bereit sein
müssen, eine Rolle als Sparring-Partner zu übernehmen.
Freundlich-respektvolle Beziehung zu den Eltern ist
abhängig von:
Gelingen der Diskriminierung von omnipotenten,
idealisierten Objektrepräsentanzen und realen/aktuellen
Eltern.
Adoleszenzentwicklung
Neue MedienMulti-OptionsgesellschaftAntiautoritäre Erziehung
ÜberflussgesellschaftJugendrevolte
……..
1920 2010
Nur 5-10 % auffälliger Kinder suchen professionelle Hilfe auf.
Die Eltern eines Kindes mussen Hilfe wollen……
• Erkennen, dass das Kind Hilfe braucht.
• In Erwägung ziehen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
• Mögliche Barrieren (negative Einstellungen, etc.) überwinden.
• Therapie in den Alltag integrieren.
Psychische Störungen in der Adoleszenz
Risikofaktoren
Dispositionen
Auslöser
Fehlanpassung/
Psychische
Auffälligkeiten
Psychische Störung Chronifizierte
Psychische
Störung
Persönlichkeit:
Ängstlich-gehemmt
Leichte Defizite in
sozialer Kompetenz
Unsichere Bindung
zu Eltern
Unsicherheit in
neuer
sozialer Situation
Aktuell: Konflikt
zwischen Bindungs-
wunsch und
Autonomiewunsch
Tendenz zu
Schulvermeidung
(sporadisch)
Erhöhte Angst in
Trennungssit.
Erhöhte soziale
Angst im Kontakt
mit Gleichaltrigen
Anhaltende
Schulverweigerung
Entwicklung von
körperlichen Symptomen
Bei Forderung, die Schule
zu besuchen: Angst und
aggressiver Druck
gegen die Eltern
Fühlt sich zusätzlich
durch Konflikte
zwischen den Eltern
belastet, für die er sich
die Schuld gibt.
Chronifizierte
Schulverweigerung
Zusätzlich
Depression
Tag/Nachtumkehr
„Computersucht“
Soziale Isolation:
Abkoppelung von
altersgemässen
Lebensbezügen
Folge:
Massive
Einschränkungen
der Entwicklung
modifiziert nach Mattejat, 2008
Internalisierende/externalisierende Störungen
Warum diese Störungsgruppe?
Diagnostische Kriterien des Erwachsenenalters lassen sich nicht 1:1 auf
Kinder übertragen.
Einfluss der biologischen, emotionalen, kognitiven und sozialen Entwicklung
(was wächst sich aus, was nicht?) Viele Auffälligkeiten sind in bestimmten
Altersphasen normal und gehen von selbst vorüber.
Beispiel: Entwicklungstypische Ängste
1 Jahr fremde Menschen, laute Geräusche, Gegenstände
2-4 Jahre Tiere, Dunkelheit, Alleinsein
4-6 Jahre Phantasiegestalten, Unwetter
7-10 Jahre Schule, Versagen, Gesundheit, medizinische Eingriffe
Psychische Störungen in der Adoleszenz
Erkrankungen/Symptombildungen/Verhaltensauffälligkeiten
internalisierende Störungen
Depression, Suizidalität
Automutilationen
Vegetative Symptome, psychosomatische Beschwerden
Schizoide, ängstlich-vermeidende Symptombildungen
Ängstlich-zwanghafte Symptombildungen
Externalisierende Störungen
Dissoziales/antisoziales Verhalten
Schädlicher Gebrauch psychotroper Substanzen
Psychische Störungen in der Adoleszenz
Häufigkeit neurot. und dissozialer
Störungen
0,00%5,00%
10,00%15,00%20,00%25,00%
30,00%35,00%
3 6 9 12 15 18
Alter
Hä
ufi
gk
eit dissoziale Stör.
M
dissoziale Stör.W
neurot. Stör. M
neurot. Stör. W
Risikofaktoren
Familiäre Risikofaktoren• Dysfunktionales Erziehungsverhalten
• Negative familiäre Kommunikationsmuster
• Ehekonflikte
• Familiäre Gewalt
• Scheidung, Tod eines Familienangehörigen
• Elternmerkmale (psychiatrische Störungen, Kriminalität, geringe Bildung)
• Unangemessene Wohnverhältnisse
• Fehlende ausserfamiliäre soziale Bindungen
• Geringer sozio-ökonomischer Status
Adoleszenzkrise - Krise der AdoleszenzKrise des Adoleszenzprozesses
Risikofaktoren
Individuelle Risikofaktoren• Verzögerungen im Fertigkeitserwerb (soziale Fertigkeiten!)
• Schwierigkeiten in der Emotionsbewältigung
• Schwieriges Temperament
• Genetisch-biologische Einflüsse (chron. Erkrankungen, Infektionen, etc.)
Gesellschaftliche Risikofaktoren• Armut
• Arbeitslosigkeit
• Schlechte Wohn- und Schulverhältnisse
• Rassendiskriminierung
• Migration und Flucht
Adoleszenzkrise - Krise der AdoleszenzKrise des Adoleszenzprozesses
Schutzfaktoren
Familiäre Schutzfaktoren• Anteilnahme, Interesse der Eltern am Leben der Kinder
• Elterliche Wärme
• Kohäsion & Adaptabilität der Familie
• Führung des Kindes (konsequentes Erziehungsverhalten…..)
Individuelle Schutzfaktoren (Resilienz)• Geschlecht
• Intellektuelle Fähigkeiten
• Positives Selbstkonzept
• Positives Temperament
• Soziale Fertigkeiten
• Selbstgenügsamkeit
Adoleszenzkrise - Krise der AdoleszenzKrise des Adoleszenzprozesses
Schutzfaktoren
Gesellschaftliche Schutzfaktoren• Einkommensgerechtigkeit
• Hohe Bildungsqualität (z.B. positive Schulerfahrungen
• Unterstützendes und anregendes soziales Netzwerk (z.B. Peergroup)
Adoleszenzkrise - Krise der AdoleszenzKrise des Adoleszenzprozesses
Fallbeispiel M., geb. 1994
Pat. wurde von Dr. E. wegen akuter Fremdgefährdung (er war v.a. gegenüber seinem Vater, der völlig überfordert und verängstigt ist, mehrmals gewalttätig geworden) aus einer polizeilichen Einvernahmesituationnotfallmässig mit ärztlichem FFE eingewiesen.
StatusSauber und ordentlich mit kurzer Trainingshose und Sweatshirt gekleideter, mittelgrosser, altersgemäss wirkender 16jähriger mit kräftigem, sehnigem Körperbau. Wirkt nervös, ein wenig fahrig, mit aufgesetzt selbstsicherem, geschäftsmässigem, ein wenig machohaftem, grossprecherischem Gehabe. Berichtet bereitwillig, jedoch ein wenig logorrhoisch, umständlich und ausschweifend von seiner Problematik. Bewusstsein klar, allseits voll orientiert, Grundstimmung in Mittellage, affektiver Kontakt eingeschränkt, im Gespräch beeinträchtigte affektive Schwingungsfähigkeit, misstrauisch. Denken formal beschleunigt, ein wenig sprunghaft, jedoch erhaltene Fähigkeit, einem roten Faden zu folgen, inhaltlich allenfalls diskrete AP für Beziehungs-/Beeinträchtigungs- und Grössenideen bei ansonsten fehlenden Auffälligkeiten. M. lehnt jede Beziehung als kontaminiert und voreingenommen ab, wenn die betreffende Person Kontakt zu seinen Eltern hatte.
Diese wollen ihm schaden, wobei er v.a. seine Mutter beschuldigt, immer wieder seinen Vater gegen ihn aufzubringen. Eingeschränkte Realitätsprüfung – er überlegt sich z.B., Maler zu lernen, um den Betrieb seines Grossvaters vs zu übernehmen (was gemäss Vater bisher nie zur Debatte gestanden habe und überdies ziemlich unrealistisch sei). Kursorisch gute Intelligenz. Antrieb eher gesteigert, psychomotorisch erhebliche Unruhe, innere Spannung und Nervosität.
• Häufige Gewalt des Vaters gegen Pat. • In letzter Zeit „Mist“ gebaut, Kollegen zusammengeschlagen,
Portemonnaie geklaut, Anzeige deswegen. • Schwierigkeiten in der Schule im Zsh. mit Armbruch.• Schwere Zerwürfnisse zuhause – Bezug einer eigenen Wohnung.• Die Eltern wirken sehr verunsichert, verängstigt und überfordert. • Lv ist konsterniert und hilflos • Lm ebenfalls ohnmächtig, dabei aber eher anklagend.
Anamnese
FA:
• Lv Schweizer, selbständiger Maler
• Lm Französin, Hausfrau
• Paardynamik der Eltern von der Geburt M.s an sehr konflikthaft
• Mutter, dem Lv intellektuell und verbal deutlich überlegen, seit vielen Jahren wegen einer „Borderline-Störung“ in psychiatrischer Behandlung
• Mehrmals Scheidung in Betracht gezogen worden
• Erhebliche familiäre Belastung sowohl seitens Lv als auch Lm.
• Ein Bruder des Vaters Schizophrenie Grv vs depressiv
• Mutter der Lm schizoide Persönlichkeit mit teilweise paranoiden Zügen und eingeschränkter Realitäts- und Impulskontrolle
• Eine Schwester der Lm leidet an Ängsten und depressiven Phasen
PA:
• Unauffällige SS, protrahierte, komplizierte Geburt mit der Saugglocke bei Wehenschwäche.
• Normale frühkindliche Entwicklung, Meilensteine o.B.
• Altersgemässe Einschulung, recht guter Schüler
• Gute Peer-group-Kontakte in der Schule
• In 7. Klasse Veränderung mit zunächst erheblicher Leistungssteigerung in der Schule, später Leistungsknick
• Zunehmende Verhaltensauffälligkeiten i.S. von Impulsdurchbrüchen zunehmender Intensität und Neuorientierung zu anderen Peers (ältere, offenbar eher dissoziale Jugendliche).
• M. reagiert auch aggressiv und bedrohlich gegen Personen, von denen er sich provoziert fühlt, schlägt den Vater, etc. Nach heftigstem Wüten dann unvermittelte Beruhigung, „als wäre nichts gewesen“.
• Sukzessive Veränderung des Verhaltens – affektiertes, macho-haftes, grossprecherisches Auftreten und offenbar Flucht in kindliche Grössenphantasien.
• Nach sporadischen Unterbrüchen im Schulbesuch seit einem Jahr völlige Schulverweigerung.
• Sportliche Aktivitäten, denen er mit Begeisterung und Begabung nachgegangen war (Fussball, Handball, etc.) gibt er vollkommen auf
• In den letzten ca. 6 Monaten auch sozial weitgehender Rückzug
• verwickelt die Eltern in Diskussionen, die sich regelmässig im Kreis drehen und ebenso regelmässig in Gewaltszenen münden.
• Entgleitet seinen Eltern erzieherisch zunehmend, sie haben eigentlich nur noch Angst vor ihm, geben ihm auf seinen Wunsch eine eigene Wohnung, in der er sich jedoch wenig aufhält.
• In letzter Zeit Cannabis-Konsum angeblich grösseren Ausmasses.
Verlauf
In der Klinik werden vormundschaftliche Massnahmen (Obhutsentzug und Platzierung) eingeleitet, um weitere Eskalationen zu vermeiden und M. auch gegen seinen Willen therapeutischen Interventionen zuführen zu können. Er wird zunächst auf der Erwachsenenpsychiatrie weiter beobachtet. Er verharrt in seinem grossspurigen Verhalten, verweigert jegliche Zusammenarbeit, ist kaum gesprächsbereit.
Mehrmonatige stationäre Beobachtung und psychodiagnostische Abklärung ergeben keine schlüssigen AP für Psychose. Schliesslich Platzierung in einer geschlossenen pädagogischen Institution mit hochstrukturiertem Tagesprogramm zur weiteren Abklärung. Dort bemerkenswert positive Veränderung des ZB und Empfehlung einer weitergehenden pädagogischen Unterbringung. Trotzdem Rückkehr nach Hause in die alten Verhältnisse ohne Tagesstruktur.
Psychosen
ProdromalsymptomeNennung nach abnehmender Häufigkeit
1. Reduzierte Konzentration und Aufmerksamkeit2. Reduzierter Antrieb, reduzierte Motivation, Anergie3. Schlafstörungen4. Depressive Grundstimmung5. Ängstlichkeit6. Sozialer Rückzug7. Misstrauen8. Einbussen in sozialer Rollenfunktion9. Reizbarkeit
Yung & McGorry, 1996
Adoleszenzkrise - Krise der AdoleszenzKrise des Adoleszenzprozesses
Psychosen - Diagnose
ICD 10 DSM IV
Mindestens 1 Symptom:
Gedankenlautwerden, -eingebung, -ausbreitung
Kontroll-, Beeinflussungswahn
Stimmen (komm./dialogisch)
Bizarrer Wahn
Mindestens 2 Symptome:
Anhaltende Halluzinationen
Neologismen, Gedankenab-reissen, Zerfahrenheit
Katatone Symptome
Minussymptome
Während der meisten Zeit innerhalb 1 Monats
Mindestens 1 Symptom:
Bizarrer Wahn
Stimmen (komm./dialogisch)
Mindestens 2 Symptome:
Wahn
Halluzination
desorganisierte Sprechweise
Grob desorganisiertes oder katatones Verhalten
Negative Symptome
Soziale/berufliche Leistungsein-busse in versch. Funktionsber.
Mindestens 6 Monate
PsychosenDiagnose
Bei Jugendlichen schwierig zu stellen wegen
•Entwicklungsbedingten Besonderheiten der Symptommanifestationen•Vorkommen von psychotischen Symptomen auch bei nicht-schizophrenen Erkrankungen•Häufig schleichendem Beginn•Unterschiedlich langer Prodromalphase•Häufiger Komorbidität mit anderen Störungen (Störung des Sozialverhaltens, Substanzmissbrauch, etc.)
Psychotische Zustände in der Adoleszenz sind unspezifisch!
Adoleszenzkrise - Krise der AdoleszenzKrise des Adoleszenzprozesses
Verzögerter Behandlungsbeginn bedeutet ...
• Verzögerte und unvollständige Remission (Johnstone et al.,1986; Birchwood u. McMillan, 1993; McGorry et al. 1996; Loebel et al. 1996)
• Längere Behandlung und mehr Rückfälle(Helgason, 1990)
• Geringere Compliance
• Höheres Depressions- und Suizidrisiko
• Deutlich höhere Behandlungskosten(McGorry u. Edwards, 1997)
•Entwicklung zunehmender kognitiver Defizite
•Organische Veränderungen der Hirnstruktur
•Entwicklung eines zunehmenden „PTSD“
•Verlust von Schule, Lehre oder Studienplatz
•Beeinträchtigung familiärer Beziehungen und
Ressourcen
•Substanzmissbrauch
Verzögerter Behandlungsbeginn bedeutet ...
PsychosenDiagnose
Differentialdiagnosen
• affektive, v.a. bipolare Störungen, schizoaffektive Störungen• Tiefgreifende Entwicklungsstörungen, Sprachentwicklungsstörungen• Dissoziative und posttraumatische Störungen• Zwangsstörungen• Dysmorphophobie• Drogeninduzierte Störungen• Emotionale, Persönlichkeits- und Störungen des Sozialverhaltens• Hirnorganische Störungen (Temporallappenepilepsie,
neurodegenerative Erkrankungen, Hirntumoren, etc.)
Adoleszenzkrise - Krise der AdoleszenzKrise des Adoleszenzprozesses
«Adoleszenzkrise» – abklären!!
Mehr oder minder schleichende Veränderungen ohne klar feststellbare Ursache (Enttäuschung, Verlust, Mobbing, etc.) bei vorher unauffälligenJugendlichen sollten unbedingt ernst genommen werden:
• Leistungseinbruch in der Schule, Lehre, Schulverweigerung ohne erkennbare Ursachen
• Abrupte Veränderung im Freundeskreis (Peer-Group)• Veränderung in den sozialen Bezügen:
Rückzug aus vorher geliebter SportaktivitätRückzug in (häufig) abgedunkeltes ZimmerAufgabe von geliebten Hobbies
• Veränderungen des Äusseren, der Körperlichkeit, Reinlichkeit, etc.• Maniriertes oder gleichgültig-apathisches Auftreten• Etc.
Wobei alle diese Veränderungen ohne weiteres zu völlig normalen Entwicklungen in der Adoleszenz gehören können!
Adoleszenzkrise - Krise der AdoleszenzKrise des Adoleszenzprozesses
Welche Eigenschaften sollte ein Therapeut haben, der mit
Jugendlichen arbeitet?
Jugendlichentherapeuten müssen im Sinne der semantischen
Bedeutung des Verbs „therapieren“, das soviel heisst wie
„sorgfältig behandeln, bedienen, gut sorgen fur, pflegen,
zuwenden, heilen“, ausgerichtet auf das konflikthaft Unlösbare
oder strukturell nicht ausreichend Entwickelte.
(H. Horn, 2006)
Therapie mit Adoleszenten
Adoleszenzkrise - Krise der AdoleszenzKrise des Adoleszenzprozesses
• Kenntnis des normalen Entwicklungsprozesses und der zu
leistenden Aufgaben der Adoleszenz
• Kenntnis adoleszentärer Symptombildungen und Dynamik
• Berücksichtigung des psychischen Entwicklungsstands des/der
Patientin/en
• Erfassen der Familienstruktur und –dynamik des Ursprungssystems
sowie ggf. alternatives Betreuungsumfeld sowie Familienanamnese
hinsichtlich psychiatrischer Belastungen.
• Soziales Funktionsniveau, soziale Einbettung (peer-group!)
erfassen
• Kulturelle Gegebenheiten (Migration!) berücksichtigen
• Individuelle, familiäre Ressourcen und solche des sozialen Umfelds
einbeziehen
Therapie mit Adoleszenten
Voraussetzungen
Adoleszenzkrise - Krise der AdoleszenzKrise des Adoleszenzprozesses
• Auftragsklärung! (Ziele, Dauer, Setting, etc.)
• Etablieren einer therapeutischen Beziehung!
• Eingehende persönliche Anamnese, Entwicklungsanamnese,
frühere Fördermassnahmen, Therapien, traumatische Ereignisse,
Schulkarriere
• Familienanamnese, -struktur (auch: Adoption, warum?, Patchwork,
etc.), -dynamik, soziale Situation, Wohnsituation, etc.
• Interessen, Freizeitgestaltung, Peer-group-Anbindung, Freunde,
Kollegen, etc.
• Suchtmittelkonsum
• Klinisch-psychiatrische Exploration
• Somatische Abklärung (Entwicklung, Gebrechen, Verletzungen,
etc.)
Therapie mit Adoleszenten
Voraussetzungen - Abklärung
Adoleszenzkrise - Krise der AdoleszenzKrise des Adoleszenzprozesses
• Grosse Ambivalenz zwischen Autonomie und Abhängigkeit
• Grosse Angst vor
Gefährdung der Autonomie
Kontrollverlust, psychisch krank zu sein
Verführung
Omnipotenz des/der TherapeutIn
• Häufig wenig Leidensdruck und geringe Motivation zur Therapie
• Überweisung zur Therapie ist eine Kränkung
• Mögliche Spannungsfelder:
• Interesse Desinteresse, Gleichgültigkeit, Verweigerung
• Distanz Angst vor Vereinnahmung und Autonomieverlust
• Vertrauen Misstrauen
Therapie mit Adoleszenten
Adoleszente als PatientInnen/KlientInnen
Adoleszenzkrise - Krise der AdoleszenzKrise des Adoleszenzprozesses
• Relativ häufigeres Ausagieren:
• „normales“ Agieren:
• Termine nicht einhalten
• Geschenke
• Spielen statt reden
• Tagebücher zum Lesen mitbringen, Fotoalben, etc.
• destruktives Agieren:
• Verweigerung
• Dauerkrise (Prozess wird verhindert)
• Selbstgefährdung, gefährliches Acting out und -in
• Suizidalität
Therapie mit Adoleszenten
Adoleszente als PatientInnen/KlientInnen
Adoleszenzentwicklung
Therapie mit Adoleszenten
Rolle der Eltern
• Wunsch nach Therapie für das Kind bei gleichzeitigen
Versagensgefühlen als Eltern.
• Adoleszentäre Familiendynamik kann Ausstossungsreflex bewirken,
um das familiäre System zu entlasten.
• Ohne das Einverständnis der Eltern (beider Eltern!) geht keine
Therapie!
• Delegation von Erziehungsaufgaben an TherapeutIn.
• Aufkommen von Rivalität, Konkurrenz zwischen Eltern und Therapie
(besonders in stationärem Setting).
• Ängste vor dem Aufbrechen familiärer Tabus kann Akzeptanz der
Therapie durch die Eltern beeinflussen.
Adoleszenzentwicklung
Literatur
Peter Blos, Adoleszenz. Eine psychoanalytische
Interpretation, Klett-Cotta, Stuttgart, 2011
Cierpka M. (Hrsg.); Handbuch der Familiendiagnostik;
Springer, Berlin, 2008
Helmut Fend, Entwicklungspsychologie des Jugendalters,
VS, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2005
Flammer A., Alsaker F.; Entwicklungspsychologie der
Adoleszenz, Die Erschliessung innerer und äusserer Welten
im Jugendalter; Hans Huber, Bern, 2002
Herpertz-Dahlmann, Resch, Schulte-Markwort, Warnke
(Hrsg.), Entwicklungspsychiatrie, Schattauer, Stuttgart, 2003
Adoleszenzentwicklung
Adoleszenzentwicklung
Margaret S. Mahler, M. Furer, Die Psychische Geburt des Menschen:
Symbiose und Individuation, Fischer, 2008
Phyllis Tyson, Robert L. Tyson, Lehrbuch der psychoanalytischen
Entwicklungspsychologie, Kohlhammer, Stuttgart, 2012
Largo R., Czernin M., Jugendjahre, Kinder durch die Pubertät begleiten,
Piper, München, Zürich, 2011
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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