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UNIVERSITÄT ZU KÖLN

Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät

Seminar für Sozialpolitik

Prof. Dr. Hans Jürgen Rösner

Zur Formalisierung von urbaner Informalität –

Transformationsszenarien in Brasilien

Diplomarbeit SS 2010

Studiengang: Regionalwissenschaften Lateinamerika

vorgelegt von:

Kathrin Zeller

11. Fachsemester RWL

Matr.-Nr.: 3959066

Geb.-Datum: 03.03.1982

Weiheräckerstr. 17, 73453 Abtsgmünd

Tel.: 07366/4225

E-Mail: [email protected]

Rio de Janeiro, den 17.09.2010

I

Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis……………………………………………………………………. IIAbkürzungsverzeichnis…………………………………………………………………… IIVerzeichnis des Anhangs…………………………………………………………………. IV1. Einführung………………...………………………………………….....

1.1. Vorstellung des Themas und der Problemstellung………………………………. 1.2. Relevanz des Themas……………………………………………………………. 1.3. Wahl des Zielgebiets und der Zielgruppe………………………………………... 1.4. Ziel, Struktur und Methode……………………………………………………….

2. Der informelle Sektor…………………………………………………... 2.1. Geschichtliche Entwicklung……………………………………………………... 2.2. Informalität heute…………………………………………………………………

2.2.1. Vorstellung verschiedener Definitionen………………………………….. 2.2.2. Definition des Konzepts in Brasilien……………………………………...

2.3. Der informelle Sektor urbaner Zentren Brasiliens………………………………. 2.4. Ursachen der Informalität………………………………………………………..

3. Die Sozialversicherung – Basis zur Entwicklung……………………. 3.1. Definitionen und Organisation im Staat…………………………………………. 3.2. Das System der Sozialversicherung in Brasilien…………………………………

3.2.1. Sozialvorsorge…………………………………………………………….. 3.2.2. Sozialunterstützung……………………………………………………….. 3.2.3. Öffentliche Gesundheitsversorgung……………………………………….

3.3. Gründe für die Lücke in der Sozialversicherung………………………………… 4. Wechselwirkungen – Sozialversicherung und Informalität………….

4.1. Konsequenzen der Informalität…………………………………………………... 4.2. Konsequenzen der Sozialversicherungslücke……………………………………. 4.3. Wechselwirkungen………………………………………………………………..

5. Transformationsszenarien……………………………………………... 5.1. Analyse der Wirkungsfaktoren…………………………………………………... 5.2. Handlungspolitische Empfehlungen……………………………………………... 5.3. Ein alternatives Modell – Ökonomische Staatsbürgerschaft……………………..

6. Schlussfolgerung……………………………………………………….. Anhang…………………………………………………………………………………… Anhang I………………………………………………………………………….. Anhang II…………………………………………………………………………. Literaturverzeichnis………………………………………………………………………. Akademischer Lebenslauf………………………………………………………………… Eidesstattliche Erklärung………………………………………………………………….

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1214203434373943444550505456626373777881818285V

VII

 

II

Abbildungsverzeichnis  Abb. 1: Anteil der ökonomisch Aktiven Bevölkerung mit CTPS……………………..

Abb. 2: Beschäftigungsstruktur Juni 2010…………………………………………….

Abb. 3: Struktur des informellen Arbeitsmarkts nach Sektoren………………………

Abb. 4: Einkommensentwicklung der Beschäftigten gesamt, mit und ohne CTPS…..

Abb. 5: Motive für informelle Erwerbstätigkeit………………………………………

Abb. 6: Hauptschwierigkeiten von Selbständigen in der Informalität………………...

Abb. 7: Bildungsstruktur des informellen Sektors…………………………………….

Abb. 8: Struktur der Beitragszahler…………………………………………………...

Abb. 9: Anteil Unternehmer des informellen Sektor, der Beiträge in das System

Sozialversicherung bezahlt……………………………………………………………

Abb. 10: Motive für Nichtteilnahme an der Sozialversicherung von Unternehmern

im inf. Sektor………………………………………………………………………….

Abb. 11: Nutzung von Krediten innerhalb der letzten 3 Monate……………………..

Abb. 12: Quellen von Krediten des informellen Sektors……………………………...

Abb. 13: Defizit des INSS…………………………………………………….............

Abb.14: Laffer-Kurve…………………………………………………………………

Abb. 15: Formelle Arbeitsplätze 2002-2010…………………………………….........

Abb. 16: Entwicklung der Informalität, Arbeitslosenrate und Qualifizierung der

Erwerbstätigen………………………………………………………………………...

Abb. 18: Variation des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr………………………………

Abb. 19: Veränderte Laffer-Kurve………….................................................................

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75

 

Abkürzungsverzeichnis Abs. - Absatz

BIP - Bruttoinlandsprodukt

BPC - Benefício de Prestação continuada de assistência social

BRL - Brasilianische Real

III

CLT - Consolidação das Leis do Trabalho

CNPJ - Cadastro Nacional da Pessoa Jurídica

CTPS - Carteira de Trabalho e Previdência Social

Ders. - Derselbe

Ebd. - Ebenda

ETCO - (Instituto Brasileiro de) Ética Concorrencial

FAT - Fundo de Amparo ao Trabalhador

FGTS - Fundo de Garantia por Tempo de Contribuição

FGV - Fundação Getúlio Vargas

FS - Formeller Sektor

IBGE - Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística

IBRE - Instituto Brasileiro de Economia

I.f.z. - Im Folgenden zitiert

ILO - International Labour Organization

INSS - Instituto Nacional de Segurança Social

IPEA - Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada

MEI - Microempreendedor Individual

MKU - Mikro- und Kleinunternehmen

MPS - Ministério da Previdência Social

MS - Ministério da Saúde

MTE - Ministério de Trabalho e Emprego

NBER - National Bureau of Economic Research

PASEP - Programa de Formação do Patrimônio do Servidor Público

PNAD - Pesquisa Nacional por Amostra de Domicílios

PSPS - Plano Simplificado de Previdência Social

IV

PIS - Programa de Integração Social

SEBRAE - Serviço de Apoio às Micro e Pequenas Empresas

SUS - Sistema Único de Saúde

USD - United States Dollars

Vgl. - Vergleiche

WEForum - World Economic Forum

Verzeichnis des Anhangs  

Anhang I: Tabellen…………………………..…………………………………………81

Anhang II: Fremdsprachenverzeichnis…………………………………………………82

 

1

1. Einführung 

1.1. Vorstellung des Themas und Problemstellung 

Die informelle Wirtschaft ist ein Phänomen, genauso alt wie der Staat selbst und die

Notwendigkeit Steuern zu erheben. Als Teil des Arbeitsmarktes ist er seit Jahren ein

viel diskutiertes Thema in Fachliteratur und öffentlicher Diskussion.

In Brasilien umfasst der informelle Sektor gerade auch in den urbanen Zentren einen

enormen Anteil des Arbeitsmarktes. Die Folgen sind vielfältig und wirken sich auf

zahlreiche Bereiche innerhalb der Gesellschaft aus. An erster Stelle entgehen dem Staat

dadurch Steuereinnahmen in gewaltigem Ausmaß. Diese Einnahmen fehlen wiederum

für die Finanzierung staatlicher Leistungen. Gleichzeitig müssen die Staatsausgaben auf

weniger Steuerzahler verteilt werden, was zu einer enormen Steuerbelastung des

Einzelnen und zu einem Anreiz zur Flucht vor der Steuerlast in den informellen Sektor

führt.

Das System sozialer Sicherung1 ist von dieser Abwärtsspirale doppelt betroffen, da es

zu einem Teil über direkte Beiträge formell Erwerbstätiger2, zum anderen über

steuerfinanzierte Zuschüsse aus dem Staatshaushalt finanzierte wird. Die Informalität

führt damit letztlich zu einem Finanzierungsproblem des staatlichen Systems der

Sozialversicherung und entzieht gleichzeitig der Masse der informell Erwerbstätigen

den Zugang zum System. Als Grundlage für die ökonomische und soziale Entwicklung

eines Individuums, einer Familie oder einer ganzen Gesellschaft ist der Zugang zu

Instrumenten des Managements von Lebensrisiken jedoch von existentieller Bedeutung.

Die staatliche Sozialversicherung bietet nur bedingt Zugang zur Sozialversicherung für

die Bevölkerung außerhalb des formellen Sektors.

1 Genauere Definition des Begriffs in Kapitel 3.1. 2 Der Begriff Erwerbstätigkeit soll in dieser Arbeit mit dem englischen Begriff employment gleichgesetzt werden. Hierunter fallen laut einer Resolution der Internationalen Arbeitsorganisation (engl. International Labour Organisation ILO) von 1993: bezahlte Arbeitnehmer, Selbständige, Mitglieder von Kooperativen, bei einer auf wirtschaftlichen Erwerb ausgerichteten Tätigkeit mithelfende Familienangehörige sowie unklassifizierbare Arbeiter. Die Kategorisierung basiert auf dem Personenkonzept und zählt daher Erwerbstätige mit mehreren Tätigkeiten nur einmal: Resolution concerning the International Classification of Status in Employment (ICSE), adopted by the Fifteenth International Conference of Labour Statisticians: verfügbar: http://www.ilo.org/public/english/bureau/stat/download/res/icse.pdf (zuletzt aufgerufen 15.15.2010).

2

Hier zeigt sich ein fundamentales Problem: Die Sozialversicherung erodiert mit der

Zunahme der Informalität und setzt einen großen Teil der Bevölkerung Lebensrisiken

aus, die deren Entwicklung belasten, stoppen oder sogar umkehren können.

Die Arbeit soll daher den informellen Arbeitsmarkt beleuchten und Auswege

aufzeigen. Vor allem Gestaltungsmöglichkeiten für einen Formalisierungsprozess Hand

in Hand mit einer Eingliederung der Bevölkerung in die Sozialversicherung sollen

analysiert werden. Nur so kann eine nachhaltige Entwicklung möglich werden.

1.2. Relevanz des Themas 

Seit den 1970er Jahren werden der informelle Sektor und seine Folgen als

wissenschaftliches Thema wahrgenommen und erste akademische Arbeiten wurden

veröffentlich. Seither wurde der Sektor weltweit zunehmend als volkswirtschaftliches

und soziales Problem wahrgenommen, für das bis in die Aktualität noch keine Lösung

gefunden scheint.

Die letzte Wirtschaftskrise zeigte die erhöhte Anfälligkeit der Erwerbstätigen des

informellen Sektors für Lebensrisiken. Auch wenn sich in Brasilien die Auswirkungen

in Grenzen hielten, wurde dadurch das Problem nochmals aus einer anderen Perspektive

deutlich: Der informelle Sektor versetzt die Erwerbstätigen nicht nur in eine prekäre

Lage ohne ein soziales und ökonomisches Auffangnetz, sondern entzieht sich auch

jeglichen Instrumenten der Arbeitsmarktpolitik oder der Sozialpolitik zum Schutz der

Erwerbstätigen und deren Familien in Zeiten von makroökonomischen Krisen.3 So sind

die sozialen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise diesmal in Entwicklungsländern,

mit einem typischerweise sehr ausgeprägten informellen Sektor und wenig entwickelten

Sozialversicherungssystemen, besonders hoch.

Trotz allem ist in Brasilien in der letzten Dekade eine zunehmende Formalisierung des

Arbeitsmarktes zu beobachten. Im ersten Semester wurde mit 6,71%4 ein Rekord für die

Neuschaffung von formellen Arbeitsplätzen verzeichnet. Damit bietet sich nun erstmals

die Chance, durch die Analyse der Prozesse, die zur Formalisierung geführt haben,

3 OECD: OECD Employment Outlook 2010 - Moving beyond the Job Crises (i.f.z. OECD Employment Outlook); OECD Publishing, Paris, 2010, S.114. 4 Ministério do Trabalho e Emprego: Boletim do observatório do mercado de trabalho; Dados CAGED, Nr.4, Juni, 2010, S.1, verfügbar: http://www.mte.gov.br/observatorio/boletim04.pdf (zuletzt aufgerufen: 18.09.2010).

3

Schritte zur Prävention eines erneuten Anstiegs zu gehen und eine Mechanismen zu

erkennen, die die Informalität direkt senken könnten.

1.3. Wahl des Zielgebiets und der Zielgruppe 

Brasilien, als größte Volkswirtschaft des Kontinents, konnte vor allem im letzten

Jahrzehnt große Fortschritte im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung erzielen. Mit

einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 9%5 im ersten Trimester diesen Jahres

liegt das Land über den Erwartungen für ein Jahr nach einer weltweiten Wirtschaftskrise

und den damit verbundenen Konjunktureinbrüchen, die rund um den Globus

verzeichnet wurden.6

Das anhaltende Wirtschaftswachstum ging allerdings nicht mit Umverteilung und

sozialem Fortschritt einher. Zwar ist die Armut7 seit dem Jahr 2001 von 37,5% auf

25,8% im Jahr 2008, und die extreme Armut im selben Zeitraum von 22,4% auf 13,6%

deutlich gesunken.8 Der Gini-Index, der auf einer Skala von 0 bis 1 (schlechtester Wert)

die Ungleichverteilung von Einkommen misst, belief sich im Jahr 2008 jedoch noch

immer auf 0,5949. Damit liegt Brasilien im weltweiten Vergleich unter den Top 10 der

schlechtesten Einkommensverteilung. Beides ist symptomatisch für eine Großregion,

die wirtschaftlich wächst, die soziale Ungleichverteilung jedoch nicht zu kontrollieren

bewerkstelligt. Kernelemente zu einer nachhaltigen Entwicklung, wie eben die einer

Sozialversicherung für die Mehrheit der Bevölkerung, die vor existentiellen

Lebensrisiken schützen und so eine Entwicklung ermöglichen sollen, bleiben

unzureichend.

5 IBGE: indicadores, contas nacionais trimestrais, verfügbar: http://www.ibge.gov.br/home/estatistica/indicadores/pib/defaultcnt.shtm (zuletzt aufgerufen: 16.09.2010). 6 Wert im Vergleich zum selben Trimester des Vorjahrs. 7 Definition von extremer Armut von Cepal: Die Personen eines Haushalts sind mit dem vorhandenen Einkommen, auch wenn dies ausschließlich für Lebensmittel ausgegeben wird, nicht ausreichend ernährt. Definition von Armut: Verdopplung der Grenze extremer Armut, S. 238 ff.; (ohne Konkretisierung des monetären Wertes für Brasilien), verfügbar: http://www.eclac.org/publicaciones/xml/6/38406/LCG2430b_notas.pdf (zuletzt aufgerufen: 12.09.2010). 8 CEPALSTAT, Estadísticas e Indicadores Demográficos y Sociales, Pobreza en América Latina, verfügbar: http://websie.eclac.cl/sisgen/ConsultaIntegrada.asp?idAplicacion=14&idioma= (zuletzt aufgerufen: 15.09.2010). 9 Ebd., Indici de Concentración de Gini, verfügbar: http://websie.eclac.cl/sisgen/ConsultaIntegrada.asp?idAplicacion=1&idTema=7&idioma. (zuletzt aufgerufen: 15.05.2010)

4

Die Städte in Lateinamerika wachsen noch immer kontinuierlich durch die

andauernde Landflucht und die Hoffnung dort eine höhere Lebensqualität vorzufinden.

Die ständige Zuwanderung, vor allem niedrig qualifizierter Arbeiter, begünstigt dabei

das Entstehen eines enormen informellen Sektors innerhalb der Städte. Mit der Analyse

urbaner Zentren soll der Fokus klar zu wirtschaftlich höher entwickelten Gegenden hin

und weg vom ländlichen Gegenden und dem dortigen Agrarsektor gelegt werden. Der

informelle Arbeitsmarkt innerhalb des Agrarsektors differenziert sich in seiner

Beschaffenheit deutlich von dem der Städte und der Ballungszentren und hat nicht nur

andere Ursachen, sondern ebenso andere Strukturen und Auswirkungen. Große Teile

des Arbeitsmarktes in der Agrarwirtschaft Brasiliens, z.B. in den abgelegenen Gebieten

des Amazonasbeckens, sind statistisch nicht erfasst, basieren auf Subsistenzwirtschaft

und sind nicht im Markt integriert. Dies erfordert auf politischer Ebene eine andere

Herangehensweise unter Beachtung der Bedürfnisse des Sektors. Verdeutlichen lässt

sich dies auch durch die Sozialpolitik, die in den ländlichen Gebieten Brasiliens als

Reaktion auf eben diese Verschiedenheit zu den urbanen Zentren eine separate Rente

für Landarbeiter eingeführt hat.

Die Zielgruppe setzt sich daher aus informell Erwerbstätigen und informellen

Unternehmen in den urbanen Zentren Brasiliens zusammen. Die Definition des Terms

Informeller Sektor sowie der verschiedenen Unterformen innerhalb Brasiliens wird in

Kapitel 2 genauer ausgeführt.

1.4. Ziel, Struktur und Methode 

Das Oberziel der Arbeit ist Transformationsmechanismen zu erkennen, die einen

größeren Teil der Bevölkerung Brasiliens vom informellen Arbeitsmarkt in die

Formalität bringen und gleichzeitig in das System der staatlichen Sozialversicherung

integrieren können.

Als erster Unterziel wird dazu in Kapitel 2 der informelle Sektor Brasiliens

untersucht, mit dem Ziel, Ursachen der Informalität zu identifizieren. Gerade die

Ursachen sind innerhalb der Analyse besonders wichtig, da nur unter Betrachtung dieser

später Folgerungen auf politischer Ebene für eine angemessene Reaktion zur Senkung

der Informalität gefunden werden können. Weiterhin wird in Kapitel 3 die

Sozialversicherung vorgestellt. Daraus soll erkennbar werden, welche

5

Zugangsmöglichkeiten zum System bestehen und welche Leistungen es bietet.

Darauffolgend werden in Kapitel 4 die Folgen der Informalität sowie der fehlenden

Sozialversicherung für die informell Erwerbstätigen identifiziert. Die

Wechselwirkungen, die innerhalb der beiden Bereiche entstehen stehen am Ende des

Kapitels im Mittelpunkt.

Im Kapitel 5 werden schließlich einige Faktoren vorgestellt, die für den Rückgang des

informellen Sektors Brasiliens in jüngster Zeit mitverantwortlich gemacht werden.

Diese Transformationsszenarien sollen mit dem Ziel untersucht werden, unter

Beachtung der Wechselwirkungen aus Kapitel 4, deren Wirkung zu identifizieren und

daraus auf mögliche Politiken schließen zu können.

Nach der kurzen Vorstellung eines Alternativmodells, der ökonomischen

Staatsbürgerschaft, werden die Ergebnisse zusammengefasst.

Methodologisch wird durch eine Verbindung von empirischer Analyse sowie der

Analyse von Fachliteratur eine Diagnose der aktuellen Situation erstellt. Dazu wird

teilweise nachgezeichnet, welche Entwicklungen zur heutigen Situation geführt haben

und welche Lehren daraus für die Politik gezogen werden können. Dazu werden auch

neuere Fachartikel und akademische Arbeiten, Datenbanken usw. verwendet. Als Basis

dienen zudem gesetzliche Grundlagen, vor allem zur Erläuterung der

Arbeitsmarktgesetzgebung sowie der staatlichen Sozialversicherung. Die vorhandenen

Daten zum informellen Sektor sind teilweise nicht aktuell und von Anfang der Dekade.

Der letzte Zensus zum informellen Sektor wurde in Brasilien im Jahr 2003

durchgeführt. Ansonsten gibt es ein sehr dünnes Angebot an Daten aus der Nationalen

Haushaltsumfrage10 (PNAD), die bisher nur bis zum Jahr 2008 publiziert wurde. Für

Zahlen zur Sozialversicherung wird ebenfalls zu einem großen Teil auf die PNAD

zurückgegriffen. Die begrenzt Datenverfügbarkeit führt dazu, dass teilweise indirekte

Rückschlüsse konstruiert werden müssen. Ein Großteil der Daten, sowohl bezüglich des

informellen Sektors, als auch der Sozialversicherung, gehen auf Datenbanken staatlicher

Institutionen zurück. Einige davon, z.B. das brasilianische Forschungsinstitut für

angewandte Wirtschaft11 (IPEA) und das Brasilianische Institut für Geografie und

10 Eigene Übersetzung: Pesquisa Nacional por Amostra de Domicílios. 11 Eigene Übersetzung: Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada.

6

Statistik (IBGE)12, sind rein rechtlich zwar unabhängig, finanziell jedoch abhängig vom

Staatshaushalt. Dies führt dazu, dass die Unabhängigkeit der Daten nicht vollständig

gewährleistet ist. Die Institute werden teilweise verdächtigt ihre Methodik oder z.B.

auch Fragestellungen in Umfragen bereits darauf auszurichten, ein positives Ergebnis zu

erhalten. Weiterhin wird vermutet, dass Daten, die ein sehr schlechtes Bild auf die

Regierung werfen könnten, gar nicht erst zu erhoben würden, oder auf die Zeit nach der

Wahl auf das Ende des Jahres hin verzögert würden. Daten aus jüngerer Zeit sollten in

diesem Wahljahr 2010 vor diesem Hintergrund interpretieren werden. Dies trifft

ebenfalls auf Datenlücken in Zeitreihen zu. Bei der Anführung von Auslösern, Ursachen

Konsequenzen etc. von verschiedenen Problemen, die innerhalb der Arbeit analysiert

werden, wird dabei keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit erhoben.

Nach einer Einführung in diesem Kapitel soll nun in einem ersten Schritt geklärt

werden, was genau unter Informalität verstanden wird.

2. Der informelle Sektor 

2.1. Geschichtliche Entwicklung 

Das Phänomen der informellen Erwerbstätigkeit hat seit den 1970er Jahren nicht an

Bedeutung verloren und wächst in vielen Teilen der Welt weiterhin. Durch sein großes

Gewicht in vielen Volkswirtschaften der Erde haben sich eine Vielzahl von

Wissenschaftlern und Politikern mit dem Thema befasst und so verschiedene

Definitionen herausgearbeitet. Besonders ausführlich wurde der Sektor bereits 1851 von

Henry Mayhew in drei Bänden von London Labour an the London Poor13 beschrieben.

Mayhew, englischer Sozialforscher und Journalist, gibt ins Detail beschrieben Londons

geschäftliches Straßentreiben wieder und schildert verschiedene Geschäftsbereiche, wie

etwa Straßenverkäufer oder Spieler und deren Arbeitsalltag. Auffällig ist, dass der

Autor innerhalb des Konzepts Informalität noch nicht zwischen legal und illegal

unterscheidet.

Ab den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts finden sich erste akademische

Arbeiten. Bereits 1972 wurde der Begriff Informeller Sektor von der International

12 Eigene Übersetzung: Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística. 13 Mayhew, Henry: London Labour and the London Poor: Vol. 1-3, Dover Publications, New York, 1968.

7

Labour Organization (ILO) definiert. Basis für den Bericht der ILO ist nach Viktor

Tokman, der 1973 im The Journal of Modern African Studies erschienene Aufsatz

Informal income opportunities and urban employment in Ghana14 von Keith Hart. Er

beschreibt den informellen Sektor in urbanen Zentren Ghanas. Hier wird auch die

Zusammensetzung des Sektors, einschließlich illegaler Aktivitäten, wie Prostitution

oder Diebstahl beschrieben, aber klar innerhalb des informellen Sektors angesiedelt. Der

informelle Sektor wird hier also ebenfalls noch nicht ausdrücklich von der Illegalität

abgegrenzt. Hart erklärt zudem bereits hier, dass es innerhalb des Sektors zu großen

Schwankungen des Einkommens kommen kann.15 Dabei erkennt er auch, dass die

Schwankungen in einigen Fällen so stark ausfallen können, dass das Einkommen einer

informellen Erwerbstätigkeit das einer Erwerbstätigkeit im formellen Sektor bei weitem

übersteigen kann. Als Beispiel für die Schwankungen innerhalb des informellen Sektors

führt er einen Drogenhändler an, der an einem Nachmittag verdient, was dem

Einkommen, z.B. eines Straßenverkäufers, über mehrere Wochen entsprechen würde.

Harts Beschreibung weißt Merkmale auf, die so auch in anderen Teilen der Welt

zutreffen und lässt sich somit aus dem regionalen Kontext herauslösen und für

allgemeine Erkenntnisse nutzen.

Eine klare Definition des informellen Sektors gibt Hart jedoch nicht. Er beschreibt

die Informalität als „Welt ökonomischer Aktivitäten außerhalb der organisierten

Arbeiterschaft“16, die von marginalen Aktivitäten bis hin zu Aktivitäten in großen

Unternehmen reichen. Weiterhin verwendet er für die Differenzierung zwischen

formellem und informellem Sektor Indikatoren wie den Grad der Rationalisierung der

Arbeit und die Regelmäßigkeit der Erwerbstätigkeit. Ein weiteres Kriterium ist hier

auch die Selbständigkeit anstatt einer abhängigen Beschäftigung17, die ein typisches

Zeichen für den informellen Sektor darstellen soll.

14 Hart, Keith: Informal income opportunities and urban employment in Ghana (i.f.z. Hart): in: The Journal of Modern African Studies, Vol. 11, Nr.1, Cambridge University Press, 1973. 15 Vgl. Hart, S. 152.ff. 16 Ders., S. 147. 17 Definiert nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Viertes Buch (IV), Zweiter Titel, §7: Beschäftigung ist die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.

8

Im Bericht Employment, incomes and equality. A strategy for increasing productive

employment in Kenya18 aus dem Jahre 1972 der ILO zu Situation in Kenya wird der

Begriff Informeller Sektor bereits sehr viel spezifischer erläutert. Die Definition leitet

sich hier ausdrücklich nicht davon ab, dass es sich um Erwerbstätigkeiten in der

Peripherie der großen Städte, oder besondere ökonomische Tätigkeiten handelt.

Vielmehr seien informelle Tätigkeiten durch die Art und Weise gekennzeichnet, wie sie

ausgeführt werden. Folgende Charakteristika sind nach der Definition des Berichtes

ausschlaggebend für den informellen Sektor: (a) difficult entry; (b) frequent reliance on overseas resources; (c) corporate ownership; (d) large scale of operation ; (e) capital-intensive and often imported technology; (f) formally acquired skills, often expatriate; and (g) protected markets (through tariffs, quotas and trade licenses).19

Des Weiteren seien die Aktivitäten des en Sektors, diesem Bericht zufolge, oft

dadurch gekennzeichnet, dass sie weitgehend vom Staat ignoriert und kaum unterstützt

würden.20 Oft seien diese Aktivitäten auch reguliert und die Erwerbstätigen aktiv vom

Staat entmutigt, diese Aktivitäten auszuüben. Typische Berufsgruppen des informellen

Sektors seien Kleinkaufmänner, Straßenhändler, Schuhputzer und andere Gruppen

Unterbeschäftigter auf den Straßen der großen Städte.

Der Autor des Berichts teilt den urbanen Arbeitsmarkt in einen formellen und einen

informellen Sektor auf und betont, dass es sich bei beiden Sektoren um Sektoren

handele, die beide Konsequenzen der Urbanisierung seien.21 Charakteristisch sei für den

informellen Sektor, dass die Akteure außerhalb des staatlich regulierten Systems und

dessen Vorzügen arbeiteten und daher keinen Zugang zu modernen Märkten, wie zu

formellen Krediten oder zu ausländischen Technologietransfers, hätten. Viele der

Akteure operierten illegal, allerdings nicht bezüglich der ausgeübten Tätigkeit, sondern

eher bezüglich einer offiziellen Zugangsrestriktion zu diesen Tätigkeiten.

18 ILO: Employment, incomes and equality. A strategy for increasing productive employment in Kenya; Geneva, International Labour Office, 1972. 19 Ebd. S. 6 f. 20 Ebd., S. 6. 21 Ebd., S. 503 f.

9

Der Bericht der ILO unterscheidet also bereits zwischen einem illegalen Markt, im

Sinne von Mangel an Legalisierung einer eigentlich legalen Tätigkeit, und einer

kriminellen oder illegitimen Tätigkeit, die Hart noch mit im informellen Sektor

angesiedelt hatte. Insgesamt ist das Feld der Informalität von beiden Autoren bereits in

Umrissen skizziert. Im Folgenden werden einige Definitionen der gegenwärtigen

Fachliteratur vorgestellt.

2.2. Informalität heute 

2.2.1 Vorstellung verschiedener Definitionen 

Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die Möglichkeiten zur Abgrenzung des

Terms Informeller Sektor in der aktuellen Diskussion gegeben und im Anschluss daran

die brasilianische Auffassung und Eingrenzung des Terms vorgestellt.

Eine erste Möglichkeit zur Begriffsbestimmung bietet die produktive Definition22.

Diese bezieht sich auf die verschiedenen Kategorien von Arbeit und betont die niedrige

Produktivität des Segments. Dabei gelten diejenigen als informell Erwerbstätige, die zu

einer der folgenden Kategorien gehören: nicht-qualifizierte Selbständige23, in einem

privaten, kleinen Unternehmen Beschäftigte und nicht vergütete Beschäftigte.

Problematisch an dieser Definition, vor allem bei der empirischen Anwendung, ist,

dass einige Elemente wie z.B. die Produktivität nicht genau gemessen werden können,

oder die Ausstattung mit Kapital nicht in den Untersuchungen festgehalten wird.24

Zweitens lässt sich der informelle Sektor auch über eine legale Definition25

bestimmen. Diese Definition betont das Fehlen von Arbeitsschutz und sozialer

Sicherheit. In diese Definition fallen daher alle Beschäftigten, die trotz ihres

22 Siehe dazu ausführlich Gasparini, Leonardo; Tornarolli, Leopoldo: Labour Informality in Latin América and the Carribean: Patterns and Trends from Household Survey Microdata (i.f.z. Gasparini, Tomarolli); Documento de Trabajo del CEDLAS, Nr. 46, La Plata, 2007, S.2-5. 23 Die Autoren der Definition schließen Selbständige mit einem akademischen Abschluss aus, da diese meist eine sehr hohe Produktivität hätten und dementsprechendes Einkommen sowie Möglichkeiten zur sozialen Sicherung. 24 Vgl. Tornarolli, Leopoldo; Concori, Adriana: Informalidad y Movilidad Laboral – Un Análisis Empírico para Argentina; Universidad Nacional de la Plata, 2007, S.5. 25 Vgl. Gasparini, Tomarolli, S.2-5.

10

Beschäftigungsverhältnisses keinen Anspruch die Leistungen der staatlichen

Sozialversicherung haben.26

Diese Definition zeigt aber ebenfalls Probleme bei der Messung. Empirisch bleibt das

Problem, dass soziale Sicherheit und deren Definition nicht nur innerhalb verschiedener

Sektoren innerhalb eines Landes variieren können, sondern auch erheblich zwischen

verschiedenen Ländern variiert. Dabei kann beispielsweise das Recht auf

Gesundheitsversorgung in manchen Ländern direkt an eine Beschäftigung geknüpft

sein, in anderen stellt es ein universelles Recht jeden Bürgers dar, unabhängig von

jeglicher Betätigung oder der Beitragszahlung. Der Zugang zum Sozialsystem kann also

teilweise auch ohne eine formelle Erwerbstätigkeit gegeben sein.27 Somit hängt in der

Praxis das Ergebnis von Datenerhebungen von der Art der Definition ab. Die

Vergleichbarkeit, vor allem zwischen verschiedenen Ländern, ist also stark durch die

Definition von sozialer Sicherung sowie der jeweiligen Datenerhebungsmethoden

bedingt.28

Weiterhin kann der Term auch operational29 bestimmt werden. Diese Art der

Definition stammt von der ILO von 1993 und geht in erster Linie vom ökonomischen

Akteur, nicht vom Arbeiter, aus. Die Informalität bezieht sich also auf die

Organisationsform, nicht auf den juristischen Status. Der informelle Sektor ist hiernach

charakterisiert durch eine Produktion in niedrigem Maßstab, einem niedrigen

Organisationsgrad und einer quasi Nichttrennung der Produktionsfaktoren Arbeit und

Kapital. Typischerweise haften selbständig Erwerbstätige voll für ihr Geschäft und

finanzieren dieses auf eigenes Risiko. Mit eingeschlossen sind die Bereiche der

landwirtschaftlichen Produktion, die nicht der Subsistenzwirtschaft dienen, sondern

zum Einkommenserwerb. Zudem wurde in diesem Konzept festgelegt, dass die

Definition einer informellen ökonomischen Einheit weder von deren

Produktionsstandort, noch von der Verwendung des fixen Kapitals, der Dauer der

Aktivitäten (permanent, saisonal oder gelegentlich) oder ob es sich um die

26 Bei dieser Definition wird vorausgesetzt, dass Sozialleistungen an eine formelle Erwerbstätigkeit gebunden sind. 27 Siehe staatliches Gesundheitssystem in Brasilien. 28 Tornarolli, Leopoldo; Concori, Adriana: Informalidad y Movilidad Laboral – Un Análisis Empírico para Argentina; Universidad Nacional de la Plata, 2007, S.5. 29 Vgl. ILO: Resolution concerning statistics of employment in the informal sector, adopted by the Fifteenth International Conference of Labour Statisticians, The Fifteenth International Conference of Labour Statisticians, January 1993.

11

Hauptbeschäftigung oder eine Nebentätigkeit handelt, abhängen soll. Zur

Datenerfassung wurde weiterhin beschlossen alle in urbanem Raum selbständig

Erwerbstätigen sowie Unternehmen mit bis zu fünf Beschäftigten einzuschließen. Damit

werden automatisch alle nicht-landwirtschaftlichen Tätigkeiten der ländlichen

Bevölkerung ebenfalls ausgeschlossen. Weiterhin schließt die Definition Tätigkeiten

aus, die von Personen ohne festen Wohnsitz, z.B. Schausteller oder Straßenbewohner,

ausgeführt werden, sowie Tätigkeiten, die nicht sozial akzeptiert sind, wie z.B.

Prostitution.

Die Definition der ILO weißt zudem explizit darauf hin, dass sie auf Tätigkeiten

solcher Art abzielt, die nicht ausdrücklich darauf ausgerichtet sind Steuern zu

hinterziehen. Diese sollten hiernach von Tätigkeiten des sogenannten Schwarzmarktes,

der mit dem Ziel der Steuerhinterziehung arbeitet, abgegrenzt werden.

Seit dem Jahr 2002 gibt es eine aktualisierte Version der Definition der ILO30. Diese

definiert einen informell Erwerbstätigen als denjenigen, dessen Arbeitsverhältnis nicht

der Arbeitsgesetzgebung und Steuerabgabenregelungen unterliegt, der keinen Zugang

zu sozialer Sicherung und anderen Leistungen aufgrund eines Arbeitsverhältnisses hat.

Allerdings variieren die Begriffe Soziale Sicherung und Arbeitsgesetzgebung von Land

zu Land extrem und nicht überall sind dieselben Inhalte zu finden. Es bleibt also ein

Definitionsproblem.

Eine weitere wichtige Unterscheidung findet sich zwischen einer informellen

Erwerbstätigkeit und einem informell Erwerbstätigen. Um diese Unterscheidung

praktisch zu verdeutlichen, gibt Juan Ramón de Laiglesia von der Organisation für

wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) folgendes Beispiel:

Vergleiche man Europa mit Lateinamerika, so würde deutlich, dass es in Europa

größtenteils um informelle Erwerbstätigkeit gehe. 31 Größtenteils handelte es sich dabei

um Akteure, die als Erwerbstätige registriert sind, aber eine nicht registrierte Tätigkeit

ausführen. Der Grund hierfür sei dabei das Umgehen von zu entrichtenden Steuern und

Regulierungen. In Lateinamerika hingegen handle es sich hauptsächlich um nicht

registrierte Erwerbstätige, die somit aus dem Netz der Sozialversicherung herausfielen. 30 Vgl. ILO: Decent work and the informal economy; Report VI, International Labour Conference, 90th Session, 2002, S.3 ff., verfügbar: http://www.ilo.org/public/english/standards/relm/ilc/ilc90/pdf/rep-vi.pdf (zuletzt aufgerufen: 16.09.2010). 31 Vgl. Laiglesia, Juan Ramón de: Vivir con la dualidad: política fiscal e formalidad em América Latina; in: Percepciones, Vol. 81, Centro de desarollo de la OECD, Paris, Oktober 2008, S.8.

12

2.2.2 Definition des Konzepts in Brasilien 

Die akademische Diskussion bezieht sich größtenteils auf ein Konzept von

Informalität, das im Allgemeinen der Vorstellung der operationalen Definition folgt.

Wie später noch gezeigt wird, liegt das Problem tatsächlich v.a. bei kleineren

Unternehmen, die die Struktur haben, wie sie bei der operationalen Definition

beschrieben wird, sowie bei Selbständigen.

In Brasilien wird gemäß der Gesetzgebung nur dasjenige abhängige Arbeitsverhältnis

als formell begriffen, das vom Arbeitsministerium32 (MTE) anerkannt wird.33 Das

Konzept des Informeller Sektor, das heute in der brasilianischen Fachliteratur am

meisten verwendet wird, lehnt sich damit eng an der legalen Definition an.34 Dazu kann

jeder Arbeitswillige den sog. Schein für Arbeit und Sozialvorsorge35(CTPS),

beantragen. Die CTPS wird vom Arbeitsministerium vergeben und vom Arbeitgeber

ausgefüllt und unterschrieben. Sie entspricht dabei nicht einem Arbeitsvertrag zwischen

dem Beschäftigten und dem Arbeitgeber, da dieser separat abgeschlossen wird. Es

handelt sich um ein Dokument innerhalb der Beziehung zwischen dem Beschäftigten,

als natürliche Person, und dem Staat. Darin werden u.a. die Art des

Beschäftigungsverhältnisses sowie die Höhe des Lohns festgehalten. Veränderungen,

wie z.B. eine Lohnerhöhung, werden ebenfalls in der CTPS vermerkt. Nicht vom

Arbeitsministerium registriert sind also alle abhängigen Arbeitsverhältnisse, die zwar in

irgendeiner Form ohne CTPS vergütet werden, aber somit nicht formell sind.

Ausgeschlossen von dieser Definition bleiben Selbständige. Diese werden in folgende

Kategorien eingeteilt: (i) Autonome36,37, (ii) Freiberufe,38, (iii) Unabhängige

Erwerbstätige39,40.

32 Eigene Übersetzung: Ministério de Trabalho. 33 Dekret- Gesetz Nr. 5.452, vom 1. März 1943: Verabschiedung der brasilianischen Arbeitsgesetzgebung Consolidação das Leis do Trabalho (CLT), verfügbar: http://www.planalto.gov.br/ccivil_03/decreto-lei/del5452.htm (zuletzt aufgerufen). 34 Vgl. Neri, Marcelo Côrtes: Cobertura Prevideniária: Diagnóstico e Propostas (i.f.z. ); Ministério da Previdência Social, Coleção Previdência Social, Série Estudos, Vol. 18, Brasília, 2003, S.45. 35 Eigene Übersetzung: Carteira de Trabalho e Previdência Social/CTPS. 36 Eigene Übersetzung: profissional autônomo. 37 Gesetz 8.212 (1991), Art.12, Abs.IV, definiert den Term trabalhador autônomo, verfügbar: http://www.planalto.gov.br/ccivil_03/Leis/L8212orig.htm (zuletzt aufgerufen: 04.06.2010). 38 Eigene Übersetzung: profissional liberal. 39 Eigene Übersetzung: o avulso. 40 Gesetz 8.212 (1991), Art.12, Abs.VI, definiert den Term trabalhador avulso, verfügbar: http://www.planalto.gov.br/ccivil_03/Leis/L8212orig.htm (zuletzt aufgerufen: 04.06.2010).

13

Bei den Autonomen (i) handelt es sich um Selbständige ohne jegliches

Arbeitsverhältnis, die als natürliche Personen in einem urbanen Umfeld

Dienstleistungen erbringen. Bei Freiberufen (ii) handelt es sich nach Feijó41 um

Selbständige, die mindestens eine berufliche Ausbildung oder einen

Universitätsabschluss haben und in einem entsprechenden Register für die Berufsgruppe

eingetragen und damit geschützt sind. Dazu gehören bspw. Journalisten, Zahnärzte,

Rechtanwälte oder Psychologen. Im Gegensatz zum Autonomen können die Freiberufe

sowohl Angestellte haben, als auch selbst ein Arbeitsverhältnis eingehen. Ein

Unabhängiger Erwerbstätiger (iii) ist, wer ohne abhängige Beschäftigung für

verschiedene Unternehmen Dienstleistungen von urbaner oder ländlicher Natur leistet.

Alle drei Typen von Selbständigkeit besitzen keine CTPS. Die meisten

brasilianischen Datenbanken arbeiten bezüglich der Definition der Informalität und

deren Messung jedoch mit dieser Definition. So wird meist die Zahl der Erwerbstätigen

mit und ohne CTPS, die Zahl der Selbständigen und die der Erwerbstätigen ohne

Bezahlung aufgelistet. Teilweise werden darauf basierend die verschiedenen Gruppen

ohne CTPS zusammengefasst als informeller Sektor. Die Zusammenfassung der

Selbständigen, insbesondere, ist insofern problematisch, dass nicht zwischen

verschiedenen Gruppen von Selbständigen unterschieden wird. Einige gehören zu einer

Gruppe, die überdurchschnittlich gut verdient, und die sich damit ausreichend gegen

jegliche soziale Risiken absichern können. Andere wiederum arbeiten für sehr geringe

Einkommen und haben weitaus schlechtere Möglichkeiten zur Teilnahme an der

beitragspflichtigen Sozialversicherung.

In manchen Fällen wird zur Darstellung von Informalität mangels offizieller Daten

auch auf ein Ersatzkriterium zurückgegriffen. Dabei handelt es sich um die Messung der

ökonomisch aktiven Bevölkerung, die direkt in die staatliche Sozialversicherung über

das Nationale Institut für Soziale Sicherheit42(INSS) einzahlt. Die Betrachtung dieses

Faktors macht deshalb Sinn, weil alle formalisierten Erwerbstätigen, sowohl

Arbeitnehmer, Arbeitgeber als auch Selbständige, in dieses System einzahlen. Der

Nachweis für die Anmeldung beim INSS ist z.B. Grundvoraussetzung für die

41 Vgl. dazu: Feijó, Francisco Antonio: O que é ser profissional liberal?; Gazeta do Povo, 21.01.2007, (Onlineausgabe), verfügbar: http://www.gazetadopovo.com.br/economia/conteudo.phtml?id=630415 (zuletzt aufgerufen: 12.09.2010). 42 Eigene Übersetzung: Instituto Nacional de Segurança Social.

14

Beantragung einer Betriebserlaubnis für Selbständige, und wird auch bei abhängig

Beschäftigten direkt vom monatlichen Gehalt an das INSS abgeführt.

Alle Fälle von Informalität sind somit rechtlich auch illegal. Gesetzlich ist jeder

Arbeitgeber verpflichtet ab dem ersten Tag eines Arbeitsverhältnisses, sei es kurz- oder

langfristig, saisonal etc. neben dem Arbeitsvertrag die CTPS des Beschäftigten

einzufordern und unterschrieben innerhalb von 48 Stunden zurückzugeben. Tut er dies

nicht oder erst verspätet, verstößt er gegen das brasilianische Strafrecht, das bei

Fälschung von öffentlichen Dokumenten, so auch bezüglich der CTPS, eine Haftstrafe

von zwei bis sechs Jahren sowie eine Geldstrafe vorsieht.43 Wird die CTPS

unterschrieben, aber ein Teil des Gehalts ohne Registrierung ausgezahlt, so greift

ebenfalls das Strafgesetz zur Hinterziehung von Abgaben für die Sozialvorsorge und

sieht neben einer Geldstrafe eine Haftstrafe zwischen zwei und fünf Jahren vor.44

2.3. Der informelle Sektor urbaner Zentren Brasiliens 

Der informelle Sektor nimmt in Brasilien einen beachtlichen Teil der Privatwirtschaft

ein. Bei einer Rate von 56,9%45 ökonomisch aktiver Bevölkerung umfasst er bis zur

Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung und macht im urbanen Raum Brasiliens

innerhalb der Bevölkerung zwischen 15 und 64 Jahren bereits 44,4%46 aus. 578 Mrd.

Brasilianische Reais (BRL) oder 18,4%47 des Bruttoinlandsproduktes (BIP) wurden im

Jahr 2009 informell erwirtschaftet und entsprechen damit in ungefähr dem BIP des

Nachbarlandes Argentinien. Zudem weist der Sektor teilweise ein höheres Wachstum

auf als das nationale BIP.48 Im Jahr 2007 lag das Wachstum des BIP bei 5,4%, im

43 Código Penal (eigene Übersetzung: Strafgesetzbuch), Kapitel III, Abs., 297, §4° zur Strafe auf Fälschung von Dokumenten, verfügbar: http://www.dji.com.br/codigos/1940_dl_002848_cp/cp296a305.htm (zuletzt aufgerufen 16.09.2010). 44 Código Penal, Artikel 337 zur Hinterziehung von Abgaben für die Sozialvorsorge, verfügbar: http://www.planalto.gov.br/ccivil_03/Decreto-Lei/Del2848.htm (zuletzt aufgerufen: 15.05.2010). 45 IBGE, PME, Juni 2010. 46 IADB, sociometro, verfügbar: www.iadb.org/sociometro/ (zuletzt aufgerufen: 19.04.2009). 47 Vgl. dazu auch Rodrigues, Lino: Economia informal no Brasil movimenta BRL 578 bilhões, mais que PIB argentino (i.f.z. Rodrigues); 22.07.2010 verfügbar: http://www.etco.org.br/noticia.php?IdNoticia=3315 (zuletzt aufgerufen: 12.09.2010). 48 IBRE-FGV/ETCO: An Estimate of Shadow Economy in Brazil (i.f.z. IBRE-FGV7ETCO); in: Economia Subterrânea, Rio de Janeiro, 2010, S. 27.

15

informellen Sektor hingegen bei 8,7%.49 Die Steuereinnahmen, die dem brasilianischen

Staat damit verloren gehen, belaufen sich auf 200 Mrd. BRL.50

In der letzten Dekade hat sich jedoch Aufwärtstrend ergeben.

Abb. 1: Anteil der ökonomisch Aktiven Bevölkerung mit CTPS

Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von IBGE/PME Juni 2010

Seit dem Jahr 2004 hat sich nach einem ständigen Anstieg der Informalität in den 90er

Jahren des letzten Jahrhunderts jedoch eine positive Entwicklung zu einer höheren

Formalität eingestellt, wie die oben stehende Grafik zeigt.

Die Struktur des Teils der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sah im Jahr 2010

folgendermaßen aus:

49 Vgl. IBGE. 50 Rodrigues: 22.07.2010.

16

Abb. 2: Beschäftigungsstruktur Juni 2010

Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von IBGE/PME Juni 2010

Die Grafik ist eine Einteilung des Arbeitsmarktes nach brasilianischen Verständnis

und der Unterscheidung zwischen Erwerbstätiger mit CTPS sowie ohne. Die

Datenerhebung zeigt, dass im Juni diesen Jahres 18,3% der ökonomisch aktiven

Bevölkerung ein abhängiges Arbeitsverhältnis ohne CTPS hatte, also informell war.

Dazu kommen 0,5% Erwerbstätige ohne Verdienst. Diese werden ebenfalls ganzheitlich

zur Informalität addiert, da eine Erwerbstätigkeit ohne Verdienst in einem Land mit

geltendem Mindestlohn nicht legal ist und somit nicht formell sein kann. Damit sind

18,8% der aktiven Bevölkerung nach der legalen Definition informell. Fraglich bleibt

die Addition der Selbständigen, die nochmals 18,1% ausmachen. Nach brasilianischer

Definition sind diese informell, da sie keine CTPS besitzen. Hier muss zwischen

informell und illegal unterschieden werden. Zwar haben Selbständige keine CTPS und

sind daher nicht über selbige beim Ministerium für Arbeit registriert. Trotzdem haben

die Selbständigen die Möglichkeit legal zu arbeiten. Dazu sind je nach Kategorie der

Selbständigkeit verschiedene Dinge, wie z.B. die Betriebsgenehmigung durch die

Stadtverwaltung, notwendig. Allerdings gibt es bislang keine Statistik über den Anteil

der Selbständigen, die alle Anforderungen erfüllen, und den Anteil illegal

17

Erwerbstätiger in der Selbständigkeit. Daher bleibt das Problem der Messbarkeit des

informellen Sektors hinsichtlich der Selbständigkeit bestehen.

Der letzte große Zensus des informellen Sektors in Brasilien geht auf das Jahr 2003

zurück. Der Sektor wird in Gruppen nach deren hauptsächlicher Aktivität aufgeteilt und

folgendermaßen dargestellt:

Abb. 3: Struktur des informellen Arbeitsmarkts nach Sektoren51

Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung auf Basis von Ecinf: Tabelle 8. (s. Anhang I)

Die Grafik zeigt, dass die drei größten Bereiche der Informalität in der Wirtschaft, im

Handel und Reparatur, der Industrie und der Zivilkonstruktion liegen. Für informelle

Unternehmen ist der Zugang zu formellen Instrumenten wie juristischer Beratung,

Krediten für Investitionen, Sicherung von Eigentum etc. generell schwieriger. Bei den

ersten beiden dürften daher viele mittlere und kleine Unternehmen beteiligt sein, da

weder Handel in kleinerem Stil noch Reparatur große Ressourcen an Kapital oder

51 Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE)/ Serviço de Apoio às Micro e Pequenas Empresas (SEBRAE): Economia Informal Urbana 2003 (i.f.z. Ecinf); Pesquisa IBGE/SEBRAE, Rio de Janeiro, 2005, Tabelle 8, verfügbar: http://www.ibge.gov.br/home/estatistica/economia/ecinf/2003/ecinf2003.pdf (zuletzt aufgerufen: 20.08.2010).

18

Boden bedürfen und damit einfacher in der Informalität durchführbar sind. Hierzu zählt

beispielsweise auch Straßenhändler, informelle Märkte für Elektroartikel oder

Gebrauchtwaren. Die zweiten, die zusammen den größten Anteil innerhalb des Sektors

einnehmen, handelt es sich typischerweise um mittlere und große Unternehmen, die im

Normalfall legale und formale Unternehmen sind. Sowohl die Zivilkonstruktion als

auch Rohstoffgewinnung benötigen größere Mengen an Kapital zur Investition in

Ausrüstung, Maschinen, etc. und können schwerlich informell betrieben werden. Das

weißt darauf hin, dass es sich hier um informell Beschäftigte der formellen

Unternehmen handelt. Je nach Sektor kann also auch die Art der Informalität variieren.

Die weiteren Sektoren sind ebenfalls sehr gemischt. Verschiedene Dienstleistungen

haben jedoch ein großes Gewicht und stärken die Annahme, dass vor allem Tätigkeiten,

die relativ wenig Kapitaleinsatz erfordern, tendenziell leichter in der Informalität zu

betreiben sind. Andersfalls handelt es sich auch um eine partielle Informalität, die die

Erwerbstätigkeit, nicht jedoch das Kapital, wie z.B. Immobilien zur Vermietung,

betrifft.

Durch die Beitragszahlungen der Erwerbstätigen zum INSS lässt sich die Größe des

informellen Sektors ebenfalls grob nachzeichnen, da die Beitragszahlungen eine

Voraussetzung für die Formalität sind. Von den 92,4 Mio. Personen, die 2008

ökonomisch aktiv waren zahlten im Jahr 2008 48,1 Mio. oder 52,1% in die Kasse des

INSS ein. Das entspricht, mit einem Wert in 2007 von 50,6%, einem Anstieg um 5,9%

zum Vorjahr.52 Dies dürfte auf die gestiegene Zahl an formellen Arbeitsverhältnissen

seit dem Vorjahr zurückzuführen sein. Die Zahl der Selbständigen weist seit einigen

Jahren erstmals einen Rückgang auf. Sie ging von 21,2% in 2007 auf 20,2% in 2008

zurück.53 Dies könnte ebenfalls auf die gestiegene Zahl an formellen Arbeitsplätzen

zurückzuführen sein, da durch verbesserte Möglichkeiten auf dem formellen

Arbeitsmarkt die Zahl derjenigen sinkt, die die Selbständigkeit als

Alternativmöglichkeit wählen.

52IBGE/PNAD 2008: verfügbar: http://www.ibge.gov.br/home/estatistica/populacao/trabalhoerendimento/pnad2008/sintese/tab4_6.pdf (zuletzt aufgerufen: 30.05.2010). 53 Ebd.: http://www.ibge.gov.br/home/estatistica/populacao/trabalhoerendimento/pnad2008/sintese/tab4_9.pdf (zuletzt aufgerufen: 30.05.2010).

19

Bezüglich des Verdiensts verzeichneten Angestellte ohne CTPS im Jahr 2008, die

2007 ein durchschnittliches Monatseinkommen von 60454 BRL hatten, den höchsten

realen Anstieg von 2,7%. Angestellte mit CTPS erreichten eine Erhöhung um 1,3% mit

einem durchschnittlichen Monatseinkommen von BRL 1.034 im Jahr 2008. Das

Einkommen der Hausangestellten55 mit CTPS stieg 2008 um 2,1% auf BRL 523.

Hausangestellte ohne CTPS konnten ebenfalls einen Anstieg von 2,7% auf ein einen

Wert von BRL 300 erlangen. Am schlechtesten fällt die Bilanz der Selbständigen aus,

die von 2007 auf 2008 einen Rückgang des Einkommens um 4,8% auf BRL 799

registrieren. Die Tabelle zeigt die Einkommensentwicklung der Arbeitnehmer in BRL,

sowie den Einkommensunterschied von Angestellten mit und ohne CTPS. Dabei fällt

deutlich auf, dass das Einkommen der Beschäftigten mit CTPS beinahe doppelt so hoch

ist, wie das Einkommen derjenigen ohne CTPS.

Abb. 4: Einkommensentwicklung der Beschäftigten gesamt,

mit und ohne CTPS

54 1 BRL ≈ 0,58 USD auf AONDA Währungsrechner, verfügbar: http://www.oanda.com/lang/pt/currency/converter/ (Wechselkurs vom 12.09.2010); vgl. auch mit Big Mac Index: 4,91 USD, auf der Rangliste 4. Platz (Abobereich), verfügbar: http://www.economist.com/node/159859 (zuletzt aufgerufen: 12.09.2010). 55 Definition: Angestellter in einem Haushalt, bezahlt in Geld- oder Sachwerten, an sich oder ein Familienmitglied: IBGE/PNAD 2008, notas técnicas, S.11, verfügbar: http://www.ibge.gov.br/home/estatistica/populacao/trabalhoerendimento/pnad2008/notas_sintese.pdf (zuletzt aufgerufen: 04.05.2010).

20

Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von IBGE/PNAD 2008.56

Wie bereits weiter oben erwähnt wurde gibt es zu dieser Darstellung jedoch

Ausnahmen und der Unterschied kann in Einzelfällen auch umgekehrt sein. So kann der

Einkommensunterschied zu einer Ursache für die Informalität werden. Dieses Thema

wird im nächsten Abschnitt analysiert.

2.4 Ursachen der Informalität 

Die Ursachen für den informellen Sektor sind überaus vielfältig. Wechseleffekte

zwischen verschiedenen Sektoren und negative Auswirkungen aus anderen Bereichen,

wie etwa der Infrastruktur, können über Zusammenspiel von verschiedenen Effekten zu

einer Ausweitung führen. So führte der derzeitige Gouverneur des Bundesstaates Rio de

Janeiro, Sergio Cabral, jüngst an, dass die Einführung einer gesetzlichen Verordnung

für ein integriertes Busticket, das den öffentlichen Transport, insbesondere aus den

Vorstädten ins Zentrum, verbilligt hat, vor allem auch positiv auf die Formalisierung

des Arbeitsmarktes gewirkt habe.57 Dieses Beispiel zeigt wie ein Kollateraleffekt aus

einer Maßnahme entstehen kann, der erst indirekt zur Geltung kommt. Der Effekt ist

darauf zurückzuführen, dass Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet sind, für die

Transportkosten mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Arbeitsplatz finanziell

aufzukommen. Die Senkung der Preise für den Transport senkt somit gleichermaßen die

Lohnnebenkosten. Zudem ist von der Maßnahme vor allem der Teil der Gesellschaft,

die Bewohner der Peripherie des urbanen Zentrums Rio de Janeiros, betroffen, die sich

zu einem größeren Teil in der Informalität befinden, und nur mit großem zeitlichen und

finanziellen Aufwand in das Zentrum gelangen. Die Bewohner dieser Randgebiete

haben als Folge der Kostensenkung eher Chancen auf dem formellen Arbeitsmarkt.

Bei der Analyse der Informalität und ihrer Ursachen muss zwischen zwei verschiedenen

Effekten unterschieden werden, Escape und Exclusion.58 Die Unterscheidung ist vor

allem deshalb wichtig, weil davon später der wirtschaftspolitische Lösungsweg abhängt.

56 IBGE/PNAD 2008, verfügbar: http://www.ibge.gov.br/home/estatistica/populacao/trabalhoerendimento/pnad2008/sintese/tab7_3_5.pdf (zuletzt aufgerufen: 31.05.2010). 57 TV-Debatte auf TV Band am 12.08.2010. 58 Vgl. Perry, Guillermo; Maloney, William F.; Arias, Omar S.; Fajnzybler, Pablo; Madson, Andrew D.; Saavedra-Chanduvi, Jaime: Informality: Exit and Exclusion, Washington, D.C. 2007, S.1-3.

21

Handelt es sich um Exclusion, so muss der Zugang ermöglicht werden. Liegt Escape

vor, kann dem Effekt über verstärkte Kontrolle oder Anreize zur freiwilligen Aufgabe

der Informalität begegnet werden.

Zum einen kann aus verschiedenen Gründen die Informalität durch einen

Erwerbstätigen oder ein Unternehmen bewusst gewählt worden sein. Dies kann

beispielsweise zum Zweck von Steuerhinterziehung, Nichterfüllung von Regulierungen,

Erlangung von Begünstigungen usw. geschehen. Das Wirtschaftssubjekt macht eine

Kosten-Nutzen Analyse der beiden Alternativen Formalität oder Informalität und

entscheidet, welche der beiden günstiger ausfällt. Wenn das Wirtschaftssubjekt sich

danach für die Informalität entscheidet, wird dieser Effekt Escape genannt. Die

folgende Grafik59 zeigt einen Überblick über Motive, die von den Befragten einer

Studie von IBGE/SEBRAE angegeben wurden.

Abb. 5: Motive für informelle Erwerbstätigkeit

Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung auf Basis von Ecinf, Tabelle 38, (s. Anhang I).

Die Grafik zeigt die Alternativlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt als Hauptmotiv. Daneben

stehen einige Gründe, die nach einer Abwägung von Vor- und Nachteilen zu einer

Entscheidung für die Informalität führen können. Eine Entscheidung für die Informalität

lässt darauf schließen, dass die Vorzüge, die mit der Formalisierung erlangt werden

59 Ecinf, Tabelle 38.

22

könnten, nicht ausreichend nützlich sind. Der Staat als regulierende Instanz von

Formalität kommt also seinen Anforderungen zur Bereitstellung von Leistungen für den

formellen Sektor im Verhältnis zu den Mehrbelastungen durch die Formalisierung nicht

in ausreichendem Maße nach.

Zweitens gibt es die Möglichkeit des unfreiwilligen Ausschlusses. Dieser Effekt wird

Exclusion genannt und bezeichnet die Chancenlosigkeit am formellen Arbeitsmarkt

teilzunehmen. Dies betrifft vor allem Jungendliche, die gerade in den Arbeitsmarkt

eintreten wollen, jedoch noch wenig bis keine Erfahrung haben oder auch Bewohner

von Gebieten, die wirtschaftlich keine entwickelte Struktur haben, wie beispielsweise

weite Teile des Nordostens Brasiliens. Die Informalität wird so zu einer

Überlebensstrategie. Im Falle eines Unternehmens kann es durch Regulierungen, z.B.

Sicherheitsstandards, in Zusammenspiel mit dem niedrigen Budget von Mikro- und

Kleinunternehmen60 (MKUs) dazu kommen, dass das Unternehmen nicht zur Erfüllung

derselben in der Lage ist und somit ausgeschlossen und informell bleibt.

Die beiden Effekte lassen sich jedoch nicht absolut isoliert betrachten. Oft sind die

Ursachen für den informellen Sektor eine Mischung aus beiden Effekten, die je nach

Einzelfall mehr oder weniger stark wiegen können. Die Effekte müssen jedoch

differenziert werden, um angemessene Maßnahmen ergreifen zu können.

In einer Studie des IBGE/SEBRAE61 wurden informell Erwerbstätige, die auf

selbständiger Basis arbeiteten, nach den Hauptgründen gefragt, die in den letzten 12

Monaten nach ihrer Ansicht ihre Entwicklung zur Formalität hin verhindert hätten.

Folgendes wurde angegeben:

60 Mikrounternehmen haben einen Höchstumsatz pro Jahr von bis zu 240.000 BRL, Kleinunternehmen bis zu 2.400.000 BRL, vgl. auch Gesetz Nr. 9.317 (1996) Lei Geral da Microempresa e Empresa de Pequeno Porte, verfügbar: http://www.portaltributario.com.br/legislacao/lei9317.htm (zuletzt aufgerufen: 12.09.2010). 61 Ecinf, Tabelle 33.

23

Abb. 6: Hauptschwierigkeiten von Selbständigen in der Informalität

Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung auf Basis von Ecinf, Tabelle 33, (s. Anhang I).

Am häufigsten wurde von den Befragten Kundenmangel und Konkurrenz genannt,

beides Faktoren, die im weitesten Sinne mit der Situation des Wettbewerbs zu tun

haben. An zweiter Stelle folgen direkt finanzielle Schwierigkeiten, die von geringen

Gewinnen, Mangel an Eigenkapital bis hin zu schlechtem Zugang zu Krediten reichen.

Neben diesen treffen die informell Beschäftigten auf zahlreiche Hürden auf dem Weg

zur Formalität. Eine kürzlich durchgeführte Studie zeigt besonders ausschlaggebende

negative Auswirkungen dreier Faktoren auf die Höhe der Informalität in Brasilien: die

Höhe der Arbeitslosenrate, die Steuerlast, gemessen als Prozentsatz des BIP und die

Höhe der Wahrnehmung der Korruption.62

Weitere Studien mit anderen Methoden heben wiederum andere Faktoren hervor. Im

Allgemeinen entsteht durch den Zugang zu Diensten und Gütern, die der Staat

unabhängig davon bereitstellt, ob ein Erwerbstätiger sich in der Formalität befindet oder

nicht, ein Anreiz zur Informalität. Die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen

durch den Staat, die auch ohne die Formalisierung zugänglich sind, senken in der

Kosten-Nutzen Rechnung der Individuen die Opportunitätskosten zur Entscheidung für

die Formalisierung. Dazu zählt in Brasilien z.B. das Gesundheitssystem. Durch den

Universalzugang und die Steuerfinanzierung gibt es keine Voraussetzung zur Teilnahme

und der Anreiz zur Formalität wird gehemmt. Selbiges gilt für Sozialleistungen des

Staates. und Fontes weisen in diesem Zusammenhang auf eine Leistung der

62 Vgl. IBRE-FGV/ETCO, S. 28.

24

Sozialversicherung, die sog. fortlaufende Sozialunterstützung63 (BPC), hin.64 Es handelt

sich dabei um eine gesetzlich garantierte Zahlung an Personen ab 65 Jahren und

Personen, die durch eine Behinderung vom Arbeitsmarkt mindestens teilweise

ausgeschlossen sind. Die Zahlung beläuft sich auf einen Mindestlohn pro Monat und

setzt keine vorherige Zahlung in das Sozialversicherungssystem voraus.

Voraussetzungen für die Erlangung der Zahlung sind für über 65-jährige der Nachweis

über das Alter sowie ein Nachweis, dass das Familieneinkommen, geteilt durch die

Anzahl der Familienmitglieder, nicht über einem Viertel des Mindestlohnes liegt. Für

Menschen mit Behinderung gilt es den Nachweis über die Unmöglichkeit zu einer

Teilnahme am Arbeitsmarkt und zu einem selbständigen Leben durch die

Bescheinigung eines Arztes zu erbringen. Bezüglich des Einkommens gilt dasselbe.

Während die Transferleistung an Menschen über 65 nicht als Gegenanreiz gewertet

werden sollte, da diese Gesellschaftsgruppe regulär bereits aus dem Arbeitsmarkt

ausgeschieden sein sollte, gilt dies nicht für Menschen mit Behinderung. Für diejenige

Gruppe, die eventuell arbeiten könnte mindert die Zahlung theoretisch den Anreiz einer

Erwerbstätigkeit nachzugehen. In dem Moment, in dem die Person mit Behinderung

eine Erwerbstätigkeit aufnimmt, bzw. ihr Unternehmen formalisiert, verliert sie die

Zahlungen des BPC.

In der praktischen Umsetzung der Formalisierung eines Mikrounternehmens oder eines

Selbständigen stoßen diese mit der Informationseinholung über die verschiedenen

Anforderungen, dem Gang zur Behörde usw. auf erste Schwierigkeiten. Dies ist in

manchen Ländern mit weniger Aufwand verbunden als in anderen. Brasilien gehört mit

120 Tagen zur Eröffnung eines Unternehmens und, Platz 126 auf einer Liste von 180,

zu den Ländern mit den größten Schwierigkeiten.65 Noch nicht hinzugerechnet sind hier

Wartezeiten in Schlangen etwa an Bankschalter, der Post, Behörden usw., die in

Brasilien ebenfalls überdurchschnittlich hoch sind. Da sich dieser Aufwand zu einer

Aufgabe von Wochen summieren kann entstehen dadurch extrem hohe

Opportunitätskosten. Für einen Erwerbstätigen, der z.B. ein Mikrounternehmen gründen

möchte, sind diese Kosten sehr hoch, da er während des Zeitaufwands für bürokratische 63 Eigene Übersetzung: Benefício de Prestação Continuada de Assistência Social. 64 Vgl. Neri, Marcelo; Fontes, Adriana: Brasil (i.f.z. , Fontes); in: Jacob, Olaf (Hrsg.): Sector Informal y Políticas Públicas en América Latina, Fundación Konrad Adenauer, Rio de Janeiro, 2010, S.84. 65 The World Bank/ International Finance Corporation: Doing Business: Historical Data, verfügbar: http://www.doingbusiness.org/default.aspx (zuletzt aufgerufen: 12.09.2010).

25

Angelegenheiten, beispielsweise die Wartezeit in einer Behörde, gleichzeitig auf ein

Einkommen aus einer bezahlten Erwerbstätigkeit verzichtet. Zusätzlich entstehen

direkte Kosten durch Faktoren wie die Eröffnung eines Kontos, Gebühren auf Ämtern

für die Bearbeitung von Anträgen usw.

Durch die Legalität entstehen den Erwerbstätigen und Unternehmen zudem

verschiedene Kosten. Vito Tanzi66 erwähnt die cost of compliance. Darunter versteht er

solche Kosten, die dem Steuerzahler durch die Einhaltung von Steuerverpflichtungen,

zusätzlich zu den reinen Steuern, entstehen. Dazu zählt die Führung von Konten, sich

über Veränderungen innerhalb der Steuergesetze auf dem Laufenden zu halten, Kosten

für Steuerberater, Beschaffung von Steuerformularen, Anstehen in Schlangen zur

Bezahlung von Steuern etc. In der brasilianischen Fachliteratur wird auch von

brasilienspezifischen Kosten67 gesprochen.68 Dabei handelt es sich um verschiedene

Schwierigkeiten, wie z.B. durch die besonders rigide Arbeitsgesetzgebung, die z.B.

Investitionen verhindern oder zu einem Abfluss von Devisen führen können. So liegt in

einer Studie der Weltbank Brasilien mit 2.600 Stunden an der Spitze der Liste von

Stunden, die ein Unternehmen jährlich aufwenden muss, um alle Steuern

ordnungsgemäß zu bezahlen.69

Maloney70 sieht eine freiwillige Nichtteilnahme an den Institutionen der

Zivilgesellschaft vor allem bei kleinen Firmen, da die Einhaltung von legalen Normen

Kosten verursache. Sie bevorzugten daher auf soziale Netzwerke wie Familie oder

Nachbarschaft zurückzugreifen, anstatt die staatlichen Institutionen wahrzunehmen.

Den Grund dafür sieht Maloney darin, dass die Notwendigkeit zum Zugang der

Institutionen des formellen Marktes erst mit zunehmender Größe einer Firma notwendig

würde, so z.B. dem Kreditmarkt, oder die Notwendigkeit zur Sicherung von

Eigentumsrechten. Maloney sieht bei den kleinen Unternehmen eine Risikobereitschaft,

die natürlicherweise daraus entstünde, dass ein Arbeiter sein Glück als Unternehmer 66 Vgl. Tanzi, Vito: The Shadow Economy, It´s causes and It´s consequences (i.f.z. Tanzi); in: Economia Subterrânea, FBV/IBRE, ETCO, Rio de Janeiro, 2010, S.5f. 67 Eigene Übersetzung: custo brasil. 68 Vgl. dazu auch Rehder, Marcelo: Custo Brasil, uma sobrecarga de 36%; in: O Estado de São Paulo, 07.03.2010, verfügbar: http://economia.estadao.com.br/noticias/not_7898.htm (zuletzt aufgerufen: 12.09.2010). 69 International Finance Corporation (IFC): Paying Taxes 2009; World Bank Group, S.38. 70 Vgl. Maloney, William F.: Informality Revisited (i.f.z. Maloney); World Bank Policy Research Working Paper Nº 2965, Washington, 2003, S.9.

26

versuche.71 Die Möglichkeit veranlasse die Neuunternehmer dazu, auf einige Vorzüge

der Formalität, wie z.B. Schutz von Eigentum oder Teilhabe an der Sozialversicherung,

vorerst zu verzichten und die Ressourcen, die dafür notwendig wären, für die

Gründungsinvestitionen zu verwenden. Die Unternehmer nutzen nach Maloney in

diesen Fällen zuerst informelle Risikomanagementstrategien.72

Als Gegenposition erwähnt Tokman jedoch auch sog. Kosten der Illegalität73: z.B.

verwenden Straßenverkäufer einen großen Teil ihrer Ressourcen auf

Auseinandersetzungen mit der Polizei und die Suche nach einem stabilen Verkaufsplatz.

Dies könnte durch Eigentümerrechte oder einen formalen Verkaufsstand unterbunden

werden.74

Zum Verdienst innerhalb des informellen Sektors gibt es verschiedenste Studien und

Ergebnisse, abhängig davon, welches Segment des informellen Sektors betrachtet wird.

So führen Bargain und Kwenda an, dass der Unterschied der Verdienstmöglichkeiten

für Informelle zwar im untersten Quantil beinahe gleich null ist, im obersten in

Brasilien aber immerhin bei 10% läge.75 Schneider76 argumentiert diesbezüglich mit

einem Anstieg der Nachfrage nach unqualifizierter Arbeit. Dadurch könne ein Anstieg

des Lohns im informellen Sektor ausgelöst werden, was wiederum den ökonomischen

Anreiz erhöht informell zu arbeiten. Dennoch weist er darauf hin, dass diese Annahme

nur auf einer mikroökonomischen Basis Gültigkeit finden könne, da in der

makroökonomischen Theorie niedrigere Löhne mit einem Anstieg der Arbeitsnachfrage

zu mehr Beschäftigung führten.

Zu den oben erwähnten Kosten der Legalität kommt weiterhin die Steuerbelastung

hinzu. Laut dem brasilianischen Finanzministerium lag die Steuerbelastung im

Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2008 bei 35,8%77. Im weltweiten

71 Ders., S.10 f. 72 Ders.; S.10. 73 Vgl. Tokman, Victor E.: Integrating the Informal Sector in the Modernization Process (i.f.z. Tokman, 2001); in: The SAIS Review of International Affairs, Vol. 21, Nr.1, 2001, S.56. 74 Ders., 2001, S.56. 75 Bargain, Oliver; Kwenda, Prudence: Is informality Bad? – Evidence from Brazil, Mexico and South Africa; UCD Centre For Economic Research Working Paper Series 2010, Nr. 3, University College Dublin, 2010, S.14. 76 Scheider, Friedrich: The Shadow Economies in Central and South America with a Specific Focus on Brazil and Colombia: What do we know? (i.f.z. Schneider); in: Economia Subterrânea, IBRE-FGV, ETCO, 2010, S. 7. 77 Lettieri Siqueira, Marcelo: Carga Tributária no Brasil 2008 - Análise por Tributos e Bases de Incidência; Ministério da Fazenda, Receita Federal, Subsecretaria de Tributação e Contencioso

27

Vergleich befindet sich Brasilien damit an der Spitze, vor allem unter den

Schwellenländern. Verhältnismäßig zu dem, was der Staat dafür an Leistungen

bereitstellt, bleibt die Zahl relativ hoch. Bei einem Ranking von 139 Ländern zur

Verschwendung von Steuergeldern78 erhielt Brasilien für das Jahr 2009 den 136. Platz

und ist damit weltweit am viertschlechtesten.79 Dies wiederum führt zum Effekt Escape,

also zu einer Fluchtreaktion aus dem formellen System.

Nach Vito Tanzi80 haben besonders folgende Steuern negativen Einfluss auf die

Formalität: Einkommenssteuer, Umsatzsteuer, Verbrauchersteuern, Beiträge zum

staatlichen System der Sozialversicherung oder auch die Besteuerung von

Kapitaltransfers. Eine effiziente, gut organisierte und kapitalkräftige

Steueradministration könne Aktivitäten zur Umgehung der Steuerzahlung eingrenzen,

obwohl sicherlich nicht gänzlich vermeiden. Dazu hätten, bemerkt Tanzi, vor allem

Computer und neue Verwaltungsarrangements innerhalb der Steuersystemverwaltung

beigetragen. Weiterhin habe sich bereits gezeigt, dass bei Strafverfolgung von

Steuerhinterziehung die Ausflucht mit Erhöhung der Strafe sinke. Allerdings ist mit der

reinen gesetzlichen Verankerung von Strafen noch nicht deren Erfolg in der Praxis

garantiert. Brasilien nimmt im Ranking des World Economic Forums (WEForum) den

83 Platz zur Effizienz der rechtlichen Rahmenbedingungen bei Rechtsstreits ein.81 Wie

auch Tanzi bemerkt können Strafen nur auf dem Papier existieren, sehr lange Zeit

brauchen bis zu ihrer Anwendung oder gar nicht umgesetzt werden. Dies könne z.B. an

einem korrupten Strafsystem liegen, das dadurch vom Steuerzahler gekauft werden

könne. Zudem könnten die Strafen auch politisch motiviert verteilt werden, z.B. auf

Angehörige von Oppositionsparteien. Vor allem kleine Beträge, die trotzdem einen

gewissen Grad an Aufwand zur Meldung und Besteuerung verlangten, würden, nach

Tanzi, umgangen.82

Coordenação-Geral de Estudos, Previsão e Análise, Brasília, Juni 2009, verfügbar: http://www.receita.fazenda.gov.br/Publico/estudotributarios/estatisticas/CTB2008.pdf (zuletzt aufgerufen: 17.06.2010). 78 Eigene Übersetzung: Wastefulness of Government Spending. 79 World Economic Forum (WEForum): The Global Competitiveness Report 2010-2011 (i.f.z. WEForum), verfügbar: http://www.weforum.org/documents/GCR10/index.html (zuletzt aufgerufen: 12.09.2010). 80 Vgl. Tanzi, S.3 ff. 81 WEForum. 82 Vgl. Tanzi, S.5 ff.

28

Friedrich Schneider83 führt ebenfalls an, dass eine steigende Steuerlast und Abgaben für

die Sozialsysteme einer der Hauptgründe für ein Zunehmen der Schattenwirtschaft84

seien. Kosten-Nutzen oder Arbeit-Freizeit Entscheidungen seien durch gestiegene

Opportunitätskosten zu legalen bzw. formellen Tätigkeiten hin extrem beeinflusst. Tanzi

bezeichnet Steuern als den Preis, den Bürger für staatliche Leistungen bezahlen.85

Daraus leitet er auch die Bereitschaft der Bürger ab, Steuern zu bezahlen, wenn dafür

eine Leistung erbracht wird, und dementsprechend eine sinkende Bereitschaft, wenn die

Leistung des Staates für ineffizient gehalten wird. Auch Schneider86 spricht von

sinkender Akzeptanz und Vertrauen in staatliche Autoritäten im Falle einer Erhöhung

der Steuerlast, ohne dass diese von einer sofortigen und spürbaren Erhöhung von

Leistungen begleitet würden.

Aus der Arbeitsgesetzgebung können ebenfalls Probleme entstehen, die als Folge einen

Anreiz zur Informalität schaffen. Nach einer Studie des National Bureau of Economic

Research (NBER) neigen vor allem Länder des Romanischen Rechtskreises mehr zu

rigider Arbeitsmarktgesetzgebung als Länder aus dem Anglo-Amerikanischen

Rechtskreis.87 Dazu zählt auch Brasilien, das laut WEForum, mit der Platzierung 114 im

Ranking von Beschäftigungsrigiditäten, eine der unflexibelsten Arbeitsgesetzgebungen

hat.88

Maloney89 führt die Informalität von abhängig Beschäftigten vor allem auf Ineffizienzen

in der Arbeitsgesetzgebung zurück. Er argumentiert, dass die Marktunsicherheiten und

das große Angebot an Verdienstmöglichkeiten, vor allem in den Städten, dazu führten,

dass für beide, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, ein Vorteil aus der Umgehung des

Arbeitsrechts entstünde, da eine flexiblere Arbeitsallokation auf formellem Wege

gesetzlich nicht möglich ist.

Widersprüche innerhalb der Arbeitsgesetzgebung können zu Unsicherheiten über die

Gültigkeit einzelner Gesetze führen. Dies muss oft vor Arbeitsgerichte gebracht werden, 83 Vgl. Scheider, S. 5ff. 84 Ähnlich der Informalität, der Begriff betont aber v.a. das Ziel der Steuerhinterziehung. Und damit den Effekt Escape. 85 Tanzi, S.7. 86 Scheider, S.8. 87 Djankov, Simeon, et. al.: The Regulation of Labour (i.f.z. Djankov); Working Paper Series, Nr.9756, National Bureau of Economic Research, Cambridge, 2003, S.18, verfügbar: http://www.nber.org/papers/w9756.pdf (zuletzt aufgerufen: 05.08.2010). 88 WEForum. 89 Maloney, S.11 ff.

29

welche letztlich für die Entscheidung zuständig sind und so dazu führt, dass die

Widersprüche von der Auslegung der zuständigen Gerichte abhängig werden. In

Brasilien sind zudem die Arbeitsrechte nicht an den legalen Status des

Arbeitsverhältnisses gebunden, und können auch von informell Erwerbstätigen

juristisch eingefordert werden. Dadurch wird der Anreiz zur Formalität bedeutend

geschwächt.90

Der Mindestlohn91 kann dazu führen, dass Arbeitsanbieter mit einer niedrigeren

Produktivität keine formelle Erwerbstätigkeit finden können. Falls der Mindestlohn

oberhalb des Marktgleichgewichts im neoklassischen Modell, liegt, muss auch die

Produktivität entsprechend hoch sein. Damit zusammenhängend zeigen Corseuil und

Carneiro in ihrer Arbeit, dass die Höhe der Arbeitslosigkeit in einer positiven Relation

zum informellen Arbeitsmarkt stehe.92 Die erhöhte Rate führt also offenbar automatisch

auch zu einer höheren Informalität, die wiederum mit einer geringeren Abdeckung der

sozialen Sicherung einhergeht.

Durch Arbeitsangebotsüberhang entsteht zusätzlich Druck auf den Arbeitsmarkt. Vor

allem die steigende Tendenz zur Nachfrage von qualifizierteren Arbeitern und auch die

zunehmende Teilnahme der Frauen haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Die

Folge ist der Ausschluss vom formellen Arbeitsmarkt vor allem für Gruppen mit

niedrigerer Produktivität, fortgeschrittenem Alter etc. Durch die erhöhte Konkurrenz

kann es eher dazu kommen, dass Personen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer sozialen

Klasse oder ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert werden.93 Diese Gruppen sind damit

eher vom Effekt Exclusion betroffen.

Weiterhin werden Selbständige und Unternehmen von der Formalität ausgeschlossen,

weil ihnen die nötigen Kenntnisse fehlen. Die Requisiten, die in der Formalität verlangt

werden wie z.B. Buchführung, werden oft nicht erfüllt. Dabei erhalten 96% aller

Unternehmer keinerlei Unterstützung juristischer, technischer oder finanzieller Art.94

Die Wenigen, die Unterstützung erhalten, erhalten diese zu nur 18% von staatlichen

90 Neri, S.47. 91 Vgl. CLT, Kapitel III, Abs. 76: definiert den Term Mindestlohn, verfügbar: http://www.planalto.gov.br/ccivil/decreto-lei/del5452.htm (zuletzt aufgerufen: 16.09.2010). 92 Corseuil, Carlos Henrique; Carneiro, Francisco Galrão: Os Impactos do Salário Mínimo sobre Emprego e Salários no Brasil: Evidências a partir de Dados Longitudinais e Séries Temporais; IPEA, Textos para discussão, N° 849, Rio de Janeiro, 2001, S.19. 93 Vgl. Hart, S.153. 94 Ecinf, Tabelle 36.

30

Einrichtungen, 80,8% von anderen Einrichtungen. Dies trifft vor allem auf

Mikrounternehmen zu. Viele Mikrounternehmer haben keinerlei Kenntnisse von

Buchführung oder anderen modernen Mitteln des Managements. und Fontes merken

an, dass das das Problem so tief ginge, dass ein beträchtlicher Teil der Unternehmer in

keinerlei Form ihre Geschäftskonten kontrolliere. Oftmals sei nicht einmal die

Kontoführung des Betriebs von dem der Familie getrennt.95

Abb. 7: Bildungsstruktur des informellen Sektors96

Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung auf Basis von Ecinf, Tabelle 39, (s. Anhang I).

Die Bildungsstruktur innerhalb des informellen Sektors hat ihre größte Dichte innerhalb

des Bereichs der mittleren Bildung. Auffällig ist aber vor allem, dass beinahe 50% der

Erwerbstätigen des informellen Sektors höchstens eine Grundschulbildung vorweisen

können. Für große Teile des formellen Arbeitsmarktes sind gewisse Kenntnisse

notwendig. Mit einer mangelhaften Bildung bleibt der Zugang für viele, gerade auch

Selbständige, sehr schwierig.

95 Vgl. , Fontes, S.86. 96 Die Bildungsniveaus entsprechen nach dem ISCED (International Standard Classification of Education) der UNESCO in etwa: Grundschulbildung=Level1+2, Sekundarstufe=Level3+4, Höhere Bildung=5.

31

Im Jahr 2003 veröffentlichte das NBER eine Studie, die anführte, dass ein hoch

regulierter Arbeitsmarkt in einem positiven Zusammenhang mit der Informalität stehe.97

Brasilien schneidet dabei von allen 85 untersuchten Ländern bezüglich der Höhe der

Regulierung und der Informalität am schlechtesten ab. Zu Regulierungen zählen z.B.

Zugangsbeschränkungen für Ärzte, Mindestalter, gesetzlich garantierte Urlaubstage,

Bestimmungen zum Umweltschutz etc. Diese Kosten erhöhen nach Tanzi die

Betriebskosten einiger Tätigkeiten in manchen Fällen so weit, dass es sehr schwierig

oder in vielen Fällen sogar unmöglich wird, innerhalb dieser legal zu operieren. 98 Das

führe dazu, dass einige der Erwerbstätigen in die Informalität abwanderten. Mit der

Entwicklung komme es, laut einer Studie der Weltbank99, auch zu einer Bewegung weg

von Regulierungen, hin zu einer Verbesserung der Sozialversicherungssysteme. Denn

Oftmals ersetzten Regulierungen des Arbeitsmarkts in weniger entwickelten Ländern

mit geringeren Kapazitäten bezüglich der Sozialpolitik die Sozialversicherungssysteme.

Dass genau dies bisher nicht der Fall sei, sei ein typisches Merkmal der Länder

Lateinamerikas. Hier sei der Arbeitsmarkt nicht nur hochreguliert, sonder Unternehmen

müssten auch höhere Beiträge für die Sozialversicherung bezahlen als in vielen Ländern

Mitteleuropas.

Schneider100 sieht die ursprüngliche Aufgabe von Regulierungen in der Vermeidung

von Marktversagen und damit der Schaffung von Wohlstand, der Reduzierung von

externen Effekten und der Umverteilung von Reichtum für mehr Gerechtigkeit

innerhalb der Gesellschaft. Trotz der positiven Effekte von Regulierungen, gerade auch

auf dem Arbeitsmarkt, führt Schneider an, dass diese zu einer Wahrnehmung von

eingeschränkter Freiheit der Individuen führen und zusätzliche Kosten verursachen

können, was wiederum einen Anreiz zur Informalität schafft.

Sehr hohe Kosten für das Sozialversicherungssystem, vor allem in Form von

Arbeitgeberkosten, haben ebenfalls einen deutlichen Einfluss auf die Formalität. Wie

auch Maloney anführt werden auf einem Markt mit flexiblen Preisen die

Lohnnebenkosten, die dem Arbeitgeber entstehen, auf den Lohn abgewälzt. Ist die

97 Siehe dazu ausführlich Djankov , 2003. 98 Vgl. Tanzi, , S.8. 99 The World Bank, International Finance Corporation: Doing Business in 2006: Creating Jobs (i.f.z. The World Bank, Creating Jobs); The International Bank for Reconstruction and Development/ The World Bank, Washington, D.C., 2006, S. 24. 100 Vgl. Scheider, S. 6ff.

32

Senkung des Lohns größer als die Wertschätzung der Sicherung aus Sicht des

Erwerbstätigen, so wird er sich für die Informalität entscheiden.101 Somit erhält er

seinen gesamten Verdienst monetär. Maloney sieht dies vor allem in Gesellschaften, in

denen die staatliche Sozialversicherung besonders ineffizient ist oder in denen das

Verhältnis zwischen Beitragszahlungen und Leistungen unstimmig ist. Weiterhin

bestehe das Problem bei Familien, in denen zwei Familienmitglieder formell

erwerbstätig sind, und eines bereits Zugang zur Sozialversicherung über z.B. den

Partner hat, aber separat in die Versicherung einzahlen muss. 102

führt weiterhin an, dass Erwerbstätige nicht den Zusammenhang zwischen heutigen

Beiträgen und zukünftigen Leistungen durch das System erfasst. Dadurch werde

ebenfalls der Anreiz zur Beitragszahlung gehemmt.103

Auf Ebene der Makrowirtschaft gibt es ebenfalls Einflüsse, die die Rate der Informalität

beeinflussen können. Dazu gehört in erster Linie die Stabilität der Wirtschaft. Sobald

die Wirtschaftssubjekte keine Sicherheit über die Zukunft haben entstehen

Planungsunsicherheiten. Dies war während der brasilianischen Inflation und

Hyperinflation bis zum Plano Real der Fall. Mit Inkrafttreten dieses Plans von 1994

wurde die bis heute gültige Währung Real eingeführt und die Hyperinflation erfolgreich

beendet. Dadurch können auf Unternehmerseite z.B. langfristige Produktionspläne

erstellt werden, was wiederum zu einer verbesserten Planung des Personals führt und

damit langfristige Arbeitsverträge ermöglicht. William F. Maloney104 führt zudem an,

dass es bei hoher Inflation auch zu einer freiwillig gewählten Informalität kommen

kann. Er argumentiert mit der Flexibilität der Informalität bezüglich des Verdienstes.

Vor allem bei abhängigen Beschäftigungsverhältnissen kann der Ausgleich der Löhne

und Gehälter zur Inflation nur sehr verzögert stattfinden. Bei Selbständigen, und vor

allem bei informell Selbständigen, könne nach Maloneys Ansicht der Verdienst viel

flexibler angepasst werden. Dies begünstige damit direkt die Kaufkraftwahrung der

Erwerbstätigen, die damit v.a. bei sehr hohen Inflationsraten und hohem

Kaufkraftverlust die Informalität bevorzugen könnten und es kommt zu einem Escape-

Effekt.

101 Vgl. Maloney, S.6. 102 Ders., S.7. 103 Vgl. Neri, S.7. 104 Vgl. Maloney, S.6.

33

Ein weiteres Kriterium ist die Korruption innerhalb der Gesellschaft. Im Falle von

korrupten Steuerfahndern können beispielsweise die Kosten der Steuerzahlung über den

Kosten der Bestechungssumme liegen. Ob diese Möglichkeit bestehe, hänge nach

Tanzi105 allerdings davon ab, dass der Fahnder ein Monopol über die Entscheidung

habe, ob der Betroffene die Bestechung tätigen kann oder nicht. Dies könne durch

Kontrollmechanismen für Steuerfahnder verhindert werden, wie sie allerdings nicht in

allen Ländern vorhanden seien. Die bloße Wahrnehmung der Korruption habe bereits

einen Einfluss auf die Formalität. Halten die Bürger den Staat für korrupt, und somit

ineffizient, sinke die Bereitschaft zur Zahlung von Steuern.106 Korruption kann ich

einem gewissen Ausmaß auch den offiziellen Marktpreis von Gütern oder staatlichen

Leistungen erhöhen.107 Dies lässt sich zum Beispiel in der öffentlichen Sicherheit im

Falle korrupter Polizisten beobachten, oder auch wenn etwa bürokratische Vorgänge mit

staatlichen Institutionen nur mithilfe von Schmiergeldern innerhalb eines „normalen“

Zeitrahmens abgewickelt werden. Eine Studie108 aus dem Jahr 1998 stellt bereits fest,

dass ein Anstieg um einen Punkt auf der Korruptionsskala von Transparency

International eine Auswirkung von 5,1% auf die informelle Wirtschaft hat. Brasilien

schneidet mit 3.6 auf einer Skala von 1 bis 10 (bestes) so ab, dass sich durchaus eine

erhebliche Auswirkung auf den informellen Sektor feststellen lässt.

Szerman und Ulyssea sprechen schließlich von einer sog. Informality Trap.109 Dabei

handle es sich um die wachsende Wahrscheinlichkeit des Verbleibs in der Informalität

mit zunehmender Dauer der Informalität. Je länger sich also ein Erwerbstätiger in der

Informalität befindet, desto unwahrscheinlicher wird, dass er wieder in den formellen

Arbeitsmarkt eingegliedert wird. Dies fanden die beiden Wissenschaftler bei Ihrer

Untersuchung in Brasilien heraus.

Nach einem Einblick in den informellen Sektor im Folgenden nun zur

Sozialversicherung und deren Gestaltung in Brasilien.

105 Vgl. Tanzi, S.6. 106 Ders., S.7. 107 Ders., S.10. 108 Vgl. Johnson, Simon; Kaufmann, Daniel; Zoido-Lobatón, Pablo: Corruption, Public Finances and the Unofficial Economy; The World Bank Discussion Paper, 1998, S.20. 109 Vgl. Szerman, Dimitri; Ulyssea, Gabriel: Job Duration and the Informal Sector in Brazil; Instituto de Pesquisa econˆomica Aplicada, Rio de Janeiro, 2006, S.5, verfügbar: http://www.iza.org/conference_files/worldb2007/ulyssea_g3403.pdf (zuletzt aufgerufen: 10.Juli 2010).

34

3. Die Sozialversicherung – Basis zur Entwicklung 

Individuen und Familien einer Gesellschaft werden während ihrer Lebenszyklen von

vielfältigen Risiken bedroht. Einige davon können von solchem Ausmaß sein, dass sie

nicht nur die individuelle, familiäre oder gesellschaftliche Entwicklung hemmen,

sondern auch zerstören oder rückgängig machen können.

Eine Sozialversicherung soll diese Schocks auffangen und stellt so eine

Grundvoraussetzung für Entwicklung dar. Dabei geht es in erster Linie um die

Entwicklung eines Individuums innerhalb eines Arbeitslebens, sowie um die

Entwicklung der Gesellschaft als Ganzes. Einige Risiken bedrohen einzelne

Gesellschaftsmitglieder, wie z.B. Krankheit, Kriminalität oder der Verlust des

Arbeitsplatzes. Andere, wie etwa makroökonomische Schocks, Ernteausfälle oder

Naturkatastrophen können große Gruppen oder die ganze Gesellschaft bedrohen. Den

Folgen im Falle des Risikoeintritts muss meist mit den Mitteln wie

Familienersparnissen o.ä. begegnet werden, die für den Entwicklungsprozess nötig

wären und führen so zu einem Risiko für die Entwicklung.

Die Sozialversicherung soll daher Instrumente zum Risikomanagement bieten. Gerade

die Teile der Gesellschaft, die den Risiken. wie z.B. schlechte Hygienebedingungen,

schlechte Ernährung, prekäre Arbeit usw. am meisten ausgeliefert sind, haben oft den

schlechtesten Zugang zum System der Sozialversicherung und damit zu einer

nachhaltigen Entwicklung. Im Folgenden wird das Konzept definiert.

3.1 Definitionen und Organisation im Staat 

Das Konzept der Sozialversicherung basiert auf der Idee der sozialen Sicherung. Eine

sehr breit gefasste Definition sozialer Sicherung kommt von der Asien Development

Bank (ADB), wonach Soziale Sicherung beschrieben wird als:

„Die Gesamtheit von Politiken und Programmen, die zum Ziel haben, Armut zu

mindern und Schutz zu gewähren durch effiziente Unterstützung von

Arbeitsmärkten, durch Reduzierung von Risiken und durch Stärkung der Fähigkeit

der Menschen, sich selbst und ihre Familien gegen die Gefahr des

35

Einkommensverlustes zu schützen.“110

Die Definition lässt sich so interpretieren, dass auch Sozialprogramme, wie die

brasilianische bolsa família111, zur sozialen Sicherung gehören. Andere Definitionen

grenzen den Begriff weiter ein und schließen solche Programme aus.

Prof. Dr. Hans Jürgen Rösner stellt die Definition sozialer Sicherung nochmals auf

andere Weise dar. Nach seiner Definition handelt es sich beim Gesamtkomplex sozialer

Sicherung um „ […] Strukturen, innerhalb derer Risikovorsorge institutionell

stattfindet, und die methodischen Formen, mit denen sie konkret organisatorisch

durchgeführt wird […]“112. Diese Strukturen werden nach seiner Definition von

bewusst handelnden Menschen gewählt, die von bestimmten Daseinsrisiken existentiell

bedroht werden und versuchen, gegen die erwarteten Folgen Vorsorge zu treffen. Er

versteht unter Struktur in diesem Zusammenhang ein wechselseitiges

Beziehungsgeflecht zwischen Menschen und den von ihnen mit dem Ziel der

Risikovorsorge geschaffenen Institutionen.113

Zur Definition der Daseinsrisiken greift Rösner auf das Übereinkommen über

Mindestnormen der sozialen Sicherheit114 der ILO von 1952 zurück. Darin werden

folgende Risiken genannt: Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter, Arbeitsunfälle und

Berufskrankheiten, Mutterschaft, Invalidität sowie Tod eines Unterhaltspflichtigen.

Nicht eingeschlossen sind also Sozialprogramme mit dem primären Ziel der

Armutsbekämpfung, da die Armut nicht zu den hier zitierten Risiken gehört. Ebenfalls

ausgeschlossen bleibt etwa das die bolsa família. Der Einkommenstransfer hat als

primäres Ziel keines der oben genannten Risiken.

110 Informationsdienst Köln: Ein Index der sozialen Sicherung für Asien; Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und –gestaltung e.V., Köln, Februar 2009, S.8, verfügbar: http://www.gvg-koeln.de/xpage/objects/pub_info/docs/43/files/ID-326.pdf (zuletzt aufgerufen: 20.06.2010). 111 Es handelt sich um eine monatliche finanzielle Unterstützung für arme und extrem arme Familien. Die Transferleistung ist an Bedingungen z.B. des Schulbesuchs der Kinder gebunden. Die bolsa família ist innerhalb Brasiliens und vor allem auch international als eines der größten Sozialpramme bekannt, soll aber in dieser Arbeit ausdrücklich nicht innerhalb der Sozialversicherung mit einbezogen werden, da sie auch nach brasilianischem Gesetz nicht zu dieser Kategorie gehört. 112 Rösner, Hans Jürgen: Soziale Sicherung im konzeptionellen Wandel - Ein Rückblick auf grundlegende Gestaltungsprinzipien (i.f.z. Rösner), in: Hauser, Richard (Hrsg.), Alternative Konzeptionen der sozialen Sicherung, Berlin 1999, S. 28. 113 Ders., S. 28. 114 Vgl. Internationale Arbeitsorganisation: Übereinkommen über die Mindestnormen der sozialen Sicherheit; Übereinkommen 102, 1952.

36

Strategien zur Bekämpfung von Schocks115 können nach Holzmann und Jorgensen116

in drei Kategorien eingeteilt werden:

1. Strategien zur Verminderung der Wahrscheinlichkeit des Risikoeintritts (ex-ante)

2. Strategien zur Milderung der Auswirkungen im Falle eines Risikoeintritts (ex-ante)

3. Strategien zur Bewältigung im Falle eines Risikoeintritts (ex-post)

Zur ex-ante Prävention gehören beispielsweise Vorsorgeuntersuchungen zur

Vermeidung von schweren Krankheiten, Rentensysteme zur Vermeidung von

Altersarmut oder auch Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz. Strategien zur

Auswirkungsmilderung kann beispielsweise Portfoliodiversifizierung bei Finanzanlagen

sein. Im Falle des Risikoeintritts können Bewältigungsstrategien etwa die Behandlung

von Krankheiten sein.

Holzmann und Jorgensen stellen dazu folgende Akteure vor: Individuen, Haushalte,

Gemeinschaften, Nichtregierungsorganisationen, Institutionen des Marktes (Banken,

Versicherungsagenturen) sowie der Staat.117 Primär wird also vom Staat festgelegt, für

welche Strategien er die Verantwortung übernimmt. Sei es im Rahmen von direkten

Maßnahmen oder nur der Vorgabe eines Rahmens durch Gesetze und andere

Regelungen für weitere Akteure. Diese können danach in einigen Bereichen mit dem

Staat in Konkurrenz treten, z.B. über private Versicherungen, die gänzliche die

staatliche ersetzen, oder die Bereiche ausfüllen, die der Staat nicht aktiv besetzt hat. Je

nachdem, wie die Performance des Staates hierbei ausfällt, können durch Mängel

Anreize zur Informalität entstehen, wie weiter unten noch ausführlich besprochen

werden wird.

Instrumente für die Begegnung von Schocks sind, ebenfalls nach Holzmann und

Jorgensen118, informelle bzw. personelle Arrangements wie z.B. Soziale Netzwerke,

formelle marktbasierte Arrangements wie z.B. Versicherungsverträge, sowie formelle

staatlich gelenkte Arrangements wie z.B. eine Sozialversicherung. Die Teilnahme am

staatlichen System kann je nach Modell freiwillig oder verpflichtend sein. Nach einer

115 Hier: Einkommensschocks. 116Vgl. Holzmann, Robert; Jorgensen, Steen: Social Protection as Social Risk Management: Conceptual Underpinnings for the Social Protection (i.f.z. Holzmann, Jorgensen); Social Protection Discussion Paper Series, Nr.9904, Journal of International Development, 1999, S.8, verfügbar: http://siteresources.worldbank.org/SOCIALPROTECTION/Resources/SP-Discussion-papers/Social-Risk-Management-DP/9904.pdf (zuletzt aufgerufen: 13.07.2010). 117 Ders., S.9. 118 Ders, S.9.

37

Empfehlung von Lampert und Althammer119 kann jedoch nur auf Freiwilligkeit gebaut

werden, wenn alle der drei folgenden Bedingungen erfüllt sind:

1. Privater Versicherungsschutz ohne Risikoausschlüsse angeboten wird,

2. die Risikobedrohten die Versicherungsprämien aufbringen können und

3. die Risikobedrohten eigeninitiativ ausreichende Versicherungsverträge abschließen.

Weiterhin wird ergänzt, dass durch die Tatsache, dass eine oder mehrere dieser

Bedingungen bei den Risiken Unfall, Krankheit, Alter, Tod und Arbeitslosigkeit nicht

erfüllt seien, beinahe alle Sozialversicherungssysteme auf der Versicherungspflicht

beruhten.

Die Organisation des Systems der Sozialversicherung bietet verschiedene

Möglichkeiten. Neben anderen Modellen richtet sich dich Organisation jedoch in vielen

Fällen nach dem Konzept des Bismarck-Modells oder des Beveridge-Modells. Die

wichtigsten Kennzeichen im Kontext dieser Arbeit sind für das Bismarck-Modell die

Erwerbstätigkeitsorientierung und dessen Finanzierung durch Pflichtbeiträge der

Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Im Falle des Beveridge-Modells ist die prägnanteste

Charakteristik die Steuerfinanzierung und damit der Universalzugang. Von der Wahl

des Systems hängt auch das Risikoverständnis in einer Gesellschaft ab. Im Beveridge-

Modell werden Risiken als Gesellschaftsrisiko verstanden, im Gegensatz zum

Risikoverständnis des Bismarck-Modells, das von einem Gruppenrisiko ausgeht. Wenn

die Sozialversicherung als Grundlage zur Entwicklung interpretiert wird, übernimmt die

Gesellschaft in dem Moment, in dem sie Risiken, vor allem im Fall von

Gesundheitsrisiken, als Gesellschaftsrisiko versteht, automatisch mit über die Wahl der

Sozialversicherung Verantwortung für die Entwicklung der Gesellschaft.

Im Folgenden wird die Interpretation der Sozialversicherung in Brasilien vorgestellt.

3.2 Das System der Sozialversicherung in Brasilien 

Das Sozialmodell Brasiliens ist eine Mischung zweier Modelle. Zum einen besteht die

auf den Arbeitnehmer/ Arbeitgeber ausgerichtete und finanzierte Sozialversicherung

wie im Bismarck-Modell. Weiterhin gibt es einen steuerfinanzierten Teil, das

öffentliche Gesundheitssystem, wie im Beveridge-Modell.

119 Vgl. Lampert, Prof. Dr. Heinz; Althammer, Prof. Dr. Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik (i.f.z. Lampert, Althammer); SpringerVerlag, 7. Auflage, Berlin, Heidelberg, New York, 2004, S.238 ff.

38

Das Sozialsystem ist in Brasilien in der Verfassung von 1988 in Titel VIII Soziale

Ordnung120 zwischen den Artikeln 194 und 204 geregelt.121 Artikel 194 legt fest, dass

die Sozialversicherung aus drei Grundpfeilern besteht: Der Sozialvorsorge, der

Sozialunterstützung und der öffentlichen Gesundheitsversorgung.

Die Sozialvorsorge sowie die Sozialunterstützung werden vom Ministerium für

Sozialvorsorge122 (MPS) verwaltet, das seine Politik mittels des Nationalen Instituts für

Soziale Sicherheit123 (INSS) umsetzt. Das INSS ist eine Institution der brasilianischen

Bundesregierung zur Einnahme der Beiträge, sowie deren Verwaltung und Auszahlung.

Die öffentliche Gesundheitsversorgung wird über das Einheitssystem für Gesundheit124

(SUS) verwaltet und umgesetzt, welches wiederum dem Gesundheitsministerium125

(MS) untergeordnet ist. Die Finanzierung ist zur Hälfte Verantwortung des Bundes, zur

anderen Hälfte der Länder und Gemeinden.126 Der Bund bleibt Hauptverantwortlicher

für die Finanzierung, die Länder sind jedoch verpflichtet mindestens 12% ihres Budgets

für die Finanzierung des SUS zu reservieren, für Gemeinden gelten 15%.127

Die Versicherungspflicht innerhalb dieses Systems gilt für alle formell Erwerbstätigen.

Da in Brasilien nur ein relativ geringer Teil der ökonomisch aktiven Bevölkerung eine

formelle Beschäftigung, und damit die Versicherungspflicht, hat, ist für weite Teile der

Bevölkerung die Teilnahme freiwillig. Dazu gehört auch der informelle Sektor.

Informell Erwerbstätige können trotz ihrer theoretischen Illegalität in das INSS

einzahlen und so freiwillig an der Sozialversicherung teilnehmen. Die Abdeckung128 der

Bevölkerung umfasste im Jahr 2008 in Brasilien 52,1%129. Der Teil der Bevölkerung,

der damit gedeckt ist, ist dabei nicht vollständig identisch mit dem formellen Sektor.

Die Differenz kann etwa durch Familienmitglieder, die durch Versicherung mit

abgedeckt sind entstehen. Weiterhin ist der Zugang zum Gesundheitssystem zwar

universal, allerdings wird trotzdem nicht die komplette Bevölkerung abgedeckt, da in 120 Eigene Übersetzung: Ordem Social. 121 Vgl. http://www.planalto.gov.br/ccivil_03/constituicao/Constituicao.htm (zuletzt aufgerufen: 17.09.2010). 122 Eigene Übersetung: Ministério da Previência Social. 123 Eigene Übersetzung: Instituto Nacional de Segurança Social. 124 Eigene Übersetzung: Sistema Único de Saúde. 125 Eigene Übersetzung: Ministério da Saúde. 126 Strauss, Luis Renato: Entendo o SUS (i.f.z. Strauss); Ministério da Saúde, Brasília, 2006, S.8. 127 Strauss, S.10. 128 Der Teil der in der Woche der Befragung ökonomisch aktiven Bevölkerung, der Beiträge zum INSS bezahlt, und mindestens 10 Jahre alt ist. 129 PNAD 2008, Tabelle 4.22.

39

abgelegenen Gebieten, wie etwa dem Amazonasbecken, die Distanz zwischen

Einrichtungen des Systems sehr groß und damit unerreichbar sein kann.

3.2.1 Sozialvorsorge130 Es handelt sich um einen Teil der Sozialversicherung, der abhängig von

Beitragszahlungen, dem Erwerbstätigen im Falle des Verlusts seiner Arbeitskraft eine

Sicherung bieten soll. Festgelegt ist die Sozialvorsorge in Artikel 201131 der Verfassung.

Für Beamte gibt es ein gesondertes System.

Wichtige Prinzipien der Sozialvorsorge, festgelegt in der Verfassung von 1988, sind

deren Universalität in Abdeckung und Umgang mit den Versicherten, Uniformität und

Äquivalenz im Umgang mit der ländlichen Bevölkerung und der Bevölkerung der Stadt,

Diversität in der Finanzierung, demokratische und dezentrale Verwaltung über eine

Beteiligung von Arbeiternehmern, Arbeitgebern, Rentnern und dem Staat, Wählbarkeit

und Verteilung der Leistungen und Dienste, Unabänderlichkeit des Werts der

Leistungen sowie Gleichheit der Finanzierungsteilnahme.132

Die Partizipation am System der Sozialvorsorge ist verpflichtend. Der Wert, der im

Folgenden als Geldleistungen ausbezahlt wird, darf einen Mindestlohn in keinem Fall

unterschreiten. Damit wird neben einer Untergrenze der Leistungen auch die Erhaltung

des realen Werts verfolgt, da es für den Mindestlohn einen Inflationsausgleich gibt. Als

Kalkulationsbasis dient das Einkommen des Beitragspflichtigen, im Falle von anhängig

Beschäftigten das monatliche Gehalt.

Die Beiträge an das INSS bestehen aus einem Arbeitgeber- und einem

Arbeitnehmeranteil. Der Arbeitnehmeranteil wird prozentual direkt vom Gehalt

abgeführt. Der Prozentsatz liegt bei 8% für eine monatliches Gehalt von bis zu 965,67

BRL, bei 9% für bis zu 1.609,45 BRL sowie bei 11% bei bis zu 3.218,90 BRL und ist

bei diesem Betrag, also einem Maximalbeitrag von 354,07 BRL, auch nach oben

begrenzt. Daneben muss der Arbeitnehmer nochmals einen Beitrag in Höhe von 20%

des Gehalts des Arbeitsnehmers abführen. Alle anderen Beitragszahler, dazu gehören 130 Eigene Übersetzung: Previdência Social. 131 Vgl. http://www.planalto.gov.br/ccivil_03/constituicao/Constituicao.htm (zuletzt aufgerufen: 16.09.2010). 132 Vgl. Constituição (1988), Titel VIII, Kapitel 2, Sektion 1, Art. 194, § 1-7: verfügbar: http://www.planalto.gov.br/ccivil_03/Constituicao/Constitui%C3%A7ao.htm (zuletzt aufgerufen: 13.06.2010).

40

Hausangestellte133, Unabhängige134, Selbständige135, Spezialversicherte136,137 zahlen

Beiträge nach derselben Berechnung wie Arbeitnehmer. Die Zusammensetzung der

Beitragszahler ist wie folgt:

Abb. 8: Struktur der Beitragszahler

Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung auf Basis von BEPS138, (s. Anhang I).

Den größten Teil machen Beschäftigte aus. Der restliche Teil der Erwerbstätigen stellt

knapp 20%.

Das INSS bietet 14 verschiedene Leistungen. Dabei muss zwischen (I)

Vorsorgeleistungen139, die monetär sind, (II) Vorsorgediensten140 in Form einer

Dienstleistung und (III) Hilfsleistungen141, die unabhängig von Beitragszahlungen

geleistet werden, unterschieden werden. Letztere gehören damit nicht mehr zur

Sozialvorsorge, sondern zum zweiten Pfeiler der sozialen Sicherung, der

Sozialunterstützung.

133 Eigene Übersetzung: trabalhador doméstico. 134 Eigene Übersetzung: trabalhador avulso. 135 Eigene Übersetzung: conta própria. 136 Eigene Übersetzung: Segurado especial. 137 Nach dem Gesetz Nr. 11.718 (2008), welches das Gesetz Nr. 8.213 (1991) korrigiert, sind Spezialversicherte natürliche Personen, wohnhaft auf einem Grundstück, das diese alleine oder als Familienbetrieb bewirtschaften. 138 Boletim Estatístico da Previdência Social (i.f.z. BEPS), Vol.15, Nr.6., Juni, 2010, verfügbar: http://www.previdenciasocial.gov.br/arquivos/office/3_100726-162536-500.pdf (zuletzt aufgerufen: 27.08.2010). 139 Eigene Übersetung: Benefício previdenciario. 140 Eigene Übersetzung: Serviço previdênciário. 141 Eigene Übersetzung: Benefício assistencial.

41

I. Vorsorgeleistungen • Arbeitslosenversicherung: Die brasilianische Arbeitslosenversicherung sichert im

Kündigungsfall einen Teil des Einkommens. Untergrenze ist der aktuelle Wert des

Mindestlohns, Obergrenze ist 954,21 BRL monatliche Zahlung an den Arbeitslosen. Je

nach Einzahlungsdauer ändert sich auch die Bezugsdauer. Ab einer

Beitragszahlungsdauer von sechs Monaten beträgt die Bezugsdauer drei Monate, ab 12

Monaten erhält der Arbeitslose vier Monate und ab 24 Monaten Einzahlung fünf

Monate Arbeitslosengeld.

Finanziert wird die Arbeitslosenversicherung über einen Fonds, genannt

Arbeiterschutzfonds 142 (FAT), welcher wiederum über monatliche Beitragszahlungen

sowohl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst als auch der privaten Erwerbstätigen

finanziert wird. 40% des Fonds werden an die BNDES weitergeleitet um Maßnahmen

zur wirtschaftlichen Entwicklung zu fördern. Weiterhin werden

Weiterbildungsmaßnahmen aus dem Fonds finanziert.

Der Garantiefonds nach Einzahlungsdauer143 (FGTS) ist ein Fonds, der im Falle der

ordentlichen Kündigung144,145 eines Beschäftigungsverhältnisses als Rücklage dienen

soll. Der Fonds wurde bereits 1966 eingeführt und ist heute über das Gesetz 8.036146

aus dem Jahr 1990 geregelt. Er steht außerhalb der drei in der Verfassung verankerten

Säulen der Sozialversicherung, hat aber eine ähnliche Funktion wie die

Arbeitslosenversicherung. Eingeschlossen sind alle abhängig Erwerbstätigen sowie

Hausangestellte auf freiwilliger Basis. Die Zahlung in den Fonds muss monatlich in

Höhe von 8% des Gehalts auf ein gesondertes Konto der staatlichen Bank Caixa

Economica Federal (CEF) direkt vom Arbeitgeber abgeführt werden. Neben der

ordentlichen Kündigung kann der Fonds zur Finanzierung eines Eigenheims, im Falle

von Krankheit oder in der Rente genutzt werden.

• Altersbedingte Rente: Für Arbeitnehmer gilt zum Erhalt der Rente: Aus dem urbanen

Raum sind Männer ab 65 Jahren und Frauen ab 60 Jahren berechtig Rente zu

beantragen, im ländlichen Raum bereits 5 Jahre früher. Zudem müssen 180 Monate

142 Eigene Übersetzung: Fundo de Amparo ao Trabalhador. 143 Eigene Übersetzung: Fundo de Garantia por Tempo de Contribuição. 144 Eigene Übersetzung: rescisão sem justa causa. 145 Kündigung des Arbeitsverhältnisses unter Beachtung einer Kündigungsfrist. 146 verfügbar: http://www.normaslegais.com.br/legislacao/trabalhista/lei8036.htm (zuletzt aufgerufen: 13.06.2010).

42

Einzahlung, bzw. 180 Monate Landarbeit, nachgewiesen werden. Damit ist die Rente

für Landarbeiter ausdrücklich nicht an Beitragszahlungen gebunden, sondern an den

Nachweis über die abgeleistete Arbeitszeit.

• Spezialrente: Diese wird Arbeitnehmern gewährt, die unter Bedingungen arbeite, die

gesundheitsschädlich oder unzuträglich für die körperliche Integrität sein können. Je

nach nachgewiesener Belastung, etwa durch Kontakt mit chemischen Schadstoffen

müssen 15, 20 oder 25 Jahre an Beitragszahlungen nachgewiesen werden.

• Invalidenrente: Arbeitnehmern, die durch eine Bestätigung vom einem dem MPS

angehörigen Arzt bescheinigt bekommen, nicht mehr in der Lage zu sein ihrem

Arbeitsalltag nachkommen zu können, haben ein Recht auf die Invalidenrente.

• Krankengeld: Ab dem 16. Fehltag in Folge wird ein Krankengeld bezahlt. Im Fall

von abhängigen Arbeitnehmern bezahlt der Arbeitgeber die ersten 15 Tage, im Falle

Selbständiger zahlt das INSS bereits ab dem ersten Fehltag. Die Dauer des Bezugs wird

von einem Arzt des MPS festgelegt. Voraussetzung für die Leistung ist eine vorherige

Einzahlungsperiode von mindestens 12 Monaten, es sei denn es handelt sich um die

Folgen eines Unfalls.

• Unfallgeld: Das Unfallgeld wird anstelle des Krankengelds bezahlt, wenn der

Auslöser der Arbeitsunfähigkeit ein Unfall war. Eine Mindestmitgliedschaft ist nicht

notwendig, allerdings ist die Beitragszahlung zum Zeitpunkt des Unfalls Voraussetzung

und erstattet bis zu 50% des Arbeitseinkommens, jedoch mindestens den Wert des

Mindestlohns.

• Haftgeld: Die rechtlich Abhängigen147 des Inhaftierten erhalten während der

kompletten Zeit der Haft das Haftgeld. Voraussetzung ist, dass der Inhaftierte weder

weiterhin Gehalt bekommt, noch Krankengeld oder Rente.

• Hinterbliebenenrente: Die Familie des Verstorbenen erhält diese Rente. Es besteht

kein Mindestzeitraum für die Versicherung vor dem Todesfall. Allerdings muss bei

Eintreten des Todesfalls eine Versicherung bestehen.

• Mutterschutz: Gilt für Mütter, die INSS bezahlen, für 120 Tage, in denen Sie infolge

der Geburt der Arbeit fern bleiben. Der Mutterschutz wurde kürzlich noch einmal

erweitert. Ab dem 25. Januar 2010 können nun sechs Monate Mutterschutz beantragt

147 Dazu gehören eingetragene Lebenspartner, nicht selbständige Kinder, Kinder bis zum 21. Lebensjahr, Kinder mit Behinderung und Eltern.

43

werden.148 Die ersten vier Monate werden weiterhin durch das INSS bezahlt, die

weiteren zwei durch das Unternehmen, das die Kosten über Steuervergünstigungen

teilweise wieder kompensieren kann. Dies gilt allerdings nur für Unternehmen, die dem

Programm Bürgerunternehmen 149,150 angeschlossen sind.

• Familiengeld: Familien bekommen pro Kind unter 14 Jahren, das regelmäßig die

Schule besucht, eine finanzielle Unterstützung. Der Wert der monatlichen Zahlung liegt

bei einem Einkommen der Eltern von weniger als BRL 500 bei BRL 24,67 und bei bis

zu BRL 752 bei BRL 19,48.151

II. Vorsorgedienste • Soziale Rehabilitation: Diese ist eine Widereingliederungsmaßnahmen in den

Arbeitsmarkt für Versicherte, deren rechtlich Abhängige sowie Behinderte. Es handelt

sich um Fortbildungsmaßnahmen und Abkommen zwischen Unternehmen und dem

Staat, eine bestimmte Anzahl von Rehabilitierungsberechtigten aufzunehmen. Der

Dienst hängt nicht von der finanziellen Situation des Versicherten ab.

• Sozialdienst: Beratungsdienst des INSS, z.B. Assistenz beim Ausfüllen von Anträgen,

Beratung über Rechte und Pflichten, usw. Der Dienst ist frei zugänglich auch für Nicht-

Versicherte.

3.2.2 Sozialunterstützung 

Die Sozialunterstützung ist, anders als die Sozialvorsorge, nicht abhängig von

Beitragszahlungen. Sie wird ebenfalls vom INSS abgedeckt und bietet folgende

Leistungen für folgende Personengruppen:

III. Hilfsleistungen • Alte: Wer nicht in der Lage ist Beiträge zum INSS zu bezahlen, keine vergütete

Tätigkeit ausführt und keinen Rentenempfänger in der Familie hat, hat mit einem Alter

von mindestens 65 Jahren ein Anrecht auf die Hilfeleistungen für Alte des INSS. Die

Leistung besteht aus einer monatlichen Zahlung von einem Mindestlohn.

148 Gesetz Nr. 11.770 (2008), zur Erweiterung des Mutterschutzes, verfügbar: http://www.planalto.gov.br/ccivil_03/_Ato2007-2010/2008/Lei/L11770.htm (zuletzt aufgerufen: 04.06.2010). 149 Eigene Übersetzung: Empresa Cidadã. 150 Unternehmen müssen sich registrieren, um Steuervergünstigungen infolge des verlängerten Mutterschutzes zu erlangen, und erhalten damit den Status Bürgerunternehmen. 151 BEPS, Juni, 2010.

44

• Behinderte: Diese erhalten eine Zahlung von einem Mindestlohn, falls das

Familieneinkommen pro Kopf weniger als ein Viertel des Mindestlohnes ist. Zusätzlich

muss anhand eines ärztlichen Attests des nachgewiesen werden, dass die Person ihre

Behinderung nicht in der Lage ist am Arbeitsleben teilzunehmen.

3.2.3 Öffentliche Gesundheitsversorgung  

Mit der neuen Verfassung von 1988 und dem Gesetz Lei 8.080 auf Basis von Artikel

198 wurde das Gesundheitswesen neu organisiert. Es entstand das SUS. Waren bis

dahin nur Beitragszahler des INSS versichert, so wurde die Gesundheitsversorgung von

Beitragszahlungen abgekoppelt und steht nun der ganzen Bevölkerung universal zur

Verfügung. Damit sind auch die Erwerbstätigen des informellen Arbeitsmarktes

eingeschlossen. Das brasilianische Gesundheitssystem ist in Form des Beveridge-

Modells organisiert. Charakteristisch dafür ist, dass durch die Universalität des Zugangs

die Rationierung über die Qualität oder die Wartezeit erreicht wird. Beides lässt sich

auch in Brasilien beobachten. So lag Brasilien in der Statistik der Zahl der

Krankenhausbetten pro 1000 Einwohner im Jahr 2002 mit 2,7 Betten im weltweiten

Vergleich auf Platz 36.152 Das Vereinigte Königreich (VK), wo das Gesundheitssystem

ebenfalls als Beveridge-Modell organisiert ist, hatte im selben Jahr 4,1

Krankenhausbetten pro 1000 Einwohner. Im Jahr 2006 hatten in Brasilien 89,2% aller

schwangeren Frauen mindestens vier Arztbesuche während der Schwangerschaft und

97% hatten eine professionelle Betreuung während der Geburt.153 Die Abdeckung liegt

hier also bei solchen Basisdiensten relativ hoch. Die Ausgaben des Staates für das

öffentliche Gesundheitssystem lagen 2007 bei 3,5% der PIB und damit im Durchschnitt

Lateinamerikas und der Karibik.154

Das SUS baut auf den ideologischen Prinzipien Universalität, Vollständigkeit und

Gleichheit auf.155 Universalität bezieht sich auf den voraussetzungsfreien Zugang für

die gesamte Bevölkerung. Die Vollständigkeit zielt darauf ab, dass sowohl

Heilungsmaßnahmen als auch Präventivmaßnahmen wie z.B. Vorsorgeuntersuchungen,

152 The World Bank, World Development Indicators database, verfügbar: http://data.worldbank.org/data-catalog (zuletzt aufgerufen: 27.08.2010). 153 Ebd. 154 Ebd. 155 Gesetz 8.080 (1990), Kapitel II, verfügbar: http://www.planalto.gov.br/ccivil_03/Leis/L8080.htm (zuletzt aufgerufen: 16.09.2010).

45

inbegriffen sind. Zudem sind Individuen und das Kollektiv, z.B. über Impfungen,

eingeschlossen. Die Gleichheit bezieht sich auf die Nutzungsmöglichkeiten des

Systems, die für alle, unabhängig von sozialer Herkunft, dieselben sein sollen. Dazu

gehört in der Praxis beispielsweise, dass auch Bewohner der Favelas (Armenviertel)

Zugang zum System haben. Gerade in diesen Gegenden ist die Herausforderung für die

Gesundheitsversorgung besonders groß, da durch die prekären Lebensumstände in den

Favelas und teilweise Bürgerkriegsähnliches Zustände die Besuchszahl der

Krankenhäuser und Arztstationen tendenziell höher ist.

Dezentralisierung, Regionalisierung und Hierarchisierung sind die organisatorischen

Prinzipien.156 Das SUS ist föderal organisiert und wird von allen drei Ebenen, Bund,

Länder und Gemeinden, praktisch umgesetzt. Weiterhin soll über Komplexitätsebenen,

regional sowie hierarchisch, der Zugang zu weiter spezialisierten Diensten geregelt

werden, die in geringerer Menge vorhanden sind. Dazu gehören z.B.

Behandlungsmethoden für schwerere, seltener auftretende Krankheiten.

Daneben gibt es als weiteres Prinzip, die Teilhabe157,158. Dazu müssen alle vier Jahre

Gesundheitskonferenzen stattfinden, in denen sich auf allen drei Ebenen die sog.

Gesundheitsräte treffen um an der Organisation des SUS teilzuhaben. Die Räte setzen

sich dabei zur Hälfte aus Nutzern des Systems, zu einem Drittel aus Angehörigen der

Regierung und einem weiteren Drittel aus Erwerbstätigen zusammen.

3.3 Gründe für die Lücke in der Sozialversicherung 

Mit einer Abdeckung von 52,1%159 der ökonomisch aktiven Bevölkerung in Alter von

10 bis 59 Jahren durch das System der Sozialversicherung wird deutlich erkennbar, dass

große Teile der Bevölkerung völlig, oder teilweise ohne jegliche Instrumente des

Risikomanagements den Risiken des Lebens gegenüberstehen. Diese Lücke kann

verschiedene Gründe haben, die, wie auch im informellen Sektor durch Ausschluss vom

System oder der Wahl, nicht dran teilzunehmen begründet sein können. Beides trifft

jedoch vor allem auf Mikrounternehmer und Selbständige zu, da formell Erwerbstätige

156 Gesetz 8.080 (1990), Kapitel II, verfügbar: http://www.planalto.gov.br/ccivil_03/Leis/L8080.htm (zuletzt aufgerufen: 16.09.2010). 157 Eigene Übersetzung: participação. 158 Gesetz 8.080 (1990), Kapitel II, verfügbar: http://www.planalto.gov.br/ccivil_03/Leis/L8080.htm (zuletzt aufgerufen: 16.09.2010). 159 PNAD 2008, Tabelle 4.22.

46

durch die Abführungen von Beiträgen durch den Arbeitgeber automatisch am System

teilhaben.

Die folgende Grafik zeigt die Zahl der Beitragszahler, innerhalb des informellen

Sektors.

Abb. 9: Anteil Unternehmer des informellen Sektor, der Beiträge in das System

Sozialversicherung bezahlt

Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung auf Basis von Ecinf, Tabelle 53, (s. Anhang I).

Die Angaben beziehen sich auf die Referenzwoche der Befragung und sagen somit

wenig über die Regelmäßigkeit der Beitragszahlungen aus. Mehr als 76% der Befragten

geben jedoch an, keine Beiträge zur Sozialversicherung zu leisten und stehen damit

außerhalb des Systems. Die Motive derjenigen, die nicht am System teilnehmen sind

sehr verschieden. Am häufigsten werden in dieser Studie jedoch ökonomische Gründe

genannt, wie in untenstehender Grafik zu sehen ist.

47

Abb. 10: Motive für Nichtteilnahme an der Sozialversicherung von Unternehmern

im inf. Sektor

Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung auf Basis von Ecinf, Tabelle 53, (s. Anhang I).

Die Grafik zeigt, dass das System hauptsächlich als zu teuer empfunden wird. Oft

gestaltete es sich für Mikrounternehmen und Selbständige im informellen Sektor

besonders schwierig, die Versicherungsprämien aufzubringen, wie von Lampert und

Althammer160 als Voraussetzung bereits weiter oben zitiert, und die Betroffenen haben

somit keinen Zugang zum System.

Weiterhin besteht auch hier, mit einem Prozentsatz von 9%, 10% oder 11%, je nach

Einkommenshöhe, ein Anreiz, aus dem System zu flüchten, vor allem wenn die

Leistungen nicht wertgeschätzt werden.

Maria Amélia Sasaki weist in ihrer Dissertation auf einige dieser Probleme und Motive

hin, nicht am System teilzunehmen: In Interviews mit selbständig Erwerbstätigen stell

sie mehrfach fest, dass diese Schwierigkeiten haben die Funktionsweise des Systems zu

160 Vgl. Lampert, Althammer, S.238.

48

verstehen.161 Weder die Durchführung der Registrierung oder der Zahlungen von

Beiträgen, noch der Weg zum Erhalt von Leistungen sind vielen der Betroffenen

vollständig klar. Teilweise haben die Befragten so geringe Kenntnisse, dass sie die

Transaktionen nicht bewerkstelligen können. Versteht der Betroffene nicht, wie er sich

am System beteiligen kann, so bleibt er praktisch ausgeschlossen. Dieses Problem ist

vor allem in der unteren Bildungsunterschicht angesiedelt.162 Hier fehlt den

Erwerbstätigen oft der Zugang zu diesen Informationen. Der oben erwähnte

Beratungsdienst des INSS schafft hier zwar teilweise Abhilfe. Allerdings setzt dies die

Kenntnis der Existenz dieses Beratungsdienstes voraus. Diese Hürde kann bereits dazu

führen, dass die Beratung nicht zustande kommt. Weiterhin sind diese Beratungsdienste

auch oft nur mit größerem Aufwand zu erreichen, was im Falle von Kosten für den

Transport bereits ein wirkliches Hindernis darstellen kann, wenn die Kosten etwa dem

Tagesgeld für die Ernährung entsprechen. Einer kürzlich veröffentlichten Statistik

zufolge verbringen ca. 37 Millionen Brasilianer zum Teil die Nächte auf der Straße,

weil Ihr Budget nicht für den Transport nach Hause ausreicht.163

Zudem ist für selbständig Erwerbstätige der Zugang bürokratisch schwieriger gestaltet.

Ein Angestellter in einem abhängigen Arbeitsverhältnis muss nicht gezwungenermaßen

verstehen, was mit den Teilen seines Gehalts passiert, die nicht an ihn ausgezahlt

werden. Für ihn läuft die Beitragszahlung automatisch und wird vom Arbeitgeber

durchgeführt. Genauso verhält es sich hinterher auch mit dem Bezug der Leistungen.

Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall, während des Mutterschutzes usw. werden ohne

weitere bürokratische Schritte für den Erwerbstätigen automatisch ausgeführt. Die

fehlende Kenntnis des Systems gefährdet im Falle der abhängig Erwerbstätigen also

nicht die Teilnahme an der Sozialversicherung, im Gegensatz zu Selbständigen und

informell Erwerbstätigen.

Sasaki berichtet weiterhin von einem großen Misstrauen der Befragten in die

Sozialversicherung. Dabei handelt es sich um eine Unsicherheit über die

Wirtschaftlichkeit des Systems. So bemerkt ein Befragter: „ […] INSS...sagt man nicht,

161 Sasaki, Maria Amélia: Trabalho Informal: Escolha ou Escassez de Empregos? Estudo sobre o Perfil dos Trabalhadores por Conta Própria (i.f.z. Sasaki); Instituto de Psicologia, Universidade de Brasília, Brasília, 2009, S.96. 162 Ders., S.97. 163 Associação Nacional das Empresas de Transportes Urbanos, 2010.

49

das sei pleite […]164“165 Die Betroffenen haben also Bedenken, ob eventuelle Beiträge

nicht einfach verschwinden könnten, wenn das System plötzlich bankrottgeht. In diesem

Falle würde es sich aus Sicht der Beitragszahler, wie auch Mason beschreibt, um eine

reine Steuer handeln.166

Andrerseits scheint es eine große Unsicherheit darüber zu geben, ob den Beiträgen eine

entsprechende Leistung gegenübersteht und ob der Erhalt derselben tatsächlich erreicht

werden kann. Zum einen ist der Erhalt der Leistung bei den Selbständigen direkt daran

gebunden, dass diese alle bürokratischen Anforderungen erfüllen können. Die

Anforderungen könnten dabei im Einzelfall als so hoch empfunden werden, dass es

einer gewissen Nichterreichbarkeit gleichkommt und somit der Anreiz verloren geht.

Weiterhin berichtet Sasaki von einer Unsicherheit der Selbständigen die Beiträge bei

finanziellen Engpässen regelmäßig zahlen zu können und somit das Recht auf die

Leistungen vollständig zu verlieren.167 Dies kann auch gerade durch Krankheit oder

Arbeitsunfälle passieren. Die Gesundheit ist für die Selbständigen von fundamentaler

Wichtigkeit für den Erhalt der Arbeitskraft. Wird die Beitragszahlung jedoch für länger

als 12 Monate unterbrochen verliert der Erwerbstätige seine Rechte. Sasaki berichtet,

dass die Befragten die Sozialversicherung zwar als äußerst wichtig einschätzten,

allerdings an dessen Leistung und Leistungsfähigkeit zweifelten.168

Sasaki dokumentiert weiterhin die negative Wahrnehmung des öffentlichen

Gesundheitswesens, vor allem mit Beschwerden über die Langwierigkeit der Prozesse

und der unpersönlichen Abfertigung.169 Wie bereits erwähnt bietet das

Gesundheitssystem zwar universalen Zugang, reguliert aber typischerweise für solche

Systeme den Zugang über Wartezeiten oder sehr kurzer Behandlungsdauer der

Patienten.

Der Zugang zur privaten, qualitativ hochwertigeren, Gesundheitsversorgung hängt in

erster Linie von der Höhe des Einkommens, und erst in zweiter Linie von einem

164 Eigene Übersetzung: [...] INSS…não dizem que ta falido..[…]. 165 Sasaki, S.96. 166Mason, Andrew D.: Informality, Social Protection and Antipoverty Policies (i.f.z. Mason); in: Perry, Guillermo; Maloney, William F.; Arias, Omar S.; Fajnzybler, Pablo; Madson, Andrew D.; Saavedra-Chanduvi, Jaime: Informality: Exit and Exclusion; Chapter 7, The World Bank, Washington, D.C. 2007, S.194. 167 Vgl. Sasaki, S.98. 168 Ders., S.115. 169 Ders., S.99.

50

formellen Arbeitsplatz ab. Teilweise bieten abhängige Beschäftigungsverhältnisse einen

vergünstigten Zugang zu Versicherungsverträgen über günstigere Konditionen, die

durch Verträge von Unternehmen mit Versicherungsgesellschaften abgeschlossen

werden. Ausschlaggebender bleibt aber die Höhe des Einkommens und dessen

Regelmäßigkeit. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, bleibt nur das öffentliche

Gesundheitssystem.

4. Wechselwirkungen ­  Sozialversicherung und 

Informalität 

Die Analyse des informellen Sektors hat bereits einige Berührungspunkte mit der

Sozialversicherung angedeutet. Beide können sich gegenseitig negativ beeinflussen,

wenn es keine Anpassung der Sozialversicherung an die verschiedenen Bedürfnisse des

Arbeitsmarktes gibt. Im Folgenden werden zuerst sowohl Konsequenzen der

Informalität auch die Folgen der mangelnden Sozialversicherung auf die

Erwerbstätigen, Selbständigen und Unternehmen selbst sowie die Gesellschaft

analysiert. Im Anschluss daran werden Wechselwirkungen, die zwischen der

Sozialversicherung und dem informellen Arbeitsmarkt entstehen, dargestellt.

4.1 Konsequenzen der Informalität 

Die Informalität wirkt sich auf vielfältige Weise aus. Bezüglich des Staatshaushalts

bewirkt der Steuerausfall durch die informell Erwerbstätigen erhebliche Steuereinbußen

für den Staat. Der informelle Sektor führt dazu, dass in Brasilien ein beträchtlicher Teil

der Gesellschaft keine Steuern auf ihr Arbeitseinkommen bezahlt und damit nicht in

gleichem Maße zur Finanzierung des Staates beiträgt, dessen Leistungen aber in vielen

Bereichen nutzen kann. Dies betrifft z.B. öffentliche Güter wie Straßen, aber auch Teile

der Sozialversicherung, worauf später in diesem Kapitel noch eingegangen wird. Durch

die Informalität müssen dem Staatshaushalt nicht gezwungenermaßen alle Steuern und

Abgaben oder Beiträge entgehen, da z.B. eine Verbrauchssteuer von Selbständigen oder

Mikrounternehmen trotzdem bezahlt wird, wenn diese Investitionen oder

Verbrauchsausgaben tätigen. Schliesslich besteht jedoch auch die Gefahr, dass die

51

Steuerhinterziehung durch die informell Erwerbstätigen zu einer Epidemie170 wird und

dem Staat die Finanzierungbasis entziehen kann.

Die Informalität bietet außerdem nur wenige Möglichkeiten für nachhaltiges und

dauerhaftes Wachstum und ist daher keine günstige Ausgangsbasis für Entwicklung.171

Die Informalität führt auch dazu, dass Unternehmen oder Selbständige weder

Eigentumsrechte an ihrem Betrieb noch an Ideen haben. Die fehlende Rechtssicherheit

kann zu Planungsschwierigkeiten führen und vor allem zu erhöhten Kosten für die

Erarbeitung und Unterhaltung von Verträgen mit Partnern.

Ein weiteres Problem bezüglich der Entwicklungsmöglichkeiten ist vor allem auch am

fehlenden Zugang zu formellen Einrichtungen. Dazu gehört beispielsweise der

Ausschluss von öffentlichen Ausschreibungen des Staates oder anderer Institutionen,

der fehlende Zugang zu Spezialisten aus dem Ausland und damit modernem Know

How, oder auch, dass Unternehmen oder Selbständige keinen Handel mit dem Ausland

betreiben können, da ihnen die nötigen formellen Voraussetzungen für die Abwicklung

von Import- und Exportgeschäften fehlt.

Ferner haben die Erwerbstätigen eingeschränkte Partizipationsmöglichkeiten in sozialen

und politischen Organisationen, wie etwa Interessensvertretungen oder auch

Gewerkschaften. Dadurch können sie die Arbeitsrechte nicht im gleichen Maße

einfordern wie Erwerbstätige im formellen Arbeitsmarkt. Die Erwerbstätigen im

informellen Sektor sehen sich daher oft in prekären Arbeitsverhältnissen, ohne die

nötigen Instrumente, um diesem Zustand begegnen zu können.172

Durch die nicht geleisteten Steuerzahlungen der Informellen entsteht ein weiteres

Problem: Die informellen Unternehmen und Selbständigen haben durch den Wegfall

der Steuern einen Kostenvorteil und zwischen den Unternehmen entsteht unfairer

Wettbewerb.173 Dadurch können diese ihre Leistungen oder Produkte billiger auf dem

Markt anbieten und es entsteht ein Wettbewerbsvorteil. Wenn ein verhältnismäßig

170 Gërxhani, Klarita: The Informal Sector in Developed and Less Developed Countries: A Literature Survey (i.f.z. Gërxhani); Tinbergen Institute Discussion Papers 99-083/2, Tinbergen Institute, Amsterdam, 1999, S. 22. 171 Commission on Legal Empowerment of the Poor: Making the law work for everyone; vol. 2, Working Group Reports, New York 2008, S.26. 172 Vgl. Olinto, Gilda; Lopes Cavalcanti de Oliveira, Zuleica: Gênero e trabalho precário no Brasil urbano: perspectivas de mudança; XIV Encontro Nacional de Estudos Populacionais, ABEP, Minas Gerais, 2004, S.2. 173 Vgl. Tanzi, S.10f.

52

großer Teil, wie in Brasilien, in der Informalität operiert, kann dies dazu führen, dass

nicht nur das Geschäftsklima leidet, sondern infolge der Konzentration der

Steuerbelastung auf wenige Steuersubjekte die Besteuerung angehoben werden muss

und sich dadurch der Wettbewerb noch weiter verzerrt.174 Im Extremfall könnten, so

Tanzi, durch die fehlenden Steuereinnahmen sogar makroökonomische Schwierigkeiten

für den Staat entstehen und Investitionen aus dem Ausland abwandern.

Zudem könne ein großer informeller Sektor innerhalb eines Landes sogar dazu führen,

dass makroökonomische Daten und Statistiken wie das BIP, Wachstum oder die

Arbeitslosigkeit so ungenau oder falsch seien, dass daraus Politiken abgeleitet würden,

die in diesem Moment für ein Land nicht richtig seien. Neben diesen Effekten könne es

auch zu einer Beschädigung des internationalen „Status“ eines Staates kommen.175 Ein

weiterer Kostenvorteil und damit unfairer Wettbewerb entsteht den informellen

Unternehmen daraus, dass diese auch nicht auf die Einhaltung von Quoten, Tarifen oder

Standards überprüft werden.176 Eine Studie von McKinsey177 zeigt jedoch andrerseits

auf, wie die Informalität direkt den Produktionsprozess und damit die Produktivität

beeinflussen kann. Die negative Wirkung komme dabei etwa von fehlenden Standards

in der Konstruktion oder im Design, von ineffizienter Planung oder kaum vorhandenen

Skalenerträgen.

Eine Konsequenz ergibt sich weiterhin im Hinblick auf Kredite. Der Zugang zu

Krediten wird zudem durch die Informalität enorm erschwert. Mezerra178 schildert, wie

in zweierlei Hinsicht Mikrokredite bei Kleinunternehmen besonders große Wirkung

erzielen könnten. Zum einen werde das Einsatzverhältnis von Arbeit und Kapital durch

die dramatische Abwesenheit von Kapital bereits durch kleine Summen extrem

verbessert. Dadurch könnte wiederum die Produktivität des reichhaltig vorhandenen

Faktors Arbeit steigen. Weiterhin könnten kleine Investitionen in Technologie zu einem

Sprung der technologischen Ausstattung der informellen Unternehmen und damit

174 Ders., S.11f. 175 Ders., S.11. 176 ILO: Employment, incomes and equality. A strategy for increasing productive employment in Kenya; International Labour Office, Geneva, 1972, S. 504, verfügbar: http://www.ilo.org/public/libdoc/ilo/1972/72B09_608_engl.pdf (zulezt aufgerufen: 19.10.2009). 177 McKinsey&Company: Eliminando as Barreiras ao Crescimento Econômico e à Economia Formal no Brasil; São Paulo, 2004, S.10. 178 Mezzera, Jaime (Hrsg.): Credito informal. Acceso al Sistema Financiero; Organización Internacional del Trabajo, Santiago de Chile, 1993, S.2.

53

ebenfalls einem Sprung der Produktivität führen. So gibt 6,06% der Befragte des

Sektors an, in den letzten drei Monaten Kredite genutzt zu haben. 93,89% geben an

keinerlei Kredite an Anspruch genommen zu haben. 0,05% bleiben ohne Angabe.179

Abb. 11: Nutzung von Krediten innerhalb der letzten 3 Monate

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Ecinf, Tabelle 29.

Hart zitiert den Zugang zu Krediten bereits als die größte Hürde zur Entwicklung eines

Unternehmens in der Informalität.180 Dieser Barriere zum formellen Finanzsystem folgt

ein extremer Mangel an Kapital. Viele Mikrounternehmen haben Probleme damit die

erforderlichen Sicherheiten für eine Kreditwürdigkeit vorzulegen. Oft können sie ihre

Umsätze und Erträge nicht nachweisen und haben keinerlei Besitzurkunden. Als

alternative Quelle für Kredite machten Kleinunternehmer bei einer Studie folgende

Angaben:

179 Ecinf,Tabelle 29. 180 Hart, S.155.

54

Abb. 12: Quellen von Krediten des informellen Sektors

Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung auf Basis von Ecinf, Tabelle 31, (s. Anhang I).

Die Angaben zeigen, dass immerhin 58% aller Befragten Zugang zum formellen

Kreditsystem hatten. Andere Formen des Zugangs, z.B. Kredite von Zulieferen, können

auf informelle Sicherheiten, wie z.B. langjährige Geschäftsbeziehungen mit einem

Zulieferer, gebaut sein.

Im nächsten Unterkapitel werden einige Folgen der fehlenden Sozialversicherung

analysiert.

4.2  Konsequenzen der Sozialversicherungslücke 

Laut Mason ergeben sich aus dem mangelnden Zugang zur formellen

Sozialversicherung sowie den inhärenten Mängeln des Systems Probleme auf drei

verschiedenen Ebenen:181

1. Aus Perspektive des Wohlstands des Haushalts: Die Arbeiter des informellen Sektors

sind, vor allem wenn diese sich unterhalb der Armutsgrenze befinden, meist nicht in der

Lage sich allein ausreichend gegen eventuelle Risiken zu sichern und können daher

schwere Schocks durch Krankheit usw. erleiden und weiter in die Armut abrutschen.

Weiterhin stehen Personen in der Informalität außerhalb des formellen

Sicherungssystems weniger Instrumente zum Risikomanagement zur Verfügung, was

im Falle des Risikoeintritts und dessen finanziellen Folgen zu ex-post

181 Maloney, Wiliam F.; Saavedra-Chanduvi, Jaime: The Informal Sector: What is it, why do we care, and how do we measure it? (i.f.z. Maloney, Saavedra-Chanduvi); in: Perry, Guillermo; Maloney, William F.; Arias, Omar S.; Fajnzybler, Pablo; Madson, Andrew D.; Saavedra-Chanduvi, Jaime: Informality: Exit and Exclusion; Chapter 1, The World Bank, Washington, D.C. 2007, S.181, verfügbar: http://siteresources.worldbank.org/INTLAC/Resources/CH1.pdf (zuletzt aufgerufen: 12.07.2010).

55

Bewältigungsstrategien führen kann, die die Armut verewigen. Beispielsweise besteht

hier die Gefahr, dass in einer Familie eines oder mehrere der Kinder mit für den

Unterhalt der Familie sorgen müssen und so durch den fehlenden Schulbesuch keine

Chance haben sich für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren.182

2. Aus der sozialen Perspektive: Zu viele nicht abgesicherte Risiken können negative

Effekte auf die Produktivität und das Einkommen auf der mikroökonomischen Ebene,

also für Haushalte und Firmen, haben. Die nicht abgedeckten Risiken können außerdem

zu externen Kosten für die Gesellschaft als Ganzes führen. Daraus entsteht nun

wiederum ein rationaler Anreiz für einen Eingriff des Staates für die Verbesserung der

sozialen Situation zur Vermeidung der externen Kosten. 183

3. Aus Perspektive der Sozialversicherung: Es könnten sich kleine, ineffiziente

Risikopools bilden und Ersparnisse durch das Fehlen von Skaleneffekten versickern. 184

Private Versicherungen, z.B. durch Rentenversicherungen oder private

Krankenversicherungen mit oft höheren Standards als der staatlichen

Gesundheitsversorgung, bleiben zudem größtenteils den oberen Einkommensquantilen

der Gesellschaft vorbehalten. Die finanziell weniger vorteilhaft gestellten Teile greifen

im Falle von Lücken der Versorgung durch die staatliche Sozialversicherung auf andere,

teilweise auch informelle Strategien zur Sicherung, zurück. So identifiziert Mason als

typische Strategien in Lateinamerika Einkommensdiversifizierung, Anpassungen des

Arbeitsmarktangebots innerhalb eines Haushalts, Verringerung der Ersparnisse eines

Haushalts, Verkauf von Vermögen, Anpassungen der Ausgaben des Haushalts sowie

dessen Konsummuster.185 Er stellt fest, dass einige Risikomanagementstrategien der

Haushalte angemessen und rationale Reaktionen auf Risiken und Schocks sind, andere

können jedoch selbst ein Risiko bergen. So könnten etwa Einsparungen im Bereich der

Bildung oder der Ernährung dramatische Folgen vor allem in langer Frist haben.

Kosten, die durch einen Krankheitsschock entstehen, könnten Familien unterhalb der

Armutsgrenze bringen oder den Ausweg aus der Armut für bereits arme Familien

extrem erschweren. 186 Die Betroffenen sind im Fall des Risikoeintritts den Folgen

ausgeliefert und haben nur die Möglichkeit auf informelle Netzwerke zurückzugreifen. 182 Ders., S.181. 183 Ders., S.181. 184 Maloney, Saavedra-Chanduvi, S.181. 185 Mason, S.190. 186 Ders., S.191.

56

Dies kostet nicht selten die ökonomische Lebensbasis einer Familie und damit deren

Entwicklung.

Mängel in der Sozialversicherung können allerdings nicht nur einen Teil der

Bevölkerung ohne ausreichenden Schutz gegen Lebensrisiken lassen, sondern auch zu

einem Anreiz zur Informalität führen. Einige dieser Wechselwirkungen werden nun

näher erklärt.

4.3 Wechselwirkungen  

Bei der Betrachtung des informellen Arbeitsmarkts und des Systems der

Sozialversicherung in Brasilien wurde bereits deutlich, dass es innerhalb der beiden

verschiedene Wechselwirkungen gibt.

Der informelle Arbeitsmarkt hat direkte Auswirkungen auf das System der

Sozialversicherung und andersherum. Es hat sich gezeigt, dass eine Art Abwärtsspirale

aus dem informellen Arbeitsmarkt und dessen Auswirkungen auf die Finanzierung der

Sozialversicherung entsteht. Die fehlenden Steuereinnahmen führen, im

Sozialversicherungssystem zu direkten Ausfälle in der Finanzierung. Die Differenz

zwischen Einnahmen und Ausgaben hat in den letzten Jahren in Brasilien zu einem

steigenden Defizit geführt.

Abb. 13: Defizit des INSS

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von BEPS187.

187 BEPS,Juni, 2010.

57

Grundsätzlich besteht ein Problem in der Beitrags-Leistungs Lücke.188 Diese entsteht

dadurch, dass die Sozialversicherung Leistungen bereitstellt, die keine Beitragszahlung

vorrausetzen. So entsteht ein Anreiz zum Trittbrettfahrertum, also von den Leistungen

zu profitieren ohne dafür aufkommen zu wollen. Vor allem Gruppen mit niedrigem

Risiko werden aufgrund des als gering empfundenen Zusatznutzens keinen Anreiz

haben, sich am System zu beteiligen. Dabei entsteht als Nebeneffekt auch eine

ungünstige Mischung der Risiken innerhalb des Systems. Problematisch ist auch, wenn

Leistungen mit in das Leistungspaket der Sozialversicherung aufgenommen werden,

von denen Mitglieder des Systems glauben, dass sie diese nicht in Anspruch nehmen

werden. Es entstehen zusätzliche Kosten für ein Pauschalpaket ohne zusätzlichen

Nutzen für den Einzelnen, der diese Leistungen nicht in Anspruch nehmen möchte.189

Das Defizit kann nun einerseits durch einen Sonderzuschuss aus dem Staatshaushalt

finanziert werden. Teilweise tragen damit die informell Erwerbstätigen mit zur

Finanzierung bei. Andrerseits werden darüber jedoch auch die formellen Beitragszahler

doppelt belastet, die die Leistungen für die informell Erwerbstätigen mitfinanzieren.

Zudem kann das Defizit aber auch durch allgemeine Leistungskürzungen aufgefangen

werden, und führt so zu einer Erosion der Sozialversicherung. Dies gefährdet wiederum

direkt die Entwicklung der Gesellschaft durch den Abbau der

Risikomanagementinstrumente. Die Tatsache, dass die brasilianische

Sozialversicherung Leistungen bereitstellt, die unabhängig von Beitragszahlungen oder

einer Beschäftigung erlangt werden können, spricht weiterhin einerseits dafür, dass auch

Personen, die es nicht in den formellen Sektor schaffen, einen Grundschutz z.B. durch

das Gesundheitssystem haben. Dies ist insoweit förderlich für die ökonomische

Entwicklung, da die soziale Absicherung als Basis für Wachstum zuträglich ist.

Erkrankt beispielsweise ein Selbständiger, so erhält er kostenlose Behandlung, anstatt

z.B. auf die Ersparnisse der Familie oder das Kapital, auf das seine selbständige

Erwerbstätigkeit baut, zurückgreifen zu müssen. Dagegen spricht andererseits, dass

188 Vgl. Beaza, Cristian C.; Packard, Truman G.: Beyond Survival- Protecting Households from Health Shocks in Latin America (i.f.z. Beaza, Packard); World Bank, Washington D.C., 2006, S.101, verfügbar: http://www.cibera.de/fulltext/16/16438/INTLAC/Resources/Final_E-Book_Beyond_Survival_English.pdf (zuletzt aufgerufen: 17.07.2010). 189 Beaza, Packard, S.103.

58

durch die Bereitstellung der Dienste der Anreiz zur Formalisierung geschwächt wird, da

die Formalität keine Voraussetzung für den Erhalt der Leistung ist.190

nennt als eine indirekte Folge weiterhin eine Fehlverteilung von Einkommen. Durch

die zunehmende Informalität und damit sinkende Beitragszahlung, sowie die

demografische Veränderung hin zu einer alternden Bevölkerung mit Rentenansprüchen

entstehe eine Fehlverteilung zwischen den Generationen.191

Weiterhin sinkt mit einer negativen Wahrnehmung der Performance des Staates auch

die Bereitschaft zur Formalität und Teilnahme am System. Bezweifelt ein

Erwerbstätiger etwa, dass der Staat seiner Verpflichtung nachkommen kann, in einer

späteren Periode eine Rente auszuzahlen, so wird er die Beitragszahlungen als reine

Steuern empfinden.192Ein Altersrentensystem kann nach Rofman und Lucchetti

grundsätzlich über drei Faktoren beurteilt werden, um deren Performance zu beurteilen:

Abdeckung der Bevölkerung im Rentenalter, Stimmigkeit der Leistungen und der

Möglichkeit das Konsumniveau adäquat zu halten, sowie Nachhaltigkeit bezüglich der

Erhaltung des Systems durch die Bevölkerung und den Staat.193 Das Magazin OECD

Observer stellt in diesem Zusammenhang ebenfalls fest, dass Brasilien, trotz seiner

relativ jungen Bevölkerung, mit beinahe 10% des BIP über den durchschnittlichen

Ausgaben der OECD-Länder mit einem deutlich höheren Altersdurchschnitt liege.194

Das liegt auch am real steigenden Wert des Mindestlohns über die letzten Jahre und

somit steigenden Ausgaben z.B. für das Rentensystem, in dem rund 2/3 der Pensionen

dem Mindestlohn entsprechen.195 Steigt der reale Wert des Mindestlohns schneller an

als das reale Durchschnittseinkommen, so schrumpft gleichzeitig die Beitragsbasis.196

190 Vgl Mason, S.197. 191 Neri, S.12. 192 Vgl. Mason, S.194. 193 Vgl. Rofman, Rafael; Lucchetti, Leonardo: Pension Systems in Latin America: Concepts and Measurements of Coverage; Social Protection, Discussion Paper Nr. 0616, World Bank, Washington D.C., 2006, S.3, verfügbar: http://siteresources.worldbank.org/INTLACREGTOPLABSOCPRO/Resources/Pension_Coverage_in_LAC.pdf (zuletzt aufgerufen: 12.07.2010). 194 Vgl. Mello, Luis de: Brazil’s Economy - Showing strength: in: OECD Observer, No. 248, March 2005, verfügbar: http://www.oecdobserver.org/news/fullstory.php/aid/1582/Brazil_92s_Economy.html (zuletzt aufgerufen: 14.09.2010). 195 Vgl. Giambiagi, Fabio; de Mello, Luiz: Social Security Reform in Brazil: Achievments and Remaining Challenges (i.f.z. Giambiagi); OECD Economics Department Working Papers, Nr. 534, OECD Publishing, 2006, S.11. 196 Vgl. Giambiagi, S.11.

59

Ein durchaus positiver Effekt kann aus dem Rentenbezug indirekt entstehen. Camarano

weist darauf hin, dass in Haushalten, in denen Rentenempfänger zusammen mit der

dritten Generation leben, der Schulbesuch der Enkelkinder erhöht wird.197

Laut Giambiagi und Mello führen die hohen Kosten der Altersrente direkt zu hohen

Sozialversicherungsbeiträgen, diese wiederum zu hohen Lohnnebenkosten und somit zu

einem Anreiz zur Informalität auch für die Arbeitgeber.198 Nach einer Berechnung aus

dem Jahr 2004 ergäbe die Streichung der Lohnnebenkosten für alle Erwerbstätigen, die

den Mindestlohn verdienen eine Steigerung der formellen Arbeitsplätze um 0,4%.199

Diese geradezu insignifikante Wirkung wird dadurch erklärt, dass die Streichung der

Lohnnebenkosten über eine Erhöhung der Konsum- und Kapitalsteuern kompensiert

werde. Dies gleicht in der Simulation der Studie die Nachfrage nach Arbeit soweit aus,

dass der Effekt auf die Zahl formeller Arbeitsplätze beinahe verschwindet. Die Autoren

schlagen daher vor eher über eine geringere Konsumsteuer zu arbeiten, als über die

Senkung der Lohnnebenkosten.

Maloney200 sieht die Gefahr eines negativen Anreizes bezüglich der Lohnnebenkosten

auch durch die Kosten-Nutzen Rechnung der Arbeitnehmer. Wenn der Erwerbstätige

den Lohnverzicht zum Erhalt der Leistungen der Sozialversicherung geringer schätzt als

eine höhere Vergütung auf informelle Weise, so wird er die informelle Erwerbstätigkeit

vorziehen.

spricht zusammenfassend von einem Teufelskreis der Nichtbeitragszahlung201,202. Er

erklärt, dass die Informalität zu einer Schmälerung der Einnahmen des INSS durch die

fehlenden Beitragszahlungen führt. Daraus entstehe wiederum der Zwang, die

Beitragssätze anzuheben, was wiederum einen Anreiz provoziert, nicht formell am

197 Camarano, Ana Amélia, Kanso, Solange; Leitão e Mello, Juliana; Pasinato, Maria Teresa: Famílias: Espaço de Compartilhamento de Recursos e Vulnerabilidade; in: Camarano, Ana Amélia (Org.): Os novos idosos brasileiros, Muito além dos 60?; IPEA, Rio de Janeiro, 2004, S.141. 198 Vgl. Giambiagi, S.4. 199 Fernandes, Reynaldo; Gremaud, AMaury Patrick; Narita, Renata del Tedesco: Estrutura Tributária e Formalização da Economia: Simulando diferentes Alternativas para o Brasil; Governo Federal, Ministério da Fazenda, Escola da Administração Fazendária (ESAF), Texto para Discussão Nr.4, Brasília, 2004, S.17 ff., verfügbar: http://www.esaf.fazenda.gov.br/esafsite/publicacoes-esaf/textos-para-discussao/arquivos/Texto_04.pdf (zuletzt auferufen: 16.07.2010). 200 Maloney, S.7. 201 Vgl. Neri, S.14ff. 202 Eigene Übersetzung: Circulo vicioso da não-contribuição.

60

Steuereinnahmen

System teilzunehmen. So entstehe eine Spirale nach unten. Der Effekt lässt sich auch

mit der folgenden Laffer-Kurve erklären.

Abb.14: Laffer-Kurve

Quelle: Eigene Darstellung

Zuerst steigen die Steuereinnahmen mit dem steigenden Steuersatz. Ab dem

Scheitelpunkt gewinnt jedoch ein anderer Faktor Gewicht, der mit steigendem

Beitragssatz die Einnahmen sinken lässt. Dieser Faktor kann zum Beispiel die Flucht in

die Informalität sein, wodurch der formelle Output der Volkwirtschaft sinkt.

Ein weiterer negativer Anreiz entsteht durch die Garantie einer Mindestrente in Höhe

des Mindestlohns für Personen ohne Einkommen im Rentenalter. Dadurch verlieren

Erwerbstätige, die den Mindestlohn verdienen, und denselben Betrag als Leistung der

Altersrente erhalten, jeglichen Anreiz zur Formalität. Vor allem Verdiener eines

Mindestlohns im informellen Sektor, die mit 65 ein Recht auf eine Altersrente von

einem Mindestlohn haben, verlieren jeglichen Anreiz zur Formalität. So stellen

Programme, die dem Ziel der Verbesserung der sozialen Sicherheit dienen sollen,

nichtsdestotrotz eine Verminderung der Opportunitätskosten für die Informalität dar.203

Der Fonds FGTS birgt nach Giambiagi und Mello die Gefahr eines Anreizes zu

Verhandlungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zum Zwecke einer einmütigen

Übereinkunft zur offiziellen Beendigung des Arbeitsverhältnisses.204 Durch die

203 Giambiagi, S.12. 204 Ders., S.12.

Beitragssatz

61

Übereinkunft entstehe dem Arbeitnehmer ein kurzfristiger Vorteil durch die Auszahlung

angesammelter Beiträge im Fonds. Gleichzeitig könnte das Beschäftigungsverhältnis

informell weitergeführt oder später wieder hergestellt werden.

Die Arbeitslosenversicherung ist durch ihre kurzen Bezugszeiten ein Anreiz die

Übergangszeit zwischen Ende einer Erwerbstätigkeit und der nächsten möglichst gering

zu halten. Neben dem Effekt, der auf eine schnelle Wiedereingliederung in den

Arbeitsmarkt abzielt, ergibt sich durch die kurze Leistungszeit jedoch noch ein anderer.

Da nach spätestens fünf Monaten keine Leistungen mehr an den Arbeitslosen ausgezahlt

werden, hat dieser praktisch keinerlei Einkommen mehr. Die einzige Unterstützung

kann im Rahmen der Bolsa Família mit einem Höchstsatz von 68 BRL monatlich, falls

die betroffene Person keine Kinder und ein Monatseinkommen unter 70 BRL hat,

bezogen werden. Der Arbeitslose kann sich also, ohne auf z.B. familiäre Netzwerke

zurückzugreifen, nicht mehr finanzieren solange er keine neue Erwerbstätigkeit findet.

Findet er keinen formellen Arbeitsplatz hat er als Alternative die Selbständigkeit oder

eine Erwerbstätigkeit in der Informalität.

Die Bolsa Família soll nicht direkt in den Arbeitsmarkt eingreifen, sondern setzt eher

bei der der Förderung von Humankapital an. Mit der Konditionierung des Programms

auf regelmäßigen Schulbesuch der Kinder sowie deren Impfung wird vielmehr die

Folgegeneration auf den Arbeitsmarkt vorbereitet und zudem vor Risiken geschützt, die

die Entwicklung behindern, und den Verbleib in der Armut verlängern könnten. Diese

Form der Unterstützung dient, nach Alberto Carlos Almeida vom brasilianischen Think

Tank Instituto Millenium, eher der Milderung der Nöte einer Generation, die bereits

dauerhaft vom formellen Arbeitsmarkt und einer Entwicklung innerhalb der noch

bleibenden Lebenszyklen ausgeschlossen bleibt.205 Dazu gehören beispielsweise

Bewohner der ländlichen Gebiete des Nordostens, die keinerlei Grundbildung

vorweisen können und bereits in einem fortgeschrittenen Alter sind. Zudem haben Sie

keinen Zugang zum formellen Arbeitsmarkt, weil es sich oftmals um ländliche

Gegenden ohne Landwirtschaft und jegliche wirtschaftliche Struktur handelt. Trotzdem

wird die Bolsa Família oft als kontraproduktiv für den formellen Arbeitsmarkt

empfunden. Begründet wird dies damit, dass die Familien ein Einkommen erhalten,

205 Vgl. Almeida, Alberto Carlos: Por dentro do Bolsa Família; 12.12.2009, Instituto Millenium, verfügbar: http://www.imil.org.br/artigos/por-dentro-do-bolsa-familia/ (zuletzt aufgerufen: 13.09.2010).

62

welches als Vorrausetzung weder Beitragszahlungen noch Arbeitsleistungen verlangen.

Dadurch hätte z.B. ein alleinverdienendes Familienoberhaupt keinen Anreiz mehr zu

arbeiten, weil es in diesem Moment den Transfer der Bolsa Família durch das

gestiegene Familieneinkommen verlieren würde. Da der Maximalwert pro Familie

jedoch bei 200 BRL liegt, also weniger als der Hälfte des Mindestlohns entspricht,

besteht zwar weniger der Anreiz zur Arbeitslosigkeit. Der Anreiz zur Informalität bleibt

jedoch bestehen. Erlangt ein Familienmitglied einen formellen Arbeitsplatz, so steigt

das Familieneinkommen mindestens auf den Wert des Mindestlohns.

Mason bemerkt auch, dass durch die Doppelbelastung einzelner Haushalte ein Anreiz

zur Informalität entstehen kann. Er führt als Beispiel eine Familie mit zwei

Hauptverdienern an, bei der die Erwerbstätigkeit jeweils automatisch den Ehepartner

mit in die Sozialversicherung einschließt. Allerdings nur im Falle der Erwerbslosigkeit

des Ehepartners. So komme es, nach Mason, dazu, dass die Frauen sich oft dafür

entschieden, einer informellen Erwerbstätigkeit nachzugehen, um der nun als bloßen

Steuer empfundenen Beitragszahlung, dessen Leistungen sie durch die Erwerbstätigkeit

des Ehemannes ohnehin schon erhielten, zu entgehen.206

Die Wechselwirkungen zwischen Sozialversicherung und dessen Problemen sowie dem

informellen Sektor, vor allem bezüglich negativer Einflüsse auf eine nachhaltigen

Entwicklung der Erwerbstätigen, macht deutlich, dass der informelle Sektor in einen

Formalisierungsprozess gebracht werden muss. Im Folgenden werden verschiedene

Transformationsszenarien vorgestellt, um danach einige konkrete

Handlungsempfehlungen für Politiken zur Formalisierung zu geben zu können.

5. Transformationsszenarien – Wege aus der Informalität 

In den vorhergehenden Kapiteln wurden bereits einige Auslöser der Informalität

besprochen. Auch wurde darauf hingewiesen, dass sich das Panorama des Sektors

innerhalb der letzten Dekade stark verbessert hat. Seit einigen Jahren gibt es einen

deutlichen Aufwärtstrend innerhalb des informellen Sektors. Der Trend der in den 90er

Jahren des letzten Jahrhunderts hin zu mehr Informalität scheint sich umgedreht zu

haben. Die Grafik zeigt die Nettoneuschaffung207 von formellen Arbeitsplätzen.

206 Vgl. Mason, S.193 ff. 207 Kündigungen bereits eingerechnet.

63

Abb. 15: Formelle Arbeitsplätze 2002-2010

Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von IBGE/PME Mai 2010208

Für diesen Aufwärtstrend gibt es verschiedene Erklärungsansatze. Um später

Rückschlüsse auf Politiken ziehen zu können ist diese Analyse essentiell. Es werden

unterschiedliche Faktoren, die die Formalität positiv oder negativ beeinflussen können

verantwortlich gemacht. Im Nachfolgenden werden einige Faktoren und ihre Wirkung

erläutert.

5.1 Analyse der Wirkungsfaktoren 

Während der Amtszeit des ehemaligen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso von

1995 bis 2003 wurden strukturelle Reformen durchgeführt, die als Wurzel der

wirtschaftlichen Stabilität von heute gelten. Seine Nachfolger Luis Inácio Lula da Silva,

genannt Lula, hat die Wirtschaftspolitik seines Vorgängers größtenteils fortgeführt und

es konnte sich langsam Stabilität und ein dauerhaftes Wachstum, entwickeln. Dadurch

ist einerseits die Planungssicherheit gestiegen, was etwa dazu führen kann, dass

Arbeitgeber leichter Personal mit längerfristigen Arbeitsverträgen und den damit

verbundenen Kündigungsfristen einstellen können. Andererseits sind auch Kosten in

208 verfügbar: http://www.ibge.gov.br/home/estatistica/indicadores/trabalhoerendimento/pme_nova/defaulttab_hist.shtm (zuletzt aufgerufen: 30.05.2010).

64

Zusammenhang mit der Instabilität entfallen. Hierzu gehören beispielsweise Kosten, die

durch die Hyperinflation entstanden sind. Diese können nun in andere Felder, wie z.B.

das Humankapital, investiert werden. Tanzi209 führt die Deregulierungen der 1990er

Jahre infolge des Washingtoner Konsenses an. Obwohl die Steuerbelastung in Brasilien

im selben Zeitraum beträchtlich gestiegen sei, habe trotzdem der positive Effekt

überwogen und das Ergebnis sei insgesamt positiv.

Eine Studie des IPEA hebt ebenfalls hervor, dass Wirtschaftswachstum als Grundlage

nicht nur für eine Ermöglichung der Teilnahme am Arbeitsmarkt sondern auch für eine

erhöhte Abdeckung der Sozialversicherung unabdingbar bleibt.210

Die Reformpolitik übertrug sich auch auf das Segment der Mikro- und

Kleinunternehmen. Im Jahr 1996 schuf die brasilianische Regierung das sogenannte

Simples. Dabei handelt es sich um ein Programm zur Vereinfachung der Steuerzahlung.

Steuern der Kommunal-, Landes- und Bundesebene wurden zusammengeführt und

werden nun in Einem bezahlt.

Am 1. Juli 2007 folgte dann Super Simples, dessen größte Neuerung in der Aufnahme

von weiteren Sektoren der Wirtschaft v.a. aus dem Servicebereich, in das bereits

bestehende Programm simples bestand. Diese Programme gelten für alle

Mikrounternehmen und Kleinunternehmen, mit einem jährlichen Umsatz von bis zu

240.000 BRL für Mikrounternehmen und bis zu 2.400.000 BRL für

Kleinunternehmen.211 Der Übergang ist im Falle einer Veränderung flexibel geregelt.

Überschreitet ein Mikrounternehmen in einem Jahr das Limit, wird es im nächsten Jahr

automatisch als Kleinunternehmen gehandelt und umgekehrt. Die monatliche Zahlung

wird individuell für jedes Unternehmen berechnet und mit einer einzigen Zahlung

getätigt. Für den Handel liegt der Prozentsatz je nachdem, in welchem Staat Brasiliens

sich das Unternehmen befindet, bei 4,00 - 11,61%, für die Industrie bei 4,5 - 12,11%

und für Serviceanbieter bei 4,5 - 17,42%. Der Vorteil davon ist eine deutliche Senkung

von Transaktionskosten durch die Reduzierung der Zahlungsvorgänge. Da jedoch nicht

209 Vgl. Tanzi, S.12. 210 Vgl. Alves Rangel, Leonardo; Marsillac Pasinato, Maria Thereza de; Oliveira Mendonça, João Luís de: Aspectos Previdenciários da Inserção dos Jovens no Mercado de Trabalho nas ùltimas duas Décadas; in: Abrahão de Castro, Jorge; Aquino, Luseni Maria C. De; Coelho de Andrade, Carla (Org.): Juventude e Políticas Socias no Brasil; IPEA, Brasília, 2009, S.306. 211 Vgl. auch Simples und Super Simples im Gesetz Nr. 9.317 (1996), Lei Geral da Microempresa e Empresa de Pequeno Porte, verfügbar: http://www.portaltributario.com.br/legislacao/lei9317.htm (zuletzt aufgerufen: 12.09.2010).

65

alle Steuern und Abgaben enthalten sind, die die Unternehmen bezahlen müssen,

bleiben erstens die Transaktionskosten für die Zahlung der anderen Posten, sowie ein

gewisser Betrag an Informationskosten, erhalten. Der Unternehmer muss sich

informieren, welche Beträge er an welcher Stelle bezahlen muss und braucht dafür eine

gewisse Grundkenntnis des Systems. Der Informationsaufwand, ausgedrückt in Kosten,

kann für einen Mikrounternehmer jedoch, verhältnismäßig zum Umsatz so groß sein,

dass er es bevorzugen wird in der Informalität zu bleiben. Das Programm wurde bis

2003 von nur 2% der Mikrounternehmen wahrgenommen.212 Dabei waren 10% aller

Unternehmen als Mikrounternehmen gemeldet.213 Es scheint, also als ob das Programm

nicht hinreichend auf die Bedürfnisse der Mikro- und Kleinunternehmen zugeschnitten

ist.

Seit dem 1. Juli 2009 gibt es daher eine vereinfachte Form, sich als Mikrounternehmer

zu formalisieren. Der neue Mechanismus, genannt Individueller Mikrounternehmer214

(MEI), verbindet die Formalisierung direkt mit Sozialleistungen und bringt einen

verbesserten Zugang zu Krediten. Nutzen kann den Mechanismus jeder

Mikrounternehmer, der pro Jahr höchsten einen Umsatz von 36.000 BRL hat. Das

Unternehmen darf dabei nur einen zusätzlichen Angestellten haben, der mit höchstens

einem Mindestlohn, der derzeit 510 BRL 215 beträgt, pro Monat entlohnt werden darf.

Bei der Eintragung selbst entstehen keine Kosten für den Unternehmer. Danach müssen

monatlich knapp 60 BRL entrichtet werden. Der Betrag variiert leicht und schreibt für

Handel und Industrie 52,12 BRL vor, für Serviceanbieter 56,15 BRL und für

Mischformen 57,12 BRL.216 Alle weiteren Steuern wie Lohnsteuer usw. entfallen. Da es

sich um Pauschalbeträge handelt, die bereits alle Posten enthalten, trägt der

Mikrounternehmer nur einmalig die Transaktionskosten. Die Informationskosten sind

sehr gering, da das System sehr einfach gehalten ist. Der Unternehmer kann sich bei

einem vom Staat eingerichteten Büro anmelden. Dafür wird keine Kenntnis des

Steuersystems vorausgesetzt und der Betrag variiert nicht von Monat zu Monat. Bei

einem sehr geringen Bildungsniveau wäre dies bereits eine Barriere, da z.B. die

Berechnung eines Prozentsatzes für die Abführung von Steuern und Beiträgen nicht von 212 Ecinf. 213 Ebd. 214 Eigene Übersetzung: Microempreendedor Individual. 215 BEPS, Juni, 2010. 216 Enthält jeweils Steuern der Stadt/Gemeinde, des Bundeslandes sowie des Bundes.

66

jedem beherrscht wird. Auch die von größeren Unternehmen geforderte Steuererklärung

entfällt in diesem System und wird durch ein einfaches Formular, das von den

Mikrounternehmern ausgefüllt und abgegeben werden muss, ersetzt.

Der Vorteil im Gegensatz zum Simples und Super Simples beim Prozess der

Registrierung besteht in den entfallenden Kosten für die Registrierung und einem

weitaus weniger kompliziertem bürokratischen Aufwand. Alle nötigen Schritte zu

Formalisierung217, die bisher von kommunaler Ebene bis zur Ebene der Union

durchgeführt werden mussten, können nun in Einem beantragt werden. Nach der

Registrierung erhält der Unternehmer eine Registrierungsnummer im Nationalen

Verzeichnis für juristische Personen, das sog. Nationalregistrierung juristischer

Personen218 (CNPJ). Damit kann das Mikrounternehmen offizielle Rechnungen

ausstellen und somit legal Aufträge annehmen. Zudem wird der Zugang zu Krediten

erleichtert. Der Unternehmer erhält weiterhin eine Eintragung im INSS und damit ein

Recht auf die staatlichen Leistungen während des Mutterschutzes, Krankengeld,

Unfallgeld, Alters- und Behindertenrente- sowie für die Angehörigen eine Rente im

Todesfall und im Falle, dass der Mikrounternehmer in Haft kommen sollte.

Der Mechanismus deckt bisher jedoch noch nicht alle Bereiche ab und bleibt auf ca.

170 Berufsgruppen beschränkt. Ausgeschlossen bleiben unter anderem Betreiber von

Transportunternehmen, die zwischen mehreren Gemeinden operieren, im Gegensatz zu

solchen innerhalb nur einer Gemeinde, Unternehmen aus dem Bereich der

Elektroenergie oder auch Importeure von Fahrzeugen. Weiterhin dürfen die

Mikrounternehmer keine dauerhaften Aufträge annehmen, also z.B.

Restaurationsarbeiten aber keine Teilhabe an Produktionsprozessen, Partyservice aber

keine Kantinenbelieferung. Damit soll verhindert werden, dass größere, bereits

entwickeltere Unternehmen durch eine Auslagerung von Teilbereichen ihrer Leistungen

diese Rechtsform für die Reduzierung von Steuern missbrauchen.

Eine weitere These für die steigende Anzahl an formellen Arbeitsplätzen ist die

verbesserte Bildung und damit Qualifizierung des Erwerbspersonenpotentials219. Die

217 Eintrag im Handelsregister, Funktionserlaubnis. 218 Eigene Übersetzung: Nationalregistrierung juristischer Personen. 219 Bestehend aus Erwerbstätigen, Arbeitslosen sowie stiller Reserve.

67

Bildung ist einer der ausschlaggebendsten Faktoren für den Rückgang der

Informalität.220

Durch die Veränderung der Zusammensetzung des Erwerbspersonenpotentials, und

damit der Qualität auf der Seite des Arbeitsangebots, hin zu einer höheren Bildung kann

eine erhöhte Formalisierung ausgelöst werden. Dieses Argument wird von Rafael F.

Mello und Daniel D. Santos vertreten.221 Voraussetzung dafür sei jedoch, dass das

Niveau der Bildung auf dem Arbeitsmarkt auf einer Stufe sei, die die weitere Aufnahme

von Erwerbstätigen zulasse. So könne beispielsweise keine Veränderung stattfinden,

wenn sich die Qualität des niedrigsten Schulabschlusses verbessert, der Arbeitsmarkt

aber erst ab einem mittleren Schulabschluss neue Erwerbstätige aufnehmen kann. Dies

kann etwa daran liegen, dass das Bildungsniveau generell schon hoch ist. Da das in

Brasilien nicht der Fall ist222, könnte man dies eher auf andere makroökonomische

Faktoren, wie z.B. eine sehr schlechte Lage am Arbeitsmarkt, die nur wenige formelle

Arbeitsplätze zulässt und somit zuerst den Teil des Erwerbstätigenpotentials absorbiert,

der eine höheren Grad an Bildung aufweist, zurückführen. Die untenstehende Grafik

zeigt, wie bei einem nur leichten Anstieg der Arbeitslosigkeit die Informalität stark ab

dem Jahr 2002 zu sinken beginnt, während die Qualifizierung der Erwerbstätigen steigt.

220 Mello, Rafael F.; Santos, Daniel D.: Aceleração Educacional e a Queda Recente da Informalidade (i.f.z. Mello, Santos); (Technische Anmerkungen) in: Boletim Mercado de Trabalho - Conjuntura e Análise, Nr.39, IPEA, Rio de Janeiro, Mai 2009, S. 31, verfügbar: http://www.ipea.gov.br/sites/000/2/boletim_mercado_de_trabalho/mt39/04_NT3Rafael_Daniel.pdf (zuletzt aufgerufen: 23. Mai 2010) 221 Ders., S. 27 222 Im Jahr 2008 gab es noch 14,2 Millionen Analphabeten bei Personen ab dem 15. Lebensjahr (PNAD 2008).

68

Abb. 16: Entwicklung der Informalität, Arbeitslosenrate und Qualifizierung der

Erwerbstätigen

Quelle: Mello, Rafael F.; Santos, Daniel D.: Aceleração Educacional e a Queda Recente da

Informalidade; (Technische Anmerkungen) in: Boletim Mercado de Trabalho - Conjuntura e Análise,

Nr.39, IPEA, Rio de Janeiro, Mai 2009, S. 28.223

Die Grafik weist auf einen eine positive Korrelation der beiden Faktoren hin. Es scheint

als ob durch steigende Bildung die Formalität ebenfalls wächst. Kritisch ist hier jedoch

anzumerken die Verbesserung der Bildungssituation in Brasilien nicht einwandfrei

nachgewiesen ist und im Gegenteil einige Indikatoren eher für eine Verschlechterung

sprechen.

Effizienzsteigerungen bei der Fiskalisierung des Arbeitsministeriums können als

weiterer Faktor herangezogen werden, der zu einer erhöhten Formalisierung geführt

haben könnte. Simão führt in seiner Dissertation224 an, dass innerhalb der Jahre 1999 bis

2007 die Inspektionen des MTE für einen Anstieg um 5%-6% der formellen

Arbeitsplätze verantwortlich gewesen seien. Der Effekt sei dabei in den Regionen und

223 Eigene Übersetzung. 224 Vgl. Simão, A. Fiscalização do Trabalho e Simplificação Tributária no Brasil: Análise de seus Efeitos sobre o Emprego Formal no Período 1999/2007 (i.f.z. Simão); Dissertation des Mestrado, Universidade Federal do Rio de Janeiro (UFRJ), Rio de Janeiro, 2009, S.4.

Legende192 Qualifizierte Informalität Arbeitslose

69

Sektoren besonders hoch gewesen, wo die Erwerbstätigkeit mit einer CTPS traditionell

sehr gering ist.225

Ein Beispiel für die erhöhten Fiskalisierungsanstrengungen ist eine neue Politik in Rio

de Janeiro/Stadt. Seit dem 5. Januar 2009 gibt es ein neues Programm, genannt

Ordnungsschock226. Das Hauptziel des Programms ist die Fiskalisierung von

informellen Straßenverkäufern und anderen Irregularitäten im Stadtbild. Bisher gibt es

noch keine veröffentlichten Zahlen, da das Programm sehr neu ist. Allerdings ist

anzunehmen, dass durch die große Zahl an Fiskalisierungseinheiten im Einsatz und

damit einer realen Gefahr für die informell Erwerbstätigen, aufgegriffen zu werden, eine

erhöhte Tendenz zur Formalisierung entstanden ist. Die Mitarbeiter des eigens

geschaffenen Unterorgans der Stadtverwaltung, dem Sekretariat für öffentliche

Ordnung227, beschlagnahmen, neben der Ausstellung von Strafen, auch alle Güter, die

z.B. ein Straßenverkäufer bei sich hat. Da es sich dabei nicht selten um die

ökonomische Existenz der betroffenen handelt, ist die Strafe sehr hoch und dürfte daher

einen sehr großen Anreiz darstellen, seine Erwerbstätigkeit z.B. über das Programm

MEI zu formalisieren.

Ein weiteres Beispiel für Verbesserungen innerhalb der bürokratischen Prozesse ist

die elektronische Quittung. Diese wird auch für Dienstleistungen verwendet und kann

im Internet ausgefüllt und per email versandt werden. So entsteht eine

Vereinheitlichung des Formulars und Portokosten entfallen.

Weiterhin wird als Erklärungsansatz auch die Arbeitsgesetzgebung Consolidação das

Leis do Trabalho (CLT) herangezogen. Diese geht noch auf die Regierung des

Präsidenten Getúlio Vargas von 1943 zurück. Es handelt sich dabei um ein Gesetzbuch,

das bis 1943 lose Gesetze zu einem einzigen Arbeitsrecht zusammenfasst. Während der

Regierungszeit Vargas´ wurden eine Vielzahl von Arbeitsrechten, die größtenteils bis

heute gelten und den brasilianischen Arbeitsmarkt zu einem der protektionistischsten

der Welt machen, eingeführt. Darunter fällt beispielsweise das 13. Gehalt, bezahlter

Urlaub, Mindestlohn, Begrenzung der Arbeitszeit etc., welche alle bis heute gelten.

Dadurch entstanden relativ hohe Lohnnebenkosten, die den Anreiz zur Formalisierung

deutlich mindern können. Bis 1995 hat sich an der Protektion des Arbeitnehmers kaum 225 Ders., 8. 226 Eigene Übersetzung: Choque de Ordem. 227 Eigene Übersetzung: Secretaría de Ordem Urbana.

70

etwas geändert. Während der Amtszeit des Präsidenten Fernando Henrique Cardosos

von 1995 bis 2003 wurden an der CLT dann Änderungen durchgeführt, die zu Senkung

der Lohnnebenkosten führten. Dazu zählen v.a. folgende: (i) Möglichkeit für Arbeiter

Kooperativen zu bilden (1994), (ii) Aufkündigung der Konvention der ILO gegen

Kündigungen ohne Angabe von Gründen (1996), (iii) die Einführung von zeitlich

begrenzten Arbeitsverträgen (1998), (iv) Arbeit in Teilzeit (1998), (v) befristete

Aussetzung von Arbeitsverträgen (1998), (vi) Kündbarkeit von Beamten (1999).

Abb. 18: Variation des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr

Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von IBGE228

Wie Die Grafik zeigt entwickelte sich das Wachstum direkt nach den Änderungen

während der Präsidentschaft Fernando Henrique Cardosos eher ungünstig. José Dari

Krein argumentiert daher, dass die Neuerungen und Flexibilisierungen sich nicht

wirklich auf den Arbeitsmarkt auswirken konnten, da in jedem Fall eine entsprechende

Nachfrage vorhanden sein muss.229 Dies sei jedoch mit einem geringen Wachstum nicht

möglich gewesen. Zudem gab es zu der Zeit weitere makroökonomische Schocks wie

die Krise 2001. Erst danach stellt sich, mit Unterbrechung durch die letzte

228 IBGE, Séries Estatísticas e Séries Históricas, Produto Interno Bruto (PIB) - variação em volume (%),verfügbar: http://www.ibge.gov.br/series_estatisticas/exibedados.php?idnivel=BR&idserie=SCN02 (zuletzt aufgerufen: 30.05.2010). 229 Krein, José Dari: A Reforma Trabalhista de FHC: Análise de sua Efetividade; Revista do Tribunal Regional de Trabalho da 15ª Região, Nr.15, Revista dos Tribunais (Hrsg.), Campinas, 2004, S.10, verfügbar: http://bdjur.stj.gov.br/xmlui/bitstream/handle/2011/18663/A_Reforma_Trabalhista_de_FHC.pdf?sequence=4 (zuletzt aufgerufen: 24. Mai 2010).

71

Weltwirtschaftskrise 2009, ein stabileres Wachstum ein, das die nötigen

makroökonomischen Rahmenbedingungen für eine steigende Formalisierung des

Arbeitsmarkts mit sich bringt.

Während der Regierung Lulas ab 2003 gab es keine Änderungen der CLT, die

Auswirkungen in ähnlichem Maße gehabt hätten wie die Reformen unter Fernando

Henrique Cardoso. Kleinere Änderungen wurden durchgeführt, z.B. eine Verlängerung

des Mutterschutzes, aber der Rahmen, von Fernando Henrique vorgegeben, wurde

weitestgehend beibehalten.

Mit der praktischen Einführung der Arbeitslosenversicherung 1986 durch die Schaffung

des Fonds FAT zu deren Finanzierung, wurde, nach einer Studie der Weltbank230 ein

wichtiger Schritt im Entwicklungsprozess getan. Wie bereits weiter oben zitiert sollten

sich hiernach Länder in ihrer Entwicklung zu mehr Wohlstand hin von der hohen

Regulierung des Arbeitsmarktes weg und hin zu einer besseren Sozialversicherung

bewegen. Durch die Arbeitslosenversicherung wurde das soziale Netz gestärkt. Hohe

Entschädigungssummen im Kündigungsfall oder rigide Fristen im Kündigungsschutz

sollten dadurch reduziert werden. Die Kosten einer Kündigung liegen, gemessen in

Wochenlöhnen, mit 46 Wochen Lohn jedoch auch aktuell noch weit über dem OECD-

Durchschnitt von 26,6. 231 Im Vergleich mit der Region Lateinamerika und der Karibik

fällt der Vergleich mit 53 Wochenlöhnen aber noch etwas günstiger aus.232 Trotzdem

wird mit der Schaffung der Arbeitslosenversicherung der Anreiz zur Formalität gestärkt,

denn die Begünstigung kann nur in Verbindung mit einer formellen Erwerbstätigkeit

erlangt werden. Indirekt wird zudem, über ein Zeitfenster in dem kurzzeitig Erwerbslose

die Möglichkeit haben sich neu zu orientieren, die Anpassungsfähigkeit des

Arbeitsmarktes gestärkt und Strukturwandel ermöglicht. Während ein Teil des

Einkommens zeitlich befristet gesichert ist, hat der Erwerbslose die Möglichkeit eine

neue Tätigkeit zu finden, in der seine Berufsbildung am besten zum Einsatz kommt.

Großzügige Leistungen für Arbeitslose fördern die Reallokation und führen daher zu

einer verbesserten Effizienz auf dem Arbeitsmarkt.233

230 The World Bank, Creating Jobs, S. 24. 231 The World Bank, International Finance Corporation: Doing Business, Historical Data. 232 Ebd. 233 Vgl. OECD Employment Outlook 2010 - Moving beyond the Job Crises, S.199.

72

Während der Weltwirtschaftskrise wurde auch die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes

verlängert. Da die Höchstbezugsdauer bei fünf Monaten liegt ist eine Verlängerung um

zwei Monate beträchtlich und entspricht in diesem Falle 40%. Dabei handelte es sich

jedoch um eine temporäre Maßnahme. Nach einer Angabe der OECD bekamen im Jahr

2007-2008 nur 8% aller Arbeitslosen Brasiliens Leistungen ausbezahlt.234 Der

Mamutanteil war also auf sich selbst, ohne fianzielle Hilfe vom Staat, gestellt.

Eine weitere Verbesserung innerhalb der Sozialversicherung ist die Einführung des

Vereinfachten Plans zur Sozialvorsorge235 (PSPS). Die Unregelmäßigkeit der

Einkommen hatte, wie oben erwähnt, vielfach dazu geführt, dass selbständig

Erwerbstätige nicht am System der Sozialversicherung teilnehmen konnten. Diese

Maßnahme soll den Verbleib in der Sozialversicherung ermöglichen. Das PSPS

reduziert den Beitragssatz für diese Gruppe und soll so die Einkommensschwankungen

glätten. Damit können die Betroffenen eher am System teilnehmen und erhalten so

einen Anreiz zur Formalisierung.

Brasilien steht mit einem Leitzins von 10,75%236 weltweit noch immer an der Spitze.

Kredite sind damit ein teures Gut. Im informellen Sektor, wo durch die oft nicht

vorhandenen Sicherheiten der Unternehmer noch eine Art Risikoprämie hinzukommt,

werden Kredite noch teurer. Die Formalisierung und damit der verbesserte Zugang zum

formellen Kreditsystem kann daher ein enormer Anreiz sein.

Die brasilianische Bank Banco do Brasil stellt in Verbindung mit dem Programm MEI

einen erleichterten Zugang zu Girokonten zur Verfügung. Mit der Kreditkarte, die der

Erwerbstätige für das Konto erhält, kann er zu niedrigen Zinsen Investitionen für sein

Unternehmen tätigen und diese in Raten zu niedrigen Zinsen bezahlen. So erlangt der

Unternehmer mehr Flexibilität und die Möglichkeit sein Unternehmen auszubauen oder

auch Krisenzeiten zu überbrücken.

und Fontes 237 sprechen bezüglich der Mikrokredite von einer Demokratisierung

innerhalb der letzten Dekade. Allerdings sei diese mehr auf konsumorientierte Kredite

statt auf produktiv orientiere Kredite ausgerichtet gewesen. Im Hinblick auf Programme

zur Vergabe von Mikrokrediten beklagt sie eine andauernde regionale Beschränkung

234 Ebd., S.137. 235 Eigene Übersetzung: Plano Simplificado de Previdência Social. 236 Angabe vom 13.09.2010. 237 Fontes, S.87.

73

des Zugangs mit einem einzigen Programm im Nordosten, genannt CrediAmigo der

Banco do Nordeste ( 2008). Zudem sei das Programm auf bereits bestehende

Mikrounternehmen ausgerichtet und es fehle noch immer an Mikrokrediten zur

Gründung von neuen Unternehmen.

Dies waren einige der wichtigsten Faktoren, die allgemein für die erhöhte Formalität

verantwortlich gemacht werden. Im Folgenden sollen nun einige Schlussfolgerungen

aus diesen Faktoren gezogen und Handlungsempfehlungen gegeben werden.

5.2 Handlungspolitische Empfehlungen 

Zusammenfassend sollten Politiken zur Verminderung der Informalität sich daran

orientieren, welche Ursache vorliegt und welche Bedürfnisse daraus entstehen. Je

nachdem, ob es sich um Escape oder Exclusion handelt, müssen verschiedene

Maßnahmen ergriffen werden. Handelt sich um eine freiwillige Entscheidung zugunsten

der Informalität, also Escape, muss mit Anreizen, veränderter Legislative oder etwa

vermehrten Kontrollen gearbeitet werden. Für diejenigen, die vom Effekt Exclusion

betroffen sind, müssen anderen Maßnahmen ergriffen werden um den Zugang zu

ermöglichen.

238 unterstreicht die Wichtigkeit von einigen Änderungen, die zur Senkung der

Informalität beitragen sollten. Erstens müssten die Unsicherheiten der Arbeitgeber

bezüglich der Arbeitsgesetzgebung beseitigt werden. Zudem sollten Konditionen

geschaffen werden, die Arbeitnehmer und Arbeitgeber in einem flexibleren Verhältnis

beließen und so auf freiwilliger Basis die Verbindung der beiden verlängert werden

könnte. Auch bessere Voraussetzungen für allgemeingültige Verhandlungen zwischen

den Sozialpartnern sollten geschaffen werden.

Die Programme Simples, Super Simples und MEI sind Programme, die bereits einige

Erfolge vorweisen können. Vor allem das Programm MEI, mit Verbindung zur

Sozialversicherung und einem verbesserten Zugang zu Krediten, weist in Richtung einer

nachhaltigen Entwicklung. Als eines der dringlichsten Probleme für Selbständige und

Unternehmen in der Informalität zeigte sich aber noch immer der Zugang zu Krediten.

Neben des von Fontes genannten Programms für Mikrokredite CrediAmigo gibt es

inzwischen bereits weitere von einigen Regionalbanken, allerdinge weiterhin

238 Vgl. Neri, S.52.

74

beschränkt. Ronicley Teurry Stoef empfiehlt daher die Ausweitung von Mikrokrediten

um die Formalität und die soziale Inklusion zu erhöhen.239

Hart240 erwähnt bereits 1973, dass der informelle Sektor eine Art Eingangstür in den

Arbeitsmarkt sein kann. In diese Kategorie gehört auch das Segment der Jobeinsteiger.

Im Regelfall ist wenig bis keine Erfahrung auf dem Arbeitsmarkt vorhanden, daher

haben Einsteiger eine niedrigere Produktivität. Dies trifft auch teilweise auf

Absolventen von höheren Bildungsinstitutionen zu. Falls es sich um Einsteiger mit

geringer Schulbildung handelt verschlechtert sich deren Lage abermals. Die

Produktivität einfacher Berufe mir weniger großen Bildungsanforderungen, wie etwa

dem einfachen Handwerk, ist generell niedrig. Bei einem Einsteiger dieses Segments

ohne eine entsprechende Berufsausbildung ist die Produktivität entsprechend niedriger

und damit auch die Chancen auf eine Anstellung innerhalb des formellen

Arbeitsmarktes. Die einzige Chance besteht also oft darin, ein sehr geringes Gehalt

hinzunehmen und dies als Eingangstür zu nutzen. Die Politik könnte in diesem Feld

Möglichkeiten für Erwerbstätige mit niedrigerer Produktivität schaffen in den formellen

Arbeitsmarkt einzutreten. Dazu könnte beispielsweise der Mindestlohn für Jobeinsteiger

gesenkt werden, oder Anreize zur Einstellung von Jobeinsteigern auf Seiten der

Unternehmen, etwa durch Subventionen, geschaffen werden. Die Bildung hat sehr

positive Wirkungen auf die Formalität gezeigt. Neben der Grundbildung sollte zudem

auch die Berufsausbildung ausgeweitet werden.

Die Politik zur Formalisierung der Erwerbstätigen sollte parallel von einer Politik zur

Eingliederung in die Sozialversicherung begleitet werden. Wie im Laufe der Arbeit

gezeigt wurde bestehen hier Wechselwirkungen. Ein formalisierter Arbeitsmarkt und

die Sozialversicherung können sich gegenseitig stärken, wenn eines positive Anreize

auf das andere aussendet und so die Entwicklung potenziert.

239 Vgl. Stoef, Roncley Teurry: Microcrédito no Brasil – O trabalho informal na era dos serviços; UNIOESTE, Cascavel, (o.J.), S.4. 240 Vgl. Hart, S. 156.

75

Steuereinnahmen

Beitragssatz

B`

K`

Abb. 19: Veränderte Laffer-Kurve

Quelle: Eigene Darstellung

241 stellt, wie oben erwähnt, fest, dass sich Brasilien bezüglich der Steuerlast auf dem

fallenden Teil der Laffer-Kurve befindet. Hier ergeben sich folgende

Handlungsmöglichkeiten: Einerseits könne in diesem Fall der Beitragssatz gesenkt

werden, und die Einnahmen würden automatisch steigen. Andrerseits könnten auch

neue Politiken herangezogen werden, um auf der Kurve K` zu landen. Auf dieser Kurve

solle durch niedrigere Beiträge ein höherer Scheitelpunkt und damit höhere

Steuereinnahmen erreicht werden. Die Erhöhung des Rentenalters ist ein Beispiel, die

zur Veränderung der Kurve führen könnten.

Allgemein muss die Beitrags-Leistungs-Lücke verkleinert werden, um den Anreiz am

formellen System teilzuhaben nicht zu verlieren. Die Effektivität und Effizienz des

Systems muss hierfür verbessert werden. Leistungen, v.a. des Gesundheitssystems,

müssen sich verbessern und Kosten, die den Erwerbstätigen durch die

Sozialversicherung entstehen müssen den Leistungen entsprechen um keinen Anreiz für

die Informalität zu schaffen.

Größere Flexibilität innerhalb der Systeme wäre vor allem für Mikrounternehmen und

Selbständige mit stark schwankendem Einkommen über verschiedene Lebens- und

Wirtschaftszyklen hinweg ein Vorteil. Beispielsweise sollten einbezahlte Beiträge zum

INSS nicht verfallen, wenn eine bestimmte Zeit nicht eingezahlt wird. Die Systeme

sollten nicht darauf ausgelegt sein, dass sich ein Erwerbstätiger sein ganzes Leben lang

241 Vgl. Neri, S.41 ff.

B

K

76

ohne Unterbrechung in der Formalität befindet. Dafür könnte beispielsweise auf

graduelle Regelungen zurückgegriffen werden, die eine Nachzahlung ermöglichen oder

eine temporäre Subventionierung des Ausfalls, z.B. bei Arbeitslosigkeit, durch den

Staat in Betracht ziehen. Da so ein Anreiz entsteht nach einer Unterbrechung wieder ins

System einzuzahlen, könnten damit auch langfristig die Einnahmen erhöht werden.

Baeza und Packard242 bestätigen die Steuerfinanzierung anstatt der Finanzierung über

Beiträge der Erwerbstätigen im Falle des Gesundheitssystems. Einerseits werde dadurch

die Mischung der Risiken vorteilhafter als in kleinen informellen oder sogar formellen

Risikopools. Packard fügt hinzu, dass die Finanzierung durch die gesamte Gesellschaft,

etwa über eine Konsumsteuer, daher gerechtfertigt ist, da durch die unabgesicherten

Risiken Externalitäten und soziale Kosten in enormer Höhe entstehen. Gleiches gelte

nach Baeza und Packard auch für das Rentensystem, da es sich um Armutsprävention

handele und so die sozialen externen Kosten von Altersarmut vermieden werden

könnten.243

Freiwilliges Sparen sollte zudem als weiteres Standbein der Sozialversicherung gestärkt

werden.244 Dies könnte beispielsweise über Subventionen durch den Staat gefördert

werden. Dabei würde etwa eine Steuerbefreiung für Sparkapital als Anreiz dienen.

Heute gibt es mit dem FGTS bereits eine Art Zwangssparen. Dies schließt aber nur

formell Erwerbstätige ein. So könnte über freiwillige Sparanreize auch Menschen

außerhalb des formellen Arbeitsmarktes erreicht werden. Eventuell könnte das

angesparte Kapital ebenfalls an ein Mindestalter, z.B. das offizielle Rentenalter, zur

Auflösung des Sparvertrags gebunden werden, um den Anreiz nicht fehlzuleiten.

Neri argumentiert mit der Notwendigkeit, den oben genannten Teufelskreis der

Nichtbeitragszahlung245 zu durchbrechen. Dadurch könnten die Beitragssätze gesenkt

und damit der Anreiz zur Beitragszahlung gestärkt werden, ohne die Finanzierung des

Systems zu gefährden.

Weiterhin argumentiert Tokman246, dass Formalisierungsbemühungen eher auf

Wachstumssegmente der Wirtschaft ausgerichtet werden sollten. In den Segmenten mit

sehr niedriger Produktivität, z.B. MKUs mit familiären Strukturen, sieht er eher 242 Vgl. Beaza, Packard, S.62f. 243 Mason, S.200. 244 Ders., S.202. 245 Vgl. Neri, S.14ff. 246 Vgl. Tokman, 2001, S.53.

77

Überlebensstrategien, die mit Armutsbekämpfungsinstrumenten angegangen werden

sollten.

Ein weiterer Anreiz zur Informalität ist das oben zitierte BPC. Da Menschen mit

Behinderung tendenziell ein niedrigeres Einkommen aus Arbeit haben,247 kann der

negative Anreiz damit bereits bei einer geringen finanziellen Sozialhilfezahlung sehr

hoch sein. Eine Möglichkeit für Behinderte, die die Möglichkeit haben erwerbstätig zu

sein, wäre damit z.B. einen gewissen Hinzuverdienst zum BPC zu erlauben. So würde

sich nicht nur die finanzielle Situation der Betroffenen verbessern, sonder auch der

Anreiz zur Formalität. Daraus entstünden dem Staat zudem Steuereinnahmen, die für

die Finanzierung des BPC genutzt werden könnten.

5.3 Ein Alternatives Modell – Ökonomische Staatsbürgerschaft 

Victor Tokman stellt ein alternatives Konzept vor. Die ökonomischen

Staatsbürgerschaft248 sieht die Formalität als eine Art Staatsbürgerschaft im

wirtschaftlichen Sinne, welche Pflichte und Rechte mit sich bringt. Der Fokus der

Formalisierung liege hier nach Tokman ausdrücklich nicht auf der Verbreiterung der

Steuerbasis, der Unterdrückung der Steuerflucht oder der Bestrafung der Informalität.

Ohne dieser Argumentation ihre Wichtigkeit abzusprechen erklärt Tokman, dass solche

Kampagnen oft ohne reale Auswirkungen bleiben. Formalisierung wird hier damit

begründet, dass ökonomische Aktivitäten erst in der Formalität Zugang zum

Modernisierungsprozess bekommen. Schafft ein Unternehmen als steuerzahlende

Entität es nicht grundlegende Geschäftsanforderungen, wie etwa die Erstellung einer

Buchführung, zu erfüllen, so verfehlt es eine Schlüsselanforderung und seine Pflichten

des modernen Managements, einer Voraussetzung für ökonomische Staatsbürgerschaft.

Gleiches trifft auch auf Arbeitsverträge zu. Mikrounternehmer sollten in der Lage sein

Arbeitsverträge zu unterhalten und den Erwerbstätigen damit Zugang zum System der

247 Vgl. dazu Pfaff, Heiko (et al.): Behinderung und Einkommen - Ergebnis des Mikrozensus 2003; Statistisches Bundesamt; Auszug aus Wirtschaft und Statistik, Wiesbaden, 2005, S.130 ff., verfügbar: http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Publikationen/Querschnittsveroeffentlichungen/WirtschaftStatistik/Sozialleistungen/Behinderungeinkommen,property=file.pdf (zuletzt aufgerufen: 14.09.2010). 248Vgl. Tokman, Viktor: Informality in Latin America: Interpretations, Facts and Opportunities; Trade & Industrial Policy Strategies (TIPS), Working Paper Series Nr.1, Hatfield, 2009, S.21 ff., verfügbar: http://www.tips.org.za/files/Informality_in_Latin_America.pdf (zuletzt aufgerufen: 13.07.2010).

78

Sozialversicherung zu bieten. Dies gehöre zur Erfüllung einer allgemeinen

Geschäftslogik. So erklärt Tokman hier, dass die Pflicht, bestimmte Regeln beachten zu

müssen, letztlich zu moderneren Managementstandards führt. Eben diese fehlten laut

Tokman dem informellen Sektor, was letztlich dazu führt, dass dieser der modernen

Nachfrage nicht nachkommen kann. Zwar habe der informelle Sektor oft eine größere

Flexibilität, jedoch mangele es oft an Qualität, Pünktlichkeit und Professionalität. Die

Formalität könne daher über neue Möglichkeiten für Kredite, Bildungsprogramme usw.

einen Anreiz bieten, auf dem Markt konkurrenzfähiger zu werden. Gerade auch die

Anforderungen, die etwa an ein Mikrounternehmen zur Zulassung eines Kredits gestellt

werden, können der Entwicklung des Unternehms zuträglich sein.

Auch sieht aus der Bürgerschaft Rechte entstehen. Er bezieht sich auf einen Ansatz des

Universalzugangs in der Gesundheitsversorgung, die in Brasilien seit 1988 unabhängig

von Beitragszahlungen ist. Dies schwäche zwar den Anreiz zur Formalisierung, sei aber

nur ein Kollateraleffekt einer sozialen Eroberung, die den negativen Effekt auf die

Beitragszahlung überwiege.249

6. Schlussfolgerung 

Zu Beginn der Arbeit konnten einige der Ursachen der Informalität identifiziert werden.

Wie im Verlauf klar gezeigt wurde, ist der informelle Sektor hochgradig heterogen. Die

Ursachen müssen zu deren Bekämpfung genau differenziert und zwischen Escape und

Exclusion unterschieden werden. Je nachdem sollten Transformationsszenarien im Fall

von Exclusion Anreize und vereinfachte Möglichkeiten zur Formalisierung schaffen

oder im Falle der von Escape Mittel zu einer verbesserten Kontrolle etc. bereitstellen.

Nach der Vorstellung des Sozialsystems und dessen Zusammenhängen mit dem

Arbeitsmarkt wurden zahlreiche Effekte sichtbar, die im Zusammenspiel zu negativen

Auswirkungen führen können. Es sollte deutlich geworden sein, dass ein nachhaltiger

Formalisierungsprozess durch die Anwesenheit eines effektiven und effizienten

Sozialsystems, das weite Teile der Bevölkerung abdeckt, unterstützt wird. Im gleichen

Maße, wie sich negative Wechselwirkungen ergeben, können diese mit einer

angemessenen Politik auch produktiv sein und zur Potentialisierung der Entwicklung

beitragen. Formalisierung und Anschluss an die Sozialversicherung, als Auffangnetz im 249 Vgl. Neri, S.53.

79

Fall eines Risikoeintritts, müssen Hand in Hand verlaufen, um eine langfristige und

nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen.

In Brasilien wurde dies mit dem Programm MEI bereits für einen Teil der informell

Erwerbstätigen ermöglicht. Auch einige Eintrittsmöglichkeiten innerhalb der

Sozialversicherung folgen diesem Konzept. Nicht nur der Universalzugang zum

öffentlichen Gesundheitssystem, sondern auch Sonderregelungen wie das PSPS erhöhen

die Partizipationsmöglichkeiten am System und verhelfen so zu einer Basis zur

Entwicklung. Weiterhin durchbricht das MEI die Abwärtsspirale von sinkenden

Einnahmen des Staates durch die Informalität, steigenden Kosten und dadurch

entstehenden Anreizen zur Informalität. Zwar ist Höhe der Steuereinnahmen durch den

einzelnen Teilnehmer des MEI begrenzt, aber dennoch entsteht ein gewisses

Steueraufkommen, dass im Falle der Informalität gleich null gewesen wäre. Weiterhin

werden die Teilnehmer sichtbar und in offizielle Statistiken aufgenommen. So kann

auch die Wirtschafts- und Sozialpolitik bessere auf deren Bedürfnisse reagieren. Auch

die Anforderungen, die in überschaubarem Maße durch das MEI an die Erwerbstätigen

entstehen, stiften, wie Tokman mit der ökonomischen Staatsbürgerschaft darlegt, einen

Nutzen für deren Entwicklung. Die Kopplung des Programms an die Sozialversicherung

stellt letztlich alles auf eine nachhaltige Basis, indem sie den Erwerbstätigen ein

Instrument zur Verfügung stellt, um im Falle eines Risikos so reagieren zu können, dass

diese nicht ihre Entwicklung einbüssen müssen. So schafft das Programm eine

Gestaltungsmöglichkeit für Transformationsszenarien urbaner Informalität. Abzuwarten

bleiben Auswertungen des noch sehr jungen Programms und Informationen über dessen

tatsächliche Auswirkungen auf die Formalisierung.

Kritisch bleibt weiterhin vor allem der Zugang zu Krediten vor allem für MKUs.

Anhaltend ungünstig für einen ausgedehnten Formalisierungsprozess bleiben auch

weitere Faktoren wie die hohe Rate der Korruption, die Ineffizienz des Staatsapparates

oder auch die mangelhafte Nachhaltigkeit der Sozialpolitik. Zudem sind bisher keine

Pläne für eine Reform der Arbeitsgesetzgebung und ihrer Widersprüche und Rigiditäten

bekannt. Die Politik hat nun in Zeiten eines anhaltenden Wirtschaftswachstums die

Chance, den Herausforderungen unter günstigen Bedingungen zu begegnen und aus

dem wirtschaftlichen Wachstum sozialen, nachhaltigen Fortschritt für die ganze

Gesellschaft, einschließlich der Masse informell Erwerbstätiger und deren Familien, zu

80

gestalten. Die weitere Analyse der aktuellen Prozesse und der Ergebnisse bisheriger

Maßnahmen bleibt unabdinglich. Nur so kann die Chance eines begonnenen

Formalisierungsprozesses genutzt und die Politik zukünftig optimiert werden.

81

Anhang 

Anhang I – Tabellen 

Tabelle zu Abb.3 Anzahl befragter Personen Total 10335962 Verarbeitende Industrie und Rohstoffgewinnung 1630580 Zivilkonstruktion 1808840 Handel und Reparatur 3403804 Vermietungsleistungen und Ernährung 719107 Transport, Lagerung und Kommunikation 831421 Immobilientätigkeiten, Vermietungen und Dienstleistungen na Unternehmen 655467 Bildung, Gesundheit, Soziale Dienstleistungen 341135 Andere kollektive, soziale oder personelle Dienstleistungen 823751 Andere Aktivitäten 34036 Schlecht definierte Aktivitäten 87821

Tabelle zu Abb.5 Anzahl befragter Personen Kein Alternativarbeitsplatz 3216168 Gelegenheit zur Gesellschaftsgründung 105737 Flexible Arbeitszeiten 195410 Unabhängigkeit 1702477 Familientradition 837242 Ergänzung des Familieneinkommens 1820160 Erfahrungen im Bereich 864979 Vielversprechende Geschäfte 761602 War vorher ein Nebenjob gewesen 215076 Anderes Motiv 597351 Ohne Angabe 19760

Tabelle zu Abb.6 Anzahl befragter Personen Kundenmangel 5027707 Kreditmangel 1402021 Niedrige Gewinne 3558896 Probleme mit der Fiskalisierung/ Regularisierung 184586 Mangel an qualifizierten Arbeitern 207665 Konkurrenz 4600575 Mangel na adäquaten Installationen 888267 Mangel na Eigenkapital 2703315 Andere Schwierigkeiten 1249221 Keine Schwierigkeiten 1664468 Ohne Angabe 12175

82

Tabelle zu Abb.7 Anzahl befragter Personen Höchstens 1 Jahr 1127017 Unabgeschlossene Grundschulbildung 4936776 Abgeschlossene Grundschulbildung 1959739 Unabgeschlossene Sekundarstufe 1403588 Abgeschlossene Sekundarstufe 3011799 Unabgeschlossene Höhere Bildung 440027 Abgeschlossene Höhere Bildung 951156 Ohne Angabe 30764

Tabelle zu Abb. 9 Anzahl befragter Personen Hält die Beiträge für zu teuer 3358420 Kennt die Regeln der Rente nicht 1200732 Hält die Leistungen des Systems nicht für rentabel 505581 Hält für System für unwichtig 443216 Bereits in Rente 717252 Hält die Zeit der Beitragszahlung für zu lange 445801 Anderes Motiv 1436025 Ohne Angabe 33636

Tabelle zu Abb. 12 Anzahl befragter Personen Freunde und Bekannte 99259 Private oder staatl. Banken 363930 Zulieferer 99109 Andere Unternehmen oder Personen 49664 Andere Quelle 9952 Ohne Angabe 4703

 

Anhang II ­ Fremdsprachenverzeichnis  

Assistência Social - Sozialunterstützung

Auxilio acidente – Unfallgeld

Auxílio doença – Krankengeld

Auxílio maternidade - Mutterschutz

Auxílio reclusao – Haftgeld

Avulso - Unabhängige Erwerbstätige

Beneficio Assistencial – Hilfsleistungen (unabhängig von Beitragszahlung).

83

Benefício de Prestação Continuada de Assistência Social – fortlaufende

Sozialuntersztützung

Benefício previdenciario – Vorsorgeleistungen (monetär)

Bolsa Família - Familienstipendium

Cadastro Nacional da Pessoa Jurídica - Nationalregistrierung juristischer Personen

Carteira de Trabalho e Previdência Social - Schein für Arbeit und Sozialvorsorge

Choque de Ordem - Ordnungsschock

Circulo vicioso da não-contribuição – Teufelskreis der Nichtbeitragszahlung

Codigo Penal - Strafgesetzbuch

Consolidação das Leis do Trabalho – Arbeitsgesetzgebung

Constituição - Verfassung

Custo brasil – brasilienspezifische Kosten

Empregado doméstico - Hausangestellte

Empresa Cidadã - Bürgerunternehmen

Favelas - Armenviertel

Fundo de Amparo ao Trabalhador - Arbeiterschutzfonds

Fundo de Garantia por Tempo de Contribuição - Garantiefonds nach Einzahlungsdauer

Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística - Brasilianisches Institut für Geografie und

Statistik

Instituto Nacional de Segurança Social – Nationales Institut für Soziale Sicherheit

Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada - Forschungsinstitut für angewandte

Wirtschaft

Microempreendedor Individual - Individueller Mikrounternehmer

Ministério de Trabalho e Emprego - Arbeitsministerium

Ministério da Previdência Social - Ministerium für Sozialvorsorge

Ministério da Saúde – Gesundheitsministerium

84

Ordem social – Soziale Ordnung

Pensão por morte – Hinterbliebenenrente

Pesquisa Nacional por Amostra de Domicílios – Nationale Haushaltsumfrage

Plano Simplificado de Previdência Social - Vereinfachter Plan zur Sozialvorsorge

Previdência Social - Sozialvorsorge

Programa de Formação do Patrimônio do Servidor Público - Programm zur Schaffung

des Eigentums des Arbeiters im öffentlichen Dienst

Profissional autônomo – Autonome

Profissional liberal - Freiberufe

Programa de Integração Social - Programm zu sozialen Integration

Rescisão sem justa causa – ordentliche Kündigung

Salário-família - Familiengeld

Secretaría de Ordem Urbana - Sekretariat für öffentliche Ordnung

Segurado especial - Spezialversicherte

Seguro-desemprego - Arbeitslosengeld

Serviço previdênciário – Vorsorgedienst (Dienstleistung)

Sistema Único de Saúde: Einheitssystem für Gesundheit

Trabalhador avuslo - Unabhängige

85

Literaturverzeichnis Eigenständige Publikationen

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86

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