Staatsrecht I Staatsorganisationsrecht Wintersemester 2012/2013 Prof. Dr. Christian Waldhoff http://waldhoff.rewi.hu-berlin.de
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Vier Denkschritte zur juristischen Lösung von Fällen
1. Denkschritt: Feststellen der Rechtsfolge, nach der gefragt ist; Aufsuchen der Rechtsnorm, aus der sich die gesuchte Rechtsfolge ergibt
2. Denkschritt: Darlegung der Voraussetzungen, von denen die Rechtsfolge abhängig ist; diese ergeben sich aus der aufgefundenen Rechtsnorm
3. Denkschritt: Prüfung, ob diese Voraussetzungen nach dem Sachverhalt gegeben sind (=eigentliche Subsumtion)
4. Denkschritt: Ziehen der Folgerung: gesuchte Rechtsfolge tritt ein oder tritt nicht ein
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Anwendung
1. Denkschritt: Gefragt ist nach der Rechtsfolge D; sie ergibt sich aus der Rechtsnorm a,b,c -> D
2. Denkschritt: Nach dieser Rechtsnorm tritt die Rechtsfolge D dann ein, wenn die Voraussetzungen a, b und c gegeben sind
3. Denkschritt: Vorausgesetzt ist a; a ist gegeben Vorausgesetzt ist weiter b; auch b ist gegeben Vorausgesetzt ist schließlich c; c ist nicht gegeben
4. Denkschritt: a und b sind gegeben, nicht jedoch c; also tritt die Rechtsfolge D nicht ein
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Einführungsfall zum Staatsrecht: „Wahl eines Bundeskanzlers“
Der neugewählte 15. Deutsche Bundestag hat nach dem amtlichen Endergebnis folgende Zusammensetzung: • A-Partei: 251 Abgeordnete • B-Partei: 248 Abgeordnete • C-Partei: 55 Abgeordnete • D-Partei: 47 Abgeordnete • E-Partei: 2 Abgeordnete Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Bundeswahlgesetz (BWahlG) besteht der Deutsche Bundestag aus 598 Abgeordneten, vorbehaltlich der sich aus dem Bundeswahlgesetz selbst ergebenden Abweichungen. Nach § 6 Abs. 5 BWahlG erhöht sich diese Zahl durch sog. „Überhangmandate“. Im 15. Bundestag hat die A-Partei vier, die B-Partei eines dieser Überhangmandate errungen, der Bundestag besteht also aus 603 Abgeordneten. Am 11. November 2002 konstituiert sich der neugewählte Bundestag, wählt einen Präsidenten und gibt sich eine Geschäftsordnung. Die A- und die C-Partei wollen ihre schon in der 14. Legislaturperiode geführte Koalition fortsetzen und beabsichtigen den Abgeordneten S zum Bundeskanzler zu wählen. Völlig unerwartet schlägt der Bundespräsident jedoch den parteilosen Professor der Volkswirtschaftslehre Y, der nicht dem Parlament angehört, als Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers dem Bundestag vor. Er begründet dies damit, daß angesichts der gewaltigen wirtschaftlichen Probleme verstärkt unabhängige Fachleute politische Positionen und Ämter besetzen sollen und daß Y ein „Kabinett unabhängiger Experten“ bilden werde. Die Wahl des Bundeskanzlers ist für die Sitzung am 12. November 2002 vorgesehen. Die Fraktionen der A- und der C-Partei sind empört: Y könne aus rechtlichen Gründen nicht vom Bundespräsidenten vorgeschlagen werden. Y erhält in dem Wahlgang am 3. November 2002 von der B- und D-Fraktion zusammen 295 Stimmen. Bis zur nächsten Sitzung des Bundestages am 29. November 2002 wurde Y noch nicht vom Bundespräsidenten ernannt. Da Ratlosigkeit herrscht, ob Y wirksam zum Bundeskanzler gewählt wurde, schlägt jetzt die A-Fraktion ihren Kandidaten S vor. Die B-Fraktion stellt ihre Vorsitzende M auf. Bei der Abstimmung erhält S 298 Stimmen, seine Gegenkandidatin M erhält 248 Stimmen. 57 Abgeordnete enthalten sich der Stimme. Der Justitiar der D-Fraktion bittet die Jura-Studentin Klug, die gerade ein Praktikum bei der D-Fraktion absolviert, um ein höchstens dreiseitiges Exposé, das folgende Rechtsfrage behandelt: wer wurde wirksam zum Bundeskanzler gewählt, Y, S oder keiner von beiden? Klug überlegt insbesondere, ob bereits im 1. Wahlgang die „Kanzlermehrheit“ erreicht worden sei. Bitte erstellen Sie das Exposé der Klug. Es ist von der Verfassungsmäßigkeit der Überhangmandate auszugehen.
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Vollständige Rechtsnorm (konditional programmierter Rechtssatz;
„wenn-dann-Schema“)
Tatbestandsseite (Voraussetzungen)
Rechtsfolgenseite
wenn a und b und c erfüllt sind dann sollte Rechtsfolge X gelten
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Rechtssystem und Rechtsgebiete
Recht
Privatrecht Öffentliches Recht
Bürgerliches Recht Handels- und
Wirtschaftsrecht Prozeßrecht Straf-
recht Verfassungs-recht
Verwaltungs-recht
ZPO StPO VwGO StGB GG Allgem. VerwR
Besond. VerwR
z.B. gewerblicher Rechtsschutz:
Patentgesetz
Urhebergesetz
Gebrauchs- mustergesetz
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Öffentliches Recht
„Publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad
singulorum utilitatem.“
Ulpian (170 – 228 n. Chr.)
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Öffentliches Recht
§ 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO (Verwaltungsgerichtsordnung): „Der Verwaltungsrechtsweg ist in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind.“ § 13 GVG (Gerichtsverfassungsgesetz): „Vor die ordentlichen Gerichte gehören alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen, für die nicht entweder die Zuständigkeit von Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichten begründet ist oder auf Grund von Vorschriften des Bundesrechts besondere Gerichte bestellt oder zugelassen sind.“
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Überblick über das öffentliche Recht
Öffentliches Recht
Verfassungs-/Staatsrecht Verwaltungsrecht
Grundgesetz Staatsrecht außerhalb der Verfassungsur-kunde(BWahlG;
PartG usw.)
Verfassungsprozeßrecht
(BVerfGG)
materielles Verwaltungs-
recht
Verwaltungs- prozeßrecht
allgemeines Verwaltungsrecht besonderes
Verwaltungsrecht
VwVfG - Polizeirecht - Baurecht - Kommunalrecht usw.
VwGO, FGO, SGG
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Lesehinweise zur Verbandskompetenz im Bereich der Gesetzgebung Literatur • Pechstein/Weber, Gesetzgebungskompetenzen nach dem GG, Jura 2003, S. 82 ff. • Ehlers, „Ungeschriebene Kompetenzen“, Jura 2000, S. 323 ff. • Waldhoff, Studiengebühren im Bundesstaat, JuS 2005, S. 391 ff. • Waldhoff, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Ausübung von Gesetzgebungskompetenzen (Art. 72 Abs. 2; 75 Abs. 2; 125a Abs. 2 GG) – materielles Kompetenzzuweisungsrecht als Element einer Föderalismusreform, in: Henneke (Hrsg.), Föderalismusreform in Deutschland, 2005, S. 55 ff. Rechtsprechung: • BVerfGE 12, 205 (248 f.) – „erstes Fernsehurteil“ • BVerfGE 67, 299 – „Hamburger Laternengaragenfall“ • BVerfGE 61, 149 – „Gesetzgebungskompetenz für Staatshaftung“ • BVerfGE 106, 62 (135 ff.) – „Altenpflegegesetz“ • BVerfGE 110, 141 – „Kampfhunde“ • BVerfG, NJW 2004, 2803 – „Juniorprofessur“ • BVerfGE, NJW 2005, 493 – „Studiengebühren“
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„Staat“
Historisch • „Staat“ als historisch konkreter Begriff, nicht als zeitlos gültige Ordnungsvorstellung; der „moderne Staat“ entsteht ab ca. 1500 in der Frühen Neuzeit Philosophisch: • Staat als die notwendige Zusammenlebensform von Menschen • Immanuel Kant: „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ Juristisch-konstruktiv: • Staat als juristische Person, als Gebilde mit Rechtspersönlichkeit, als Zurechnungssubjekt von Rechten und Pflichten [„klassische Fundstelle“ dazu: Wilhelm Eduard Albrecht (1800-1876), Rezension der 1837 erschienenen „Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts“ des Bonner Staatsrechtlers Romeo Maurenbrecher (1803-1843) in den Göttingischen gelehrten Anzeigen 1837, S. 1489]
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Verfassung
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. I S. 1); Vorgängerverfassung war die Weimarer Reichsverfassung von 1919 Definition: • Unter Verfassung eines Staates versteht man die in einem Verfassungsgesetz („Verfassungsurkunde“) zusammengefaßten grundlegenden Rechtsvorschriften über die Organisation und die Ausübung der Staatsgewalt, die Staatsaufgaben und die Grundrechte. • Kurz: Die Verfassung als die rechtliche Grundordnung des Staates 1. Die Verfassung ist staatsbezogen („Staaten haben Verfassungen, internationale und supranationale Organisationen beruhen auf völkerrechtlichen Verträgen“) 2. Die Verfassung ist ein Gesetz, das sich allerdings durch Besonderheiten von einfachen Gesetzen unterscheidet 3. Die Verfassung regelt das grundlegende, das Fundamentale
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Verfassungsprozessrecht
Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) Rechtsgrundlage: Art. 94 Abs. 2 GG
1. Teil: §§ 1-16 BVerfGG
Organisation, Aufbau und Zuständigkeit des BVerfG (einschließlich Richterwahl)
2. Teil: §§ 17-35c BVerfGG
allgemeines Verfassungsrecht
3. Teil: §§ 36-96 BVerfGG
einzelne Verfahrensarten
- Organstreitverfahren
- Bund-Länder-Streit
- Normenkontrollen
- Verfassungsbeschwerden
...
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Verfassung und verfassunggebende Gewalt
historisch: Französische Revolution, Abbé Emmanuel Joseph Sieyès (1748-1836) Grundgesetz, Präambel: „ ... hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben“
Pouvoir constituant
( = verfassunggebende/konstituierende Gewalt) à Volk
Pouvoir constitué
( = verfasste/konstituierte Gewalt) à Verfassung
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Normenhierarchie Stufenbau der Rechtsordnung
Verfassung
Gesetze
Rechtsverordnungen
Satzungen
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Normenkontrolle
Def: Prüfung der Vereinbarkeit einer Rechtsnorm (= Prüfungsgegenstand) mit einer höherrangigen Rechtsnorm ( = Prüfungsmaßstab)
abstrakte Normenkontrolle
Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG
i.V.m. §§ 13 Nr. 6; 76 ff. BVerfGG
konkrete Normenkontrolle
Art. 100 Abs. 1 GG
i.V.m. §§ 13 Nr. 11; 80 ff. BVerfGG
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Grunddaten zur deutschen Verfassungsgeschichte
Heiliges Römisches Reich deutscher Nation („Altes Reich“) ca. 900 – 1806 1356 Goldene Bulle – Bestätigung des Wahlrechts der Kurfürsten 1495 Reichreform Maximilians I. (Ewiger Landfrieden; Reichskammergericht; Gemeiner Pfennig) 1517 Beginn der Reformation 1555 Augsburger Religionsfrieden 1648 Westfälischer Frieden 1803 Reichsdeputationshauptschluß 1806 Untergang des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation Deutscher Bund 1815 – 1866 1815 Wiener Kongreß – Gründung des Deutschen Bundes; Beginn des konstitutionellen Zeitalters 1818 ff. süddeutscher (Früh-)Konstitutionalismus; Verfassungen in Bayern, Baden, Württemberg und Hessen-Darmstadt 1848/49 Revolution / Paulskirchenverfassung 1850 Revidierte Preußische Verfassungsurkunde 1862-1866 Preußischer Heeres-, Budget- und Verfassungskonflikt 1866 Preußisch-Österreichischer Krieg; Auflösung des Deutschen Bundes
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Grunddaten zur deutschen Verfassungsgeschichte
Bismarckreich („Zweites Reich“) 1867 Gründung des Norddeutschen Bundes 1871 Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1918 Revolution / Ende des konstitutionellen Systems Weimarer Republik Nationalsozialistische Herrschaft („Drittes Reich“) 1919 – 1945 1919 Weimarer Reichsverfassung 1933 nationalsozialistische Machtergreifung 1945 vollständiger staatlicher Zusammenbruch / Beginn des Besatzungsregimes Bundesrepublik Deutschland – seit 1949 1946 ff. Neubildung der Länder / erste Landesverfassungen 1948/49 Schaffung des Grundgesetzes
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 12.1
Deutschlands Rechtslage nach dem Zweiten Weltkrieg
• bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht 7. / 8. Mai 1945
• Übernahme der „obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands“ durch die vier alliierten Siegermächte, 6. Juni 1945
• sog. Besatzungsregime mit vier Besatzungszonen und dem Alliierten Kontrollrat an der Spitze
• Neuaufbau des Staates von „unten nach oben“ (Reorganisation der Kommunen/Schaffung der Länder
• Londoner Sechs-Mächte-Konferenz 1948 (USA; GB; F; B; NL; LX) à Anstoß der Verfassungsgebung in den Westzonen
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Entstehung des Grundgesetzes
• Sog. Frankfurter Dokumente (1.7.1948) • Dokument I: Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung -> GG • Dokument II: Überprüfung der bestehenden Ländergliederung • Dokument III: Festlegung der Beziehungen zu den Besatzungsmächten -> Besatzungsstatut
• Reaktion der deutschen Ministerpräsidenten
• „Parlamentarischer Rat“ statt „verfassungsgebende Nationalversammlung“ • „Grundgesetz“ statt „Verfassung“ • Vorbehaltsklauseln: Art. 23 GG a.F. / 146 GG a.F.
• Herrenchiemseer Verfassungskonvent (Sommer 1948)
• Parlamentarischer Rat (1. September 1948) 65 von den Landtagen gewählte Mitglieder (die fünf Vertreter Berlins lediglich mit beratender Stimme)
• „Genehmigungsschreiben“ der Militärgouverneure
• Annahme durch die Volksvertretungen in zwei Dritteln der deutschen Länder (Art. 144 Abs. 1 GG)
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„Väter und Mütter“ des Grundgesetzes (Auswahl berühmter Mitglieder des
Parlamentarischen Rates)
Vorsitzender: Konrad Adenauer (1876-1967), CDU Vorsitzender des Hauptausschusses: • Carlo Schmid (1896-1979), SPD • Theodor Heuss (1884-1963), FDP weitere Mitglieder: Heinrich von Brentano (CDU); Hermann Höpker-Aschoff (FDP); Jakob Kaiser (CDU); Paul Löbe (SPD); Hermann von Mangoldt (CDU); Erich Ollenhauer (SPD); Ernst Reuter (SPD); Georg August Zinn (SPD) vier Frauen: Friederike Nadig (SPD); Elisabeth Selbert (SPD); Helene Weber (CDU); Helene Wessel (Zentrum)
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Die Wiedervereinigung
bis 1989: stetige politische und ökonomische Erosion des DDR-Regimes 9. November 1989: Maueröffnung 18. März 1990: erste freie Volkskammerwahl in der Geschichte der DDR 18. Mai 1990: Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und
Sozialunion 22. Juli 1990: Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der DDR 23. August 1990: Beschluß der Volkskammer über den Beitritt (Art. 23 GG a.F.) 31. August 1990: Einigungsvertrag 12. September 1990: Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf
Deutschland („Zwei-plus-vier-Vertrag“) 3. Oktober 1990: „Wirksamwerden“ der Wiedervereinigung
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Aufbau des Grundgesetzes
Inhalt: eine Präambel und 146 Artikel
formale Gliederung in 14 Abschnitte:
Präambel (=Vorspruch)
I. Die Grundrechte (Art. 1-19)
II. Der Bund und die Länder (Art. 20-37)
III. Der Bundestag (Art. 38-49)
IV. Der Bundesrat (Art. 50-53)
V. Der Bundespräsident (Art. 54-61)
VI. Die Bundesregierung (Art. 62-69)
VII. Die Gesetzgebung des Bundes (Art. 70-82)
VIII. Die Ausführung der Bundesgesetze und die Bundesverwaltung (Art. 83-91)
VIIIa. Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a-91b)
IX. Die Rechtsprechung (Art. 92-104)
X. Das Finanzwesen (Art. 104a-115)
Xa. Verteidigungsfall (Art. 115a-115l)
XI. Übergangs- und Schlußbestimmungen (Art. 116-146)
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Grundtypen verfassungsrechtlicher Regelungen
Staatsorganisationsrecht
Art. 20-146 GG
- Staatsorgane
- Staatsfunktionen
- Kompetenzabgrenzungen
- usw
Grundrechte
Art. 1-19 GG
- Freiheitsrechte
- Gleichheitsrechte
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Juristische Auslegungsmethoden – Verfassungsauslegung
vorab: Streit um die „subjektive“ oder die „objektive Auslegungsmethode“ ◊ ist der Wille des historischen Gesetzgebers maßgebend oder hat sich das Gesetz davon in „objektiver Weise gelöst“? BVerfG: überwiegend objektive Auslegungsmethode 1. grammatikalische Auslegung Der Wortlaut der Norm als Ausgangspunkt (ggf. besondere „Wortlautgrenzen“ beachten: Art. 103 Abs. 2 GG für Strafrechtsnormen) 2. systematische Auslegung Die Stellung der Norm im Gesetz und in der gesamten Rechtsordnung als Erkenntnisquelle für Inhalt und Bedeutung der Vorschrift 3. historische Auslegung Entstehungsgeschichte der konkreten Norm à Hinzuziehung der Gesetzesmaterialien größerer historischer Kontext als Erkenntnisquelle: historische Leit- und Vorbilder
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Juristische Auslegungsmethoden – Verfassungsauslegung
4. teleologische Auslegung Frage nach der „ratio legis“, nach Sinn und Zweck der Norm daneben: Rechtsvergleichung als Erkenntniquelle Besondere Leitprinzipien der Verfassungsauslegung: • Prinzip der Einheit der Verfassung à Vermeidung von Widersprüchen zwischen gleichrangigen Normen in der Verfassung selbst • Prinzip der praktischen Konkordanz à Kollisionen zwischen gleichrangigen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern sind nicht durch die einseitige Bevorzugung der einen Position, sondern durch einen „schonensten Ausgleich“ aufzulösen • verfassungskonforme Auslegung: Auslegung unterverfassungsrechtlicher Rechtsnormen in der Hinsicht, dass diese mit der Verfassung konform bleiben
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 18.1
Lesehinweise zur Verfassungsinterpretation
• Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, NJW 1976, S. 2089 ff.
• Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. Heidelberg 1995, Rdnr. 49 - 85
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 18a
Staatszielbestimmungen
Definition: Verfassungsrechtssätze, die aller Staatsgewalt rechtlich verbindlich die Erfüllung bestimmter Aufgaben und die Erreichung bestimmter Ziele vorschreiben, ohne dem einzelnen Bürger einen Anspruch auf Erfüllung dieser Ziele einzuräumen. teilweise Synonyme: Staatsstrukturbestimmungen / Staatsfundamentalnormen Beispiele • Republik (Staatsname; Art. 28 Abs. 1 GG) Demokratie (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) • Rechtsstaat (Art. 28 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG) • Bundesstaat (Staatsname; Art. 20 Abs. 1; organisationsrechtliche Vorschriften des GG) • Sozialstaat (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) • europäische Integration (Präambel, Art. 23 Abs. 1 GG) • Friedenspflicht (Präambel; Art. 1, 26 GG) • Umweltschutz (Art. 20a GG)
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 19
Staatszielbestimmungen
Wesensmerkmale: • Prinzipien- oder Grundsatzcharakter, d.h. sie sind nicht so konkret, dass sie durch ein Gesetz allein umgesetzt werden könnten
• daher abzugrenzen von verfassungsrechtlichen Gesetzgebungsaufträgen (Art. 6 Abs. 5; Art. 131 Satz 1)
• Staatszielbestimmungen sind verbindliches Recht, nicht bloße Programmsätze
• andererseits sind sie nicht unmittelbar vom Bürger einklagbar, da sie im Regelfall keine „subjektiven Rechte“ für den einzelnen enthalten
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 19.1
Teilelemente des demokratischen Verfassungsprinzips unter dem GG
1.Prinzip der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG)
2. Mehrheitsprinzip („Mehrheit entscheidet“)
• in Wahlen und Abstimmungen • in staatsorganschaftlichen Verfahren (etwa im Parlament)
3.Freiheit und Offenheit des politischen Prozesses
4.Parteiendemokratie (Art. 21 GG)
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 20
Demokratie = Volksherrschaft
Grundsatz der Volkssouveränität à Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ à das Volk als Träger / Inhaber der Staatsgewalt 1. Legitimationsobjekt: die Staatsgewalt, d.h. jedes dem Staat zurechenbare Verhalten (nicht gesellschaftliche / ökonomische Macht) 2. Legitimationssubjekt: das Volk = Staatsvolk, d.h. die Summe der Staatsangehörigen 3. Formen / Ebenen demokratischer Legitimation
a) funktionell-institutionelle demokratische Legitimation durch die Verfassung (das GG) selbst werden die Staatsgewalten und ihre Organe konstituiert b) organisatorisch-personelle demokratische Legitimation die mit der Wahrnehmung staatlicher Angelegenheiten betrauten Amtswalter müssen sich mittels einer ununterbrochenen demokratischen Legitimationskette auf das Volk zurückführen c) sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation Programmierung des Staatshandelns seinem Inhalt nach
• durch Parlamentsgesetze • durch parlamentarische Kontrolle
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 21
Demokratie: Lesehinweise
Leitentscheidungen: BVerfGE 83, 37 (50 ff.) und 83, 60 (71 ff.) zur Vertiefung für Interessierte: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als
Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 3. Aufl. 2004, § 24 (=§ 22 der 1. und 2. Aufl.!) oder
Horst Dreier, Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes, Jura 1997, S. 249 ff.
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 21.1
Demokratische Legitimationsketten (organisatorisch-personelle Legitimation)
Parlament Wahlen Bundeskanzler/ (Bundestag) Bundesregierung Wahlen Ernennung Staatsvolk Verwaltung
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 21a
Volkswillensbildungsprozess Staatswillensbildungsprozess
muss „frei und offen“ sein, d.h.:
• freie öffentliche Meinung, (für die Demokratie „schlechthin konstituierend“, BVerfGE 7, 198 (208)) • freie Versammlungen • freie Vereinigungen • freie Presse • Rundfunk und sonstige Medien
(„Staatsfreiheit“ abgesichert durch u.a. Art. 5 Abs.1, 8 Abs. 1, 9 Abs. 1 GG – demokratische/ politische Grundrechte, auch „Kommunikationsgrundrechte“ genannt)
• Wahlen und Abstimmungen • Ausübung der Staatsgewalt durch besondere Organe
Politische Parteien, Art. 21 GG, als „Scharniere“ zwischen „Staat“ und „Gesellschaft“, als Verbindungsglieder zwischen Volkswillensbildung und staatlicher Organisation
Weiterführender Lesehinweis für Interessierte: W. Schmitt Glaeser, Die grundrechtliche Freiheit des Bürgers zur Mitwirkung an der Willensbildung in: Isensee/Kirchhof (Hrgs.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, 2005, § 38 (= 1./2. Aufl., § 31)
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 22
BVerfGE 8, 104
Volksbefragung in Hamburg und Bremen BVerfGE 44, 125 (138ff.)
Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung
(teilweise auf Landesebene modifizierend: BayVerfGH, BayVBl. 1994, 203/238)
BVerfGE 83, 37 (50ff.)
Kommunales Ausländerwahlrecht Schleswig-Holstein
Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum
Demokratieprinzip des GG
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 23
• FOLIE 24 FEHLT
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 24
Wahlsystem
Mehrheitswahlrecht Verhältniswahlrecht
Wahl von Wahlkreiskandidaten in Wahlkreis: à gleicher Zählwert aller Stimmen à unterschiedlicher Erfolgswert
(die für den nicht siegreichen Kandidaten abgegebenen Stimmen „fallen unter den Tisch“)
Rechtspolitisches Argument: Enge Verbindung zwischen Wähler_innen und Kandidat_innen
Wahl von (Partei-)Listen: à gleicher Zählwert aller Stimmen à gleicher Erfolgswert Rechtspolitisches Argument: Genaues Spiegelbild des politischen Willen des Gesamtvolks
GG: personalisierter Verhältniswahlrecht, § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG
Verfassung selbst schreibt Wahlsystem nicht vor, Art. 38 Abs. 3 GG
Wahlrechtsgesetzgeber muss jedoch Systemkongruenz beachten
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 25
Leitentscheidungen zum Wahlrecht
BVerfGE 1, 208 5%-Klausel; kein verbindliches Wahlsystem durch die Verfassung vorgeschrieben
BVerfGE 21, 200/ 59, 119
Briefwahl
BVerfGE 82, 322 gespaltenes Wahlrecht nach Wiedervereinigung
BVerfGE 95, 335/ 408
Überhangmandate und Grundmandatsklausel
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 26
Ausprägung der Wahlrechtsgleichheit
Gleicher Zählwert: jede (Wahl-)Stimme zählt gleich viel (one man one vote)
à unmittelbarer Ausfluss demokratischer / staatsbürgerlicher Gleichheit
Gleicher Erfolgswert:
Auswirkung der einzelnen abgegebenen Stimme für das konkrete Wahlergebnis (= gleiches Gewicht jede Stimme)
à bei Mehrheitswahlrecht von vorneherein nicht gegeben à beim Verhältniswahlrecht Einschränkungen möglich, wenn „zwingende Gründe dies erfordern“ (Bsp.: Stabile Mehrheiten und stabile Regierungsbildung als Rechtfertigung für die 5%-Klausel)
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 27
Wahlrechtsgrundsätze, Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG
1. Allgemeinheit der Wahl
alle Bürgerinnen und Bürger dürfen an der Wahl teilnehmen (§§ 12, 13 BWahlG)
2. Gleichheit der Wahl
i.S.e. formalen Gleichheit • gleicher Zählwert • prinzipiell gleicher Erfolgswert • Erstreckt sich auch auf die Vorbereitungsphase der Wahl, auf die Zulassung von
Bewerberinnen und Bewerbern und Parteien, auf die Wahlwerbung, auf die Wahlkampfkostenerstattung usw. (Chancengleichheit)
3. Unmittelbarkeit der Wahl
keine Zwischenschaltung von „Wahlmännern“ o.ä.
4. Geheimheit der Wahl
5. Freiheit der Wahl
Verbot unzulässiger Wahlbeeinflussung
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 28
Gesetz im formellen Sinne
- Haushaltsgesetz,
Art. 110 GG
- Zustimmungsgesetz
Art. 59 Abs. 2 GG
Gesetz im
materiellen Sinne
-
Rechtsverordnungen,Art. 80 GG
- Autonome Satzungen
GG
BGB
StGB
VwVfG
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 29
Gesetze im materiellen Sinne
Rechtsverordnungen (autonome) Satzungen förmliche
Parlamentsgesetze (mit Ausnahme der Gesetze
im formellen Sinne)
Art. 80 GG Art. 70 ff. GG
- Kommunale Satzungen:
Art. 28 Abs. 2 GG
i.V.m. § 7 GO
- Satzungen anderer
Selbstverwaltungskörperschaften
(Art. 80 Abs. 1 Satz. 2 GG
nicht anwendbar!)
Delegierte/ abgeleitete Rechtsetzung
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 30
Die Rechtsverordnung
1. Gesetze im materielle Sinne (= generell-abstrakte Regelung mit Außenwirkung dem Bürger u. der Bürgerin gegenüber)
werden auf deleglierter (=abgeleiteter) Regelungsgewalt von der Exekutive erlassen, Art. 80 GG ; in einem förmlichen Parlamentsgesetz muss – zwecks demokratischer Rückkoppelung – die Ermächtigung zum Erlass der Rechtsverordnung erteilt werden (à kein selbständiges Verordnungsrecht der Exekutive!)
rechtspolitische Rechtfertigung: Entlastung des Parlamentsgesetzgebers von Detailregelungen
demokratisches Defizit: geringe Publizität der Verordnungsverfahrens
2. Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung
müssen sich aus der formell-gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage ergeben, Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG à Schutz des Parlamentsgesetzgebers vor „Selbstentmachtung“
a) „Programmformel“:
Der Parlamentsgesetzgeber muss das gesetzgeberische Programm selbst festlegen, dem Verordnungsgeber dürfen nur noch Details überlassen bleiben
b) „Vorhersehbarkeitsformel“:
Der Bürger bzw. die Bürgerin muss aus dem ermächtigenden Gesetz selbst das Wesentliche entnehmen können
c) „Selbstentscheidungsformel“: Der Parlamentsgesetzgeber muss die wesentlichen Fragen selbst entscheiden
In jedem Fall: „Inhalt, Zweck und Ausmaß“ können durch Auslegung des gesamten
ermächtigenden Gesetzes ermittelt werden
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 31
Die autonome Satzung 1. Gesetze im materielle Sinne
(= generell-abstrakte Regelung mit Außenwirkung dem Bürger u. der Bürgerin gegenüber)
delegierte Rechtsetzungsmacht: der Selbstverwaltungskörperschaft ist durch förmliches Parlamentsgesetz Satzungsautonomie eingeräumt
rechtspolitische Rechtfertigung: Bürgerbeteiligung über die Selbstverwaltung, Aktivierung von verwaltungsexternem Sachverstand
Zwei Typen von Selbstverwaltung:
a) Kommunale Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG; Art. 97 Abs. 1 LVerf Bbg)
b) Funktionale Selbstverwaltung (berufsständische Kammern [Ärztekammern; Anwaltskammern; Handwerkskammern; Industrie- und
Handelskammern; Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger; universitäre Selbstverwaltung usw.])
historisch: Freiherr von Stein (Preußische Reformen 1807 ff.)
2. Was muss im förmlichen Parlamentsgesetz, was darf in der autonomen Satzung geregelt werden?
• Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG ist auf Satzungen nicht anwendbar! • Der Grundrechtseingriff muss – zumindest im Bereich der sog. Funktionalen Selbstverwaltung – im
förmlichen Parlamentsgesetz vorgezeichnet sein; die Einräumung von Satzungsautonomie berechtigt als solche noch nicht zu Grundrechtseingriffen (BVerfGE 33, 125 – „Facharztbeschluß“; Modifizierung in BVerfGE 107, 59 – „Wasserverbände“)
Lesehinweis zur Vertiefung (für Interessierte): Christian Waldhoff, Satzungsautonomie und Abgabenerhebung. Zu den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts an Eingriffe durch kommunale Abgaben, in: Festschrift für Klaus Vogel zum 70. Geburtstag, 2000, S. 495 ff.
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 32
Funktionen des Bundestages in der parlamentarischen Demokratie
Gesetzgebung Zustimmung zu wich- tigen politischen Akten
im Exekutivbereich
Kreationsfunktion (Wahlfunktion) Politische Kontrolle
Daneben: Sog. Schlichte Parlaments- beschlüsse
Bsp: Auslandseinsätze der Bundeswehr
Art. 63 GG Art. 54 Abs. 3 GG Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG
Art. 63 GG Art. 67 GG (konstruktives Misstrauensvotum) Art. 43 Abs. 1 GG (Interpellationsrecht) Art. 44 GG (Untersuchungs- ausschuss) Art. 45a Abs. 2 GG (Verteidigungs- ausschuss) Art. 45b GG (Wehrbeauftragter)
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 33
Leitentscheidungen zum Parlamentsrecht
BVerfGE 40, 296 „Diätenurteil“
BVerfGE 102, 224 „Funktionszulagen ür Bundestagsabgeordnete – zweites Diätenurteil“
BVerfGE 80, 188 „Wüppesahl – Rechte fraktionsloser Abgeordneter“
BVerfGE 104, 310 „Pofalla - Immunität“
BVerfGE DVBl. 2005, 1310 „vorzeitige Auflösung des Bundestags“
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 34
Rechtsstellung / Rechtsstatus der Abgeordneten
Grundsatz des freien Mandats, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG
Abgeordnete üben ein „öffentliches Amt“ aus, ohne dadruch Beamte zu sein
• Recht auf Teilnahme an Sitzungen
• Rederechte
• Antragsrechte
• Fragerechte
• …
Absicherung durch angemessene
Entschädigung, Art. 48 Abs. 3 GG
Problembereich: Fraktionszwang
Problembereich: Offenlegungspflichten /
„gläserner Abgeordneter“
Verwirklichung der Repräsentationsfunktion: juristischer Zurechnungszusammenhang, durch den die
Entscheidung des Parlaments dem Volk zugerechnet werden können
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 35
Weitere Abgeordnetenrechte
Indemnität, Art. 46 Abs. 1 GG
- Zu keiner Zeit Belangung wegen parlamentarischer Äußerungen - Schutz gegen alle rechtlichen Maßnahmen - Zeitlich unbeschränkt
Immunität, Art. 46 Abs. 2 GG
- Abgeordnete dürfen während ihrer Mitgliedschaft im Parlament nicht ohne Genehmigung desselben zur Verantwortung gezogen werden - Gilt auch für außerparlamentarisches Fehlverhalten
Zeugnisverweigerungsrecht, Art. 47 Abs. 1 GG
Vorbereitungsurlaub,
Art. 48 Abs. 1 GG
Behinderungsverbot
Art. 48 Abs. 2 GG
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 36
Parlamentarisches Enqueterecht – Untersuchungsausschüsse,
Art. 44 GG i.V.m. PUAG von 2001
1. Hausrecht und Polizeigewalt des Präsidenten, Art. 40 Abs. 2 GG
2. Geschäftsordnungsautonomie,
Art 40 Abs. 1 Satz 2 GG :
• Autonomie Satzungen (BVerfGE 1, 144) • Böckenförde: „Verfassungssatzung“ • Parlamentarischer Innenrechtssatz / Parlamentssatzung
GO-BTag befindet sich normhierarchisch im Rang unterhalb der Verfassung, auch unterhalb der förmlichen Parlamentsgesetze
Problem: Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Regeln der GO? • § 126 GO-BTag: Möglichkeit der Durchbrechung • Verfassungsrechtliche Relevanz eines Verstoßes nur, wenn zugleich ein Verstoß gegen
eine Verfassungsnorm vorliegt
unterhalb der Ebene der GO: sog. Parlamentsbrauch
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 37
Der Bundestag besitzt das Recht zu Selbstautonomie (=Parlamentsautonomie)
grds. zwei Typen: Mehrheitsenquete / Minderheitenenquete à Untersuchungsausschuss als klassisches parlamentarisches Minderheitenrecht
(Kontrolle der Regierungsmehrheit durch die Opposition) Einsetzungsantrag: ¼ der Mitglieder des Bundestags,
Art. 44 Abs. 1 GG; § 1 Abs. 1 PUAG Ermittlungsauftrag ist gekoppelt an die Zuständigkeiten des Bundestages selbst,
§ 1 Abs. 3 PUAG entscheiden: Minderheitenrechte im Ausschuss à jetzt PUAG, etwa § 17 Abs. 2 Grenzen der Untersuchungsbefugnisse der Regierung gegenüber:
Ein „Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung“ soll geschützt und damit ausforschungsfrei bleiben
Rechtsschutz: §36 PUAG
à Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG à BGH
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 38
Übungsfall „Auflösung des Bundestags“
Nach zunehmenden Schwierigkeiten der Bundesregierung, ihre Reformpolitik zu verwirklichen und nach einer Serie von seiner Partei verlorener Landtagswahlen – zuletzt in dem bedeutenden Bundesland N – entschließt sich der Bundeskanzler die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG mit dem Ziel zu stellen, diese zu verlieren und damit Neuwahlen herbeiführen zu können. Er besitze nicht mehr den erforderlichen Rückhalt der die Regierung tragenden Fraktionen; auch führe die ständige Obstruktions- und Blockadepolitik des Bundesrats zu erschwerten Bedingungen des Regierens. Absprachegemäß enthalten sich die meisten Abgeordneten der Regierungsfraktionen bei der formell ordnungsmäßigen Vertrauensabstimmung der Stimme; da die Opposition geschlossen das Vertrauen verweigert, verfehlt der Bundeskanzler die „Kanzlermehrheit“ in der Abstimmung. Der Bundespräsident macht sich die Einschätzung der politischen Lage durch den Bundeskanzler zu eigen und löst auf dessen Antrag hin den Bundestag auf und ordnet Neuwahlen an.
Die Bundestagsabgeordnete H der S-Fraktion und der Bundestagsabgeordnete S der G-Fraktion fühlen sich in ihren Abgeordnetenrechten verletzt und wollen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die vorzeitige Auflösung des Parlaments und das Ansetzen von Neuwahlen klagen.
Hätte eine entsprechender Antrag Aussicht auf Erfolg?
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 39
Lösungsskizze:
OS: Die Anträge haben Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet sind.
Zulässigkeit des Normenkontrollantrags gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i.V.m. §§ 13 Nr.5, 63 ff. BVerGG
Parteifähigkeit, § 63 BVerfGG
Bundespräsident = oberstes Bundesorgan; in § 63 BVerfGG genannt
Bundestagsabgeordnete = Teilorgane des obersten Bundesorgans Bundestag, die in der GO-BTag mit eigenen Rechten ausgestattet sind
Streitgegenstand, § 64 Abs. 1 BVerfGG
str. Pflichten des Bundespräsidenten: Art. 68 Abs. 1 GG
str. Rechte der Abgeordneten: Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG i.V.m. Art. 39 Abs. 1 und 2 GG
Antragsbefugnis (Rechtsschutzbedürfnis)
Die zeitliche Festlegung der Wahlperiode auf vier Jahre soll dem BT die wirksame und kontinuierliche Erfüllung seiner Aufgaben ermöglichen. An dieser Gewährleistung hat der Status des einzelnen Abgeordneten Anteil. Eine verfassungswidrige Verkürzung der Wahlperiode griffe in diesen Status ein.
Frist, § 64 Abs. 3 BVerfGG
sechs Monate nach Eintritt der beanstandeten Maßnahme
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 39.1
Prüfungsmaßstab
Prüfungsmaßstab ist das (gesamte) Verfassungsrecht, nicht die Geschäftsordnung oder sonstiges Recht unterhalb der Verfassung
Zwischenergebnis: Der Antrag ist zulässig
Begründetheit des Organstreitantrags
[Obersatz:] Der Antrag der Abgeordneten H und S ist begründet, wenn die vorzeitige Auflösung des Bundestages und das Ansetzen von Neuwahlen durch den Bundespräsidenten gegen Normen des GG
Prüfungsmaßstab: Art. 68 GG à die Norm unterscheidet zwischen tatbestandlichen Voraussetzungen, die vorliegen müssen und ein dem Bundespräsidenten eingeräumten Ermessen („politische Leitentscheidung in eigener Verantwortung“)
Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszuspruchen (+)
48-Stunden-Frist des Art. 68 Abs. 2 GG (+)
Verfehlen der erforderlichen Mehrheit (= „Kanzlermehrheit“) (+)
Ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung: gerichtlich nur beschränkt überprüfbare Einschätzung des BKanzlers vom Vorliegen einer Lage politischer Instabilität (+)
„Die auf Auflösung des BTages gerichtete Vertrauensfrage ist nur dann verfassungsgemäß, wenn sie nicht nur den formellen Anforderungen, sondern auch dem Zweck des Art. 68 GG entspricht. Das GG erstrebt mit Art. 63, Art. 67 und Art. 68 eine handlungsfähige Regierung.“ àHandlungsfähigkeit der BReg. muß verloren gegangen sein: „Handlungsfähigkeit bedeutet, dass der Bundeskanzler mit politischem Gestaltungswillen die Richtung der Politik bestimmt und hierfür auch eine Mehrheit der Abgeordneten hinter sich weiß.“
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 39.2
Ermessensausübung durch den BPräs. (+)
[Kontrollüberlegung: „Drei Verfassungsorange – der Bundeskanzler, der Deutsche Bundestag und der Bundespräsident – haben es jeweils in der Hand, die Auflösung nach ihrer freien politischen Einschätzung zu verhindern. Dies trägt dazu bei, die Verlässlichkeit der Annahme zu sichern, die Bundesregierung habe ihre parlamentarische Handlungsfähigkeit verloren.“]
Zwischenergebnis: Das Verfahren des Art. 68 GG wurde eingehalten
Gesamtergebnis: Der Antrag ist zwar zulässig, jedoch unbegründet.
Er wird keinen Erfolg haben
Lesehinweise:
BVerfGE 62, 1 („Bundestagsauflösung I“)
BVerfG, DVBl. 2005, 1310 = DÖV 2005, 999 („Bundestagsauflösung II“)
zum verfassungsprozessualen Teil: Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 6. Aufl. 2004, Rdnr. 74 ff.
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 39.3
Beteiligung der Gliedstaaten an der Willensbildung / Gesetzgebung des Zentralstaats
Bundesratsmodell Senatsmodell
Beispiel:
• Bundesrepublik Deutschland (Art. 51 ff. GG)
• WRV 1919
• Bundesrat in der Bismarckschen Reichsverfassung 1867/71
Gewertetes Stimmengewicht der Gliedstaaten nach der Größe, aber keine Proportionalität zur Einwohnerzahl
Vertretende der Gliedstaatenregierungen werden weisungsabhängig entsandt
Mittelbare demokratische Legitimation über die Landtage
Keine „Zweite Kammer“
Beispiel:
• Schweiz: Ständerat
• USA: Senat
grds. Kein Stimmengewicht der Gliedstaaten
Senatoren/Ständeräte werden direkt vom gliedstaatlichen Volk gewählt (hilfsweise vom Parlament)
Vollwertige „Zweite Kammer“, d.h. Gesetze können nicht gegen den Willen des Senats zustandekommen
Schweiz: Nationalrat und Ständerat bilden die Bundesversammlung
USA: Repräsentantenhaus und Senat bilden den Kongress
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 40
Der Bundesregierung
Kanzlerprinzip Art. 65 Satz 1 GG
Kollegialprinzip Art. 65 Satz 3 GG
Ressortprinzip Art. 65 Satz 2 GG
Bundeskanzler bzw. Bundeskanzlerin
bestimmt die Richtlinien der
Politik
Bundesminister bzw. Bundesministerin
leitet seinen Geschäftsbereich
selbständig
In bestimmten Fällen entscheidet
die Bundesregierung
als Kollegium
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 41
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 42
Bundestag/MdB
Bundeskanzlerin Bundesregierung
(Art. 62 GG)
(parlamentarischer Staatssekretär als
Stellvertreter)
Kol
legi
alor
gan
Bundesminister
Minister als Teil der Verwaltung/ Exekutive
(Organisationsgewalt der Regierung)
(beamteter Staatssekretär als Stellvertreter)
Abteilung
Referat
nachgeordnete Verwaltungsstellen
Weisungshierarchie
Folien 43 – 45 fehlen
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 46
Verfahren der Bundesgesetzgebung gem. Art. 76-78, 82 GG (Frage der Organkompetenz)
1. Phase: Einleitungsverfahren und Beschlussfassung im Bundestag, Art. 76, 77 Abs. 1 GG
durch die Bundesregierung
aus der Mitte des Bundestages
durch den Bundesrat
Gesetzesvorlage Gesetzesvorlage
Bundesrat Bundesregierung
Stellungnahme Stellungnahme
Gesetzesvorlage
Bundesregierung
Gegenäußerung
Bundestag Ausschussarbeit, i.d.R. 3 Lesungen
(Gesetzesbeschluss gem. Art. 77 I GG)
Zuleitung an den Bundesrat gem. Art. 77 Abs. 1 Satz 2 GG; Beginn der zweiten Phase
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 47
2. Phase: Beteiligung des Bundesrates (Einspruchsgesetz) gem. Art. 77, 78 GG
Gesetzesbeschluss des Bundestages, Zuleitung an den Bundesrat, Art. 77 I 2 GG
Bundesrat Anrufung
Vermittlungs-ausschuss
Änderungsvorschlag des Vermittlungsausschusses
Bundestag
Erneuter Beschluss
Kein Änderungsvorschlag
Bundesrat Endgültige Beschlussfassung
Einspruch
Bundestag Zurückweisung des Einspruchs durch
Überstimmen Keine
Zurückweisung
Gesetz zustande gekommen Gesetz gescheitert
Kein Einspruch
Gesetz zustande gekommen
Gesetz zustande gekommen
3. Phase:
Ausfertigung und Verkündung, Art. 82 GG
Kein Anrufung des Vermittlungsausschusses
oder „Zustimmung“ Art. 78 GG
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 48
2. Phase: Beteiligung des Bundesrates (Zustimmungsgesetz) gem. Art. 77, 78 GG
Gesetzesbeschluss des Bundestages, Zuleitung an den Bundesrat, Art 77 I 2 GG
Bundesrat
Vermittlungs-ausschuss
Anrufung Keine Zustimmung:
Gesetz gescheitert, wenn nicht BReg. oder BT. den VermAus. anrufen
Zustimmung Änderungsvorschlag
Bundestag
Kein Änderungsvorschlag
erneuter Beschluss Bundesrat
endgültige Beschlussfassung
Zustimmung keine Zustimmung
Gesetz gescheitert Gesetz zustande gekommen
3. Phase: Ausfertigung und Verkündung, Art. 82 GG
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 49
Die Verfassung selbst kann schon aus logischen Gründen nicht normieren, wie sie zustandekommt
verfassungsgebende Gewalt des Volkes Art. 146 GG anderes gilt für die Verfassungsänderung:
1. Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG: keine Verfassungsdurchbrechung (vgl. aber Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG für einen Spezialfall 2. Art. 79 Abs. 2 GG: qualifizierte Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat Zwei-Drittel der Stimmen bezogen auf die gesetzliche Mitgliederzahl dieser Verfassungsorgane (Art. 121; 52 Abs. 3 Satz 1 GG) 3. Art. 79 Abs. 3 GG: Ewigkeitsgarantie / Unabänderlichkeitssperre a) Art.79 Abs. 3 GG ist ebenfalls unabänderlich b) Was ist der Änderung genau entzogen? - Gliederung des Bundes in Länder (nicht konkreter Zuschnitt der existierenden Länder, Arg. Art. 29 GG) - Grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung (nicht die konkrete Ausgestaltung des Bundesrats gem. Art. 50 ff. GG) - die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze (BVerfGE 30, 1 „Abhörurteil“: verboten ist nur eine prinzipielle Preisgabe der geschützten Grundsätze, nicht die systemimmanente Modifizierung derselben)
Verfassungsändernde Gesetzgebung Art. 79 GG
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 49.1
BVerfGE 30,1
„Abhörurteil“
BVerfGE 89, 155 „Maastrichturteil“: keine Selbstaufgabe deutscher Staatlichkeit in der europäischen Integration ohne Betätigung der verfassungsgebenden Gewalt, d.h. innerhalb der geltenden Legalität des GG
Leitentscheidungen:
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 50
Bundesstaat
Umsetzung des förderalistischen Prinzips in eine konkrete Verfassungsordnung:
Zentralstaat (=Bund) und
Gliedstaaten (=Länder)
Verankerung im Grundgesetz:
• Staatsname: Bundesrepublik
• Art. 20 Abs. 1 GG
• Präambel
• Aufbau des Grundgesetzes
• Art. 1 Abs. 2 BLNVerf:
„Berlin ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland.“
Föderalismus
hintergründisches politisches Prinzip
Gegenmodell
Einheitsstaat
(ggf. dezentralisierter
Einheitsstaat)
Rechtsvergleichung: USA (1787); Schweiz (1848); Österreich; Belgien, Kanada, Australien; Indien; Brasilien…
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 51
Bundesstaatlichkeit nach dem Grundgesetz
• Zwei staatliche Ebenen: Zentralstaat / Gliedstaaten à Bund und Länder (Gemeinde keine „dritte staatliche Ebene“, sondern mit Selbstverwaltung ausgestattete Teile Teile der Länder; „dritte Ebene im Bundesstaat“: Länderkooperation; Bsp: Kultusminister- konferenz; ZDF-Staatsvertrag; ZVS-Staatsvertrag)
• Länder besitzen nach h.M. „Staatsqualität“, diese ist allerdings defizitär (Josef Isensee: Länder als „Staaten ohne Ernstfall“)
• Verfassungsautonomie der Länder im Rahmen der Homogenitätsklausel, Art. 28 Abs. 1 GG
• Mit Ausnahme von Schleswig-Holstein (vgl. Art. 99 GG) besitzen die Länder Landesverfassungsgerichte
Berlin: Verfassungsgerichtshof für das Land Berlin mit Sitz in Berlin-Schöneberg (Art. 84 BLNVerf; VerfGHG) Brandenburg: Verfassungsgerichtshof für das Land Berlin mit Sitz in Potsdam (Art. 112 f. LVerf Bbg; VerfGGBbg)
• Bundesstaatliche Kompetenzverteilung: Art. 30 GG – Grundregel: Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Länder Art. 70 ff. GG – Gesetzgebungskompetenzen Art. 83 ff. GG – Verwaltungskompetenzen Art. 92 ff. GG – Rechtsprechungskompetenzen Art. 104a ff. GG – bundesstaatliche Finanzverfassung Art. 32 GG - auswärtige Gewalt Art. 23 GG - Europakompetenzen
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 52
Historische Entwicklung deutscher Bundesstaatlichkeit (föderalistische Tradition in Deutschland)
• Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation (=Altes Reich): um 900 – 1806; mit modernen staatsrechtlichen Kategorien kaum zu fassendes Gebilde
(Samuel Pufendorf: monstrum simile)
• Deutscher Bund 1815 – 1866: Staatenbund souveräner Fürsten und freier Städte unter Führung Österreichs (Fürst Metternich)
• Bismarckreich (=Zweites Kaiserreich) 1867: Norddeutscher Bund 1871: Reichsgründung – erster deutscher Bundesstaat unter preußischer Führung
• WRV: zentralisierter Bundesstaat
• „Drittes Reich“: „Gleichschaltung“ der Länder 1934
• Nach 1945: zunächst Bildung/ Reorganisation der Länder, teils in Anknüpfung an historischer
Überlieferung (Hamburg, Bremen, Bayern, Sachsen), teils als Kunstgebilde (sog. Bindestrich-Länder: NRW; Rheinland-Pfalz)
• 1952: Bildung des Südwest-Staates Baden-Württemberg
• 1957: Beitritt des Saarlandes nach Art. 23 GG a.F.
• 1990: Neubildung der „fünf neuen Länder“ in Ostdeutschland
1. Separativer Föderalismus: 1950er Jahre: Gedanke der Trennung der staatlichen Ebenen
2. „unitarischer Bundesstaat“ (Konrad Hesse) 1960er Jahre: Vereinheitlichungs- /Unitarisierungstendenzen überwiegen Unitarisierungsfaktoren: - Grundrechte - Sozialstaatsprinzip - Bedürfnis nach einheitlichen Lebensverhältnissen im Bundesgebiet
3. Kooperativer Föderalismus Bundesstaats- und Finanzreform 1969 - Kooperation zwischen Bund und Ländern als Leitbild - Einführung von Gemeinschaftsaufgaben gem. Art. 91a, 91b GG
4. Neuer Reformdiskussion: seit 1980/90er Jahre - Nachteile des kooperativen Föderalismus treten deutlicher hervor Auflösung von Verantwortungszusammenhängen „Politikverflechtungsfalle“ (Fritz W. Scharpf) - Gegenbild: kompetitiver Föderalismus (Wettbewerbsföderalismus)
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 53
Phasen des Föderalismus unter dem Grundgesetz
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 54
Die Bundestreue
Hintergrund Der staatsrechtlichen Ordnung des Bundesstaates folgt dem Grundgedanken, dass die Bundesglieder untereinander und der Bund und die Länder in ihrem Verhältnis zueinander zusammenwirken sollen, um ihren Aufgaben und Verantwortlichkeiten gerecht zu werden
Bundestreue / Gebot bundesfreundlichen Verhaltens als Richtschnur für gegenseitige Rechte und Pflichten, insbesondere Gebot zur Rücksichtnahme (= ungeschriebenes Verfassungsrecht des Bundesstaates; erstmals: Rudolf Smed, Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat)
à Merke: Das Gebot bundesfreundlichen Verhaltens schafft keine neuen Rechte und Pflichten, sondern gibt lediglich Direktiven für die Ausübung bestehender Rechte
Leitentscheidungen
BVerfGE 12, 205 (254 ff.) – erstes Fernsehurteil („Deutschland-Fernsehen GmbH“)
BVerfGE 86, 148 (258 ff.) – extreme Haushaltsnotlage von Bremen und Saarland
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 55
Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeit zwischen Bund und Ländern
Die grundgesetzliche bundesstaatliche Kompetenzverteilungsregel des Art. 30 GG wird für den Bereich der Gesetzgebung in den Art. 70 ff. GG wiederholt und konkretisiert.
1. Ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes, Art. 71, 73 GG
2. Konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes, Art. 72, 74, 74a GG
3. Rahmen- und Grundsatzgesetzgebungskompetenz des Bundes, Art. 72, 75, 91a II 2, 109 III GG
4. Ungeschriebene Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes
(Kompetenzen kraft Sachzusammenhangs und Kraft Natur der Sache; Annexkompetenzen)
5. Gesetzgebungszuständigkeit der Länder
Abweichend von der im Normtext angeordneten Zuständigkeitsvermutung zugunsten des Bundes, sind die Zuständigkeiten der Länder ständig zurückgedrängt worden; substantielle Regelungsbefugnisse bestehen noch im Polizeirecht, Schul- und Kultusrecht, Kommunalrecht, Bauordnungsrecht
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 55a
Lesehinweise zur Verbandskompetenz im Bereich der Gesetzgebung:
Pechstein/Weber,
Gesetzgebungskompetenzen nach dem GG, Jura 2003, S. 82 ff.
Ehlers,
„Ungeschriebene Kompetenzen“, Jura 2000, S. 323 ff.
Waldhoff,
Studiengebühren im Bundesstaat, JuS 2005, S. 391 ff.
Waldhoff,
Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Ausübung von Gesetzgebungskompetenzen (Art. 72 Abs. 2; 75 Abs. 2; 125a Abs. 2 GG) – materielles Kompetenzzuweisungsrech als Element einer Föderalismusreform, in: Henneke (Hrsg.), Föderalismusreform in Deutschland, 2005, S. 55 ff.
Rechtsprechung: BVerfGE 12, 205 (248 f.) – „erstes
Fernsehurteil“ BVerfGE 67, 299 – „Hamburger
Laternengaragenfall“ BVerfGE 61, 149 –
„Gesetzgebungskompetenz für Staatshaftung“
BVerfGE 106, 62 (135ff.) –
„Altenpflegegesetz“ BVerfGE 110, 141 – „Kampfhunde“ BVerfGE, NJW 2004, 2803 – „Juniorprofessur“ BVerfGE NJW 2005, 493 – „Studiengebühren“
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 56
Verwaltungskompetenzen im Bundesstaat
Landesvollzug von Landesgesetz
Regelfall:
Landeseigener Vollzug von
Bundesgesetzen, Art. 83, 84 GG
Sonderfall:
Bundesauftrags-verwaltung, Art. 85 GG
Bundeseigene Verwaltung,
Art. 86, 87 GG
Landesvollzug von Bundesgesetzen
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 57
Landeseigener Vollzug von Bundesgesetzen, Art. 83, 84 GG
Regelvermutung in Konkretisierung von Art. 30 GG
à sog. Exekutivföderalismus
Art. 83 GG: sog. Gesetzesausführende/gesetzesakzessorische Verwaltung Art. 30 GG: sog. „gesetzesfreie“ Verwaltung
äußerste Grenze der Verwaltungszuständigkeit ist stets die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes (Art. 70 ff. GG)
beschränkte Ingerenz- und Aufsichtsrechte des Bundes beim landeseigenen Vollzug von Bundesgesetzen:
- Art. 84 Abs. 2 GG: Ermächtigung zum Erlass von Verwaltungsvorschriften - Art. 84 Abs. 3 GG: Rechtsaufsicht (keine Fachaufsicht!) - Art. 84 Abs. 4 GG: sog. Mängelrügenverfahren - Art. 84 Abs. 5 GG: unter besonderen Voraussetzungen Weisungsrechte
des Bundes
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 57a
Verbot der Mischverwaltung im Bundesstaat
Mischverwaltung bedeutet eine organisatorische Gestaltung, dass für eine bestimmte Verwaltungsaufgabe eine Bundesbehörde einer Landesbehörde übergeordnet ist oder ein Zusammenwirken von Bundes- und Landesbehörden, z.B. durch Zustimmungserfordernisse Die Mischverwaltung ist grundsätzlich verboten (BVerfGE 63, 1), sofern sie nicht ausnahmsweise verfassungsrechtlich erlaubt ist (Bsp.: Gemeinschaftsaufgaben Art. 91a, 91b GG)
ein Verwaltungsträger (z.B. ein Land) stellt einem anderen Verwaltungsträger (z.B. dem Bund) personelle und sachliche Mittel eines seiner Organe zur Verfügung zur Erfüllung des anderen Verwaltungsträgers. Nach außen wird das Handeln des entliehenen Organs dann dem Entleiher zugerechnet.
Demgegenüber ist die (Art. 35 GG) bloß punktuell und nicht institutionalisiert.
Organleihe
Amtshilfe
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 57b
Die Rechtsschutzgarantie, Art. 19 Abs. 4 GG
(„Formelles Hauptgrundrecht“ / „Krönung des Rechtsstaats“)
tatbestandliche Voraussetzung 1. Rechtsverletzung 2. Subjektives Recht muss betroffen sein (Gewährleistung objektiver Rechtmäßigkeit des Staatshandelns) 3. Durch die „öffentliche Gewalt“
à meint nur die Exekutive („Rechtsschutz durch den Richter, nicht gegen den Richter“, da andernfalls infinitiver Instanzenzug die Folge wäre à dagegen sprechen wiederum die widerstrebenden Prinzipien der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens à kein Anspruch auf einen Instanzenzug! Jetzt aber Relativierung dieses Dogmas in BVerfGE 107, 395: fachgerichtliche Abhilfe bei Verletzung des rechtlichen Gehörs folgt aus den allgemeinen Justizgewährungsanspruch)
Rechtsfolge:
BVerfGE 107, 395 (401): „Die grundgesetzliche Garantie des Rechtsschutzes umfasst den Zugang zu den Gerichten, die Prüfung des Streitbegehrens in einem förmlichen Verfahren sowie die verbindliche gerichtliche Entscheidung.“
à 1. Gewährung lückenlosen Rechtschutzes à subsidiär muss zumindest der ordentliche Rechtsweg eröffnet sein.
2. Gewährung effektiven Rechtschutzes, insbesondere auch in zeitlich angemessener Folge à Basis für sog. Einstweiligen Rechtsschutz (Eilrechtsschutz)
Daneben: allgemeiner Justizgewährungsanspruch als Folge des staatlichen Gewaltmonopols
à private Konflikte sind staatlich monopolisiert zu entscheiden und die gewaltsame Rechtsdurchsetzung ist grundsätzlich beim Staat monopolisiert
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 58
Rechtsprechung – „Dritte Gewalt“
Rechtsprechung (im materiellen Sinne) ist die Streitentscheidung anhand von Rechtsnormen durch unabhängige Gerichte mit Bindungswirkung (Rechtskraft) und Durchsetzbarkeit (Zwangsvollstreckung), Art. 92, 97 GG
Richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG; §§ 25 ff. DRiG)
Sachliche Unabhängigkeit: Die Richterin oder der Richter ist allein an das Gesetz gebunden und Weisungen der Exekutive nicht unterworfen.
Persönliche Unabhängigkeit: Die bzw. der planmäßig und endgültig angestellte Richter_in kann gegen seinen Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf seiner oder ihrer Amtszeit entlassen und dauernd oder zeitweise seines oder ihres Amtes enthoben oder versetzt werden.
Der richterlichen Unabhängigkeit korreliert notwendig die Gesetzesbindung des Richters bzw. der Richterin.
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 46
Die dritte Gewalt (Jurisdiktion): Aufbau der Gerichtsbarkeit
Bundesverfassungsgericht
(Karlsruhe)
Arbeitsrecht
Bundesarbeitsgericht
(Erfurt)
Bundesgerichtshof
(Karlsruhe)
Bundespatentgericht
(München)
Bundessozialgericht
(Kassel) Bundesverwaltungs-
gericht
(Leipzig)
Bundesfinanzhof
(München)
Landesarbeits-gerichte
Oberlandes-gerichte
Landessozial- gerichte
Oberverwaltungs-gerichte
Finanz-gerichte
Arbeitsgerichte
Zivilrecht Strafrecht Patent-, Ge-
brauchsmuster- u. Markenrecht
Sozialversich-erungsrecht
Verwaltungs-recht Steuerrecht
Verwaltungs-gerichte
Sozialgerichte
Landgerichte
Amtsgerichte
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 59a
Verwaltungsgerichtliche Generalklausel
§ 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO:
„(1) Der Verwaltungsrechtsweg ist allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen gericht ausdrücklich zugewiesen sind. ...“
Beispiel für Sonderzuweisung: Art. 14 Abs. 3 Satz 4 GG (Streit über die Höhe der Enteignungsentschädigung)
Abgrenzung zur Verfassungsgerichtsbarkeit: Streitigkeit „nichtverfassungsrechtlicher Art“ à Art. 93 GG i.V.m. BVerfGG; Art. 84 BLVerf i.V.m. VerfGHG
Abgrenzung zur ordentlichen Gerichtsbarkeit:
Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte
§ 13 GVG „Vor die ordentlichen Gerichte gehören alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen, für die nicht entweder die Zuständigkeit von Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichten begründet ist oder auf Grund von Vorschriften des Bundesrechts besondere Gerichte bestellt oder zugelassen sind.“
Definition: Rechtsstaat ist ein Staat, dessen Staatsgewalt rechtlich gebunden (geordnet und begrenzt) ist.
Historischer Gegenbegriff: Polizeistaat des 19. Jh.
Einzelausprägungen:
1. Gesetzmäßigkeit der Verwaltung Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Art. 20 Abs. 3 GG
2. Gewaltenteilung Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 GG; Gliederung der Verfassung
3. Grundrechte (Art. 1 – 19 GG)
4. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
5. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz insbesondere Rückwirkungsverbot
6. Rechtschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG)
7. Grundsätze des Straf- und Strafverfahrensrechts (Art. 101 ff. GG)
8. Staatshaftung (Art. 34; § 839 BGB)
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 60
Rechtsstaatsprinzip (Teilelemente / Überblick)
Staatsgewalt Art. 20 II GG)
Vollziehung
Rechtsprechung
Gesetzgebung (Rechtsetzung)
Befund
Funktionen-trennung
Stufe
1. Funktionen
(Grundtypen staatlicher
Aufgabenerfüllung)
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 62a
Der Grundsatz der Gewaltenteilung Trennung der
Staatsfunktionen
Staatsgewalt Art. 20 II GG)
Vollziehung
Regierung / Verwaltung
Rechtsprechung
Gesetzgebung (Rechtsetzung)
Gerichte
Parlamente Gesetzgebungs-
organe Vollziehungs-
organe Rechtsprechung-
organe
Befund
Funktionen-trennung
Sachliche und personelle Trennung
der Staatsorgane („Gewalten-trennung“)
Stufe
1. Funktionen
(Grundtypen staatlicher
Aufgabenerfüllung)
2. Konstituierung besonderer Organe
(=Gewalten)
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 62b
Der Grundsatz der Gewaltenteilung Trennung der
Staatsfunktionen
Staatsgewalt Art. 20 II GG)
Vollziehung
Regierung / Verwaltung
Regierung /
Verwaltung
Rechtsprechung
Gesetzgebung (Rechtsetzung)
Gerichte
Parlamente
Gerichte
Parlamente
Gesetzgebungs-organe
Vollziehungs-organe
Rechtsprechung-organe
Befund
Funktionen-trennung
Sachliche und personelle Trennung
der Staatsorgane („Gewalten-trennung“)
Verschränkung von Funktionen und
zuständigen Organen („Gewalten-
verschränkung“)
Gegenseitige Hemmung und
Mäßigung
Stufe
1. Funktionen
(Grundtypen staatlicher
Aufgabenerfüllung)
2. Konstituierung besonderer Organe
(=Gewalten)
3. Zuweisung der Funktionen an
Organe
4. Einrichtung von Kontrollen (=„System
von checks and balances“
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 62
Der Grundsatz der Gewaltenteilung Trennung der
Staatsfunktionen
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 63
Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG)
Vorrang des Gesetzes
Für bestimmte Betätigungen der Verwaltung ist eine gesetzliche
Grundlage erforderlich, sie stehen unter dem „Vorbehalt“ eines dazu
ermächtigenden Gesetzes („Eingriffe in Freiheit und Eigentum“; alle
„wesentlichen Entscheidungen“)
Vorbehalt des Gesetzes
Rechtsbindung staatlicher Verwaltung; die Verwaltung darf bei einer Tätigkeit keine Gesetze (egal
welcher Stufe) verletzen
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 64
Vorbehalt des Gesetzes
rechtsstaatliche Wurzel
In Grundrechte darf nur durch oder auf Grund eines Gesetzes eingegriffen wer-den („grundrechtliche Ge-setzesvorbehalte“
demokratische Wurzel
grundrechtliche Wurzel
(Eingriffe in Freiheit und Eigentum und alle wesentlichen Staatshandlungen bedürfen der Grundlage in einem Parlamentsgesetz)
Das Handeln der Verwaltung ist demokrat isch rück-zukoppeln und zu legiti-mieren; dies erfolgt durch das Gesetz.
Das Staatshandeln soll an Gesetze gebunden sein.
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 65
Rückwirkung von Gesetzen und Vertrauensschutz
Normale „zukunftsgerichtete
Gesetze“
grds. unzulässig, es sei denn:
- Kein Vertrauenstatbestand gegeben
- Vertrauen nicht schutzwürdig
- Überwiegende Gemeinwohlinteressen stehen entgegen
unechte Rückwirkung (tatbestandliche
Rückanknüpfung)
echte Rückwirkung (Rückbewirkung von
Rechtsfolgen)
grds. zulässig, es sei denn ausnahmsweise Vertrauensschutz (à Abwägung)
grds. uneingeschränkt zulässig
(Demokratieprinzip: „lex posterior derogat legi priori)
(Abnahme des Gedanken des Vertrauensschutzes)
Leseempfehlung: Rainer Wernsmann, Grundfälle zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit rückwirkender Gesetze, JuS 1999, 1177 ff. und 2000, 39 ff.
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 66
verfassungsgerichtliche Verfahren
Staatsgerichtsbarkeit
• Organstreit
Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG
• Bund-Länder-Streit,
Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG
• Parteiverbotsverfahren
Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG
Normenkontrollen
• abstrakt
Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG
• konkret
Art. 100 Abs. 1 GG
• inzident
Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG
Verfassungsbeschwerde
Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 67
Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i.V.m. § 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG
1. Antragsberechtigung
- Die Bundesregierung (als Kollegium i.S.v. Art. 62 GG) - Die Landesregierungen (auch in Bezug auf Recht eines anderen Landes) - Ein Drittel der Mitglieder des Bundestages (nicht: eine Fraktion; die Opposition) - Gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG, § 76 Abs. 2 BVerfGG bzgl. der Überprüfung am Maßstab von Art. 72 Abs.
2 GG („Erforderlichkeit“ einer bundesgesetzlichen Regelung) auch: Bundesrat und Landtage
2. Prüfungsgegenstand
- Bundes- oder Landesrecht jeder Rangstufe (formelle Gesetze; RVO; Satzungen) nach der Verkündung im Gesetzesblatt (aber u.U. noch vor dem Inkrafttreten) unabhängig davon, ob das Recht vor- oder nachkonstitutionell ist
Auch: - Verfassungsnormen (im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG) - Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen gem. Art. 59 Abs. 2 GG und
Haushaltsgesetze gem. Art. 110 Abs. 2 GG als Gesetze im „nur formellen Sinne“ - Gesetzesersetzende Parlamentsbeschlüsse (vgl. Art. 66 LVerf NRW: Zustimmung zu
Staatsvertrag; vgl. auch BVerfGE 90,60 Rundfunkgebührenstaatsvertrag)
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 67.1
Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i.V.m. § 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG
3. Statthaftigkeit des Antrags
Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel eines der Antragsberechtigten über die Gültigkeit der Norm (anders: § 76 Abs. 1 BVerfGG: Antragsteller muss die Norm für nichtig halten; insoweit wohl Teilnichtigkeit der Norm; str.); ein subjektives Rechtsschutzinteresse ist nicht erforderlich
4. Prüfungsmaßstab
für Bundesrecht: GG für Landesrecht: das gesamte Bundesrecht (einschließlich GG) Strittiger Bereich: Prüfungsmaßstab für untergesetzliches Bundesrecht (RVO; Satzung) à ein Verstoß gegen die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage stellt zugleich einen Verstoß gegen Art. 80
GG dar à zu prüfen ist daher, ob eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage vorliegt und ob deren Grenzen
eingehaltensind à BVerfGE 101, 1 (30 f.): Prüfung der Einhaltung der Ermächtigungsgrundlage als „Vorfrage“
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 68.1
Zulässigkeitsvoraussetzungen der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 Nr. 2 GG i.V.m. § 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG
Frage nach dem „richtigen Prüfungsrecht“, d.h. der inzidenten Entscheidung über die Anwendbarkeit einer Norm à im Grundsatz Monopolisierung beim BVerfG, damit sich der grds. gesetzesgebundene Richter nicht über den
Willen des demokratisch unmittelbar legitimierten Gesetzgebers hinwegsetzt à Schutz des parlamentarischen Gesetzgebers vor Missachtung
à Beschränkung auf sog. nachkonstitutionelle Gesetze
Zudem: Konzentration von Normverwerfung mit allgemeiner Wirkung („erga omnes“) beim BVerfG (bei richterlicher Inzidentkontrolle stets nur „inter partes-Wirkung“) 1. Vorlageberechtigung
Jedes staatliche Gericht jeder Instanz (bei Kollegialgerichten: das Kollegium)
2. Prüfungsgegenstand
Verkündete förmliche nachkonstitutionelle Bundes- oder Landesgesetze; bei RVO oder Satzung inzidentes richterliches Prüfungsrecht mit bloßer inter-partes-Wirkung Europäisches Gemeinschaftsrecht ist grds. nicht vorlagefähig (vgl. BVerfGE 37, 271 – „Solange I“; 73, 339 – „Solange II“; 89, 155 – „Maastricht“; Einzelheiten str.)
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 68.2
Zulässigkeitsvoraussetzungen der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 Nr. 2 GG i.V.m. § 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG
3. Richterliche Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des anzuwendenden Gesetzes
Bei Verletzung der Vorlagepflicht im Falle von Willkür Verletzung des Prinzips des gesetzlichen Richters, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG
4. Entscheidungserheblichkeit 5. Prüfungsmaßstab
für Bundesgesetze: GG für Landesgesetze: das ganze Bundesrecht Das BVerfG prüft die vorgelegte Norm unter allen denkbaren, nicht nur unter den vom vorlegenden Gericht geltend gemachten Gesichtspunkten
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 69
Zulässigkeitsvoraussetzungen des Organstreits gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i.V.m. § 13 Nr. 13, 63 ff. BVerfGG
Kontradiktorisches Streitverfahren, bei dem sich zwei Verfassungsorgane im Streit um ihre Rechte und Pflichten gegenüber stehen. Das BVerfG stellt eine Rechtsverletzung lediglich fest, § 67 Satz 1 BVerfGG (Feststellungsurteil / -beschluss)
1. Parteifähigkeit a) oberste Bundesorgane: Bundespräsident, Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung, Bundesversammlung,
Gemeinsamer Ausschuss gem. Art. 53a GG, Vermittlungsausschuss, str.: Bundesbank, Bundesrechnungshof u.a.
b) Organteile: Präsident des Bundestages, Präsident des Bundesrates, Ausschüsse und Fraktionen des Bundestages
c) „andere Beteiligte“: der einzelne Bundestagsabgeordnete (str., ob nicht Organteil); politische Parteien i.S.v. Art. 21 GG sofern sie mit anderen Verfassungsorganen um ihren Status streiten (st. Rspr., staatsrechtlich jedoch im höchsten Maße verfehlt!)
2. Streitgegenstand Gegenstand ist der Streit der Verfassungsorgane darüber, ob eine rechtserhebliche Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners gegen eine Bestimmung des GG verstößt, § 64 Abs. 1 BVerfGG
3. Antragsbefugnis
Der Antragsteller muss nach § 64 Abs. 1 BVerfGG plausibel geltend machen, dass die Möglichkeit der Verletzung seiner ihm vom GG übertragenen Rechte (sog. Organ- oder Statusrechte) gegeben ist (Parallele zur Beschwerdebefugnis bei der Verfassungsbeschwerde; Klagebefugnis § 42 Abs. 2 VwGO)
4. Frist Binnen sechs Monaten, nachdem dem Antragsteller das beanstandete Verhalten bekanntgeworden ist, § 64
Abs. 3 BVerfGG
Prof. Dr. C. Waldhoff, Staatsrecht I, Folie 70
Zulässigkeitsprüfung des Bund-Länder-Streits gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG i.V.m. § 13 Nr. 7, 68 ff. BVerfGG
Kontradiktorisches Streitverfahren über subjektive Rechte und Pflichten aus dem GG zwischen Bund und Ländern, v.a. bei der Ausführung von Bundesgesetzen durch die Länder (Art. 83 ff. GG); der Bund-Länder-Streit erweist sich als Sonderfall des Organstreits
1. Parteifähigkeit Bund und Länder sind die einzigen parteifähigen Institutionen; für den Bund kann nur die Bundesregierung, für ein Land nur die Landesregierung den Antrag stellen, § 68 BVerfGG
2. Streitgegenstand Gestritten werden muss über wechselseitige, durch das GG selbst verliehene Rechte und Pflichten in bundesstaatlicher Hinsicht
3. Antragsbefugnis
Auch hier muss die Möglichkeit der Rechtsverletzung plausibel dargelegt werden
4. Im Falle des Art. 84 Abs. 4 GG (sog. Mängelrügeverfahren): Vorverfahren in Form eines Beschlusses des Bundesrates 5. Frist
a) Der Beschluss des Bundesrates gem. Art. 84 Abs. 4 Satz 1 GG kann nur binnen Monatsfrist angegriffen werden, § 70 BVerfGG
b) Im Übrigen gilt die Sechs-Monate-Frist gem. §§ 69, 64 Abs. 3 BVerfGG