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Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014

1. Semantik 1.1 Grundbegriffe – Sprachliche Ausdrücke sind Zeichen = Form + Bedeutung

– Semantik: Lehre von den Bedeutungen (von der regelhaften Zuordnung von Bedeutungen zuAusdrücken, genannt Interpretation, vom Aufbau der Bedeutungen, Beziehungen vonBedeutungen zueinander etc.)

– Teilgebiete der Semantik:

• lexikalische Semantik: Bedeutung gebundener und freier Morpheme, komplexer Wörter etc. insbesondere sogenannter Inhaltswörter/Autosemantika wie Nomen, Adj., Verben (= offene Klassen)

• Satzsemantik: Bedeutung komplexer sprachlicher Ausdrücke, Sätze, Satzteile etc., Satzstruktur wichtig, auch Bedeutung sogenannter Funktionswörter/Synsemantika wie Determinierer, Konjunktionen, Modalverben (= geschlossene Klassen) – haben nur im Satzzusammenhang eigentlich eine Bedeutung, daher Bedeutungsbestimmung ausgehend vom Satz (siehe Freges Kontextprinzip)

• Textsemantik/Diskurssemantik: Bedeutung sprachlicher Ausdrücke im Text-/Diskurszusammenhang, semantische Kohärenz von Texten, z.B. Verwendung indefiniter oder definiter NPs

a. Eine Frau kam in das Zimmer. Die Frau erzählte viele lustige Geschichten. b. Die Frau kam in das Zimmer. Eine Frau erzählte viele lustige Geschichten.

in (a) gleiche Frau (die Frau und eine Frau koreferent), in (b) zwei verschiedene Frauen (die Frau und eine Frau nicht koreferent)

– Bedeutung der Wörter allein reicht nicht aus:

a. Anna liebt Otto. b. Anna liebt Paul. c. Otto liebt Anna.

Bedeutungsunterschied zwischen (a) und (b) aufgrund verschiedener Wortsemantik von "Otto" und "Paul", dagegen Bedeutungsunterschied zwischen (a) und (c) nicht aufgrund anderer Wortsemantik, sondern aufgrund anderer syntaktischer Struktur

– Frege-Prinzip/Kompositionalitätsprinzip: Die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks ist eine Funktion der Bedeutungen der elementaren Ausdrücke und der Art ihrer Verknüpfung (→ kompositionale Semantik)

– Besonderheit: die Bedeutung mancher komplexer Ausdrücke, sogenannter Phraseologismen oder Idiome (z. B. jemandem einen Bären aufbinden, den Löffel abgeben) ergibt sich ausnahmsweise nicht kompositional aus den Bestandteilen und der Art ihrer Verknüpfung, sondern ist für den gesamten komplexen Ausdruck festgelegt/im Lexikon gespeichert

– Wörter können produktiv zu immer neuen Sätzen mit neuen Bedeutungen verbunden

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werden (Produktivität), für Verstehen eines Satzes (Interpretation) Übereinstimmung mit Tatsachen unerheblich

– wichtiges Hilfsmittel zur Verdeutlichung von Bedeutungen: Paraphrasen (Umschreibung der Bedeutung mit anderen sprachlichen Ausdrüchen), für wissenschaftliche Zwecke weitere Präzisierung/Formalisierung nötig

– semantische Beziehungen zwischen Sätzen:

• Implikation: Wahrheit eines Satzes folgt aus Wahrheit eines anderen Satzes

Schorsch hat rote Haare impliziert Schorsch hat Haare

• Synonymität/semantische Äquivalenz: zwei Sätze haben die gleiche Bedeutung, implizieren sich gegenseitig

Schorsch mäht täglich den Rasen. Der Rasen wird täglich von Schorsch gemäht.

• Kontradiktion: zwei Sätze sind kontradiktorisch, wenn sie nicht gleichzeitig beide wahr oder gleichzeitig beide falsch sein können

Schorsch hat rote Haare ist kontradiktorisch zu Schorsch hat keine Haare

– Viele sprachliche Ausdrücke sind mehrdeutig (ambig). Arten von Mehrdeutigkeiten (Ambiguitäten):

• lexikalische Ambiguität: Mehrdeutigkeit aufgrund von zwei möglichen Bedeutungen eines Wortes/Lexems

z. B. Da steht eine Bank.

2 Lesarten verdeutlicht durch Paraphrasen:

a. Dort befindet sich ein Geldinstitut. b. Dort befindet sich ein Sitzmöbel für mehrere Personen.

• Strukturelle Ambiguität: Mehrdeutigkeit aufgrund verschiedener möglicher syntaktischer Strukturen des Ausdrucks

z. B. Gabi hat den Mann mit dem Fernglas gesehen.

2 Lesarten verdeutlicht durch Paraphrasen:

a. Gabi hat mit Hilfe des Fernglases den Mann gesehen. b. Gabi hat den Mann, der ein Fernglas dabei hatte, gesehen.

Erklärung – 2 versch. syntakt. Strukturen:

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a. Gabi hat [ NP den Mann] [ PP mit dem Fernglas] gesehen. b. Gabi hat [ NP den Mann [ PP mit dem Fernglas]] gesehen.

• Skopusambiguität: Mehrdeutigkeit aufgrund des Vorkommens sogenannter quantifizierender Ausdrücke wie z. B. ein Tiger, jede Lampe, alle Experten, haben einen semantischen Wirkungsbereich (Skopus), ein quantifizierender Ausdruck kann im Skopus des anderen interpretiert/verstanden werden oder umgekehrt

z. B. Alle Studenten mögen einen Dozenten.

• 2 Lesarten verdeutlicht durch Paraphrasen:

a. Alle Studenten haben irgendeinen Lieblingsdozenten (evtl. jeder einen anderen).

b. Es gibt einen großartigen Dozenten, den wirklich alle Studenten gut finden.

– semantische Anomalie (z. B. Die Wand brüllt seit Wochen den Fischteich an.) ≠ Ungrammatikalität (z. B. *Der bösen Nachbar brüllst seine Frau an.)

– Was ist die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke?

• realistische Auffassung von Bedeutung: Bedeutung = die bezeichneten Dinge, Sachverhalte etc. (Referenten), v. a. einflussreich in Satzsemantik

• kognitivistische Auffassung von Bedeutung: Bedeutung = die durch den Ausdruck aktivierten mentalen Repräsentationen/Konzepte (Kernbedeutung vs. Weltwissen/ enzyklopädisches Wissen), v. a. einflussreich in lexikalischer Semantik

• gebrauchstheoretische Auffassung von Bedeutung: Bedeutung = Gebrauch des Ausdrucks

– semantisch besondere Ausdrücke:

• deiktische Ausdrücke: verweisen direkt auf Dinge, Ereignisse etc. in der Welt z. B. das, dort, dieser

• definite Deskriptionen: bezeichnen in konkreten Situationen genau ein 'Ding', z. B. der Mann mit den roten Haaren

• indexikalische Ausdrücke: Interpretation in Abhängigkeit vom Kontext eindeutig z. B. ich, du, hier

– Wie kommt es zur Bedeutung? Arbitrarität (Willkürlichkeit) (i. d. R. nicht ikonisch), Konventionalität sprachlicher Zeichen

– verschiedene Bedeutungsebenen – Bsp.: Ich friere.

• wörtliche Bedeutung/Satzbedeutung: Dem Sprecher ist es kalt. > zentral in Semantik • Äußerungsbedeutung: nach Anreicherung, Disambiguierung, Referenzbestimmung (z.

B. wenn ich den Satz jetzt äußere:) Andreas Jäger ist es kalt. > zentral in Semantik/Pragmatik

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• Sprecherbedeutung/kommunikativer Sinn: (z. B. wenn ich den Satz ironisch äußere:) Mir (Andreas Jäger) ist es überhaupt nicht kalt. > zentral in Pragmatik

1.2 Lexikalische Semantik 1.2.1 Bedeutungen: Extension, Intension, Konnotation – Wir stellen uns die folgende, stark reduzierte Welt vor, in der es fünf Individuen mit

folgenden Eigenschaften gibt:

• Anna: ist eine Frau, studiert Biologie, raucht nicht • Bettina: ist eine Frau, ist Reiseleiterin, raucht nicht • Christian: ist ein Mann, studiert Mathematik, raucht • Daniel: ist ein Mann, studiert Linguistik, raucht nicht • Erwin: ist ein Mann, ist Taxichauffeur, raucht

– Die Bedeutung im Sinn der Extension (auch: das Denotat, bei Frege: "Bedeutung") eines sprachlichen Ausdrucks ist die Menge von Sachverhalten, Gegenständen/Individuen etc. in der Welt, auf welche man mit dem Ausdruck Bezug nehmen kann (“Begriffsumfang”):

Frau: {Anna, Bettina} Mann: {Christian, Daniel, Erwin} Student(in): {Anna, Christian, Daniel} Raucher: {Christian, Erwin} Linguist: {Daniel}

– Die Beziehung eines Ausdrucks auf seine Extension wird Denotation genannt. In unserer Mini-Welt denotiert der Ausdruck Raucher Christian und Erwin, aber nicht Anna, Bettina, Daniel.

– Die Bedeutung im Sinn der Intension eines sprachlichen Ausdrucks (bei Frege: "Sinn") ist dessen definitorischer Inhalt, seine konzeptuelle Bedeutung (“Begriffsinhalt”). Die Intension eines Wortes kann beispielsweise durch eine Wörterbuchdefinition expliziert werden:

• Student: eine Person, die an einer Hochschule eine höhere Ausbildung absolviert. • Raucher: eine Person, die gewohnheitsmässig Tabak raucht. • Linguist: eine Person, die sich berufsmässig mit Sprachwissenschaft beschäftigt.

– Referenz ist die aktuelle Bezugnahme auf ein oder mehrere konkrete Elemente aus der Menge der Objekte, die mir die Extension des Ausdrucks prinzipiell zur Verfügung stellt: Angenommen, Christian steht vor dem Eingang des Institutsgebäudes und raucht. Ich kann mich dann folgendermassen auf ihn beziehen:

Da steht ein Student und raucht. Der Student dort macht Rauchpause. etc.

– Die Extension von Student(in) ist {Anna, Christian, Daniel}. Weil Christian ein Element dieser Menge ist, kann ich mich mit dem Ausdruck Student auf Christian beziehen, d.h., ich kann mit dem Ausdruck Student auf Christian referieren (aber nicht z.B. auf Erwin, weil Erwin nicht in der Extension von Student enthalten ist).

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– Zusammenfassung: Die Intension ist abstraktes, situationsunabhängiges, definitorisches Wissenüber die Inhaltsseite eines Ausdrucks. Dieses definiert eine Menge von Objekten, die Extension,auf welche der Ausdruck prinzipiell anwendbar ist. Referenz ist die konkrete Auswahleines (oder mehrerer) Elemente aus dieser Menge durch den Sprecher.

– Der Unterschied zwischen der Bedeutung im Sinn der Extension und der Bedeutung im Sinn derIntension ist relevant in sogenannten opaken/intensionalen Kontexten: Sabine weiß, dass Helmut Weiß der Professor für Historische Sprachwissenschaft ist impliziert nicht und wird nichtimpliziert von Sabine weiß, dass Helmut Weiß der Autor der Syntax des Bairischen ist, obwohlHelmut Weiß, der Professor für Historische Sprachwissenschaft und der Autor der Syntax desBairischen die gleiche Bedeutung im Sinn der Extension haben. Diese Ausdrücke unterscheidensich aber hinsichtlich ihrer Intension.

– In der oben eingeführten Mini-Welt kann ich über Christian nicht nur aussagen Christianraucht, sondern auch Christian qualmt. In unserer Welt haben die Ausdrücke x raucht und xqualmt die gleiche Extension (Die Aussagen Christian raucht, Christian qualmt, Erwin raucht,Erwin qualmt sind gleichermaßen wahr, Anna raucht, Anna qualmt, Bettina raucht, Bettinaqualmt, Daniel raucht, Daniel qualmt sind falsch), aber qualmen ist semantisch spezifischer: InChristian qalmt sage ich nicht nur aus, dass Christian Raucher ist, sondern auch etwas übermeine Einstellung zu dem Sachverhalt: qualmen hat eine negative (pejorative/abwertende)Konnotation, die rauchen nicht hat. Konnotative Bedeutungen sind allgemeine, sozial undkulturell determinierte Bedeutungsaspekte, die ebenfalls zur wörtlichen Bedeutung gehören.

1.2.2 Semantische Relationen – paradigmatische (s. Folgendes) vs. syntagmatische (s. u.: Satzsemantik) semantische

Relationen

– Synonymie: Zwei Ausdrücke A und B sind synonym, falls in jedem Kontext A und Bgegenseitig ersetzt werden können, ohne dass sich daraus ein Bedeutungsunterschiedergibt.

A = B Bürgersteig – Gehweg Zündholz - Streichholz

– Echte Synonyme – solche, die nicht nur in der Extension, sondern auch in Konnotationen,regionalen oder stilistischen Aspekten übereinstimmen – sind äußerst rar. Die Vermeidungvon Synonymie äußert sich beispielsweise in der Wortbildungsmorphologie:

– er-Ableitung ist blockiert, wenn es zum Resultat der Ableitung bereits ein Synonym gibt:

fahren – Fahrer machen – Macher lesen – Leser stehlen - *Stehler (aber: Dieb) kochen - *Kocher (als Nomen agentis, aber: Koch)

– Partielle Synonymie liegt vor, wenn zwei Lexeme (nur) in ihrer intensionalen und

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extensionalen Bedeutung übereinstimmen:

Auto – PKW Fleischer – Metzger Billett - Ticket

– Hyponymie/Hyperonymie: Ausdruck A ist ein Hyperonym (Oberbegriff) von Ausdruck B, wenn alles, was unter den durch B benannten Begriff fällt, auch unter den durch A benanntenBegriff fällt, aber nicht umgekehrt. Der Ausdruck B ist dann ein Hyponym zu A. Die Extensiondes Hyponyms ist eine Teilmenge der Extension des Hyperonyms:

AB C Pflanze

Baum Buche

Buche NelkeEiche RoseTanne Tulpe

– Inkompatibilität/Heteronymie: Auch inkompatible Ausdrücke haben gemeinsameBedeutungsanteile (und sind daher häufig Hyponyme eines gemeinsamen Hyperonyms, d. h.Kohyponyme). Sie bilden eindimensionale Reihen, die einen Bereich vollständig abdecken.Zwei Ausdrücke A und B sind inkompatibel, wenn nichts gleichzeitig unter die durch A und Bbenannten Begriffe fallen kann:

A B C D E

Montag, Dienstag, Mittwoch etc. Januar, Februar, März etc.

– Komplementarität: Zwei Ausdrücke A und B sind komplementär, wenn sie einen Bereich in genau zwei Teile unterteilen und sich gegenseitig ausschließen. Zwei Ausdrücke A und Bsind komplementär, wenn sie miteinander inkompatibel sind und alles entweder unter den durchA oder den durch B benannten Begriff fällt:

A B

tot – lebendig männlich – weiblich schuldig – unschuldig

– Antonymie: Zwei Ausdrücke A und B sind antonym, wenn sie miteinander inkompatibel sindund die durch A und B benannten Begriffe die Endpunkte einer (abstrakten) Skala bilden:

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A <-----------------> B

gross – klein heiß – kalt, jung – alt / neu – alt

– Meronymie: Teil-Ganzes-Beziehung, z. B. Fuß – Bein, Seite - Buch

– Konversion: Konversion ist nur bei Ausdrücken möglich, die eine Beziehung zwischenmindestens zwei Elementen bezeichnen. Konversion liegt dann vor, wenn die Ausdrücke diegleiche Art Beziehung bezeichnen, aber aus entgegengesetzter Perspektive, d.h. mitvertauschten Rollen:

x ist oberhalb von y - y ist unterhalb von x x ist die Mutter von y - y ist das Kind von x x findet vor y statt - y findet nach x statt x verkauft dem y das Auto - y kauft das Auto von x

1.2.3. Lexikalische Dekomposition, Prototypen, Polysemie – Ein Versuch, die intensionale Bedeutung von Ausdrücken präziser zu fassen, ist die

Zerlegung (Dekomposition) der Bedeutung in semantische Merkmale, Seme, die entwederals plus, als minus oder nicht spezifiziert sind (in Analogie zur Analyse von Phonemenals Bündel phonologischer Merkmale). Die klassische Merkmalssemantik hat sich heute zwaretwas überlebt (Problem u.a. keine unstrittige, endliche Menge universeller semantischerMerkmale, relationale/nicht absolute Merkmale wie [± groß]), bildet aber noch immer dieBasis für aktuelle, wesentlich elaboriertere Ansätze. Der Ansatz ist recht erfolgreich beider internen Struktur von relativ geschlossenen Wortfeldern (siehe Tabelle) sowie in der auf der Merkmalszerlegung aufbauenden sogenannten lexikalisch-konzeptuellen Semantik (siehe z. B. Jackendoff) etwa bei der Analyse der Bedeutung von Verben (s. u.)

Wortfeld GEWÄSSER[+] fliessend [+] salzig [+] groß

Meer - + +See (mask.) - -/+ +Teich - - -Fluss + - +Bach + - -

– Semantische Relationen sind z. T. durch Verhältnisse semantischer Merkmale beschreibbar, z. B.:

• Synonymie: alle Seme/ semantischen Merkmale stimmen überein • Hyponymie/Hyperonymie: Hyponyme enthalten alle entsprechend spezifizierten

Merkmale ihres Hyperonyms und darüberhinaus noch einige weitere Merkmale/ die

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Merkmale eines Hyponyms ist eine Teilmenge der Merkmale des Hyperonyms • Inkompatibilität/Heteronymie: mindestens ein gleich spezifiziertes Merkmal und

mindestens bei einem sonstigen Merkmal unterschiedliche Spezifizierung • Komplementarität: durch binäre Spezifizierung eines Merkmals Zweiteilung einer

Menge von Objekten, Bedeutungsunterschied durch positiven vs. negativen Wert eines Merkmals

– fließenden Grenzen der Bedeutung (Extension und Intension): Vagheit Problem fürMerkmalssemantik/Dekomposition, Bsp. Stuhl - ist ein hocker- oder sesselähnlichesMöbelstück auch noch als Stuhl zu bezeichnen?

– typische(r) Vertreter als Zentrum/Kernbereich der Bedeutung (Prototyp): repräsentiert dieStandardbedeutung des Ausdrucks, bedingt durch Häufigkeiten, gesellschaftliche Relevanzoder enzyklopädisches Wissen

– Vagheit eines Ausdrucks: Ausdruck denotiert eine Menge von mehr oder wenigertypischen Vertretern – dagegen Mehrdeutigkeit/Ambiguität (s.o.): Ausdruck denotiertverschiedene Mengen von Elementen

Arten lexikalischer Mehrdeutigkeit/Ambiguität:

• Polysemie: gleiches Wort/ein Lexikoneintrag im mentalen Lexikon, gemeinsamer Bedeutungskern, verschiedene Bedeutungen durch kontextbedingte Spezifikation einer unterspezifizierten Bedeutung oder Verschiebung/Übertragung Bsp. Schule - unterspezifiziert: 'dient Lehr- und Lernprozessen', je nach Kontext Institution (Die Gelder sollen der Schule zugute kommen), Gebäude (Ich wohne direkt gegenüber der Schule) oder Person (Die Schule hat schon wieder angerufen), Bauer – 'Landmann' vs. 'Schachfigur'

• Homonymie: zwei verschiedene Wörter/zwei Lexikoneinträge im mentalen Lexikon, i. d. R. morphologischer Unterschied (z. B. verschiedenes Genus, verschiedene Pluralformen), i. d. R. auch etymologisch nicht verwandt, zufällig lautlich und i. d. R. graphematisch gleicher Ausdruck Bsp. Laster - 'Untugend' vs. 'LKW', das Laster – der Laster Bauer – 'Landmann' vs. 'Vogelkäfig', die Bauern – die Bauer

1.3. Satzsemantik 1.3.1. Verbalsemantik: Aktionsarten, Dekomposition von Verben – Sätze beschreiben Zustände, Situationen oder Ereignisse mit verschiedenen 'Mitspielern'

(vom Verb an seine Argumente vergebene thematische Rollen/Thetarollen, z. B. Agens,Patiens, Thema, Ziel etc., s. Einf. Teil I, Kap. 3.3.2. ) und unterschiedlichem innerentemporalen Aufbau – verschiedene Aktionsarten

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– Aktionsarten sind abhängig vom Verb, aber z. T. auch von der Art des Objekts,bestimmten Adverbialen etc.

Aktionsarten

atelisch telisch

State Activity Achievement Accomplishment

(Zustand) (Aktivität) (punktuelles Ereignis) (Entwicklung mit Resultat)

Individual-Level Stage-Level

(Individuenprädikate) (Stadienprädikate)

– telisch (z. T. auch terminativ, resultativ oder perfektiv genannt): mit natürlichem Beginn oder Endpunkt, auf den hin das Ereignis kulminiert/grenzbezogen z. B. ankommen, sterben, erröten atelisch entsprechend ohne einen solchen Endpunkt/nicht grenzbezogen z. B. sitzen, schlafen, lachen

– Einfluss der Morphologie auf Aktionsart: Verben können z. B. durch Präfigierung telisch werden (blühen vs. erblühen, malen vs. bemalen)

– Einfluss des Objekts:

• Verben können durch Hinzufügen eines Objekts telisch werden (laufen vs. 100 m laufen)

• vielfach Verben mit Objekt mit kumulativer Referenz (Zusammenfassung der Objektdenotate fällt wieder unter das gleiche Denotat z. B. Krimis und Krimis sind wiederum Krimis) atelisch z. B. Krimis lesen, mit gequantelter Referenz (Zusammenfassung der Objektdenotate fällt nicht wieder unter das gleiche Denotat z. B. drei Krimis und drei Krimis sind nicht wieder drei Krimis) telisch z. B. drei Krimis lesen

– Einfluss von Adverbialen: Bewegungsverben können durch Hinzufügen einer direktionalenPP telisch werden (z. B. tanzen vs. durch den Saal tanzen, Unterschied wirkt sich beispielsweise aus auf Wahl des Perfektauxiliars: Elke hat/*ist getanzt vs. Elke ist durch den Saal getanzt)

– Tests: atelische Prädikate (im Unterschied zu telischen Prädikaten)

• durch Zeitdaueradverbiale wie zwei Stunden lang modifizierbar (Peter schläft zwei Stunden lang vs. *Peter erwacht zwei Stunden lang – allenfalls iterative Lesart)

• sogenannte Rheinische Verlaufsform impliziert den entsprechenden perfektiven Satz (Peter ist am Schlafen impliziert Peter hat geschlafen vs. Peter ist am Erwachen impliziert nicht Peter ist erwacht)

– Achievements punktuell (plötzlicher Zustandswechsel z. B. erwachen) vs.Accomplishments (allmählicher Zustandswechsel z. B. sinken) und atelische Verben

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(States und Activities) durativ

– Tests: durative Prädikate durch durative Zeitdaueradverbiale wie seit zwei Stunden modifizierbar

Peter schlief seit zwei Stunden (atelisch) durativ Das Schiff sank seit zwei Stunden (telisch: Accomplishments) durativ *Maria erwachte seit zwei Stunden (telisch: Achievement) nicht durativ

– dagegen nur Accomplishments (im Präteritum) durch Zeitspannenadverbiale wie in zweiStunden modifizierbar, atelische Prädikate und Achievements nicht (da nur punktuellerbzw. kein Zustandswechsel):

*Peter schlief in zwei Stunden (atelisch) Das Schiff sank in zwei Stunden (telisch: Accomplishments) *Maria erwachte in zwei Stunden (telisch: Achievement)

– atelische Prädikate beschreiben entweder zeitlich begrenzte Situationen/Aktivitäten ohne inhärenten Endpunkt (Activities z. B. sitzen, schlafen) oder länger anhaltende Eigenschaften von Individuen (States z. B. heißen, wissen)

– Tests: bei States (im Unterschied zu Activities)

• Imperativ nicht möglich Lach doch mal! Activity *Heiß Helmut! State

• Rheinische Verlaufsform nicht möglich

Er ist am Lachen Activity *Er ist am Helmut-Heißen State

• keine Mehrdeutigkeit bei lokativen PPs

Susi glaubt, dass alle Kinder in dieser Klasse kluge Bücher lesen Activity = (i) `Susi glaubt, dass alle Kinder, die in dieser Klasse sind, kluge Bücher lesen’ = (ii) `Susi glaubt, dass alle Kinder, wenn sie in dieser Klasse sind, kluge Bücher

lesen’ Susi glaubt, dass alle Kinder in dieser Klasse Helmut heißen State = (i) `Susi glaubt, dass alle Kinder, die in dieser Klasse sind, Helmut heißen’ ≠ (ii) `Susi glaubt, dass alle Kinder, wenn sie in dieser Klasse sind, Helmut heißen’

– individual-Level-Predicates (Individuenprädikate): Eigenschaften von Individuen (States) vs. Stage-Level-Predicates (Stadienprädikate): Situationen (Activities, Achievements,Accomplishments)

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– semantische Dekomposition von Verben in der lexikalisch-konzeptuellen Semantik:Bedeutung eines Einzelverbs zusammengesetzt aus idiosynkratischen Bedeutungsaspekten und semantischen Basisprädikaten (spiegeln z. T. Aktionsarten wieder) wie z. B.

• BECOME: Zustandswechsel (Bestandteil aller Achievements und Accomplishments) • CAUSE: extern verursachtes Geschehen • BE: Zustand • DO: Aktivität (einziges Basisprädikat von Activities)

– dadurch Gemeinsamkeiten der lexikalisch-konzeptuellen Struktur verschiedener Verbenbeschreibbar, z. B. Ähnlichkeit von sterben und töten:

sterben [BECOME [BE NOT-ALIVE y]] töten [x CAUSE [BECOME [BE NOT-ALIVE y]]]

(gleiche lexikalisch-konzeptuelle Struktur + bei töten noch zusätzlich kausatives CAUSE und ein weiteres Argument) und semantische Rollen ableitbar: z. B. Agens = erstes Argument von CAUSE, Thema = Argument von BE

1.3.2 Sätze: Wahrheitswerte, Mengen, Funktions-Argument-Struktur – Sprach-/Grammatikmodell nach Chomsky (1981: Lectures on Government and Binding)

Tiefenstruktur (TS, deep structure)

Oberflächenstruktur (OS, surface structure)

Phonetische Form (PF) Logische Form (LF)

– syntaktische Struktur des Satzes bestimmt die Bedeutung mit (s. o.: Kompositionalitätsprinzip),aber LF entspricht nicht immer direkt OS, Bsp.:

Alle Tage ist kein Sonntag

'Nicht für alle Tage gilt, dass sie ein Sonntag sind' (Neben Sonntagen gibt es auch Montage, Dienstage usw.) ≠ 'Für alle Tage gilt, dass sie kein Sonntag sind' (Dann gäbe es überhaupt keine Sonntage.) d. h. LF wird (ggf. durch Bewegungen von Konstituenten etc.) aus OS abgeleitet, Bedeutung des Satzes ergibt sich aus LF durch sogenannte Interpretation

– Bedeutung eines Satzes: "Einen Satz verstehen, heißt, wissen, was der Fall ist, wenn er wahr ist. (Man kann ihn alsoverstehen, ohne zu wissen, ob er wahr ist.)" (Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, 4.024) Satz beschreibt, wie die Welt beschaffen sein muss, damit der Satz wahr ist (eine Klasse von Situationen/möglichen Welten), d. h. Bedeutung eines Satzes verstehen heißt, seineWahrheitsbedingungen zu kennen (wahrheitsfunktionale Semantik)

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– Rückführung der Bedeutung eines Satzes auf seine Wahrheitsbedingungen u. a. nützliche Vorgehensweise, da gute Sprecher-Intuitionen über Wahrheit von Sätzen

– Vorgehensweise in der Satzsemantik: Feststellen der Interpretation/ der möglichenLesarteneines Satzes, davon ausgehend Klärung der Bedeutung der Teile und dersyntaktischenVerknüpfung (dabei lexikalische Semantik von sogen. Inhaltswörtern als bekanntvorausgesetzt,Aufgabe der lexikalischen Semantik)

– Ziele u. a.: • Zusammenhang zwischen Wort- und Satzbedeutung klären, v. a. auch Klärung der

Bedeutung von Funktionswörtern und syntaktischen Strukturen, • Bedeutungen darstellen, d. h. Repräsentationen für Bedeutungen entwerfen –

Grundlage: moderne Logik (Aussagen- und Prädikatenlogik) und Mengentheorie

Exkurs: Aussagen- und Prädikatenlogik– Aussagen: kleinste Einheit mit Wahrheitswert (wahr: 1, falsch: 0; Bivalenzprinzip

(Zweiwertigkeit) (Aristoteles)

– Aussagenlogik: einzelne wahre oder falsche Aussagen (abgekürzt: p, q, ...), ggf. kombiniert mit Funktoren, für die es standardisierte Symbole gibt:• Negation: ¬ nicht • Konjunktion: ∧ und • Disjunktion: ∨ oder (nicht-ausschließend) • Subjunktion: → wenn, dann • Bisubjunktion: ↔ genau dann, wenn

– Bsp.: p steht für Christian raucht, falls p wahr (1) ist, ist ¬ p – also Christian raucht nicht - falsch (0), p steht für Erwin ist Taxichauffeur und q steht für Bettina ist Reiseleiterin, falls p und q jeweils wahr (1) sind, ist auch p q – also ∧ Erwin ist Taxichauffeur und Bettina ist Reiseleiterin wahr (1)

Wahrheitsbedingungen dargestellt in einer Wahrheitswerttabelle:

UND ODERp ∧ q p q p q∨ p q1 1 1 1 1 10 1 0 1 1 00 0 1 1 0 10 0 0 0 0 0

– Prädikatenlogik: funktionale Auffassung von Prädikation, (logische) Prädikate al Funktionen (z. B. RAUCHT oder abgekürzt R), daneben Individuenkonstanten (z. B. Christianoder abgekürzt c,) Individuenvariablen (x, y, ...) und Quantoren

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• Existenzquantor: x ∃ Es gibt mindestens ein x, für das gilt ... • Allquantor: x ∀ Für alle x gilt ...

– Bedeutungen haben etwas mit Mengen zu tun, Bsp.: Was wissen wir, wenn wir die Bedeutung von raucht kennen? Bedeutung von raucht zu kennen, ermöglicht uns, die Lebewesen der Welt (z. B. der oben unter 1.2.1. angegebenen Miniwelt) in zwei Mengen einzuteilen: Rauchende und Nicht-Rauchende, die Menge der Rauchenden ist die Bedeutung (Extension)/das Denotat von raucht (Schreibweise: [|raucht|]), z. B. Christian raucht ist wahr, wenn Christian in dieser Menge enthalten ist

– Darstellung von Mengen mit Mengendiagrammen (Venn-Diagrammen):

Christian AnnaErwin Bettina

Daniel

[|raucht|]

– Mengen und Funktionen als Beschreibungsmittel für die Struktur unserer Welt wie sie in derSprache wiedergegeben wird, Beziehungen zwischen den Dingen in unserer Welt

– Hauptprinzip der Komposition (Bedeutungsverknüpfung): Funktionalapplikation, d. h.Anwendung einer Funktion auf ein Argument, z. B. des Verbs auf das Subjekt(Bedeutung des einen Ausdrucks wird als Funktion auf den anderen angewandt),Bedeutungen als Funktionen, Argumente von Funktionen und Funktionswerte (funktionaleSprachauffassung, begründet durch Frege)

– Funktion: eindeutige Abbildung von Menge von Argumenten (Definitionsbereich) inMenge von Funktionswerten (Wertebereich)

– Bsp.: [|raucht|] als Funktion bildet in unserer Miniwelt die Argumente [|Christian|] und[Erwin|] auf den Wahrheitswert 1 (wahr) ab, d. h. ergibt in Kombination mit Christian und Erwinjeweils einen wahren Satz, und bildet [|Anna|], [|Bettina|] und [|Daniel|] auf den Wahrheitswert 0 (falsch) ab, d. h. ergibt mit Anna, Bettina und Daniel jeweils einen falschen Satz

– intransitive Verben wie rauchen (ebenso übrigens Appellativa wie Hocker und die meistenAdjektive wie krumm): einstellige Funktionen (nehmen jeweils nur ein Argument) vonIndividuen in Wahrheitswerte - prädikatenlogisch darstellbar als RAUCHT(x) ergibt z. B. angewandt auf das Argument Christian in unserer Miniwelt einen wahren Satz: RAUCHT(Christian), vereinfacht dargestellt:

(dass) IP interpretiert als RAUCHT(Christian)

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NP VP Christian RAUCHT (x)

Christian raucht – transitive Verben wie studieren: zweistellige Funktionen (nehmen zwei Argumente) -

prädikatenlogisch darstellbar als STUDIERT(x, y) ergibt z. B. angewandt auf die Argumente Christian und Mathematik in unserer Miniwelt einen wahren Satz: STUDIERT(Christian, Mathematik), vereinfacht dargestellt:

(dass) IP interpretiert als STUDIERT(Christian, Mathematik)

NP VP Christian STUDIERT(x, Mathematik)

NP V Mathematik STUDIERT(x,y)

Christian Mathematik studiert

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2. Pragmatik – Die Pragmatik befasst sich mit Äußerungen in konkreten Situationen und im

Zusammenhang mit anderen Äußerungen und untersucht dabei u. a. kontextabhängigeAspekte der Interpretation sprachlicher Äußerungen, die kommunikative Funktionsprachlicher Äußerungen und strukturelle Aspekte von Texten und Gesprächen.

– Die (wahrheitsfunktionale) Semantik macht Aussagen darüber, wie die Welt beschaffen sein muss, damit der „Wortlaut“ einer Äußerung wahr ist. Wir nennen das ihrenpropositionalen Gehalt. Es besteht ein gewisses Missverhältnis zwischen propositionalem Gehalt und kommunikativer Funktion, meistens dergestalt, dass zum vollständigenVerstehen einer Äußerung eine Menge von Information erschlossen werden muss, die nichtausgedrückt ist. Trotzdem sind Äußerungen i.d.R. problemlos interpretierbar, weil sie auf Hintergrundinformationen bezogen werden können. Welche Art von Kontextwissen mussaktiviert werden?

2.1 Deixis, Anaphern – Personaldeixis (Referenz auf Sprecher/Adressat/"Äußerungspersonal")

• Mittel: bestimmte Personalpronomen

Bsp.: ich (Sprecherdeixis), wir (Sprechergruppendeixis, manche Sprachen unterscheiden inklusives vs. exklusives wir, d. h. Adressat mit in Gruppe einbezogen oder nicht) du/Sie (Hörerdeixis, Balanceform vs. Distanzform) ihr/Sie (Hörergruppendeixis, Balanceform vs. Distanzform)

– Objektdeixis (Referenz auf Objekte allgemein)

• Mittel: Demonstrativpronomen, bestimmte Personalpronomen

Bsp.: dieser, diese, dieses (bzgl. Entfernung neutral), jener, jene, jenes (eher distal – weiter entfernt als dieses, in vielen Sprachen Unterscheidung distal vs. proximal) demonstratives der, die, das demonstratives er, sie

– Lokaldeixis

• Mittel: Lokaladverbien

Bsp.: hier (schließt Sprecherort mit ein oder verweist auf einen nahen Ort – proximal) da (verweist auf einen etwas weiter entfernten Ort – medial) dort (verweist auf einen entfernten Ort – distal)

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– Temporaldeixis

• Mittel: Temporaladverbien, Tempus

Bsp.: jetzt (schließt Sprechzeitraum ein oder verweist auf diesen), einst, einmal (verweist auf vom Sprechzeitraum entfernten Zeitraum in der

Vergangenheit oder Zukunft) heute, morgen, übermorgen, gestern, vorgestern etc. (metrische Ausdrücke, die auf

einen bestimmten Tag verweisen, z. B. Tag, an dem gesprochen wird, Tag nachdiesem, Tag vor diesem etc.) Präteritum (Zeit vor dem Sprechzeitpunkt), Futur (Zeit nach dem Sprechzeitpunkt) etc.

– Anapher: typischerweise ein Pronomen (Personalpronomen der 3. Person Sg./Pl.,Reflexivpronomen sich, Reziprokpronomen einander), mit dem auf ein Objekt referiertwird, auf das bereits vorher mit einem anderen Ausdruck (Antezedens) referiert wurde. Anapherund Antezedens sind also koreferent.

Bsp.: Nachdem [Antezedens die Sonnenblume]i drei Tage ohne Wasser auf der Fensterbank stand, ist[Anapher sie]i jetzt leider verwelkt. [Antezedens Sibylle]j bewunderte [Anapher sich]j im Spiegel.

– wenn das Antezedens nicht vorausgeht, sondern folgt, spricht man von einer Katapher

Bsp.:[Katapher Er]k hatte eigentlich gut gefrühstückt und dennoch war [Antezedens Hans-Peter]k schon wieder hungrig.

2.2 Implikaturen – Gesprächsauschnitt:

Sibylle: Kommst du mit in die Mensa? Hans-Peter: Ich habe gerade vorhin erst zuhause gefrühstückt. Mit seiner Äußerung legt Hans-Peter nahe, dass er nicht mit in die Mensa kommt,obwohl er das so gar nicht gesagt hat. Man sagt: Seine Äußerung implikatiert dies. Dass ernicht mit in die Mensa kommt, ist eine sogenannte (konversationelle) Implikatur von HansPeters Äußerung (bezeichnet durch +>). Wie kommen Implikaturen zustande?

– Wir gehen davon aus, dass Gesprächspartner kooperativ sind.

• Kooperationsprinzip (Paul Grice 1968): Gestalte deinen Gesprächsbeitrag genau so, wie es der Punkt des Gesprächs, an dem er erfolgt, erfordert, wobei das, was erforderlich ist, bestimmt ist durch den Zweck oder die Richtung des Gesprächs an dem du teilnimmst.

– Das Kooperationsprinzip kann man weiter aufgliedern in verschiedeneKonversationsmaximen, die einer rationalen (und im Normalfall erwartbaren) Konversation zugrundeliegen:

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Einführung in die Sprachwissenschaft II, Wintersemester 2013/2014

– Maxime der Qualität: Sage nichts, was du für falsch hältst oder wofür du keine adäquaten Evidenzen hast. • Würde verletzt bei Lügen und bei als sicher dargestellten Aussagen, über die sich der

Sprecher eigentlich unsicher ist. • Führt u. a. bei Ironie zur Implikatur des Gegenteils, z. B. nachdem etwas

schiefgegangen ist: Na, das hast du ja mal wieder toll hingekriegt! – Implikatur: Das hast du überhaupt nicht toll hingekriegt/Das hast du schlecht gemacht.

– Maxime der Quantität: Gestalte deinen Beitrag so informativ, wie erforderlich, aber nicht informativer.

• Würde verletzt, wenn man nicht genug Information gibt oder zuviel. • Führt u. a. zu sogenannten skalaren Implikaturen z. B. Einige Studenten haben die

Hausaufgabe gemacht – Implikatur: Nicht alle Studenten haben die Hausaufgabe gemacht (sonst hätte man wohl gesagt: Alle Studenten haben die Hausaufgabe gemacht). Hieran sieht man übrigens auch sehr schön, dass Implikaturen nicht logisch aus der Äußerung folgen. Einige Studenten haben die Hausaufgaben gemacht ist auch wahr, wenn alle Studenten die Hausaufgaben gemacht haben.

– Maxime der Relation: Sei relevant./Mach einen Beitrag zum Gesprächsgegenstand.

• Würde verletzt, wenn man über ein ganz anderes Thema redet. • Führt z. B. zur Implikatur, dass ein scheinbar nicht zum Thema

gehörenderRedebeitrag doch irgendwie als relevante Information zum Thema gemeint sein muss, s. Bsp. oben Kommst du mit in die Mensa? - Ich habe gerade vorhin erst zuhause gefrühstückt. – Implikatur: Weil ich noch vom Frühstück satt bin, möchte ich nicht mit in die Mensa essen kommen.

– Maxime der Modalität (Art und Weise): Sei klar (d.h. vermeide ungeläufige Ausdrücke oder Ambiguitäten, fasse dich kurz, gehe geordnet vor).

• Würde verletzt, wenn man zu weitschweifig oder ungeordnet erzählt bzw. mehrdeutige oder unübliche Ausdrücke verwendet

• Führt u.a. zur Implikatur einer Abfolge bei Beschreibungen etc., z. B. Wie komme ich hinunter zum Fluss? - Biegen Sie rechts in die Georg-Cantor-Straße ein und fahren Sie am Ende der Straße links in den Mühlweg. – Implikatur: Biegen Sie zuerst in die Georg-Cantor-Straße ein und fahren Sie dann am Ende der Straße rechts in den Mühlweg (nicht etwa: Fahren Sie am Ende der Straße links in den Mühlweg und biegen Sie (danach) rechts in die Georg-Cantor-Straße ein)

– konversationelle Implikaturen können entstehen, wenn

• die Maximen beachtet werden • zwei Maximen im Widerstreit stehen • Maximen 'ausgebeutet' werden, d. h. offensichtlich verletzt werden, um auf indirekte Weise

etwas ganz Bestimmtes zu verstehen zu geben (z. B. in Arbeitszeugnissen etc.) – Eigenschaften konversationeller Implikaturen:

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• kalkulierbar (auf der Basis des Kooperationsprinzips und der Maximen erschließbar) • annulierbar (Sprecher verhindert explizit, dass es zu der Implikatur kommt, z. B.

Einige Studenten haben die Hausaufgaben gemacht, wenn nicht sogar alle) • inhaltsbasiert (ergeben sich aus dem Inhalt dessen, was gesagt wurde, nicht aus der

Ausdrucksweise – Ausnahme: Implikaturen aufgrund der Maxime der Modalität) • nicht konventionell (setzen am Konventionellen/'dem Gesagten'/dem propositionalen

Gehalt an) • nicht eindeutig (oft gibt es verschiedene Möglichkeiten, das Gesagte in Einklang mit den

Konversationsmaximen zu bringen) • bekräftigbar (Implikatur kann explizit dazugesagt werden, ohne redundant zu

erscheinen, z. B. Einige Studenten haben die Hausaufgabe gemacht, aber nicht alle) • universal (in jeder Sprache sollten Implikaturen auftreten, da das Kooperationsprinzip und

die Konversationsmaximen Rationalitätsstandards darstellen und somit für alle rationalen Wesen gelten – Hinweis: neben der Rationalität spielen aber auch andere Prinzipien in der Konversation eine Rolle, z. B. ethische, ästhetische, soziale)

2.3 Präsuppositionen – Präsupposition: bei einer Äußerung vorausgesetzte Annahme, keine logische Folgerung, denn

Präsuppositionen (bezeichnet durch >>) können unter Negation, Modalität und in Fragesätzen erhalten bleiben

Bsp.: Konstantin hat aufgehört zu rauchen. >> Konstantin hat geraucht. Konstantin hat nicht aufgehört zu rauchen. >> Konstantin hat geraucht. Hat Konstantin aufgehört zu rauchen? >> Konstantin hat geraucht.

– Präsuppositionen gehören wie Implikaturen nicht zum "Gesagten"/propositionalen Gehalt derÄußerung, Unterschiede Präsuppositionen vs. Implikaturen:

• Präsupposition nicht bekräftigbar/kann nicht explizit gemacht werden - würde zu Redundanz führen (Susanne weiß, dass der Schreibtisch in Astrids Zimmer vom Vormieter stammt, (und/aber) der Schreibtisch in Astrids Zimmer stammt vom Vormieter.), dagegen können Implikaturen bekräftigt werden/ohne Redundanz explizit gemacht werden (Einige Studenten haben die Hausaufgaben gemacht, (aber) nicht alle.)

• Präsuppositionen nicht explizit annulierbar 1, Implikaturen dagegen schon (Einige Studenten haben die Hausaufgaben gemacht, wahrscheinlich sogar alle. – Implikatur: Nicht alle Studenten haben die Hausaufgabe gemacht annulliert; dagegen nicht möglich: Susanne weiß, dass der Schreibtisch in Astrids Zimmer vom Vormieter stammt, aber

1 Präsuppositionen können z. T. suspendiert (aufgehoben/zurückgestellt) werden, aber das geschieht nicht durch eine explizite Behauptung des Gegenteils im Anschluss an die Äußerung, sondern z. B. indem ein faktives Verb in den Konjunktiv gesetzt wird oder unter glauben eingebettet wird o.ä. - Bsp.: Susanne weiß, dass der Schreibtisch in Astrids Zimmer vom Vormieter stammt. >> Der Schreibtisch in Astrids Zimmer stammt vom Vormieter. dagegen: Susanne glaubt zu wissen, dass der Schreibtisch in Astrids Zimmer vom Vormieter stammt. >/> (= präsupponiert nicht:) Der Schreibtisch in Astrids Zimmer stammt vom Vormieter.

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der Schreibtisch in Astrids Zimmer stammt nicht vom Vormieter.)

– Präsuppositionen kommen durch einen Auslöser (trigger) in der Äußerung zustande, z. B. definiter Artikel, bestimmte Verben, Gradpartikeln etc.

– Arten von Präsuppositionen u.a.:

• Existenzpräsupposition: Voraussetzung der Existenz, z. B. möglich durch definiten Artikel (Stammt der Schreibtisch in Astrids Zimmer vom Vormieter? >> Es gibt einen Schreibtisch in Astrids Zimmer), Quantorenausdrücke wie die Indefinitpronomen alle, jeder etc. (Möglicherweise sind alle Pflanzen auf Hildes Balkon vertrocknet. >> Es gibt Pflanzen auf Hildes Balkon.) oder die Interrogativpronomen wer, was (Wer hat vorhin angerufen? >> Es hat vorhin jemand angerufen.)

• faktive Präsupposition: Voraussetzung, dass der durch einen Objekt- oder Subjektsatz bezeichnete Sachverhalt besteht, z. B. durch faktive Verben und Adjektive wie bedauern/einsehen/wissen, dass bzw. schrecklich/schade/bedauerlich/wunderbar, dass (Susanne weiß, dass der Schreibtisch in Astrids Zimmer auch vom Vormieter stammt. >> Der Schreibtisch in Astrids Zimmer stammt auch vom Vormieter.)

• nicht-faktive Präsupposition: Voraussetzung, dass der durch einen Objekt- oder Subjektsatz bezeichnete Sachverhalt nicht besteht, z. B. durch Verben wie vorgeben/vortäuschen (Astrid gibt vor, dass sie den Schreibtisch beim Antiquitätenhändler erworben hat. >> Astrid hat den Schreibtisch nicht beim Antiquitätenhändler erworben)

• lexikalische Präsupposition: z. B. durch sogenannte implikative Verben wie schaffen/vergessen (Konstantin hat vergessen, Hildes Balkonpflanzen zu gießen. >> Konstantin wollte/sollte Hildes Balkonpflanzen gießen.) bzw. durch sogenannte Aspektverben wie aufhören/beginnen (Konstantin hat aufgehört zu rauchen. >> Konstantin hat geraucht.)

• Präsupposition durch Gradpartikeln wie nur, auch, sogar (Nur Susanne ist gekommen. >> Susanne ist gekommen – bleibt auch in Frage Ist nur Susanne gekommen? erhalten; nicht präsupponiert, sondern ausgesagt/Teil des propositionalen Gehalts: Kein anderer ist gekommen.)

2.4 Sprechakte – Sprechen als Handeln (nach Austin) – Sprechhandlungen (Behaupten, Versprechen, Sich-

Entschuldigen usw.): Sprechakte, dabei je nach Äußerung

• explizites Performativ: Äußerung, bei der die vollzogene Sprechhandlung explizit bezeichnet wird (Bsp.: Ich bitte dich, pünktlich zu kommen) – in expliziten Performativen die Sprechhandlung bezeichnende Verben wie taufen, versprechen, bitten, feststellen, behaupten etc.: performative Verben (Test: durch Äußerung Ich + Verb in 1.P., Sg., Indikativ, Aktiv, Präsens + hiermit ... wird die durch das Verb bezeichnete Handlung vollzogen)2

• implizites Performativ: Äußerung, bei der die vollzogene Sprechhandlung nicht

2 Performative Verben sind eine Untergruppe der illokutionären - d. h. Sprechakt bezeichnenden - Verben wobei nur mit den performativen Verben die entsprechende Handlung auch tatsächlich vollzogen wird. So ist z. B. prahlen ein illokutionäres Verb, da es einen Sprechakt bezeichnet, aber kein performatives Verb, da man nicht prahlen kann, indem man sagt Hiermit prahle ich, dass ich der Beste bin.

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explizit bezeichnet wird (Bsp.: Komm bitte pünktlich!)

– Glücken sprachlicher Handlungen (dafür je nach Sprechakt verschiedene Bedingungen z. BBedingung des propositionalen Gehalts, Aufrichtigkeitsbedingung, wesentliche Bedingung)vs. "sprachliche Unglücksfälle" z. B. Fehlschlag: (Handlung kommt nicht zustande,Bsp.: Ich taufe dich ohne Namensangabe keine Taufe vollzogen, Äußerung Ich scheide michvon dir gilt aufgrund anders lautender Konventionen nicht als vollzogene Scheidung) oderMissbrauch (Handlung kommt zustande, ist aber hohl, Bsp.: Äußerung Ich verspreche dir,morgen zu kommen, wenn Sprecher nicht diese Absicht hat)

– Aufbau von Sprechakten (nach Searle):

• Äußerungsakt: Produktion gesprochener (oder geschriebener, gebärdeter etc.) Sprache • propositionaler Akt: Herstellung von Referenz und Prädikation durch eine

Äußerung,Aufbau einer Proposition (bei Ausspracheübungen, Liste unregelmäßiger Verbformen etc.Äußerungsakt, aber kein propositionaler Akt – keine Bezugnahme auf eine Welt, Zuschreibung von Eigenschaften an Individuen etc.)

• illokutionärer Akt (Sprechakt im engeren Sinn): Aufstellen einer Behauptung, Stellen einer Frage, Aufforderung etc. (gleiche Proposition: Referenz auf gleiches Individuum CHRISTIAN, Zuordnung des gleichen (logischen) Prädikats HERKOMMEN, aber verschiedene illokutionäre Akte - Behauptung/Frage/Aufforderung: Christian kommt her./Kommt Christian her?/Christian, komm her!)

• perlokutionärer Akt: Erreichen einer bestimmten Wirkung/Konsequenz der Äußerung, z. B. Einschüchtern, Überzeugen, Umstimmen, Beleidigen

– Arten von Sprechakten (illokutionären Akten) nach Searle:

• Assertiv: Sprecher legt sich auf die Wahrheit der ausgedrückten Proposition fest, 'Wort-auf-Welt-Ausrichtung' (durch die Äußerung ausgedrückte Proposition muss einer Tatsache in der Welt entsprechen/muss sich nach der Welt richten), psychischer Zustand des Glaubens ausgedrückt, z. B. Behaupten und Feststellen

• Direktiv: Sprecher versucht den Adressaten zu einer Handlung zu bringen, 'Welt-auf-Wort-Ausrichtung' (Welt soll zu den Worten/zum propositionalen Gehaltpassend gemacht werden), psychischer Zustand des Wollens/Wünschens ausgedrückt, z. B. Bitten, Befehlen, Auffordern, Erbitten, Fordern, Fragen

• Kommissiv: Sprecher legt sich auf ein bestimmtes Verhalten fest, 'Welt-auf-Wort-Ausrichtung', psychischer Zustand der Absicht ausgedrückt, z. B. Versprechen, Drohen, Anbieten

• Expressiv: Ausdruck eines psychischen Zustands des Sprechers, der auf den durch die Proposition bezeichneten Sachverhalt gerichtet ist, (Zusammenpassen von Wort und Welt vorausgesetzt), z. B. Danken, Sich-Entschuldigen, Sein-Beileid-Aussprechen, Gratulieren

• Deklaration: Sprecher erreicht, dass die ausgedrückte Proposition der Welt entspricht, Wort-auf-Welt und Welt-auf-Wort-Ausrichtung (bei geglückter Deklaration entsprechen Wort und Welt einander automatisch), z. B. Taufen, Kündigen, Den-Krieg-Erklären (hierher gehören die explizit performativen Äußerungen)

– indirekte Sprechakte: manchmal 'eigentlich' vollzogener Sprechakt (z. B. Direktiv,

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Unterart: Aufforderung Mach das Fenster zu!) indirekt durch einen anderen Sprechakt ausgedrückt (z. B. durch Assertiv, Unterart: Feststellung Es zieht.), dabei oft Bedingungen des Glückens des indirekt vollzogenen Sprechakts thematisiert (z. B. Frage Könntest du das Fenster schließen? = indirekte Aufforderung Mach das Fenster zu! - Bedingung für das Glücken von Aufforderungen u. a. Annahme, dass Adressat dazu in der Lage ist)

2.5 Satztyp und Illokution – Art des Sprechakts/illokutionären Akts z. T. durch illokutionären Indikator angezeigt, z. B.

durch performative Verben, Intonation, Betonung, Wortstellung, Interpunktion, Modus desVerbs

– Zusammenhang von Illokution und Satztyp:

Satz wichtige Unterarten/Formen Illokution/Sprechakt

Deklarativsatz (Aussagesatz) V2-Deklarativsatz Assertiv: Behauptung, Fest-stellung, unterschiedliche Sprechakte bei explizitem Performativ

Interrogativsatz (Fragesatz) Ergänzungsfragew-FrageV2-Interrogativsatz/ EntscheidungsfrageV1-Interrogativsatz, Echo-w-Frage

Direktiv: Frage

Imperativsatz V1-Imperativsatz, dass-Ve-Imperativsatz infiniter Imperativsatz

Direktiv: Aufforderung, Bitte, Befehl, Vorschlag

Wunschsatz (Optativsatz) V1-Wunschsatz, dass/wenn-Ve-Wunschsatz

Wunsch

Exklamativsatz V1-Exklamativsatz V2-Exklamativsatz Ve-Exklamativsatz

Expressiv: Ausruf/Erstaunen

(für Kommissive und Deklarationen kein eigener Satztyp im Deutschen, u. a. auch durch Deklarativsätze ausdrückbar)

2.6 Informationsstruktur – Die in einer Äußerung mitgeteilte Information lässt sich untergliedern danach, welcherTeil

der Information bekannt und welcher neu ist, welcher Teil der Information imZentrumdes Interesses steht usw. Hierbei spricht man von der Informationsstruktureiner Äußerung. Diese hängt u. a. auch mit der Syntax (z. B. Wortstellung) und Phonologie (Betonung, Intonation) zusammen.

– informationsstrukturelle Unterscheidungen • Topik/Thema – Kommentar/Rhema (das Thema, um das es geht vs. das darüber

Ausgesagte)

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• gegeben – neu (alte/im Kontext bereits vorerwähnte Information vs. neue Information) • Fokus – Hintergrund (das, worauf es besonders ankommt/was im Zentrum des

Interesses steht/das 'Wichtige' vs. Rest, s. u.)

– Oft gibt es Überlappungen, was dazu führt, dass die einzelnen Unterscheidungenmanchmal in der Linguistik nicht hinreichend klar getrennt werden. Z. B. ist der Fokus oftgleichzeitig neue Information, so dass beide Begriffe manchmal synonym verwendetwerden. Zum Beispiel bei Wen hast du getroffen? – Ich habe Daniel getroffen. ist Daniel Fokusund im Kontext noch nicht gegeben, sondern neu. Das muss aber nicht so sein: Bei Hast duDaniel oder Erwin getroffen? – Ich habe Daniel getroffen. ist wiederum Daniel Fokus, aberschon vorerwähnt, d. h. gegeben und nicht neu. In ähnlicher Weise ist bei Susanne hatdoch den Freund von Daniel getroffen – Nein, Susanne hat Daniel getroffen ebenfalls Daniel derFokus, aber gegeben.

Fokus-Hintergrund-Gliederung: – Ein Teil der Information der Äußerung steht im Zentrum, ist das 'Wichtige' im Satz, das, worauf

es ankommt und bildet den sogenannten Fokus. Der Rest der Äußerung stellt den sogenanntenHintergrund dar. Was der Fokus ist, lässt sich u. a. herausfinden, indem man prüft aufwelche Fragen die entsprechende Äußerung eine geeignete Antwort wäre.

– Der Fokus kann u. a. durch das phonologische Mittel der Betonung/Akzentuierung(üblicherweise durch Großbuchstaben gekennzeichnet) markiert oder identifiziert werden. DerTeil der Äußerung, der der Fokus ist, trägt bzw. enthält den Satzakzent (siehe Skript I,Kap. 2.4.2).

Susanne hat [Foc geGEssen]. (Was hat Susanne gemacht?) [Foc SuSAnne] hat gegessen. (Wer hat gegessen?) Susanne hat [Foc ein WURSTbrot] gegessen. (Was hat Susanne gegessen?)

– Es kann auch ein Teilelement des Fokus (der sogenannte Fokusexponent) den Satzakzenttragen. Wenn der Fokus also mehr umfasst als nur das betonte Element selbst, dannspricht man von Fokusprojektion. Zum Beispiel kann bei Betonung des Objektsnicht nur das Objekt der Fokus sein wie oben dargestellt, sondern auch die gesamte VP odersogar der gesamte Satz kann der Fokus sein:

Susanne hat [Foc ein WURSTbrot gegessen]. (Was hat Susanne gemacht?) [Foc Susanne hat ein WURSTbrot gegessen]. (Was ist passiert?/Was war los?)

Dagegen ist diese Fokusprojektion bei Betonung des Subjekts nicht gleichermaßenmöglich: Der mit dem Betonungsmuster SuSAnne hat ein Wurstbrot gegessen geäußerteSatz ist keine mögliche Antwort auf die Fragen Was hat Susanne gemacht? oder Was istpassiert?, es kann also nicht die VP oder der gesamte Satz Fokus sein.

– Außer durch phonologische Mittel kann der Fokus auch durch syntaktische Mittel markiertwerden, z. B. durch bestimmte Abweichungen in der Wortstellung (etwa dass er nach Hausenicht gefahren ist statt dass er nicht nach Hause gefahren ist, erstere Wortstellung führt zur (kontrastiven) Fokussierung von gefahren – man könnte fortfahren mit sondern gelaufen –

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und zur Defokussierung von nach Hause) oder durch sogenannte Spaltsätze/Cleft-Konstruktionen (Es war Peter, mit dem ich gesprochen habe markiert Fokussierung von Peter). Auch Gradpartikeln wie nur, auch, sogar bewirken bzw. identifizieren Fokussierung des folgenden Elements.

– semantisch gesehen kann man Fokussierung so verstehen, dass dadurch Alternativmengen insSpiel gebracht werden (Alternativensemantik)

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3. Sprachwandel 3.1 Grundlegendes – Die historische Sprachwissenschaft befasst sich mit Sprachgeschichte und Sprachwandel.

Dabei werden historische Sprachstufen betrachtet, aber auch mehrere aufeinander folgendemiteinander verglichen (Diachronie). Ziele sind u. a. die Beschreibung des Sprachsystemsvon historischen Sprachstufen und die Beschreibung und Erklärung von Sprachwandel aufden verschiedenen Ebenen des Sprachsystems, also Phonetik/PhonologieMorphologie/Lexikologie, Syntax, Semantik und Pragmatik.

– Ursachen des Sprachwandels

• interne Ursachen: Ursache der Veränderung im Sprachsystem selbst begründet, Veränderungen in einem Teilbereich des Sprachsystems bedingt durch Veränderungen in einem anderen Teilbereich des Sprachsystems, z. B. Veränderungen der Morphologie (z. B. der Flexion) durch phonologische Veränderungen (z. B. Nebensilbenabschwächung) z. T. quasi-naturgesetzartige Veränderungen Bsp. Lautgesetze (v. a. erforscht durch sogenannte Junggrammatiker) oft Veränderungen der Markiertheit (Markiertheitstheorie/Natürlichkeitstheorie: bei sprachlichen Merkmalen ist immer ein Wert unmarkiert, d. h. 'normal'/unauffällig, häufiger usw., der andere Wert markiert, d. h. 'speziell'/auffällig, seltener, aufwendiger), dabei Verringerung der Markiertheit in einem Bereich i. d. R. verbunden mit Erhöhung der Markiertheit in einem anderen Bereich

• externe Ursachen: Ursache der Veränderung liegt außerhalb des Sprachsystems, soziokulturelle, politische Bedingungen

– Rolle des Spracherwerbs für den Sprachwandel

– Methoden der historischen Sprachwissenschaft: Arbeit mit Textkorpora (versch. Textsortenund regionale Varietäten), Glossaren/Konkordanzen usw.

3.2 Herkunft und Verwandtschaft des Deutschen – Hintergrund: sprachübergreifende lexikalische Übereinstimmungen z. B. Bezeichnungen für

Haustiere, Stoffbezeichnungen, Verwandschaftsbezeichnungen, Zahlwörter etc. in vielSprachen von Europa bis Indien – gemeinsamer Ursprung → Sprachfamilie: Indogermanische Sprachen

Bsp.: Deutsch drei vs. Baskisch hiru

Englisch three Ungarisch három Schwedisch tre Finnisch kolme Gotisch þreis Türkisch üç Lateinisch trēs Georgisch samii Französisch troisGriechisch treĩs Russisch tri Litauisch trỹsAltindisch tráyas

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Urindogermanisch(Protoindoeuropean)

Keltisch

Italisch Burgundisch

Hethitisch Ostgermanisch Gotisch

Illyrisch Wandalisch

Griechisch Neuisländisch

Germanisch Altisländisch Färöisch

Lykisch Altnorwegisch Norwegisch Lydisch Nordgermanisch Altnordisch Altschwedisch Schwedisch

Phrygisch Altdänisch Dänisch

Tocharisch

Baltisch

Slawisch Altfriesisch Neufriesisch

Albanisch Westgermanisch Altenglisch Mittelenglisch Neuenglisch

Thrakisch Altsächsisch Mittelniederdt Neuniederdt.

Pelasgisch Altniederfränkisch Flämisch Armenisch Niederländisch

Iranisch Afrikaans

Indisch ´ Althochdeutsch Mittelhochdt. Neuhochdt.

– Derzeit sind über 140 Sprachfamilien bekannt, deren Mitgliederzahlen sich stark unterscheiden(s.u.). Andere Sprachfamilien neben dem Indogermanischen (über 400 Sprachen) sindbeispielsweise:• Europa/Asien:

Uralisch (hierzu zählen die finno-ugrischen Sprachen wie Finnisch, Estnisch, Ungarisch) • Afrika/Asien:

Afro-Asiatisch (u. A. Berbersprachen und semitische Sprachen wie Hebräisch, Arabisch, Tigrinya etc.)

• Afrika:

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Niger-Kongo (über 1400 Sprachen) (inkl. Bantusprachen wie Swahili, Zulu, Xhosa etc.)• Südasien:

Dravidisch (Tamil, Telugu, Malayalam) • Süd-/Ostasien:

Sino-Tibetisch (inkl. chinesische Sprachen (!), Birmanisch, Thai) • Australien/Ozeanien:

Austronesisch (inkl. malaio-polynesische Sprachen wie Indonesisch, Melanesisch, Polynesisch etc.)

Australisch (Diyari, Kayardild, Warlpiri etc.)• Amerika:

Salish (ca. 20 Sprachen) (Halkomelem, Lushootseed, Squamish etc.)Uto-Aztekisch (Hopi, Nahuatl, Yaqui etc.))

3.3 Periodisierung des Deutschen – Althochdeutsch

• ca. 7. Jh. – 1050 • Überlieferung: v.a. Glossenüberlieferung, wenige längere Texte, v. a. Übersetzungen

lateinischer christlich-religiöser Texte (z. B. Isidor, Tatian, Otfrid, Notker), kürzere autochthone Texte (z. B. Hildebrandslied, Merseburger Zaubersprüche)

• sprachliche Chrakteristika: u. a. 2. Lautverschiebung

Bsp.: Gotisch: tiuhan - Altsächsisch: tiohan – Ahd. ziohan 'ziehen'

– Mittelhochdeutsch

• ca. 1050 – 1350 • Überlieferung: höfische Dichtung (Nibelungenlied, Werke von Wolfram von

Eschenbach, Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg u. a.), Prosaliteratur, Predigten, Urkunden, Sachtexte

• sprachliche Chrakteristika: u. a. Nebensilbenabschwächung

Bsp.: Ahd. uueraldi – Mhd. werlte '(der) Welt'

– Frühneuhochdeutsch

• ca. 1350 – 1650 • Überlieferung: Zunahme der Textsorten (u. a. beeinflußt durch Erfindung des Buchdrucks),

z. B. Flugschriften, Sachtexte, Briefe, Reisebeschreibungen • sprachliche Chrakteristika: u. a. (früh-)neuhochdeutsche Monophthongierung und

Diphthongierung

Bsp.: Mhd. zuo – Frnhd. zu Mhd. bî – Frnhd. bey/bei

– Neuhochdeutsch

• ab ca. 1650

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• Überlieferung: weitere Textsortenzunahme • sprachliche Charakteristika: u. a. zunehmende Normierung/Standardisierung der Sprache,

Abbau morphologischer, graphematischer etc. Varianz

– Hochdeutsch = räumliche Charakterisierung, bezieht sich auf den mittleren und südlichen Teildes deutschen Sprachraums: Mitteldeutsch und Oberdeutsch bilden zusammen dasHochdeutsche (daneben im nördlichen Teil des deutschen Sprachraums: Niederdeutsch,entsprechend Altniederdeutsch/Altsächsisch etc.)

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– Räumliche Gliederung des Deutschen (v. a. bedingt durch 2. Lautverschiebung):

(Quelle: Das Neue Duden Lexikon, 1989, Mannheim: Duden-Verlag)

– Ostmitteldeutsch: Thüringisch, Obersächsisch, Schlesisch – Westmitteldeutsch: Hessisch, Rheinfränkisch, Mittelfränkisch (Moselfränkisch,

Ripuarisch) – Ostoberdeutsch.: Bairisch/Österreichisch – Westoberdeutsch: Schwäbisch, Alemannisch, Oberfränkisch

3.4 Phonologischer Wandel – kann phonetisch (durch artikulatorisch Eigenschaften von einzelnen Lauten) oder phonologisch

(durch Phonemsystem insgesamt, Oppositionen zu anderen Lauten etc.) motiviert sein – Kontextabhängigkeit: der lautliche Kontext spielt oft eine wichtige Rolle bei lautlichen

Veränderungen

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3.4.1 Überblick: Lautentwicklungen zum und im Deutschen Urindogermanisch 1. oder Germanische Lautverschiebung (Grimm’s Law) Vernersches Gesetz (Grammatischer Wechsel) Germ.

Westgerm. Gemination vor <j, r, l, w >(Got. bidjan - Ae. biddan, Ahd. bitten) Rhotazismus ([z] > [r], Bsp. Mhd. vriesen 'frieren', Nhd. Frost – gevrorn/gefroren) 2. oder Hochdeutsche Lautverschiebung Ahd.

a-Umlaut/Brechung (i/u/eu > e/o/eo vor a/e/o in der Folgesilbe) Ahd Diphthongierung (e: > ia, o: > uo) Ahd Monophthongierung (ai > e: vor h, r, w, im Auslaut; Bsp. Got. mais – Ahd. mēr) eo > io > ie i-Umlaut (Primärumlaut, Sekundärumlaut) Auslautverhärtung sc > sch (scrīban > schrîben, scōni > schoene) Nebensilbenschwächung (Vokal > ə) Mhd.

Schwa-Schwund/Elision s > sch (im Anlaut vor l, m, n, w, p, t) Nhd Diphthongierung (î/û/iu > ei/eu/au, z. B. mîn niuwes hûs > mein neues Haus) Nhd Monophthongierung (ie/uo/üe > i:/u:/ü:, z. B. liebe guote brüeder > liebe gute Brüder) Dehnung in offener Silbe (z. B. ['fRa.gən] > ['fRa:.gən]) Kürzung in geschlossener Silbe (z. B. dâhte > dachte, hôchzît > Hochzeit) Entrundung (z. B. bülez > Pilz, nörz > Nerz) Rundung (z B. leffel > Löffel, finf > fünf) Senkung u > o (z. B. sunst > sonst) Frnhd. Nhd.

3.4.2 Ausgewählte Lautwandelphänomene – phonologisch begründet, Umordnung des Phonemsystems einer Sprache, Phonemver-

schiebungen:

– Erste oder Germanische Lautverschiebung (1. LV):

• ca. 1200/1000–500/300 v.Chr., führt zur Ausgliederung des Germanischen aus dem Urindogermanischen, drei Teilveränderungen, durch Sog bzw. Schub (pull-chain/ push-chain) verbunden:

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(1) stimmlose Plosive [p], [t], [k] > stimmlose Frikative [f], [θ], [x] (2) stimmhafte Plosive [b], [d], [g] > stimmlose Plosive [p], [t], [k] (3) sth. aspirierte Plosive [bh], [dh], [gh]> stimmhafte Plosive [b], [d], [g] stl. Plosiv > stl. Frikativ → sth. Plosiv > stl. Plosiv → sth. asp. Plosiv > sth. Plosiv p > f → b > p → bh > b t > θ → d > t → dh > d k > χ → g > k → gh > g Bsp: Griech patếr - Lat. pater - Frz. père vs. Ae. fæder - Ahd. fater - Nhd. Vater

– Zweite oder Hochdeutsche Lautverschiebung (2. LV): ca. 6. – 7./8. Jh., führt zurAusgliederung des (Hoch-)Deutschen aus dem (West-) Germanischen, zweiTeilveränderungen (sogenannte Tenuesverschiebung (1), Medienverschiebung (2)), ebenfallsdurch Sog (pull-chain) verbunden

• (1) stimmlose Plosive [p], [t], [k] (a) - nach Vokal > geminierte stl. Frikativen [ff], [ss] (<zz>), [xx] (<hh, ch>) (nach langen Vokalen und im Auslaut werden diese zu [f], [s], [x] vereinfacht) (b) - nach Konsonant (Nasal m/n, Liquid l/r) - am Wortanfang > Affrikaten [pf], [ts] (<z>), [kx] (<ch, kch>) - bei Geminaten ([pp], [tt], [kk])

• (2) stimmhafte Plosive [b], [d], [g] > stimmlose Plosive [p], [t], [k] (Bsp. As. dag - Ahd. tag) Dieser Prozess war räumlich begrenzt und wurde teilweise in vormhd. Zeit wieder rückgängig gemacht, [θ] > [d] (Bsp. Germ. *broþar > Ahd. bruoder)

Bsp. für (1 a) Germ.*drepan > Ahd. treffan, Germ. *hropan >Ahd. roufan, Germ. *skipa >Ahd. skif Germ. *etan > Ahd. ezzan, Germ. *fōt(u) > Ahd. fouz Germ. *makōn > Ahd. mahhōn, Germ. *ek > Ahd. ih

Bsp. für (1 b) Wgerm.*skeppjan >Ahd. skepfen, Lat. piper - Ahd. pfeffar, Lat. campus - Ahd. kampf Wgerm.*sattjan >Ahd. sezzen, Germ.*tehun >Ahd. zehan, Germ.*hertōn >Ahd. herza Wgerm.*wekkjan >Ahd. wecchan, Germ.*korna >Ahd. chorn, Germ.*werka >Ahd. werch

• unterschiedliche Verschiebung der stl. Plosive (1 a vs. 1 b) je nach lautlicher Umgebung durch Sonoritätshierarchie (vgl. Teil 1, Kap. 2.4.1.) zu erklären: Verschiebung der stl. Plosive = Verschiebung auf der Sonoritätshierarchie in Richtung stärkerer Sonorität [p], [t], [k] bilden als [-sonorante], konsonantische Phoneme i. d. R. den Silbenrand (Onset oder Koda). Damit Kontrast zur vorhergehenden bzw. nächsten Silbe deutlich bleibt (→ silbenbezogener Wandel), stärkste Verschiebung (d. h. zu Frikativen) nur nach sonorsten Lauten, d. h. nach Vokalen (1 a), dagegen nach weniger sonoren Lauten, d. h. nach

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Konsonanten (nach Nasalen/Liquiden, in Gemination = nach Plosiven) und am Wortanfang (der auf Silben mit und ohne Koda folgen kann, d. h. u. U. auch nach Konsonant steht) weniger Verschiebung in Richtung stärkerer Sonorität (d. h. nur zu Affrikaten).

• Sonoritätshierarchie: geringste Sonorität höchste Sonorität

│ │ │ │ │ │ Plosive Affrikaten Frikative Nasale Liquide(/l/,/r/) Vokale

1b ___________

1a ____________________ (2. LV)

• geografische Staffelung: weitgehendste Durchführung der 2. LV im Süden des Deutschen Sprachraums incl. [k] > [kx], 2. LV nicht durchgeführt im niederdeutschen Sprachraum, dazwischen vielfache Abstufungen → unterschiedliche Dialektgebiete (Niederdt., Mitteldt., Oberdt. s. o., sowie weitere Untergliederungen vgl. u. a. sogen.Rheinischer Fächer), abgegrenzt durch Isoglossen (Grenzlinien der Verbreitungsgebiete von Wortformen) Rheinischer Fächer:

– phonetisch begründet, artikulatorischer Aufwand etc.:

– i-Umlaut: Vokal mit Merkmal [-vorn] (sogen. velarer Vokal) in der Haupttonsilbe wird an Vokal [ I] ,

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[i:] bzw. Gleitlaut [j] in Folgesilbe angepasst und damit [+vorn] ('palatalisiert'/'fronting'), Phonologische Regel: [-vorn] → [+vorn]/ __ /i, j/

• Primärumlaut: im Ahd. schon verschriftllicht: <a> > <e> (verursacht Phonemspaltung Germ a > Ahd. a bzw. e) Bsp.: alt – elti (Derivation), gast – gesti, grabu – grebis (Flexion)

• Sekundärumlaut: im Ahd. wohl schon durchgeführt, erst im Mhd. verschriftlicht: <a> > <ä>, <â> > <æ>, <o> > <ö>, <ô> > <œ>, <u> > <ü>, <û> > <iu>, <ou> > <öu>, <uo> > <üe>

Bsp.: Ahd. mahtig > Mhd. mähtec Ahd. tâti > Mhd. tæte Ahd. holzir > Mhd. hölzer Ahd. skôni > Mhd. schoene 'Schönheit' Ahd. ubir > Mhd. über Ahd. hûsir > Mhd. hiuser Ahd. troumen > Mhd. tröumen Ahd. fuori > Mhd. füere 'führe'

• i-Umlaut = Assimilation (Fernassimilation, partielle Assimilation, regressive Assimilation), vgl. Vokaltrapez (vgl. Teil 1, Kap. 2.1.4.)

• um 1000 n. Chr. Phonologisierung bzw. Morphologisierung der i-Umlaut-Produkte: Allophone > (neue) Vokalphoneme

– Nebensilbenschwächung: systematische Reduktion voller Nebensilbenvokale zu Schwa am Übergang vonAlthochdeutschen zum Mittelhochdeutschen (Spätfolge der Akzentfestlegung auf dieStammsilbe im Germanischen, betonte Silbe wird exponiert, hebt phonolog. Wort hervor)

Bsp.: [i] gesti > geste 'Gäste‘, nerita > nerete/nerte 'nährte' [u] nabulo > nabele [o:] lobōn > loben [o] lobota > lobete [a] hōrta > hōrte

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• Abschwächung/Lenition entlang der Sonoritätshierarchie in Richtung geringererSonorität (zunächst [u] und [i] betroffen, dann auch [e], [o], und [a]): geringste Sonorität höchste Sonorität │ │ │ │ │ │ Plosive Affrikaten Frikative Nasale Liquide(/l/,/r/) Vokale [ə] [i] [e] [a] [u] [o]

Nebensilbenabschwächung

• Markiertheitsabnahme: [ə] bezüglich aller phonologischen Merkmale (±hint, ±vorn, ±hoch, ±tief, ±rund, ±gesp, ±lang) unmarkiert, d. h. gegenüber allen anderen Vokalen weniger markiert (geringerer artikulatorischer Aufwand, da Zunge in neutraler Lage und Lippen nicht gerundet)

• Folge: Vereinfachung/Verarmung der Flexionsparadigmen (vgl. ahd hōrt-a/-ōst/-a/-um/-ut/-un > mdh hōrt-e/-est/-e/-en/-et/-en)

• ab 13. Jh. im Zuge des Schwa-Schwunds (Elision: Synkope oder Apokope des Schwa) Nebensilbenvokal oft ganz geschwunden (Folge u.a.: Derivationssuffixe werden generell einsilbig)

– (Frnhd.) Dehnung in offener Tonsilbe:

• vom Mhd. zum Frnhd. Dehnung des Vokals in betonten offenen Silben (Silben ohne Koda)

Bsp.: Mhd. ['fR a.gən] > ['fR a:.gən], Mhd. ['nε.mən] (graph. z. T. <ë>) > ['ne:.mən]

• prosodische/silbenstrukturelle Erklärung - Vereinheitlichung der Silbenstruktur: diachrone Beseitigung von betonten offenen Silben mit Kurzvokal (bereits teilweise beseitigt durch 'Schließung' offener Silben aufgrund von Schwa-Schwund z. B. mi.te > mit 'mit', andere offene Silben mit Kurzvokal: Dehnung des Vokals) seit Frnhd.: betonte Silbe muss schwer sein: Silbenreim in betonter Position Langvokal, Diphthong oder Kurzvokal + Konsonant, d. h. Reim einer betonten Silbe: V-C → wenn die betonte Silbe nur einen Vokal und keine Koda enthält, muss der Vokal lang

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gesprochen werden

σ Onset Reim Nukleus C V C h a I (Diphthong z. B. heiser) σ Onset Reim Nukleus Koda C V C h a t (geschlossene Silbe z. B. hat) σ Onset Reim Nukleus C V C

h a: (offene Silbe z. B. haben)

• Folge: Entstehung von Stammallomorphie im Frnhd., z. T. wieder beseitigt durch Dehnung der entsprechenden Stammvokale auch in Form mit geschlossener Silbe per Analogie (analogischer Ausgleich) Bsp.: Tag Tage

Mhd. [tak] [ta.gə] Frnhd. (nach Dehnung in offener Silbe) [tak] [ta:.gə] Frnhd. (nach analogischem Ausgleich) [ta:k] [ta:.gə]

3.5 Morphologischer und lexikalischer Wandel – bei Morphemen wie anderen sprachlichen Zeichen (s. Skript Teil I) Zeichen und

Bezeichnetes (signe und signifié) oder Form und Inhalt zu unterscheiden, in vielerHinsicht 'ideal': 1:1-Zuordnung von Form und Inhalt einzelner Morpheme (Transparenz: 1Form steht für 1 Inhalt, Uniformität: 1 Inhalt ausgedrückt durch 1 Form), dagegenverstoßen Synkretismus (1 Form/gleiches Morphem, aber verschiedene Inhalte z. B. inVerbflexion -t 3. P. Sg. oder 2. P. Pl.) und Allomorphie (gleicher Inhalt, verschiedene

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Formen/verschiedene Morpheme, z. B. in Nomenflexion Plural durch -(e)n, -e, -er,Umlaut+e, Null usw.)

– synthetischer (grammatische Merkmale ausgedrückt durch Hinzufügen von Morphemen) vs. analytischer (grammatische Merkmale ausgedrückt durch zusätzliche Wörter) Sprachbau, diachron häufig Wandel von synthetisch zu analytisch

– morphologischer Wandel betrifft Flexionsmorphologie, Wortbildungsmorphologie, lexikalischer Wandel das Lexikon

3.5.1 Phonologisch bedingter morphologischer Wandel – Morphemabbau

Reduktion des Morpheminventars z. B. durch Nebensilbenschwächung (s. o.)

• Bsp. Nominalflexion: Plural (a-Stämme) Ahd. tag–a/-o/-um/-a > Mhd. tag-e/-e/-en/-e Folge: Synkretismus (kann auch zu Kasusschwund führen, d. h. Verlust eines oder mehrerer Kasus), ausgeglichen u. a. durch stärker analytischen Sprachbau (syntaktischer Wandel): z. B. Aufkommen der Artikel, die Kasusmarkierung mit übernehmen, Verwendung von Präpositionalphrasen statt einfacher, kasusmarkierter Nominalphrasen

• Bsp. Verlust des nominalen Derivationssuffixes –i: Ahd. Naff –i zur Derivation von Eigenschaftsabstrakta aus Adjektiven, z. B. blint-î ('Blindheit'), skôn-î ('Schönheit'), in Folge der mhd. Nebensilbenschwächung zunehmend durch andere Wortbildungsmuster ersetzt, z. B. Derivation mit Naff –heit vgl. Nhd. Blindheit, Schönheit etc.

– Morphologisierung Allomorphie, die ursprünglich phonologisch bedingt war, morphologisch genutzt, d.h. übernimmt eine grammatische Funktion, • Bsp. Morphologisierung des i-Umlauts (s.o.): Kennzeichnung des Plurals in der

Nominalflexion (Vater – Väter, Graben – Gräben etc.) • (Bsp. Morphologisierung des Ablauts (s. u.) in der Tempusflexion der starken Verben:

ursprünglich rein phonetisch-phonologisch bedingt)

3.5.2 Syntaktisch bedingter morphologischer Wandel – Univerbierung

Zusammenziehung einer syntaktischen Phrase zu einem komplexen Wort

• Bsp. Entstehung des Fugenmorphems (sog. uneigentliche oder Kasuskomposita): urspr. Syntagma aus zwei Nominalphrasen (NP), wobei die erste das Kasusmorphem für Genitiv trägt (Genitivattribut), zusammengezogen zum Nominalkompositum, Genitivmorphem reanalysiert (neu gedeutet) als Fugenelement, Anwendung dieses Wortbildungsmusters mit Fugenelement auch in Fällen, wo es kein Genitivmorphem sein könnte (z. B. –s nach femininem Nomen) landesGEN werung ('Währung des Landes') > Landeswährung, sonnenGENauffgang Sonnenaufgang analog auch Erfahrungswert(GEN *der Erfahrungs), Universitätszeitung (GEN *der Universitäts)

– Grammatikalisierung Prozess, in dessen Verlauf eine autonome lexikalische Einheit allmählich die Funktioneiner abhängigen grammatischen Kategorie erwirbt, dadurch u. a. Entstehung neuer

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Funktionswörter (Auxiliare, Konjunktionen, Präpositionen etc.) und Flexionsmorpheme

• Merkmale der Grammatikalisierung: u. a. Desemantisierung (lexikalisch-semantischer Gehalt nimmt ab), phonologische Abschwächung (Verlust lautlicher Substanz), Unidirektionalität (Lexikalisches Wort > Funktionswort > Partikel > Klitikum > Affix, aber nicht umgekehrt)

Bsp. Entwicklung von Subjektspronomen zu Verbalflexionsmorphem: das Pronomen der 2. Ps.Sg. wurde zu einem Teil des Flexivs, da es häufig enklitisch (d.h. nachgestellt und schwachtonig) an das Verb antrat

Ahd. Pronomen: thu > Klitikon: gilaubistu > Flexiv gilaubist thu 'glaubst du'

Bsp. Entwicklung der Konjunktion während: Verb (Partizip I) > Präposition > Konjunktion (temporal > adversativ) Partizip > Präposition: Während des Krieges hat manches seinen Herrn verändert (Lessing) > während des Krieges (Reanalyse), Präposition > Konjunktion: während dessen dasz/ während dem dasz > während dasz > während

Bsp. Entstehung der nominalen Derivationssuffixe –heit, -schaft, -tum (Naff): im Ahd. Nomen (ungebundene Morpheme) heit ('Person'), scaf ('Beschaffenheit'), scaft ('Schöpfung'), tuom ('Urteil'), auch in Nominalkomposita als Erstglied z. B. tuom-tac ('Gerichtstag') oder Zweitglied z. B. got-heit ('Gottheit'), auf dieser Basis Entwicklung zu Derivationssuffixen (gebundenen Morphemen)

3.5.3 Morphologie-intern motivierter morphologischer Wandel – Analogischer Ausgleich

Reduktion/Abbau von Allomorphie innerhalb eines Paradigmas (Analogischer Ausgleich ist morphologisch bedingt, da er die Existenz von Flexionsparadigmen voraussetzt),Flexionsparadigma wird regelmäßiger

Bsp. ausgleichende Dehnung des Stammvokals auch in Formen, in denen keine offene Silbe vorlag in Analogie zu mehrsilbigen Flexionsformen, bei denen phonolog. Wandel der Dehnung in offener Tonsilbe eingetreten war (s. o. Tag – Tages)

Bsp. Analogischer Ausgleich des grammatischen Wechsels: als Folge des Vernerschen Gesetzes im Ahd. bei bestimmten Verben Alternation des wurzelschließenden Konsonanten (sog. grammatischer Wechsel), vgl.

h–g: slahan slahu sloug slougun gislagan d–t: lîdan lîdu leid lîtun gilîtan s–r: kiosan kiusu kôs kurun gikoran f–b: heffen heffu huob houbon gihaban

Konsonantenwechsel vielfach durch analogischen Ausgleich wieder beseitigt, vgl. Nhd.schlagen, heben, küren

• Ablautreduktion: Hintergrund: Tempusflexion der starken Verben mit sog. Ablaut des Stammvokals

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(übrigens selbst wiederum durch Morphologisierung ursprünglich phonologisch bedingten Vokalwechsels im Indogermanischen und Germanischen entstanden), insgesamt 7 verschiedene Flexionsklassen starker Verben (sogenannte Ablautreihen), pro Ablautreihe mehrere verschiedene Stammformen/Ablautstufen, Reduktion: Ahd/Mhd 4 verschiedene Ablautstufen > Frnhd/Nhd 3 verschiedene Ablautstufen Es wird im Präteritum vereinheitlicht, entweder wird die Singular- oder die Pluralform verallgemeinert. Bsp. Ablautreihen I – III:

Reihe Sprachstufe Infinitiv 1SG PRÄT 1PL PRÄT Partizip III Mhd grîfen greif griffen gegriffen

Frnhd greifen griff(en) gegriffen II Mhd bieten bôt buten geboten

Frnhd bieten bot(en) geboten III Mhd singen sanc sungen gesungen

Frnhd singen sang(en) gesungen

• (im Extremfall:) Klassenübertritt starkes Verb > schwaches Verb (eigtl. Fall vonproportionaler Analogie s.u.): Tempusflexion vormals starker Verben analog zu schwachenVerben mit Suffix –t(e)

– vollständig:

Ahd. bellan, bal, bullun, gibullan > Nhd. bellen, bellte(n), gebellt Ahd. hinkan, hank, hunkun, gihunkan > Nhd. hinken, hinkte(n), gehinkt andere Verben: fragen, kreischen

– partiell (gemischtes Paradigma):

backen, backte, gebacken

– Konkurrenz: nebeneinander von starken und schwachen Verbformen

Bsp: gären – gor/gegoren vs. gärte/gegärt; glimmen – glomm/geglommen vs. glimmte/geglimmt

(Hintergrund: konstruktioneller Ikonismus – ein Mehr an Inhalt entspricht einem Mehr an Form/komplexeres Zeichen, = unmarkiert, Wandel zu ikonischeren Formen gemäßMarkiertheitstheorie/Natürlichkeitstheorie vorhergesagt, hier: zusätzliche Information'Vergangenheit' sollte durch ein zusätzliches Morphem ausgedrückt werden)

– proportionale Analogie (analogische Ausdehnung): Generalisierung und Ausdehnung einer morphologischen Regel auf neue Formen

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• Bsp. er-Plural Ausgangsbasis: Stamm+Stammbildungselement+Flexion im Gotischen z. B. noch transparent, im Ahd. bereits undurchsichtig, Stammbildungselement z. T. geschwunden, z. T. als Flexiv umgedeutet (reanalysiert),

Bsp. iz/az-Stämme, z. B. 'Lamm' urspr. mit Stammbildungselement –iz- bzw. –ir-, im Nom./Akk. Singular und Plural jeweils ohne Flexionsendung, im Singular Stammbildungselement geschwunden (Anpassung an Nom./Akk. – analogischer Ausgleich): Frahd: Sg. lamb, lemb-ir-es, lemb-ir-e, lamb > Ahd: Sg. lamb, lamb-es, lamb-e, lamb dagegen im Plural Stammbildungselement erhalten (bewirkt i-Umlaut) Pl. lemb-ir, lemb-ir-o, lemb-ir-um, lemb-ir Stammbildungselement –ir (unser heutiges –er) als Flexionsmorphem für Plural reanalysiert, anschließend auch auf andere Nomen übertragen, die keine iz-/az- Stämme waren, z. B. Nom./Akk. Sg. und Pl. lant > Sg. lant, Pl. lender (vgl. Nhd. Länder) Nom./Akk. Sg. und Pl. kint > Sg. kint, Pl. kinder (konstruktioneller Ikonismus: zusätzliche Information Plural wird durch ein zusätzliches Morphem ausgedrückt = Markiertheitsabnahme gemäß Markiertheits-theorie/Natürlichkeitstheorie)

3.5.4 Lexikalischer und morphologischer Wandel durch Sprachkontakt – Sprachkontakt des Deutschen v. a. mit Latein (6. Jh., 8.-10. Jh., 15.-16. Jh.), Französisch

(Hochmittelalter, 16.-18. Jh.), Englisch (8. Jh., ab Mitte des 20. Jh.s)

– Entlehnung: Transfer von sprachlichem Material der sozial dominierenden Sprache in eineandere Sprache bei Sprachkontakt

– Lehnwörter: direkte Wortentlehnungen, unterschiedlich stark in Ausgangssprache integriertIndiz für Zeit der Entlehnung: z. B. Lat. tegula > Ziegel, piper > Pfeffer vor 2. LV entlehntda /t/ > /ts/ und /p/ > /pf/ bzw. postvokalisch zu /ff/ verschoben wurde, dagegen z. B. Latpelegrinus > piligrîm > Pilger, tabula > Tafel nach 2. LV entlehnt, da /p/ bzw. /t/ unverschobenist

– Lehnbildungen (Lehnübersetzungen, Lehnübertragungen, Lehnschöpfungen): Wortbildungmit igensprachlichem Material nach dem Vorbild fremdsprachiger Wörter, z. B. Lat. superfluitaanalog gebildet Ahd. ubarfleozzida ('Überfluss'), Lat. providere – Ahd. forakisehan('voraussehen')

– Lehnbedeutungen: Einführung einer neuen Bedeutung für ein bestehendes Wort nachfremdsprachlichem Vorbild z. B. Lat. dominus 'Herr', im christl. Zusammenhang'Herr(gott)' – analog Ahd. truhtin 'Gefolgsherr' im christl. Zusammenhang mit neuer,zusätzlicher Bedeutung 'Herr(gott)'

– Entlehnung von Wortbildungsmustern

Bsp. Frz. Naff –ie: zunächst Übernahme entsprechender Bildungen als Lehnwörter (z. B. Mhd. profêzîe 'Prophezeiung', vilânîe 'bäurisches Benehmen'), später Derivation

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weiterer Nomen auf Grundlage eigensprachlicher Wurzeln mit –ie (z. B. jegerîe 'Jägerei', wüestenîe 'Wüstenei'), -ie durch frnhd. Diphthongierung > Frnhd./Nhd. –ei

Bsp. Frz. Vaff –ier entlehnt als –irn/–ieren: nach Entlehnung französischer Verben –ieren auch mit eigensprachlichen Wurzeln verbunden z. B. buchstabieren, stolzieren, hausieren

Bsp. Lat. Naff –arius zur Ableitung von Nomina agentis bzw. instrumenti – Ahd. –âri z. B. betalâri 'Bettler', heilâri 'Heiland', > Nhd. -er

3.6 Syntaktischer Wandel 3.6.1 Wortstellungswandel – Topologische Felder:

• für Verbstellung seit dem Althochdeutschen Satzklammer grundlegend, entsprechend V1-, V2- (jeweils finites Verb in LSK = C°) und Ve-Sätze (finites Verb in rechter Satzklammer = V°),

Bsp.: V1: Chihori dhu, Israhel 'Höre du, Israel' (Isidor) V2: siin uuort ferit dhurah mina zungun 'Sein Wort geht über meine Zunge' (Isidor) Ve: ... dhazs ih dhinan uuillun duoe '..., dass ich deinen Willen tue' (Isidor) Die Zuordnung von Satztyp und Verbstellung, insbesondere Deklarativsatz – V2, (eingeleiteter) Nebensatz – Ve, war in der Tendenz schon im Althochdeutschen vorhanden, hat sich aber im Lauf der deutschen Sprachgeschichte verstärkt.

• Restringierung der Nachfeldbesetzung: Im Ahd. und Mhd. konnten verschiedene Satzglieder, z. B. auch Subjekt oder Objekt im Nachfeld stehen. Im Lauf des Frühneuhochdeutschen bildet sich die heutige Regel heraus, dass das Nachfeld nur in wenigen Sonderfällen besetzt ist, z. B. durch eine PP oder einen eingebetteten Nebensatz. (Dies wird z. T. in einigen Darstellungen auch als Herausbildung der Satzklammer bezeichnet – de facto gab es die Satzklammer bereits, nur war das Nachfeld noch häufiger besetzt.)

Bsp.: ... huueo in dheru dhrinissu sii ein got ' (Isidor) ..., auf welche Weise in der Dreiheit ein einziger Gott sei'

Restringierung der Vorfeldbesetzung: Während im heutigen Deutschen höchstens ein Satzglied im Vorfeld stehen kann, konnte das Vorfeld im Ahd. auch zwei Satzglieder enthalten. (Diese Fälle werden manchmal auch als V3-Stellung bezeichnet. Das Verb steht jedoch wohl an der gleichen Stelle wie im V2-Satz, das Vorfeld ist lediglich komplexer.)

Bsp.: [In dhemu eristin deile chuningo buohho] [sus] ist chiuuisso chiscriban ... (Isidor) 'Im ersten Teil der Bücher der Könige steht es wahrlich so geschrieben: ...'

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– Stellung der Genitivattribute:

• prä- > postnominale Genitivattribute (Rektionsrichtung von Nomen): Im Ahd. ging ein Genitivattribut zumeist dem Nomen in der NP voraus (N folgt seinem Komplement/N regiert nach links), während im heutigen Deutschen Genitivattribute (bis auf Eigennamen) dem Nomen in der NP folgen (N geht seinem Komplement voraus/N regiert nach rechts), = kann als Bsp. für Parameterwandel (s. u.) aufgefaßt werden

Bsp.: (Isidor) NP NP

NPgen N DP N' DP N chiruni > D N NPgen

D dhrinissa das Geheimnis DP N

dera D Dreifaltigkeit

der

• Verlust der Distanzstellung von Genitivattributen: bis ins Frnhd. Distanzstellung von Genitivattributen zum Kopfnomen möglich, heute generell nicht mehr/Attribut in der NP (möglicherweise in Zusammenhang mit Genitivschwund), = Bsp. für Fixierung der Wortstellung (s. u.),

Bsp.: [NPgen Der heiden] ward wol [NP hundert tusend] erschlagen 'Hunderttausend der Heiden/Hunderttausend von den Heiden wurden wohl erschlagen'

– Wandel der Negationspartikel: Negationspartikel im Ahd. je nach V-Stellung (in linker oder rechter Satzklammerzusammen mit Vfin) vs. Nhd. Negationspartikel im Mittelfeld

• Ahd. proklitische Negationspartikel ni am finiten Verb • Spätahd. abgeschwächt zu ne bzw. en, verstärkt durch zweite, verbunabhängige

Negationspartikel nicht (< Ahd. niowiht 'nichts'/'in nichts', = Bsp. für Grammatikalisierung s. u.)

• urspr. Negationspartikel wird im Mhd. fakultativ und verschwindet schließlich ganz, nicht bleibt als alleinige Negationspartikel

Bsp.: Ahd. ih nisagu > Spätahd./frühes Mhd. ih ensage niht > Mhd./Frnhd./Nhd. ich sage nicht

3.6.2 Selektionswandel – Objektskasus:

Das Objekt (Komplement) eines zweistelligen Verbs bekommt von diesem im heutigen

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Deutsch i.d.R. den Akkusativ zugewiesen. Im Althochdeutschen konnte ein Verb dagegen je nacAktionsart seinem Objekt den Akkusativ (bei telischer Aktionsart, entsprechend z. B. in Satzmit punktuellem Adverbial) oder den Genitiv (bei atelischer Aktionsart, entsprechend z. Bin Satz mit durativem Adverbial) zuweisen, d. h. also eine Akkusativ-NP oder eine Genitiv-NPselegieren,

Bsp.: telisch: Er tháhta imo ouh in gáhi [ NPAKK thia mánagfaltun wíhi joh thia hóhun wirdi] (Otfrid) 'Er dachte für sich auch plötzlich an die mannigfaltigen Weihen und die hohen Würden' atelisch: Sie tháhtun [ NPGEN thes gifúares] sid tho frámmortes (Otfrid) 'Sie dachten seitdem an diese Gelegenheit'

– Beziehung von Quantitätsausdrücken und Mengenbezeichnungen: Selektionsbeziehung/Abhängigkeitsverhältnis kehrt sich um, = Bsp. für Reanalyse (s. u.)

• urspr. z. B. vil 'viel' = nominalisiertes Adj. als Kopf einer NP, Mengenbezeichnung = weitere NP im partitiven Genitiv als Attribut Teil der ersten NP

Bsp.: es werben [NP vil [NP alter eerlicher reicher mann]] umb mich → Kopf der Gesamt-NP: vil

• heute: Mengenbezeichnung = NP, Quantitätsausdruck Teil dieser NP

Bsp.: Es werben [NP viele reiche Männer] um mich → Kopf der Gesamt-NP: Männer

– Abbau unpersönlicher Konstruktionen: Konstruktionen ohne grammatisches Subjekt, d. h. ohne NP nom , die mit Vfin bzgl.Person/Numerus kongruiert, nehmen im Lauf der deutschen Sprachgeschichte ab, = Bsp. fürReanalyse (s. u.),

Bsp.: [VP michAKK hungarit], [VP daz kintNOM/AKK hungarit] > daz kintNOM [VP hungarit] > ichNOM [VP hungere]

3.6.3 Ursachen und Verlauf syntaktischen Wandels – morpho-phonologische Bedingtheit syntaktischen Wandels: urch FlexionsmorphologieKodierung

grammatischer/syntaktischer Informationen (z. B. Subj.: Person/Numerus-Kongruenz mitVfin, Nominativ, indir. Obj.: Dativ etc.), durch Nebensilbenschwächung(phonetisch/phonologischer Wandel) Abbau von Flexionsmorphemen und Synkretismus(morphologischer Wandel), Ausgleich durch Kennzeichnung grammatischer/syntaktischerInformationen mit anderen Mitteln:

• stärker analytischer Sprachbau: grammat. Information durch weitere syntakt.

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Konstituenten/Lexeme ausgedrückt, z. B. Grammatikalisierung (s. o. Kap. 3.5.2: u.a. Inhaltswörter > Funktionswörter) der Artikel (Demonstrativpron. > def. Artikel, Zahladjektiv > indef. Artikel), einer neuen Negationspartikel (niowiht 'nichts' > nicht)

• Fixierung der Wortstellung: grammatische Information wird an bestimmte Positionen im Satz geknüpft, Wortstellung weniger frei, z. B. Verlust der Distanzstellung von Genitivattributen

– syntaktischer Wandel durch (syntaktische) Reanalyse: bei formaler/struktureller Ambiguität (z.B. aufgrund von morpholog. Synkretismus) wird einer linearen Abfolge von Konstituenten u.U. eine andere syntaktische Struktur zugeordnet. Dabei ist die neu zugeordnete Struktur ofteinfacher (weniger komplex oder weniger syntaktische Derivationsschritte) bzw. syntaktischweniger markiert (Markiertheitstheorie/Natürlichkeitstheorie). z. B.

• Abbau unpersönlicher Konstruktionen (syntaktisch markierter als Konstruktionen mit grammat. Subjekt)

Bsp.: [VP michAKK hungarit] [VP daz kintNOM/AKK hungarit] - formal ambig – Reanalyse →daz kintNOM [VP hungarit] ich nom [VP hungere]

• Umkehrung der Selektionsbeziehung von Quantitätsausdrücken und Mengen-bezeichnungen (Genitiv in der Nominalflexion nur noch bei stark flektierenden Mask./Neutr. Sg. formal distinkt, formale Unterscheidung Kopf vs. Komplement in der NP erschwert, Struktur mit zwei ineinandergeschachtelten NPs reanalysiert als einfache NP)

Bsp.: in welchem Scharmützel auch viel Personen vmbkommen (Aviso des Jahres 1609)

NP NP

N NPgen > AP N

viel N A personen

personen viel

– Rolle des Spracherwerbs: Reanalyse geschieht insbesondere beim Spracherwerb: Kinder reanalysieren u. U. densprachlichen Output ihrer Eltern, d. h. legen der gleichen linearen Abfolge vonKonstituenten eine andere – einfachere/weniger markierte – syntaktische Struktur zugrundeund erwerben damit eine Grammatik, die sich von der ihrer Eltern unterscheidet, d. h. mit demsprachlichen Output der Eltern kompatibel ist, letztlich aber auch anderen sprachlichen Outputerzeugt.

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Grammatik 1 Grammatik 2 Output 1 Output 2

– Reanalyse kann zu Parameterwandel führen, d. h. zur Änderung von einzelsprachlichfestgelegten Parameterwerten. Die dahinter stehende Annahme ist, dass die Universalgrammatik(UG) aus Prinzipien mit verschiedenen möglichen Werten besteht, die einzelsprachlichunterschiedlich ausgeprägt bzw. festgelegt (d.h. parametrisiert) sind. So ist etwa die Abfolge vonsyntaktischem Kopf und Ergänzung (Komplement) einzelsprachlich festgelegt. DieseFestlegung kann sich diachron verändern, z. B. Umkehrung der Rektionsrichtung von Nomenim Deutschen (Komplement-N > N-Komplement).

– sprachextern bedingter Syntaxwandel: Bei Sprachkontakt kann es zur Übernahme fremdsprachlicher syntaktischer Muster(Lehnsyntax) kommen oder zu (qualitativer und quantitativer) Ausbreitungeigensprachlicher syntaktischer Muster, die mit fremdsprachlichen syntaktischen Musternübereinstimmen oder diesen ähneln (Konvergenz).

• Ahd. Dativus absolutus: Partizipialkonstruktion im Dativ in Anlehnung an lateinischen Ablativus absolutus in ahd. Übersetzungstexten (Lat. [Part. Prät. Passiv + NP]abl - Ahd. [Part. II + NP]dat ), Lehnsyntax, kein genuin ahd. syntaktisches Muster

Bsp.: Lat. - et [missis exercitibus suis] perdidit homicidas illos Ahd. - Inti [gisanten sínen herin] furlôs thie manslagon (Tatian) 'Und nachdem er seine Heere losgeschickt hatte, verfolgte er diese Mörder.'

3.7 Semantischer Wandel – Semantischer Wandel ist v. a. im Bereich der lexikalischen Semantik erforscht, dagegen gibt es

bisher kaum Untersuchungen zu satzsemantischem Wandel.

3.7.1 Quantitativer semantischer Wandel – Wandel der Intension/Extension (Zunahme bzw. Abnahme)

– Bedeutungserweiterung

Bsp.: Ahd. tior 'wildes, vierbeiniges Tier' > Nhd. Tier 'nicht-menschliches, nicht-pflanzliches Lebewesen' (vs. Altengl. deor 'wildes Tier‘ > Neuengl. deer 'Rotwild', = Bedeutungs-verengung), Ahd. fetiro 'Bruder des Vaters' > Frnhd. Vetter 'entfernter männl. Verwandter'

– Bedeutungsverengung

Bsp.: Ahd. faran, Mhd. varn 'jede Art von Fortbewegung (gehen, reiten, ...)' > Nhd. fahren

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'Fortbewegung mithilfe eines Fahrzeugs' ('etwas fahren' – transitiv, 'mit etwas fahren' - intransitiv) , Ahd. vaz 'Gefäß' > Nhd. Fass 'großer zylindrischer Behälter für Wein/Bier'

3.7.2 Qualitatitver semantischer Wandel – Wandel der Konnotation

– Meliorisierung (Bedeutungsverbesserung)

Bsp.: Ahd. marahscalk 'Pferdeknecht' > Mhd. 'höfischer und städtischer Beamter' > Nhd. Marschall 'hoher militärischer Rang', Ahd. arabeit 'Mühsal' > Nhd. Arbeit '(berufl.) Tätigkeit'

– Pejorisierung (Bedeutungsverschlechterung)

Bsp.: Mhd. kneht 'Knabe, junger Mann' > Nhd. Knecht 'Diener' (vs. Aengl. cnight [knixt] > Nengl. knight 'Ritter', = Meliorisierunng), Mhd. maget 'unverheiratete, junge Frau‘ > Nhd. Magd 'Dienerin', Mhd. dierne 'Dienerin' > Nhd. Dirne 'Prostituierte', Mhd. vrouwe 'Herrin/Dame‘ > Nhd. Frau 'erwachsener weiblicher Mensch' Mhd. wîp 'Frau/erwachsener weiblicher Mensch' (neutral) > Nhd. Weib 'Frau', abwertend Ahd. stinkan 'riechen' (neutral, auch 'duften') > Nhd. stinken 'stinken' (vgl. aktuelle Entwicklung von riechen: Hier riecht es. 'Hier stinkt es' – Schub/push chain, s. u.)

3.7.3 Ursachen semantischen Wandels – Veränderung relevanten Weltwissens (z. B. Veränderung oder Nicht-mehr-Existieren

bestimmter Gegenstände und Praktiken), daneben v. a. kommunikativer Gebrauch undseine informativen/rationalen, sozialen, ästhetischen Aspekte (→ Pragmatik:Konversationsmaximen, Implikaturen etc.) u. a.:

– Metapher (Bedeutungsübertragung) basiert auf Ähnlichkeit zwischen zwei Gegenständen oder Begriffen (tertiumcomparationis)

Bsp.: Flügel 'Vogelschwinge' > weitere Bedeutungen: 'Musikinstrument', 'Gebäudeteil', 'Teileiner politischen Bewegung' usw. → Bedeutungserweiterung

– Metonymie (Bedeutungsverschiebung) basiert auf Frames, sachlich-begrifflicher (räumlicher, zeitlicher, kausaler usw.)Zusammenhang (semantische Kontiguität) zweier Gegenstände/Begriffe,

Bsp.: Sandwich (Person John Montagu, 4. Earl of Sandwich (1718–1792) > Produkt) Apfelsine (Herkunft: sina 'China' > Produkt)

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Ärmel (Körperteil: 'kleiner Arm' > Kleidungsstück) Brille (Material: berille 'Halbedelstein Beryll' > Produkt) → u. a. Bedeutungserweiterung

– Euphemismus verschleiernde/beschönigende Ausdrucksweise

Bsp.: Mhd. kranc 'schwach' > Nhd. krank, Mhd. dierne 'Dienerin/Magd' > Dirne 'Prostituierte' → Pejorisierung

– Ironie/Sarkasmus

Bsp.: Mhd. kopf 'Becher' (vgl. Engl. cup), Kriegersarkasmus für Kopf, ab 16. Jh. ohne sarkastischen Charakter Kopf neben houbet/Haupt verwandte Erscheinungen: Hyperbel (Übertreibung)/Litotes (Untertreibung, z. B. jemanden leiden können 'jemanden ertragen' > 'jemanden mögen') → u. a. Bedeutungserweiterung, Meliorisierung

– Sonstige Implikaturen Umdeutung/semantische Reanalyse von Wörtern, die häufig Auslöser von Implikaturen sind, z. B. temporal > kausal

Bsp.: Ahd. die wîla so > Frnhd./Nhd. weil (Frnhd.: weil ['während/solange'] der hund bellt, so frist der wolff das schaaf vs. ...dem starb ein prinz, und weil ['während/solange' oder 'weil'] die gemahlin sehr betrübt war, schickte er seinen tantzmeister mit einer gantzen compagnie hin)

– Ellipse

Auslassung von sprachlichem Material

Bsp.: seit 17. Jh. (mit dem großen Messer) aufschneiden > 'prahlen'

– Bedeutungswandel aufgrund von Beziehungen im Lexikon:

• Wortspaltung Polysemie > Homonymie, Entstehung gesonderter Lexikoneinträge für die verschiedenen Bedeutungen ursprünglich eines Lexems (mit flexionsmorphologischen Unterschieden)

Bsp.: Band – Plural Bänder 'Textilstreifen' vs. Plural Bande '(freundschaftliche/ verwandtschaftliche) Verbindungen'

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• Homonymenflucht Einschränkung oder Aussterben einer Bedeutung/Verwendungsweise, lautlich verschiedenes Lexem übernimmt diese Bedeutung

Bsp.: Mhd. strûz 'Strauß'/'Kampf', zweite Bedeutung aufgegeben/übernommen von Kampf

• Synonymenflucht Bedeutungsdifferenzierung zur Vermeidung von Synonymen

Bsp.: ros 'Pferd', später zusätzlich kelt. Lehnwort Pferd > ältere Bezeichnung wird gehobener Stil (Meliorisierung): Roß 'stattliches/prächtiges Pferd'

– Wie bei anderen Sprachwandelphänomenen (z. B. Lautwandel: 1. LV etc.) kann einBedeutungswandel ebenfalls weitere auslösen. So hat beispielsweise im Wortfeld derBezeichnungen für FRAU der Wandel von mhd. maget zu nhd. Magd den Wandel von mhd.dierne zu nhd. Dirne bewirkt (bzw. vielleicht umgekehrt). Auch hier kann man also vonKettenreaktionen (d.h. Sog und Schub bzw. drag/push chain) sprechen.

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